KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN)
Franz Buchholz: Braunsberg
im Wandel der Jahrhunderte (Festschrift vom Stadtjubiläum 1934)
IX. Bis zum Weltkrieg
Unglück und Not zwingen zur Selbstbesinnung, wecken oft schlummernde Kräfte zu
ungeahnter Aktivität. Auch im preußischen Staate erwuchs aus den Ruinen des
Zusammenbruchs neues verheißungsvolles Leben, entfalteten sich in den regeren
Bevölkerungsschichten erstaunliche Energien.
Am 30. Juni 1808 taten sich Königsberger Patrioten zu einem
sittlich-wissenschaftlichen Verein, dem sog. Tugendbund, zusammen, der die
Förderung des Schulwesens, der Kunst und Wissenschaft, der körperlichen Kraft
und Gewandtheit, der Sittlichkeit und religiösen Gesinnung bezweckte, im
Endziele aber einer nationalen Erneuerung und einer Befreiung aus den Ketten des
Tilsiter Schmachfriedens zustrebte. Noch im selben Jahre traten mehrere
Braunsberger Honoratioren dem Tugendbunde bei, und am 8. April 1809 gründeten
199 36 Herren unter dem Vorsitz des Majors von Rochelle in der Passargestadt
einen Zweigverein, der bald auf 63 Mitglieder anwuchs. Offiziere, Akademiker,
Ratsherren, Kaufleute waren es hauptsächlich, die unter dem Wahlspruch „Gott,
König und Vaterland!" in 6 Sektionen ihre gemeinnützige Wirksamkeit aufnahmen
und zu monatlicher Generalversammlung und Geselligkeit zusammenkamen.
Scheiterte auch die geplante Errichtung einer Militärschule für angehende
Fähnriche, so begann man doch im Juli mit gymnastischen und militärischen
Hebungen, an denen sich bald 60 Jungen beteiligten. So turnte man in Braunsberg
schon ein Jahr, bevor der Turnvater Jahn auf der Hasenheide damit anfing. Am 1.
Mai wurde eine Industrieschule für Mädchen eröffnet, die schon nach Monatsfrist
106 Schülerinnen zählte und diese durch Damen in vielen weiblichen Handarbeiten
unterrichten ließ. Aus ihr entwickelte sich Anfang 1811 eine Töchterschule mit
wissenschaftlichem Unterricht, die Vorgängerin der 1846 entstehenden kath. und
evg. höheren Mädchenschule und der seit Ostern 1922 städtischen Elisabethschule.
In einer Zeichenschule bemühte sich besonders der Kassierer des Oestreichschen
Handelshauses Höpffner, junge Handwerker und Soldaten auszubilden. Die
Einrichtung einer Kunstschule und Sonntagsschule für Handwerker wurde erwogen,
wenn auch nicht verwirklicht.
In diesen regen pädagogischen Unternehmungen des Tugendbundes wirkten sich die
neuen Ideen und Methoden Pestalozzis und Zellers aus, deren begeisterter Apostel
der 1771 in Breslau gebürtige Kornelius Burgund war, ein früherer
Prämonstratensermönch, der aus dem Orden ausgetreten und 1801 zu pädagogischen
Studien nach Berlin gegangen war und nach kurzer Tätigkeit als Seminardirektor
in Lowicz seit 1808 dem Lehrkörper des Gymnasiums angehörte. Er war es auch, der
am 1. Juni 1809 das „Braunsberger Wochenblatt", die erste Ortszeitung, ins Leben
rief und leitete, das er zum „ermländischen Provinzialblatt" auszubauen hoffte.
Dadurch wurde der Buchdrucker Feyerabend veranlaßt, sich in Braunsberg
niederzulassen und eine eigene Presse zu eröffnen. Freilich stellte das Organ
schon im nächsten Jahre sein Erscheinen ein, weil die Zeit für ein solches
Unternehmen noch nicht reif war und der Herausgeber nicht den inneren Kontakt
mit dem gewünschten Leserkreis finden konnte.
Wie weit sich die fortschrittliche, gemeinnützige Arbeit des Tugendhundes
erstreckte, mag noch daraus ersehen werden, daß man die Anlage von Baumschulen
zu Verschönerungen betrieb,
dem Kartoffelbau besondere Aufmerksamkeit zuwandte, ein Bürger-Rettungs-Institut
für Handwerkerkredit, eine Badeanstalt, öffentliche Aborte u. a. plante. Der
königliche Auflösungsbefehl vom 31. Dezember 18N9, der durch das Mißtrauen der
französischen Gewalthaber erzwungen worden war, machte dem Tugendbund und den
meisten seiner Bestrebungen ein Ende.
Noch kurz vorher, am 16. Dezember 1809 ernteten die Braunsberger Mitglieder die
verdiente Anerkennung. Nach dreijährigem Aufenthalt in Ostpreußen kehrten König
Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise nach Berlin zurück und berührten an
diesem Tage morgens um 9 Uhr unter dem Geläute aller Glocken Braunsberg. Die
Garnison war in Parade auf dem altstädtischen Markt aufmarschiert; daher wurden
die hohen Gäste in das Seeligersche Haus geladen. Hier ließen sie sich die
Abordnungen des Bistums und der städtischen Körperschaften vorstellen und wurden
durch Handarbeiten der Industrieschule erfreut. Königin Luise erhielt auf weißen
Kissen einige Ridiculs (Arbeitstäschchen), 2 Kindermützen, 1 Paar seidene
Kinderschuhe, ein Paar wollene Schuhe und 3 Tock Garn; sie erkundigte sich nach
den Verfertigerinnen der Gegenstände, lobte sie und versprach, sie als dauerndes
Andenken gern gebrauchen zu wollen. Durch den Geheimrat von Auerswald ließ sie
später der Schule 10 Louisdor (150 RM) überweisen. Dem König wurde von einer
Schülerin eine seidene Börse mit eingesticktem Eichenlaub und der Inschrift:
„Die Töchter Braunsbergs dem Vater des Vaterlandes" überreicht. Mit dem Ausdruck
des Dankes sprach der König seine Anerkennung über die Begründung solcher
gemeinnützigen Anstalten aus.
Durch einschneidende neue Gesetze hatte auch die königliche Regierung ihren
Reformwillen bewiesen. Die Städteordnung vom 10. November 1808 berief die Bürger
zu freier, verantwortungsbewußter Arbeit zum Wohle der Gemeinden. Am 23. März
1809 morgens 9 Uhr versammelten sich die bisherigen von der Regierung ernannten
Magistratspersonen und die nunmehr durch das Vertrauen der Mitbürger gewählten
Stadtverordneten im großen Saale des Rathauses. Nachdem der kgl. Kommissar Hagen
auf die Bedeutung der Selbstverwaltung hingewiesen hatte, bewegte sich der Zug
unter Glockengeläute zur Pfarrkirche, wo nach dem Hochamt die Vereidigung des
neuen Magistrates vorgenommen wurde. Der frühere Landrat von Willich wurde
Bürgermeister, als Ratsherren standen ihm zur Seite die Bürger Schlattel,
Bertram, Fischer, Schulz, Regenbrecht, Wasserzier, Vontheim, Langhanki, Grodd,
Romahn, Kaninski und Chales. Nach einem Gebet für 201 das Königshaus und dem Tedeum lehrten die städtischen Körperschaften zum
Rathaus zurück. Hier übertrug der Kommissar dem Magistrat die Polizeiverwaltung.
Dann sprach im Namen der 38 Stadtverordneten ihr erster Vorsteher Kommerzienrat
Oestreich, der die Städteordnung als das Heilmittel gegen den Verfall der Städte
und den Keim künftigen Wohlstandes pries. „Eine richtige Anwendung derselben ist
hierbei jedoch unerläßliche Bedingung: denn wir wollen es uns nicht verhehlen,
daß hier neben dem Keime zu so vielem Guten, zugleich für Selbstsucht und
ungezügelte Leidenschaft ein Zunder zum Parteikampf bereit liegt... Lassen Sie
uns alle Persönlichkeiten (alles Persönliche) als ein tödliches Gift vermeiden.
Dagegen leite uns bei allen Verhandlungen ein reiner Gemeingeist. Wir haben das
Wohl einer braven Bürgerschaft zu besorgen, die es durch ihre Rechtlichkeit,
Ordnungs- und Friedensliebe wohl wert ist, daß wir uns ihrem Dienst mit
ausdauerndem Eifer widmen und so das in uns gesetzte Vertrauen rechtfertigen."
Nach einem Hinweis auf die schweren Kriegsopfer der Stadt und einer Bitte an den
Kommissar um Erleichterung ihres harten Schicksals schloß Oestreich seine
gehaltvolle Rede, die er auf allgemeinen Wunsch dem Druck übergab, nicht aus
Eitelkeit, wie er in seiner Widmung an den befreundeten Königsberger Präsidenten
Friedrich Nikolovius ausführte, „denn wenn ich auch meine Fehler habe, so
gehört, wie Sie wissen, die Begierde mich vor dem Publikum geltend zu machen,
doch nicht zu den meinigen", sondern um den Erlös dem neuerrichteten
Krankenhause zuzuwenden.
Dieses behandelte schon im ersten Jahre seines Bestehens 181 Patienten und
gehörte zu den gemeinnützigen Einrichtungen, mit denen die neuerwachte
bürgerliche Initiative dem Elend steuern wollte. Noch sei die Melioration der
altstädtischen Wiesen aus den eisten Arbeiten der neuen Stadtverwaltung erwähnt.
Bewunderswert, wie der preußische Staat trotz seiner schweren Finanznot das an
geistigen Kräften zu ersetzen wußte, was er an materiellen verloren hatte. In
rechter Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung des Bildungswesens für den
Wiederaufbau von Volk und Vaterland ließ die preußische Regierung auch dem
darniederliegenden ermländischen Schulwesen ihre hilfsbereite Sorge angedeihen.
Die alte Schulstadt Braunsberg war als Hauptstadt des Ermlandes der gegebene
Platz für die neuen Lehranstalten. Zunächst wurde in dem früheren bischöflichen
Schlosse ein staatliches Normal-Institut begründet, in dem Lehrer für die ermländischen Volksschulen im Geiste Pestalozzis herangebildet werden sollten. Als Kgl. Kommissar
führte Oestreich die Oberaufsicht über diese Anstalt, deren Leitung Burgund
übertragen wurde. Am 2. Juli 1811 erfolgte der festliche Eröffnungsakt, bei dem
u. a. der Königsberger Oberschulrat Zeller über das Wesen der Normalinstitute
sprach. Mit 25 Zöglingen begann die Schule ihre verdienstvolle Arbeit. Seit 1814
kgl. Erziehungsanstalt, seit 1825 Schullehrerseminar benannt, nahm sie eine
gedeihliche Entwicklung. 1824 wurde ihr eine Übungsschule, 1850—78 eine
Taubstummenschule angegliedert. Nachdem das alte unzureichende Schloß den
wachsenden Bedürfnissen zum Opfer gefallen war, wurde an derselben Stelle mit
Einbeziehung einiger denkmalswerter Bauteile ein Neubau aufgeführt, dessen
Haupthaus i. J. 1874, die Seitenflügel i. J. 1876 bezogen werden konnten. Die
staatliche Neugestaltung der Lehrerbildung setzte dem kath. Seminar, dessen
pädagogische Ausstrahlungen weit über die Grenzen Ostpreußens reichten, am 13.
März 1926 ein Ziel. Seither bietet das Gebäude der staatlichen Aufbauschule (Schloßschule)
Unterkunft.
Noch im selben Jahre 1811 sah Oestreich seine wiederholten Eingaben an die
Staatsbehörden wegen Reorganisation des Braunsberger Gymnasiums von Erfolg
gekrönt. Die königliche Kabinettsordre vom 11. Dezember 1810 gab ihm die
verheißungsvolle Antwort: „Ich werde auf die Erfüllung des Wunsches um so lieber
Bedacht nehmen, da es Meiner Neigung gemäß ist, solche gemeinnützige Zwecke zu
befördern und Meinen guten ermländischen Untertanen Beweise Meines Wohlwollens
zu geben." Die materiellen Vorbedingungen wurden dadurch erfüllt, daß sechs
ermländische Domherrnstellen mit Genehmigung des hl. Stuhles aufgehoben und
deren Einkünfte dem nunmehr staatlichen Gymnasium überwiesen wurden. Zum ersten
Direktor der reorganisierten Anstalt wurde der geistliche Professor Heinrich Schmülling aus Münster berufen, mit dem Amte eines Kurators für die
Vermögens-Verwaltung Kommerzienrat Oestreich betraut. Sonntag, 29. Dezember
1811 fand die feierliche Eröffnung der Schule statt. Der kgl. Kommissar Delbrück hielt eine richtunggebende Ansprache über das Thema: „Im Geiste des
echten Protestantismus liegt nichts, was der Achtung des echten Katholizismus
widerstrebt." Dann zeichnete der neue Direktor in lateinischer Rede den durch
Wissenschaft und Herzensbildung zu erziehenden Jüngling. Ein Preislied auf den
König beschloß diesen Teil der Feier. Nun begab sich unter Glockengeläute ein
langer Festzug zur Pfarrkirche: voran eine militärische Begleitung, dann die
Pfarrschule, das
203 Normalinstitut, die Schüler des Gymnasiums mit ihren Fahnen und die Lehrer in ihrer
Amtstracht, Frack mit schwarzseidenen Kniehosen, schwarzseidenen Strümpfen,
Schnallenschuhen, seidenem Mäntelchen und dreieckigem Faltenhut. Nun folgte der
kgl. Kommissar Delbrück inmitten des Kurators und Direktors und dann die anderen
Ehrengäste, zum Abschluß wieder Militär. In der Kirche hielt Weihbischof von
Hatten ein von voller Instrumental- und Vokalmusik begleitetes Hochamt mit
folgendem Tedeum. Die zur Feierlichkeit geladenen 81 Gäste nahmen an dem Diner
im Deutschen Hause teil, zu dem der alte Oestreich den Wein stiftete.
Johann-Heinrich Schmülling
(1774 - 1851)
Lehrer am Paulinum
(Gymnasium) in Münster, Direktor des königlich preußischen Gymnasiums in
Braunsberg/ Ermland, Professor der Philosophie am Lyceum „Hosianum“ in
Braunsberg und Professor für neutestamentliche Exegese an der Akademie in
Münster, Regens des Priesterseminars in Münster, Ehrendoktor der Theologie und
der Philosophie durch die Universität in Münster.
Schmülling reformierte das Braunsberger Gymnasium.
Im Januar 1812 wurde der Unterricht mit 94 Schülern in 5 Klassen aufgenommen.
Außer dem Direktor wirkten zunächst 5 ordentliche Lehrkräfte, von denen nur
einer ein Ermländer war. Die Anstalt, von einem ausgezeichneten Pädagogen
geleitet, erfreute sich bald verdienter Schätzung und weitreichenden Zuzugs, so
daß schon i. J. 1824 315 Schüler gezählt wurden. Auch der Neudecker
Landschaftsdirektor Louis von Benekendorf-Hindenburg vertraute seinen Sohn
Robert, den Vater unseres Reichspräsidenten Generalfeldmarschalls von
Hindenburg, i. J. 1829 dem Braunsberger Gymnasium an, bis Robert i. J. 1832 als
Fahnenjunker in das Posener Infanterie-Regiment Nr. 18 eintrat. Oestreich
betreute in hingebender ehrenamtlicher Tätigkeit bis 1827 nicht nur die äußeren
Verwaltungsgeschäfte, sondern auch seit 1817 eine Hilfskasse für bedürftige
Gymnasiasten, für die er eifrig warb, und die Kapitalien der testamentarisch
gestifteten Seeligerschen Erziehungsanstalt, die 1829 für 8 Gymnasiasten beider
Konfessionen eröffnet wurde. Der berühmte Mathematiker Karl Theodor Weierstraß
wirkte von 1848—55 als Lehrer an der Anstalt, bis die gelehrte Welt auf seine
geniale Funktionenforschung aufmerksam wurde und er einem ehrenvollen Rufe nach
Berlin folgte. 1822 wurde ein Direktor- und Lehrerwohnhaus auf der Nordostecke
des Schulhofes errichtet, 1861/62 die Gymnasialkirche, 1868 die Aula und 1871
die Turnhalle erbaut. Die schon vor dem Weltkriege beantragte Angliederung einer
Realabteilung wurde i. J. 1922 für die Mittelstufe bewilligt. Die steigende
Schülerfrequenz, die zu Ostern 1928 unter Studiendirektor Dr. Jüttner die
Höchstzahl von 447 erreichte, erwirkte i. J. 1930 die Erhebung der Schule zur
großen Doppelanstalt und i. J. 1932 den Neubau eines modernen
Erweiterungsflügels, der Ostern 1934 bezogen werden konnte.
Karl Theodor Weierstraß (1815 - 1897), deutscher Mathematiker, in
Braunsberg von 1848 - 1855
Weierstraß schuf für Funktionstheorie und elliptische
Funktionen neue Grundlagen, löste das Umkehrproblem für die Abelsche Integrale,
lieferte Beiträge zur Variationsrechnung, gab ein Beispiel einer stetigen, nicht
differenzierbaren Funktion. Hier ein Bild, wie W. etwa ausgesehen haben mag. als
er in Brunsberg war.
Wilhelm Killing
(1847 - 1923), deutscher Mathematiker
Nach dem Studium in
Münster (1865/66) und in Berlin (1867/68) promovierte er 1872
bei Karl Theodor Weierstraß mit einer Dissertation mit dem Titel
Der Flächenbüschel zweiter Ordnung über die Anwendung der
Elementarteiler
einer
Matrix
auf Oberflächen. Von 1868 bis 1892 unterrichtete Killing an
Schulen in Berlin, Brilon und Braunsberg; 1892 wurde er
Professor an der
Westfälischen Wilhelms-Universität
in
Münster.
Mit 39 Jahren trat Killing dem
Dritten Orden
der
Franziskaner
bei. Killing publizierte über nicht-Euklidische Geometrie in
n Dimensionen (1883), diee Erweiterung des Begriffs Raum,
mit der Klassifikation der einfachen Lie-Algebren (1886) und
über
Lie-Gruppen.
In seiner Forschung über
Nicht-Euklidische Geometrie
erfand Killing gegen
1870
unabhängig von
Sophus Lie
die
Lie-Algebra.
Er führte die
Cartan-Subalgebra,
die Cartan-Matrix und die Idee des
Wurzelsystems ein. Auf Killing
geht auch die Bezeichnung charakteristische Gleichung
einer Matrix zurück.
Napoleons russischer Feldzug brachte dem Ermland i. J. 1812 schwere Lasten.
Obwohl das Jahr 1811 eine Mißernte
geliefert hatte, mußten für das durch Ostpreußen marschierende Riesenheer
gewaltige Proviantmengen beigeschafft werden. Am 11. April hielt der
Verpflegungsdirektor des Braunsberger Kreises von Willich eine Beratung mit den
Gemeindevertretern, um zunächst durch freiwillige Beiträge die Magazine zu
füllen. Da das Ergebnis naturgemäß ein ganz ungenügendes war, wurden
Zwangslieferungen befohlen, für die auch in Braunsberg ein Magazin für Mehl,
Hafer, Heu und Stroh eingerichtet wurde. 5 Feldbäckereien für je 500 Brote
wurden erbaut. Seit Anfang Mai fluteten nun in fast unaufhörlicher Folge Teil
des ersten Korps des Marschalls Davoust durch die Stadt. Ein buntes Gemisch der
verschiedensten Völker, unter ihnen auch Deutsche. Nicht wie Verbündete, sondern
als rücksichtslose Eroberer traten ihre Führer und vielfach auch die
Mannschaften auf. Die Tagesration für den Unteroffizier und Gemeinen betrug 900
Gr. Brot, 300 Gr. Rindfleisch, 60 Gr. Reis oder 120 Gr. Hülsenfrüchte, 1/60 Klgr.
Salz, 1 Liter Bier, 1/16 Liter Branntwein; für Offiziere das Mehrfache, z. B. Divisionsgeneräle das Achtfache. Für die Pferde wurden 2 Rationen bestimmt,
eine größere (2 3/4 Metzen Hafer, 13 Pfund Heu, 8 Pfd. Stroh) für die schwere
Reiterei, wie Kürassiere, Dragoner, Karabineurs, Artillerie, die kleinere (4 Pf.
Heu weniger) für leichte Kavallerie, wie Husaren, Jäger, Bagage u. a. Da aber
die vollen Portionen oft nicht beigeschafft werden konnten, wurden die
Quartiergeber herangezogen; und wenn die Truppen über diese Sonderleistungen
auch Quittungen ausstellen sollten, so unterblieb es doch meist. Oft genug
ließen die fremden Gäste in ihrem Logis allerlei mitgehen. In Auhof lagerten an
einem Tage 88 Mann und 160 Pferde, die Felder wurden abgeweidet, 6 Pferde und 10
Zentner Heu mitgenommen. Noch Anfang August bezogen 4000 Mann des Victorschen
Korps für drei Tage in der Stadt Quartiere. Napoleon selbst passierte am 12 Juni
nachmittags gegen 3 Uhr unter dem Geläute aller Glocken die Stadt, hielt am
Rathaus, blieb aber im Wagen und setzte nach einigen Minuten seine Fahrt nach
Königsberg fort — seinem Schicksal entgegen.
Nach der furchtbaren Katastrophe der grande armée in Moskaus Flammenmeer und
Rußlands Schneewüste erreichten Ende November die ersten der flüchtigen
Franzosen das Weichbild der Stadt. Hören wir den Bericht des Augenzeugen
Direktor Schmülling: „Aber was sahen wir für eine Kolonne anrücken? Erst einige
Generäle im Wagen, und dann 14 Tage hindurch das wandernde Elend selbst. Fast
gar keine Waffen, die Arme untereinandergeschlagen und mühsam sich fortschleppend
205 oder halb erfroren auf Schlitten kamen sie herangezogen, keine Bedeckung
als die am Biwakfeuer durchlöcherten und zerfetzten Kittel. . . Wir erwarteten
mit Angst das Korps von Macdonald; denn die Lage von Braunsberg eignet sich zu
gut für eine militärische Disposition. Am 6. Januar rückte nun das Korps hier
ein. In hastiger Flucht kam alles heran und hindurch gezogen. Da sich einige
Tage vorher ein Trupp polnischer Kavallerie unter unserm (Gymnasiums)-Korridor
gelagert hatte, die aber bald wieder abgezogen waren, so wollte ich mit
Erlaubnis des Landrats von Willich den Schulplatz verschließen lassen, damit
leine ungebetenen Gaste herkämen; aber ich konnte nicht durch das Gedränge von
Kanonen, Infanteristen und Kavalleristen. Ich ging wieder zu Hause; da drängte
es aber so stark am Tore, daß ich mußte öffnen lassen, — 100 Pferde wurden
herausgebracht, ungefähr 10 Mann quartierten sich in den unteren Stuben ein. Ein
großes Feuer wurde gerade vor der Gymnasiumtüre angelegt. Doch als ich die Küche
einräumte und bei den Pferden Lichte versprach, so ward es für diese Nacht
erlöscht; aber die folgenden Nächte mußte es lodern. Wenn wir nur Bier und
Branntwein hergaben, so waren sie zufrieden, aber da man am letzten Tage auch
für Geld nichts bekommen konnte, so drohte man dem Monsieur directeur die Türe
einzuschlagen und einen Besuch abzustatten. Ich suchte für die folgende Nacht
etwas Vorrat herbeizuschaffen; und da war ich gleich wieder un brave homme (ein
guter Mensch); doch mußte ich sehr oft den Reim Russien et Prussien (Russe und
Preuße) hören. Des Nachts war Braunsberg fürchterlich anzusehen. Hoch strahlten
am ganzen Horizont und rund um uns her die Wachefeuer. Nahe im Walde zeigten
sich die Wachtfeuer der Kosaken. Jeden Augenblick war die Stadt in Gefahr, in
einen Aschehaufen verwandelt zu sehen; Säcke zum Einpacken des wohl verwahrten
Gymnasiumsschatzes lagen stets bereit. Wie froh ward ich, als den 8. um 11 Uhr
in der Nacht der Marschall de logis mir sagte, daß sie abziehen würden. Bald
darauf ward die Brandglocke gelautet, doch bald hörten wir, daß das Feuer nur
einen Zaun ergriffen habe und wieder gelöscht sei. Unter Qualm und Flammen zogen
sie in finsterer Nacht ab und zündeten nahe vor dem Tore Heu und Stroh an, was
sie nicht mitnehmen konnten. Die beiden Brücken zwischen der Altstadt und
Vorstadt wurden in Brand gesteckt. Bald darauf rückten die Kosaken über die
gefrorene Passarge und kamen durch das Obertor in die Altstadt, nachher am Tage
durch das Schloßtor. Die Kinder riefen ihnen Hurrah! entgegen, und die ganze
Stadt genoß wieder eine Ruhe,
die wir lange entbehrt hatten . . ." Die kühne Freiheitstat Yorcks entfachte
jene vaterländische Bewegung, der sich auch der zaghafte König nicht
verschließen konnte. Am 3. Februar erließ dieser von Breslau aus einen Aufruf
zur Bildung freiwilliger Jägerkorps. Am 7. Februar beschlossen die
ostpreußischen Stände in Königsberg die Bewaffnung einer Landwehr und eines
Landsturms. Am 17. März forderte der zündende Aufruf des Königs „An mein Volk"
zum letzten Entscheidungskampf auf.
Schon am 14. März entließ das Gymnasium seine älteren Schüler, die sich
begeistert zu den Waffen drängten. Oberlehrer Dr. Gerlach gab den patriotischen
Gefühlen der Abschiedsstunde beredten Ausdruck. „Von allen Leiten des
preußischen Staats wetteifern die Einwohner durch Anstrengungen jeder Art ihren
Sinn an den Tag zu legen; in allen erwacht die Begeisterung für König und
Vaterland, der kein Opfer zu schwer ist. Was in diesem Geiste begonnen wird, muß
gut enden. Dafür bürgt die gleiche Gesinnung aller, dafür die großen Anstalten,
die getroffen werden, dafür der Mut und die Ausdauer des russischen Heeres, das
siegreich schon in Deutschland steht, dafür die Entkräftung und das geschwächte
Zutrauen des französischen Volles; dafür bürgt vor allem der stets wache Geist
im Lauf der Dinge, der jeden steigen läßt, bis sein Maß voll ist."
Für die Landwehr hatte die Stadt nach der beschlossenen Verhältniszahl (1/45)
116 Mann zu stellen. Da keine freiwilligen Meldungen erfolgten, entschied das
Los. 90 Infanteristen aus der Stadt und 9 aus den städtischen Dörfern wurden im
April aus kommunalen Mitteln mit grauen Mänteln, Kamisolen (Waffenröcken),
Patronentaschen u. a. nach eingeschickten Mustern ausgerüstet; aus
wohlhabenderen Familien wurden 5 Kavalleristen aus der Stadt und 1 vom Lande
bestimmt, die sich selbst mit ihrem Pferd equipieren sollten. Es war übrigens
den Ausgelosten gestattet, Ersatzmänner zu stellen; so übernahm einer die
Stellvertretung gegen eine monatliche Vergütung von 2 Talern für sich und 1
Taler für seinen Vater. Wir finden die Braunsberger Landwehrleute im Lager vor
Danzig, von ihrer Vaterstadt mit Leinwand, Scharpie, Hemden, Socken» schließlich
sogar mit Lebensmitteln versorgt, bis die von General Rapp zäh verteidigte
Seestadt zu Neujahr 1814 kapitulieren mußte.
Landschaftsrat von Schau-Korbsdorf hatte als Präsident der 4. Spezialkommission
die Organisierung der Landwehr wie des Landsturms des Braunsberger Kreises unter
sich. Für den 207 Landsturm waren in Braunsberg 638 Mann unter 50 Jahren dienstpflichtig, die
in einer Eskadron, einer Schützenkompagnie und 4 Infanteriekompagnien in
militärischen Übungen, Märschen, Wachtdienst und Patrouillen notdürftig
ausgebildet wurden. Selbst 16jährige Gymnasiasten reihten sich mit Begeisterung
in diese mehr durch guten Willen als durch soldatische Leistungen ausgezeichnete
Phalanx ein, deren Arbeitsrock der rote Kragen zur Uniform stempelte, die mit
Stolz die Landsturmmütze und den Schießprügel oder die Pike trugen. Gelegentlich
nahm der Oberkommandant von Schau eine Besichtigung ab, und bei der Durchreise
der Zarin Elisabeth am 16. Januar 1814 durften sie tüchtig Hurra schreien und
den hohen Gast einholen und geleiten.
Die Opfer der Befreiungskriege brachten dem preußischen Vaterlande ein halbes
Jahrhundert friedlicher Entwicklung, und das war um so notwendiger, als die
schwere Kriegszeit sich trotz des Endsieges noch jahrzehntelang lähmend auf die
Volkswirtschaft auswirkte. Die Verschuldung des Staates, der Gemeinden und
Privatleute war sehr bedeutend, es fehlte an Kapital und Kredit, daher mangelte
es an Aufträgen und lohnendem Verdienst, Handel und Wandel stockten, Konkurse
vertrieben namentlich viele Rittergutsbesitzer von ihrer ererbten Scholle. So
kamen auch die Güter Rodelshöfen und Rosenort der früher so wohlhabenden Familie
von Hanmann i. J. 1816 unter Sequester. Infolge der Gesetze über die
Bauernbefreiung wurde in den 2Ner Jahren die Erbuntertänigkeit der Bauern in den
Stadtdörfern Huntenberg, Stangendorf und Willenberg aufgehoben; dabei
verpflichteten sich die Hofbesitzer zur Zahlung einer Ablösungsrente an die
Kämmereikasse und erlangten dadurch volles Eigentumsrecht und bildeten fortan
selbständige Gemeinden.
Als Garnison beherbergte Braunsberg seit 1809 ein Füsilierbataillon wechselnder
Regimenter, das weiter in Bürgerquartieren untergebracht war und im
Exerzierschuppen auf der Teichstraße ausgebildet wurde. „Zum Zwecke geselliger
Unterhaltung im Kreise gebildeter Teilnehmer" wurde aus Offizierskreisen und
den Honoratioren der Stadt i. J. 1817 eine Ressource gegründet, die zunächst in
Mietsräumen, seit 1839 in dem von Baurat Bertram auf dem alten Hospitalplatz
errichteten Kasino ihre Zusammenkünfte hatte. Auf breiter bürgerlicher Grundlage
griff die 1825 gestiftete Schützengilde eine alte wehrhafte Übung auf, wobei
das Scheibenschießen mit der Büchse an die Stelle des früheren Vogelschießens
mit der Armbrust trat.
Den unermüdlichen Bemühungen des edlen ermländischen Bischofs Joseph von
Hohenzollern, dem Kommerzienrat Oestreich und Direktor Schmülling aufs eifrigste
sekundierten, war es zu verdanken, daß durch königliche Kabinettsordre vom 19.
Mai 1818 in Braunsberg eine staatliche Hochschule für den Klerus der Diözese
Ermland gestiftet wurde. Lange war von den maßgebenden Regierungsstellen der
Plan erwogen worden, die kath. Theologiestudenten Ostpreußens der Universität
Breslau anzugliedern oder auch an der Königsbeiger Albertina einige Lehrstühle
für katholische Theologie zu errichten. Indem schließlich die seelsorglichen und
pädagogischen Auffassungen und Wünsche des Ermlandes Berücksichtigung fanden,
wurde in der Passargestadt in neuer Form an eine jahrhundertealte Tradition
angeknüpft, erhielt das reiche Bildungswesen des Ortes seine Krönung. Das
Organisationsstatut des zum ehrenden Gedächtnis des ersten Gründers benannten
Kgl. Lyzeum Hosianum schuf i. J. 1821 eine theologische und eine philosophische
Fakultät, die planmäßig aus je vier Professuren bestehen sollten. Die Verfassung
entsprach der der Volluniversitäten. Der Oberpräsident von Ostpreußen fühlte die
Oberaufsicht. 11 Jahre lang betreute Kommerzienrat als Kurator auch diese
Lehranstalt und nahm an ihrem Aufblühen wie vorher an ihrer Gründung tätigsten
Anteil. I. J. 1817 wurde das an die ehemalige Bursa anstoßende Haus, i. J. 1863
der Kuckeinsche Speicher zu Lehrzwecken und Professorenwohnungen vom Staate
zurückgekauft. Die Hochschule vertauschte i. J. 1912 ihren bisherigen Namen mit
dem einer Akademie. Die 1820 begründete Bibliothek wird seit 1919 hauptamtlich
verwaltet und enthält rund 100 000 Werke. Unter den wissenschaftlichen
Sammlungen verdienen das 1880 von Prof. Wilhelm Weißbrodt errichtete
Archäologische Museum (am Hitlerplatz) und der von Prof. Franz Niedenzu 1893
angelegte Botanische Garten besondere Erwähnung. Die in ihren wissenschaftlichen
Auswirkungen weit über die Grenzen des Ermlandes hinausreichende kath.
Hochschule wird seit 1925 auch von Theologiestudenten der Diözese Danzig, seit
1932 von solchen der Administratur Schneidemühl aufgesucht.
Während der französischen Okkupation hatte die evangelische Gemeinde ihre Kirche, das
ehemalige neustädtische Rathaus, zum Heeresmagazin einräumen müssen. Daher waren
durchgreifende Erneuerungsarbeiten notwendig, als das Gotteshaus wieder seiner
Bestimmung zugeführt werden sollte. Während der 16 Wochen der Renovierung wurde
die katholische Trinitatiskirche der evangelischen Gemeinde überlassen. Die zunehmende Seelenzahl
209 ließ allmählich die bisherige Kirche als zu eng erscheinen; denn bei der
staatlichen Erhebung der Gemeinde zur eigenen Pfarrei i. J. 1818 umfaßte sie
bereits rund 1500 Seelen ohne die Militärgemeinde. Durch das Wohlwollen des
Königs Friedrich Wilhelm III. wurde ihr im Mai 1828 die bedeutende Summe von
53196 Talern zum Bau der Kirchen-, Pfarr- und Schulgebäude aus Staatsfonds
bewilligt. Eine mächtige Feuersbrunst hatte im Januar 1824 an der Königsbeiger
Straße sehr geeignete Bauplätze freigelegt, und so konnten hier i. J.1829/30 das
Pfarrhaus und die dreiklassige Schule errichtet werden. Der Grundstein zu der
neuen Kirche wurde am 30. Mai 1830 in feierlicher Weise gelegt. Ein langer
Festzug bewegte sich von der bisherigen Kirche zu der Baustelle: voran sämtliche
evangelische Schülerinnen und Schüler, dann die Stadtkapelle und die Meister und
Gesellen der verschiedenen Handwerke, die bei dem Kirchenbau beschäftigt wurden,
mit ihren blumengeschmückten Werkzeugen und Abzeichen, sodann der
Kirchenvorstand, dessen Vorsteher, Kaufmann Barth, auf einem blauseidenen
Kissen die Urkunde für den Grundstein trug. Nun folgten der Vertreter der
Königsberger Regierung Konsistorialrat Dr. Kähler, der Ortspfarrer Bock nebst 8
Amtsbrüdern, die Militär- und Zivilbeamten des Kreises und der Stadt, das
Baukomitee, dann die Gäste und Gemeindemitglieder. Den Abschluß bildete eine
Abteilung des Garnison-Bataillons in Paradeuniform. Zwischen dem neuen Pfarr-
und Schulhaus sah man das begonnene Kirchengemäuer, umrahmt von jungen Tannen;
ein mit Grün und Blumen umwundenes Gerüst deutete die Formen der beiden
künftigen Türme an. Vor dem Portal stand eine Rednerbühne, von der aus
Konsistorialrat Kähler über den Sinn der Feierstunde sprach. Erst im November
1837 konnte die nach Schinkels Plänen erbaute stattliche Kirche ihrer Bestimmung
übergeben werden.
Nordseite des
Altstädtischen Marktes (Steinhaus, Mönchentor, Post und barocke Patrizierhäuser)
um 1835.
(Stich vermutlich
von E. Höpffner auf dem Kopf eines Briefbogens im Ermländischen Museum.)
Im Verhältnis zu der katholischen Pfarrgemeinde fehlte es nicht an Spannungen.
So erregte der Prozeß gegen den Erzpriester Andreas Schröter und seine Kapläne
wegen Proselytenmacherei und Einmengung in Mischehen in den 20er Jahren weithin
Aufsehen. Das Königliche Oberlandesgericht fällte im Mai 1826 das Urteil, daß
Schröter „wegen dringenden Verdachtes, die evangelische Religionsgesellschaft durch
entehrende Äußerungen beleidigt, auch in öffentlichen Reden die Erregung von
Haß und Erbitterung unter der evangelische und katholische Religionspartei versucht zu haben,
von seinem Posten als Erzpriester und Pfarrer auf eine andere Stelle zu
versetzen und mit achtwöchentlichem Gefängnis zu bestrafen sei", während seine
drei Kapläne zu je 5 Talern
Untersuchungskosten verurteilt wurden. Die eingelegte Berufung führte im Mai
1827 zu der Erkenntnis zweiter Instanz, wonach sämtliche Angeklagten
freigesprochen wurden und zum Ausdruck gebracht wurde, „daß zur Einleitung der
betr. Untersuchung eigentlich kein Grund vorhanden gewesen sei."
Am 21. Oktober 1833 segnete Kommerzienrat Oestreich, „der Kaufmann von
Braunsberg", nach vollendetem 83. Lebensjahre das Zeitliche. Auf dem
Johannisfriedhof fand er seine letzte Ruhestätte. Über seinem Grabe erhebt sich
eine mannshohe, oben abgestumpfe Pyramide aus Sandstein, deren lateinische
Inschrift besagt, daß der hier Beerdigte, durch Geist, Tüchtigkeit und
öffentliche Verdienste hervorragend, eine Zierde Braunsbergs, des Ermlandes und
Preußens gewesen sei und sich ein Andenken gesichert habe dauernder als dieser
Stein. Am Abend des 31. Oktober wurde auf dem Rathause eine Trauerfeier
gehalten, bei der Gymnasialdirektor Gerlach zwischen ernsten Gesängen die
Gedächtnisrede auf den Toten hielt. Die kgl. Regierung aber widmete seinem
Andenken im Amtsblatte einen ehrenden Nekrolog, worin Oestreichs Leben und
Wirken als ehrendes Beispiel zur Nacheiferung gerühmt wurde. „Er war ein Mann,
auf den nicht bloß seine Vaterstadt stolz sein durfte, sondern den auch die
Provinz zu ihren Zierden rechnete."
Das allmähliche Wachstum der Stadt Braunsberg mögen folgenden Zahlen dartun:
Jahr Einwohner
1782- 4370
1843- 8355
1849- 8954
1852- 9608
1861-10164
1875-10796
1802 - 5111
1810 - 4520
1816 - 5046
1822 - 6069
1828 - 7260
1837- 7746
1880-11542
1890-10851
1900-12497
1910-13599
1916-12305
1920-14332
1933- 15353
Dabei blieb die Bevölkerung nicht von schweren Epidemien verschont. So forderte
die Geißel der Cholera in der Zeit vom 19. September bis 15. November 1831
allein in der kath. Gemeinde 306 Opfer, i. J. 1866 264 und 1873 innerhalb 5
Wochen über 300. Von der Cholera des Herbstes 1848 lesen wir in einem Briefe, daß innerhalb 4 Wochen 270 Personen in der Stadt verstorben, daß der besonders
gesuchte Arzt Dr. Jacobson eine Zeitlang 100 Besuche täglich zu machen hatte,
von der des September 1852, daß in diesem Monat jeder 15 Einwohner verstarb.
Jacobson wurde für seine menschenfreundliche 211 und erfolgreiche ärztliche Tätigkeit in den Cholerajahren von 1831—52
zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Auch der technische Lehrer Höpffner vom
Gymnasium machte sich während dieser schweren Feiten durch seine
gefahrverachtende, opferwillige Hilfe, mit der er namentlich den Armen und
Waisen beisprang, besonders verdient und wurde vom Könige mit dem Allgemeinen
Ehrenzeichen dekoriert. Auch sonst fehlte es nicht an Helden todesverachtender
Nächstenliebe; so zeichnete die Stadt den Kaplan Anton Marquardt für seine
furchtlose, allgemein anerkannte Caritas im Cholerajahre 1848 mit dem
Ehrenbürgerrechte aus und erwirkte i. J. 1852 von der bischöflichen Behörde
seine Versetzung von einer Landpfarre auf die Braunsberger Erzpriesterei.
Den wachsenden Erfordernissen der fortschreitenden Zeit trug seit Anfang 1840
das von Otto Model herausgegebene Braunsberger Wochenblatt Rechnung, das am 1.
April 1841 von C. A. Heyne in das Braunsberger Kreisblatt umgewandelt wurde,
seit 1859 zweimal, seit 1869 dreimal wöchentlich, seit 1907 täglich erschien,
auch unter den städtischen Akademikern manchen geschätzten Mitarbeiter fand und
eine Fülle lokal- und kulturgeschichtlich interessanter Nachrichten birgt. Seit
Juli 1933 als Braunsberger Zeitung vom Amtlichen Kreisblatt getrennt, hat die
älteste Ortszeitung unter dem Druck der Wirtschaftlichen Verhältnisse Ende 1932
ihr Erscheinen eingestellt.
Das nach Einweihung der neuen evangelischen Kirche freigewordene ehemalige
neustädtische Rathaus wurde bald einem anderen Zwecke zugeführt: es wurde
Stadttheater. Die stolze klassische Weiheaufschrift an der Straßenfront: Apolloni et Musis! (Apollo und den Musen) deutete auf die neue Bestimmung des
Hauses hin, das fortan mehr oder minder guten Wandertruppen vorübergehenden
Aufenthalt gewährte, bis es i. J. 1901 dem Neubau der Konditorei Tolksdorf
(heute Bank der Ostpreußischen Landschaft) Platz machte.
Der Ausbruch der Pariser Februarrevolution d. J. 1848 riß auch Deutschland in
den Strudel der Freiheitsbewegung hinein, und selbst in der stillen
Passargestadt schlugen die neuen Ideen ihre Kreise. In den leidenschaftlichen
Breslauer Märztagen hatte Friedlich Wilhelm IV. u. a. Volksbewaffnung und
parlamentarische Wahlen zugestanden. Am 22. März wurde auch in Braunsberg eine
Bürgergarde aus 800 Mann gebildet, deren Kern die Schützengilde war. Sie erhielt
auf Antrag vom Kommandierenden General Grafen zu Dohna 400 Perkussionsgewehre
aus dem Zeughause der städtischen Garnison zugewiesen und versah den Wacht- und
Patrouillendienst zur Aufrechterhaltung der Ruhe, zumal seitdem am 26. April das Füsilier-Bataillon des 3.
Infanterie-Regiments verlegt worden war. Bauinspektor Bertram war der Kommandeur
der Bürgerwehr, die durch die Turmglocken alarmiert weiden sollte und eine
eigene Standarte führte.
Am 1. Mai sollte die Wahl der Wahlmänner erfolgen. Unter dem agitatorischen
Einfluß radikaler Führer schaffte sich die Unzufriedenheit der Arbeiter und
Knechte über ihre bedrängte Lage, die geringen Löhne und die teuren Mieten und
Lebensmittelpreise, die Konkurrenz auswärtiger Arbeiter u. a. gewaltsam Luft. Am
Sonntag, dem 30. April rotteten sich Arbeitergruppen von etwa 200 Mann auf dem
Vorstädtischen Markt zusammen, nahmen trotz der gütlichen Mahnungen des
Kommandeurs der Bürgergarde eine drohende Haltung ein und begannen die als
Klubhaus der Reichen verhaßte Ressource (Museumsgebäude) zu stürmen und zu
demolieren. Indessen wurde die Bürgerwehr von der Wache herbeigeholt, viele
freiwillige Bewaffnete schlossen sich ihr an, und nach einem kurzen und
energischen Bajonettangriff „lagen die Tumultanten furchtbar zerstoßen und
zerschlagen zu Boden, 19 Rädelsführer wurden auf die Wache geschleppt, die
übrigen zerstoben." Die Untersuchung ergab eine vorbereitete Aktion und fühlte
zur Festnahme weiterer 11 Delinquenten. Einer der Hauptschuldigen erhängte sich
nach zwei Tagen im Gefängnis, die anderen wurden mit harten Zuchthausstrafen
(6—1 1/2 Jahre) belegt.
Schon nach wenigen Wochen wurde von Rastenburg das 1. Jäger-Bataillon nach
Braunsberg verlegt, das hier bis zum 1. April 1884 lag und in diesen, durch drei
siegreiche Kriege ausgezeichneten Jahrzehnten in besonders engem, harmonischem
Verhältnis mit der Bürgerschaft verwuchs. Davon zeugen noch heute die gotische
Pyramide auf dem Hitlerplatz zum ehrenden Gedächtnis der 1870/71 gefallenen
Jäger und zwei Denksteine im Stadtwald.
Aus den ersten parlamentarischen Wahlen des Mai 1848 gingen am 8. für die
Berliner preußische verfassunggebende Nationalversammlung u. a. der Braunsberger
Professor am Lyzeum Dr. Anton Eichhorn, der spätere Hosius-Biograph und erste
Präsident des Ermländischen Historischen Vereins, als sein Stellvertreter
Oberlehrer Joseph Lingnau vom Gymnasium hervor, am 10. für die Frankfurter
deutsche Nationalversammlung der Lyzeumsdozent Karl Cornelius. Der namhafteste
der späteren ermländischen Abgeordneten war der Braunsberger Kirchenhistoriker
und spätere Dompropst Dr. Franz Dittrich (+ 1915), der 1893 in den preußischen
Landtag gewählt, in 213 Schul- und Kultusfragen bald eine einflußreiche Stellung gewann.
Ein gewisses Gefühl des Selbstbewußtseins und der Eigenverantwortung entband
als Auswirkung der Revolution auch im Ermland neue geistige Kräfte. So trat 1851
in Braunsberg der Adalbertus-Verein ins Leben, der planmäßig den Notständen der
kath. Diaspora in Ostpreußen steuern wollte. Im Spätsommer 1856 begann von hier
aus der Ermländische Hauskalender seine jährliche Wanderung durch die Heimat,
und im Oktober desselben Jahres konstituierte sich aus Braunsberger und
Frauenburger Gelehrtenkreisen der Historische Verein für Ermland, der wegen
seiner gründlichen Forscherarbeit und seiner Veröffentlichungen schnell die
verdiente Anerkennung fand. Ein Ermländischer Kunstverein, der i. J. 1869
ebenfalls in Braunsberg hoffnungsvoll auf den Plan trat, brachte es nur zu
kurzer Wirksamkeit. Die Verbundenheit zwischen ermländischem Blut und Boden fand
durch diese Unternehmungen, die in Braunsberg ihren geistigen Mittelpunkt
hatten, eine liebevolle Pflege.
Inzwischen hatte die Stadt den Anschluß an das neue Verkehrsnetz der Eisenbahnen
gewonnen. Am 19. Oktober 1852 konnte die älteste Bahnlinie Ostpreußens
Marienburg-Braunsberg und mit ihr die Telegraphenleitung in Betrieb genommen
weiden. Braunsberg war bis zum 1. August 1853 Endstation der Ostbahn. Wichtige
Baubüros, eine Maschinenwerkstätte, eine große Zahl Streckenarbeiter brachten
damals der Stadt wenn auch eine Teuerung der Lebensmittel, so doch rege
Aktivität und steigende Verdienstmöglichkeiten. Deshalb fürchteten Schwarzseher,
Braunsberg würde nach der Vollendung der Strecke nach Königsberg zum „Dorf"
herabsinken, d. h. sein Handel von dem der benachbarten Großstadt aufgesogen
werden. Die Eröffnung der Strecke nach der alten Krönungsstadt Königsberg sollte
aber mit besonderem Glanz vor sich gehen. Der König selbst hatte sein Erscheinen
zugesagt.
Friedlich Wilhelm IV. hatte bereits mehrfach die Stadt passiert, so am 9.
September 1840, als er mit seiner Gemahlin Elisabeth zur Huldigung nach
Königsberg reiste. Das Spalier der Bürger freundlich grüßend, hielt er vor dem
Hause des Kaufmanns Kuckein (Langgasse 32), nahm eine Erfrischung zu sich und
empfing von einem Atlaskissen mehrere Proben ermländischer Seide. Damals wurden
im Ermland energische Versuche gemacht, Maulbeerbäume anzupflanzen und
Seidenzucht zu betreiben. Besonders der Lehrer Tolksdorf in Heinrikau war der
Meister dieser Kunst, der daher dem durchreisenden König die beste Seidenprobe vorlegen konnte. Von Braunsberger Bürgern
befaßten sich der Seminardirektor Dr. Anton Arendt und der Spediteur Ehlert
damit, die ebenfalls vor den Majestäten mit Mustern ihrer Zucht aufwarteten.
Kalte Winter erwiesen freilich nach wenigen Jahren alle Bemühungen, diese
Industrie nach Ostpreußen zu verpflanzen, als vergeblich.
Ein Festkomitee unter Vorsitz des Landrats von Schwarzhoff traf die
Vorbereitungen für den Königsbesuch am 1. August 1853. Kreisbauinspektor Bertram
hatte mit ungewöhnlichem Kunstsinn einen Güterschuppen am Bahnhof in königliche
Gemächer umgewandelt. In dem Schmuck der Fahnen und Ehrenpforten auf dem Bahnhof
erregte folgende sinnvolle Transparentaufschrift besondere Aufmerksamkeit:
Fern
zu des Ostens Gestaden entsendet auf eisernen Schienen
König Dein schaffendes
Wort kühn das beflügelte Rad.
Stolz auf den älteren Ruhm der Treue, der
Vaterlandsliebe,
Schaut hier ein kräftiges Volk dankend zum Herrscher empor.
Näher bist Du uns gerückt; denn die Räume, die Zeit sind
geschwunden,
Näher sind Fürst sich und Volk! Gott schütze Preußen in Dir!
Nachdem vormittags von auswärts eine Reihe von Gästen, darunter auch Bischof Dr. Geritz von Frauenburg, eingetroffen waren, langte der König in seinem Salonwagen
vor 1 Uhr auf der Station an. Tausendstimmiger Jubel und die Vaterlandshymne der
Militärmusik begrüßte ihn, dann lichteten der zuständige Minister von der Heydt
und Regierungsbaurat Wiebe die Bedeutung des Festtages würdigende Dankesworte an
ihn. Hierauf nahm der König vor dem Empfangsgebäude die Parade des
Jägerbataillons ab, danach den Vorbeimarsch der Schützengilde, die ihm für die
zu Anfang des Jahres geschenkte Fahne ihren Dank aussprach. Nun folgte die
Vorstellung der um den Bahnbau verdienten Beamten und der Festteilnehmer und
schließlich in der Festhalte ein Frühstück, bei dem Landrat von Schwarzhoff den
Toast auf den König ausbrachte, der seinerseits gerührt mit einem dreimaligen
Hoch auf die Provinz, die Festgeber und die Verwirklichung der Hoffnungen, die
sich an die Vollendung des Bahnbaues knüpften, erwiderte. Um 3 Uhr setzte sich
der Extrazug unter stürmischen Huldigungen nach Königsberg in Bewegung.
Seither verlor Braunsberg als Durchgangsort des Verkehrs an Bedeutung, und
mancher vornehme Gast, der zuvor in dem Deutschen Haus (Langgasse 70) und
Schwarzen Adler seine Reise in der Postkutsche unterbrochen hatte, sah nunmehr
vom 2l5 schnaubenden Dampfroß aus die Passargestadt vorüberfliegen. Ein Ausnahmefall
war es, wenn Zar Alexander II. mit seiner Gattin und einem Gefolge von 90
Personen in der Nacht vom 22. bis 23. Mai 1865 in Braunsberg Logis bezog.
Schlaf- und Speisewagen gab es noch nicht, und in der friedlichen Passargestadt
mochte es sich ruhiger schlafen als in der Großstadt Königsberg. Das Kaiserpaar
und die Großfürsten nächtigten auf dem Bahnhof; aus vier Beamtenwohnungen war
ein Quartier mit 20 Zimmern hergerichtet, Mauern durchbrochen, Möbel aus dem
Königsberger Schloß, Teppiche u. a. zur fürstlichen Ausstattung beschafft
worden. Da aber für die hohe Begleitung der Schwarze Adler mit 8 und der neue
Rheinische Hof mit 19 Zimmern nicht ausreichten, wurde eine größere Zahl
möblierter Zimmer benötigt. Kommerzienrat Kuckein beherbergte Herzog von
Mecklenburg, Postmeister Kersten den Oberhofmarschall Grafen Schuwaloff und
Staatssekretär Müller, sein Sohn Rittergutsbesitzer Theodor Kuckein den Fürsten
Dolgorucki usw. Nach Ankunft des aus 12 Wagen bestehenden Extrazuges nahmen die
hohen Herrschaften ein Souper ein. Als sie am nächsten Morgen bis Dünaburg
weiterreisten, sprachen sie sich sehr anerkennend über ihre Unterkunft aus.
Um dem verehrten Herrscherhause bei der Durchreise ihre Huldigung darzubringen,
nahmen wiederholt städtische Körperschaften, Vereine und Schulen auf dem
festlich geschmückten Bahnhof Aufstellung. So am 10. September 1879, als Kaiser
Wilhelm I. und der Kronprinz vormittags auf der Fahrt nach Königsberg die Stadt
passierten. Den Aufenthalt von 6 Minuten benutzte der greise Monarch zur
freundlichen Begrüßung der führenden Persönlichkeiten. Zur Schützengilde, die
seine Lieblingsblumen, Kornblumen, in den Lauf gesteckt hatten, äußerte er: „Sie
haben friedliche Munition aufgesteckt."
Der Anschluß der Passargestadt an den modernen Schienenstrang und die
Verbreitung der Dampfschiffahrt bedeuteten das Absterben der Braunsberger
Handelsschiffahrt. Noch in den vierziger Jahren besaß das Handelshaus Kuckein
mehrere Segelschiffe, andere die Firmen Stampe, Oestreich und Kutschkow und
Drews, von denen zwar nicht die Dreimasterbarken, wohl aber die zweimastigen
Briggschiffe den Braunsberger Hafen anlaufen konnten; sie führten damals außer
ermländischen Getreide- und Flachsfrachten auch Holzladungen von Memel bis nach
England und Irland. Jetzt nahm die Bahn der Schiffahrt, die vom Wasserstand und
Eis der Passarge abhängig war, die Frachten zu den innerdeutschen Plätzen ab,
mehr noch, als das Bahnnetz das Innere der Provinz erfaßte; bald
verdrängte auch die mechanisierte Großschiffahrt die kleinen Flußfahrzeuge. Für
die Flachserzeugung versprachen sich die Behörden freilich durch die Bahn eine
Belebung. Man schätzte i. J .1856 das jährliche Wachstum des Flachses im Ermland
auf fast 1 Million Taler; der größte Teil davon wurde ungereinigt von Aufkäufern
in den Bauernhäusern abgeholt und kam dann zu den Braunsberger Großhändlern, die
durch ihre Speicherarbeiter und Flachsbinder das Rohmaterial zurichten,
sortieren und lagern ließen, um es zu verkaufen und zu verschiffen. Nun glaubte
die Behörde, gestützt durch Gutachten des landwirtschaftlichen Zentralvereins,
der nachlassenden ermländischen Flachserzeugung dadurch einen neuen Auftrieb zu
geben, daß sie den Bauern riet, durch sorgfältiges Schwingen, Reinigen und
Hecheln die Güte des Flachses zu heben und ihn dann auf einem besonderen Markt
direkt an auswärtige Spinnereibesitzer abzusetzen, die mit der Bahn leicht
anreisen könnten. Durch Prämien sollten außerdem die besten Erzeugnisse
ausgezeichnet werden. Obwohl diese Maßnahmen den Braunsberger Großhandel in
seiner Existenz bedrohten, wurde für den 27.-29. Februar 1856 der erste
ermländische Flachsmarkt in Braunsberg anberaumt, den die Bauern mit hohen
Erwartungen begrüßten. Am ersten Tage fuhren gegen 500 Wagen 15000 Bunde Flachs
an. Der Umsatz und Preis brachte aber den Produzenten schwere Enttäuschungen.
Wenn auch die besten 15 Flachssorten mit Geldprämien, später mit Silberbechern
ausgezeichnet wurden, — diesmal erhielt Bes. Andreas Marquardt aus Grunenberg
für seine Spitzenleistung 25 Taler, — so waren doch nur wenige schlesische
Fabrikanten erschienen, der ganze Umsatz belief sich auf 60 000 Taler, die
Preise waren gedrückt. Trotzdem behauptete sich der Braunsberger Flachsmarkt,
der später am 3. Dezember stattfand, bis in die 90er Jahre, verlor aber mit der
mangelnden Rentabilität des Flachsanbaus und seinem Rückgang seit den 70er
Jahren mehr und mehr an Bedeutung.
Die Eröffnung der Ostbahn gab den Anstoß zur Gründung des Polytechnischen
Vereins (1853), der seine Mitglieder mit den neuesten Errungenschaften der
Naturwissenschaften und Technik bekannt machen wollte. Sein erster Vorsitzender
Prof. Dr. Feld und sein vorletzter Prof. Switalski waren die erfolgreichsten
Leiter dieses verdienstvollen populärwissenschaftlichen Vereins, dessen Vorträge
durch Pressereferate auch weiten Kreisen der heimatlichen Bevölkerung zugänglich
gemacht wurden.
Im November 1854 konnte die kleine jüdische Gemeinde ihre Synagoge einweihen.
2l7
Die ruhmreichen Kriege der Jahre 1864, 1866 und 1870/71 weckten auch in
Braunsberg patriotischen Widerhall, um so mehr, als die Bevölkerung an den
Geschicken ihrer mitkämpfenden Jäger wie ihrer eigenen Söhne herzlichen Anteil
nahm. Als am 3. März 1871 die Freudenkunde von der Ratifikation des Friedens die
Stadt durcheilte, da ließ man die Fahnen wehen, hängte Transparente aus und
tauchte abends selbst die kleinsten Gäßchen in den Lichterglanz der
Illumination. Ratsherr Sinogowitz aber ließ als Schützenhauptmann seine Mannen
zum Zapfenstreich antreten; bengalische Flammen flackerten grün und rot durch
das Dunkel der Nacht, und übermütiges Schießen und Knallen störten die gemessene
Ruhe des sonst so stillen Stadt.
Die aufrichtige Freude an dem neuen Kaiserreich erfuhr bald durch den
Kulturkampf bei der kath. Bevölkerung eine schmerzliche Trübung. Gerade in Braunsberg entzündete sich dieser kirchenpolitische Kampf am ersten und am
schärfsten. Mehrere Braunsberger Geistliche, so der Philosophie-Professor Dr.
Michelis, der Gymnasial-Religionslehrer Dr. Wollmann und der Seminardirektor Dr.
Treibel weigerten sich, die vom Vatikanischen Konzil im Juli 1870 definierte
päpstliche Unfehlbarkeit anzuerkennen, und wurden deshalb vom Bischof Dr.
Philippus Krementz exkommuniziert. Da der Staat sich schützend vor seine Beamten
stellte, war der Konflikt gegeben.
Bischof Krementz sah sich genötigt, Dr. Wollmann die Erlaubnis zur Erteilung des
Religionsunterrichtes zu entziehen, meldete dem Kultusminister von Mühler diese
Maßregelung und erbot sich, mit seiner Zustimmung einen anderen Priester auf
seine eigenen Kosten mit der Erteilung des Religionsunterrichts zu betrauen.
(5.4.1871). Der Minister lehnte das Angebot ab, da die Verhängung kirchlicher
Zensuren auf ein Staatsamt ohne Einfluß sei. Zugleich wurde dem Direktor Weisung
gegeben, daß eine Dispensation von den Religionsstunden nicht zulässig sei. Es
stünde den Eltern frei, ihre Kinder auf ein anderes Gymnasium zu schicken. Als
Dr. Wollmann demgemäß den Religionsunterricht fortsetzte, wandten sich viele
Eltern nach vergeblichen Eingaben an die Behörden zuletzt unmittelbar an Kaiser
Wilhelm I., indem sie baten, ihre Kinder nicht ihres Glaubens wegen von dem
Besuche einer stiftungsmäßig kath. Lehranstalt auszuschließen, sondern für die
Erteilung eines kath. Religionsunterrichtes Sorge tragen zu wollen (19. 8.
1871). Auch die in Fulda versammelten preußischen Bischöfe baten in einer
Immediateingabe um Aufhebung
des Gewissenszwanges, der an den Schülern des Braunsberger Gymnasiums geübt
werde. Da diesen Bittgesuchen nicht Rechnung getragen wurde, sank die Zahl der
kath. Schüler im Herbst 1871 von 251 auf 88; die meisten der Abgegangenen
suchten eine andere Anstalt, insbesondere Rößel, auf.
Die Braunsberger Vorgänge erregten in der ganzen kath. Welt Aufsehen. Selbst aus
Italien, England, Irland und dem amerikanischen Pennsylvanien liefen
Sympathiekundgebungen ein. In den katholischen Teilen Deutschlands wurden Sammlungen
für die ausgewanderten Gymnasiasten veranstaltet. Im Dezember 1871 ging eine von
439 Familienvätern Braunsbergs und seiner Umgebung unterschriebene Petition an
das preußische Abgeordnetenhaus ab, worin Abhilfe verlangt wurde. Bevor am 1.
März 1872 dieses Gesuch in der Unterrichtskommission verhandelt wurde, hatte der
neue Kultusminister Dr. Fall am Tage zuvor bestimmt, daß in den öffentlichen
höheren Schulen eine Befreiung vom Religionsunterrichte zulässig sei, sofern ein
genügender Ersatz dafür nachgewiesen sei. Im übrigen lehnte die Mehrheit der
Kommission wie des Plenums trotz eingehender Begründung der Braunsberger
Petition eine Einmischung in diese innerkirchlichen Dinge ab. Auf Grund der
ministeriellen Verfügung übernahm Privatdozent Dr. Krause im Einverständnis mit
dem Bischof alsbald den fakultativen Religionsunterricht am Gymnasium, an dem
sogleich die meisten der kath. Schüler, die nunmehr auch von auswärts
zurückkehrten, teilnahmen. Die Gymnasialkirche überwies der Minister im Februar
1874 den sogenannten Altkatholiken. Erst als zu Ostern 1876 Dr. Wollmann auf
eine Oberlehrerstelle nach Köln versetzt und zum Herbst der Rektor der
Wormditter Selekta Anton Matern mit der freigewordenen Religionslehrerstelle
betraut wurde, fanden die Wirren am Gymnasium ihr Ende. Das bischöfliche
Konvikt, das i. J. 1843 hauptsächlich für solche Schüler gestiftet worden war,
die sich dem theologischen Studium widmen wollten, und dessen Neubau in den
Jahren 1870—72 aufgeführt wurde, durfte laut Verordnung des Königsberger
Piovinzial-Schulkollegiums seit 1873 keine neuen Zöglinge mehr aufnehmen, war
damit auf den Aussterbeetat gesetzt und wurde erst im Oktober 1886 feierlich
wiedereröffnet. Im Weltkriege für Lazarettzwecke verwendet, wurde es 1925 seinem
ursprünglichen Zwecke wieder dienstbar gemacht und seither von Pallotinern aus
dem Mutterhause Limburg a. L. geleitet.
Ähnlich wie am Gymnasium gestaltete sich die kirchenpolitische Entwicklung auch
am kath. Lehrerseminar. Da Direktor Dr. Treibel trotz seiner Suspension den
Religionsunterricht 219 weiter erteilte, eine Anwendung des Falkschen Dispens-Erlasses zunächst
abgelehnt wurde, weil das Seminar keine höhere Schule sei und außerdem aus
pädagogischen Gründen, petitionierten 3475 ermländische Familienväter an das
Abgeordnetenhaus und erwirkten, daß im Februar 1873 die Befreiung vom
Religionsunterricht auch auf das Seminar ausgedehnt wurde. Darauf schied die
überwiegende Mehrheit der Seminaristen aus Treibels Religionsunterricht aus.
Treibel wurde im Oktober 1876 versetzt.
Friedrich Michelis (1815 - 1886),
deutscher Philosoph und altkatholischer Theologe,
Professor der Philosophie in Paderborn und Braunsberg.
Michelis, der 1870 wegen seiner Ablehnung
des Unfehlbarkeitsdogmas exkommuniziert worden war und deshalb seine Professur
in Braunsberg (Ostpreußen) aufgeben mußte, war einer der redegewandtesten
Agitatoren gegen die römischen Herrschaftsansprüche und für die altkatholische
Sache.
Der Vatikan exkommunizierte kurzerhand alle Unfehlbarkeitsgegner, ganz gleich,
ob sie aus grundsätzlichen dogmatischen oder biblischen Gründen das Dogma
ablehnten, oder ob sie Gegner der Ohrenbeichte, des Zölibats, der lateinischen
Gottesdienstsprache, des kirchlichen Gebühren- und Ablaßwesens oder bestimmter
religiöser Praktiken waren und schrieb damit den Bruch endgültig fest.
Am Lyzeum Hosianum verweigerten die Professoren Michelis und Menzel ihre
Unterwerfung unter die Vatikanischen Konzilsbeschlüsse. Da sie gegen den
Einspruch des Bischofs vom Staat in ihrem Amt belassen wurden, kamen ihre
Vorlesungen für die Theologiestudenten nicht mehr zustande. Im September 1873
verfügte die Regierung die Einbehaltung der für das bischöfliche Priesterseminar
ausgesetzten Mittel und verbot den Studierenden des staatlichen Lyzeums die
Zugehörigkeit zum Priesterseminar. Daraufhin mußten die Studenten
Privatwohnungen in der Stadt beziehen. Auch eine gemeinsame Bespeisung im
Seminar und Andachtsübungen daselbst wurden im November untersagt. Nur die
Kleriker des letzten Pastoralen Ausbildungsjahres durften im Seminar verbleiben,
bis es im Dezember 1876 auch für diese auf staatlichen Befehl geschlossen wurde.
Die bischöfliche Behörde sandte fortan ihre Kleriker nach dem bayrischen
Eichstätt, bis nach Abbau der Kulturkampfgesetze im Oktober 1886 das verwaiste
Steinhaus wieder von 24 Alumnen bezogen werden konnte.
Die kirchenpolitischen Kämpfe waren im Dezember 1871 der Anlaß zur Gründung der
Ermländischen Volksblätter, die unter der gewandten Redaktion des ermländischen
Kalendermannes Domvikars Julius Pohl rasch eine führende Bedeutung in der
Provinzpresse gewannen. Seit Ende 1874 konnte die umbenannte Ermländische
Zeitung in einer eigenen Druckerei erscheinen.
Katharinenschwestern unterrichteten wie in den anderen ermländischen Städten
auch in Braunsberg an der katholischen Mädchenschule, für die sie außerdem die
Klassenräume hergaben. Ein Erlaß des Ministers Fall vom Juni 1872 verbot die
Zulassung von Klosterschwestern als Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen.
Infolge der entstehenden erheblichen Mehrkosten sah das Gesetz jedoch eine
gewisse Frist zur Durchführung vor. In Braunsberg wurden erst im Oktober 1877
die Schwestern mit dem Ausdrucke des Dankes für ihre langjährigen, erfolgreichen
Dienste verabschiedet, das von ihnen neuerbaute Schulhaus an die Stadt
vermietet. Auch das 1866 begründete Waisenhaus mußten die Katharinerinnen i. J. 1877 für mehrere Jahre aufgeben.
Bald aber wuchs der Wirkungskreis der Kongregation, die sich auch im
Lazarettdienst der Kriege 1866 und 1870/71 bewährt hatte, ins Ungeahnte. Von
ihrem Braunsberger Mutterhause aus übernahm sie nicht nur neue Kranken- und
Siechenhäuser, Erziehungs- und Waisenanstalten, Haushaltungsschulen,
Kindergärten und Schwesternstationen in der ganzen Diözese, seit 1908 griff ihre
karitative Arbeit auch in die Großstadt Berlin über. Nach vorübergehender
Auslandsbetätigung in Finnland (1877—82), St. Petersburg (1877—80) und England
(1896—1915) ist ihr seit 1897 unter den deutschen Volksgenossen Brasiliens ein
besonders dankbares Feld der Erziehung und Krankenpflege eröffnet worden. 230
Schwestern gehören jenem südbrasilianischen Zweige der Braunsberger Kongregation
an, während es in Deutschland 600 sind. Bei dieser zentralen Bedeutung
Braunsbergs für die ermländische kirchliche Wohlfahrtspflege war es naheliegend,
daß die Stadt bei der Gründung des ermländischen Caritasverbandes i. J. 1906 auch
zu dessen Vorort bestimmt wurde.
Von karitativen Anstalten der kath. Pfarrgemeinde seien anschließend hier
erwähnt das St. Marienkrankenhaus, das einem Legat des Pfarrers Kampfsbach in
Tolksdorf i. J. 1863 seinen Ursprung verdankt, allmählich ausgebaut wurde und
1913/14 durch einen Neubau erweitert wurde, so daß es eine Belegstärke von 120
Betten hat. Neben dem aus alten Stiftungen vereinigten St. Andreashospital
bietet ein 1882 begründetes Siechenhaus jetzt Raum für 80 alte Leute. Das St.
Elisabethstift wurde unter Erzpriester Reichelt 1915/16 für schulentlassene
Fürsorgezöglinge errichtet, 1922 aber in ein Heim für kath. Magdalenen
umgewandelt. Kindergärten in der Altstadt (1898 begründet) und in der Neustadt
(1917), sowie ein vom jetzigen Erzpriester Prälat Schulz errichteter Kinderhort
(1932) im Theresienheim, der früheren „Liedertafel", betreuen zahlreiche Kinder
der Gemeinde. Ein Vereinshaus bietet seit 1872 den katholischen Vereinen
Unterkunft.
Dem Geiste der inneren Mission entsprossen mehrere Wohlfahrtsanstalten der
evangelischen Gemeinde. 1862 wurde ein Hospital für Alte, 1874 ein Waisenhaus,
zum Lutherjubiläum i. J. 1883 das Martinsstift für Sieche und die Lutherkapelle
errichtet. 1899 erbaute Superintendent Schawaller mit einem Kostenaufwand von 70
000 Mark ein neues Kranken- und Siechenhaus und 1906/07 mit Provinzialmitteln
das Magdalenenstift für 70—80 weibliche Fürsorgezöglinge. Ein
221 Säuglingsheim im Neubau des Mädchen-Waisenhauses (1925) ist das letzte große
Liebeswerk der evangelischen Gemeinde unter ihrem jetzigen Superintendenten
Graemer. Das alte Schützenhaus ist i. J. 1894 angekauft und in ein Gemeindehaus
umgewandelt worden.
Im ehemaligen Kreishaus am Bahnhof hat der Kreis i. J. 1908 ein Altenheim, im
früheren Lazarettgebäude die Stadt i. J. 1926 ein Rentnerheim eingerichtet.
Am 24. April 1886 verstarb im Alter von fast 82 Jahren ein origineller Wohltäter
der Stadt, der Seminardirektor a. D. Dr. Anton Arendt. 1804 in Wormditt geboren,
hatte er in Braunsberg das Gymnasium und Lyzeum absolviert, als Kaplan dieser
Stadt sich durch seine hingebende Seelsorge an Cholerakranken i. J. 1831 und
seinen Unterricht an der Mädchenschule ausgezeichnet und war im Herbst 1833 zum
Direktor des Lehrerseminars befördert worden, das er bis zu seiner Pensionierung
i. J. 1868 leitete. Arendt schaffte sich durch eine Reihe trefflicher
Lehrbücher, namentlich sein Lesebuch für die katholischen Volksschulen, einen
anerkannten Ruf. Durch peinliche Sparsamkeit und kluge Verwaltung schuf er sich
ein beträchtliches Vermögen, zu dessen Universalerben er die Stadt Braunsberg,
in der er seit 1820 gelebt hatte, oder falls sie die Erbschaft ablehnen sollte,
seine Vaterstadt Wormditt einsetzte. An liegenden Gründen (Häusern, Scheunen und
Land in beiden Städten, aber auch Ländereien in Joinville in Brasilien)
hinterließ er einen Wert von 14 000 Talern, an Wertpapieren und
Schuldforderungen 20000 Tl. Dieses Erbe sollte der Grundstock einer wohltätigen
Stiftung sein. Von den 1640 Tl. Jahreszinsen sollten 640 Tl. in der ersten
Etatsperiode von 25 Jahren zu besonderen Unterstützungen und gemeinnützigen
Zwecken für Kranke, Arme, Studierende, Waisen, Schwestern u. a. verausgabt, die
restlichen 1000 Tl. auf Zinseszins angelegt werden, so daß das Gesamtkapital
nach einem Vierteljahrhundert auf 61900 Tl. gestiegen sein sollte. Die 2.
Etatsperiode sollte 20 Jahre umfassen; während dieser Zeit sollten jährlich 756
Tl. verausgabt, die Mehrzinsen von 2 000 Tl. aber wieder kapitalisiert werden,
so daß das Gesamtvermögen i. J. 1921 die Höhe von 109000 Tl. erreicht haben
sollte. Nach weiteren Perioden von 20 Jahren sollten zu Beginn der 6. Periode
467 900 Tl. und 18 996 Tl. Zinsen zur Verfügung stehen; dann sollte die Stiftung
ihre volle Höhe erlangt haben und sämtliche Zinsen zur Verteilung kommen, davon
12 946 Tl. für gemeinnützige Zwecke vorwiegend in Braunsberg. Der Weltkrieg und
die Inflation haben Arendts sorgfältige Zinseszinsrechnung
über den Haufen geworfen. Zur Zeit beträgt die Jahresrente für Braunsberg rund
1800 M. Auf dem mit seiner Beihilfe gekauften Katharinenfriedhof in der
Malzstraße birgt eine genau nach seinen Angaben erbaute Grabkapelle seine
Leiche, die einbalsamiert werden mußte.
Bischof Augustinus Bludau (1862 - 1930)
Er hatte ich Braunsberg Theologie studiert, setzte seine
theologischen Studien in Münster fort und kehrte 1891 nach seiner Promotion zum
Dr. theol. in die Heimat zurück. Nach drei Jahren Kaplanszeit in Braunsberg
wurde er 1894 Subregens des Priesterseminars und Präfekt am bischöflichen
Knabenkonvikt, 1895 ao. und 1899 o. Professor für Neues Testament in Münster.
1908/09 wurde er Bischof von Ermland. B. ist bekannt als Exeget und Förderer der
Caritas. Ohne sein Bischofsamt zu vernachlässigen, blieb er seiner
liebgewonnenen wissenschaftlichen Tätigkeit treu. In den Nöten und Sorgen der
Kriegszeit und der Nachkriegsjahre bewährte sich B. als Bischof.
Im April 1884 war das 1. Jägerbataillon unter lebhaftestem Bedauern der
Bürgerschaft nach Allenstein verlegt worden, und die Verstimmung darüber war so
groß, daß die Feier des 600jährigen Stadtjubiläums in Frage gestellt war. Die
frische Initiative des Prof. Dr. Dittrich wußte dann doch die Heimatliebe der
Einwohner so zu entfachen, daß am 2. Juli in schlichtem Rahmen eine würdige
Feier in der Stadt und im Stadtwalde veranstaltet wurde. Zwar erhielt
Braunsberg als Ersatz für die Jäger ein Bezirkskommando, aber Garnison wurde
es erst wieder im Oktober 1893, als zunächst in gemieteten Bürgerhäusern. Mt
Oktober 1898 in den von der Stadt neuerbauten Kasernen das Füsilier-Bataillon
des 3. Ostpreußischen Grenadier-Regiments König Friedrich Wilhelm Nr. 3 seinen
Einzug hielt. Vom Oktober 1912 bis 31. Juli 1914 garnisonierte hier das 3.
Bataillon des 5. Westpreußischen Infanterie-Regiments Nr. 148. Während des
Weltkrieges war das Kasernement mit verschiedenen Ersatzabteilungen und
Rekrutendepots, das Lazarett mit einem Reservelazarett belegt. In der
Nachkriegszeit wurde es zu Wohnungen eingerichtet. Seit dem letzten Winter
bietet ein Block der ostpreußischen Bezirksführerschule des Arbeitsdienstes
Unterkunft.
Seitdem dem Braunsberger Großhandel durch die moderne Verkehrsentwicklung das
Rückgrat gebrochen war, beruhte das Wirtschaftsleben der Stadt hauptsächlich auf
dem gewerblichen Mittelstand. I. J. 1860 zählte man 381 Meister 313 Gesellen und
185 Lehrlinge in 44 Berufsgruppen. 1888 schlossen sich 15 Innungen zu einem
Innungsausschuß zusammen. Von industriellen Unternehmungen entstanden neben der
alten Amtsmühle im 19. Jahrhundert eine Seifenfabrik, die seit 1824 im
Familienbesitz Sonnenstuhl befindliche Lederfabrik, i. J. 1828 eine Spritfabrik
und 1854 die Bergschlößchen-Bierbrauerei, beides Unternehmungen des betriebsamen
Jakob von Roy, 1879 die Wendelsche Ofenfabrik, 1885 die Filiale der
Zigarrenfabrik Loeser und Wolff, 1896 die Feinlederfabrik Beiger. 1884
beschafften Braunsberger Kaufleute einen Dampfer für den Verkehr nach Pillau und
Königsberg. Immerhin wurden i. J. 1905 zu Schiff nach Braunsberg 4 536, von der
Stadt 3 982 Tonnen Fracht befördert. 223
Den Eisenbahnverkehr ins Ermland ermöglichte die 1884 eröffnete Strecke
Braunsberg—Mehlsack, die hier auf die neue Linie Allenstein—Königsberg traf. Die
Haffuferbahn, die von Braunsberg und Elbing aus die malerische Haffküste und
Kahlberg dem Verkehr erschloß, wurde als Unternehmung einer Aktiengesellschaft
erst 1899 in Betrieb genommen. Zu der ältesten Kunststraße der Provinz
Königsberg—Elbing, die die ermländische Hauptstadt schon i. J. 1826 berührte,
kam die Chaussee nach Mehlsack in den Jahren 1845—53 hinzu, während die anderen
von Braunsberg ausgehenden Kunststraßen später, die Zagerer erst i. J. 1932
vollendet wurden.
Staatliche Behörden entschädigten die Stadt für die geschwundene
Handelsbedeutung. Schon 1821 war das Stadtgericht und das kgl. Domänenjustizamt
zu Braunsberg zu einem kgl. Land- und Stadtgericht vereinigt. 1849 wurden die
Kreise Braunsberg und Heiligenbeil zu dem Kreisgericht Braunsberg mit mehreren
Gerichtsdeputationen und Kommissionen zusammengefaßt. Nach der
Justizorganisation d. I. 1879 wurde in Braunsberg ein Land- und Amtsgericht
geschaffen, für das alsbald ein geräumiger Neubau aufgeführt wurde. I. J.
1890-1891 wurde das preußische Landgestüt Braunsberg begründet, dessen Bezirk
zur Zeit die Kreise Braunsberg, Heilsberg, Allenstein, Elbing, Pr. Holland,
Mohrungen, Heiligenbeil, Pr. Eylau, Fischhausen, Königsberg und Wehlau umfaßt.
Der Hengstbeftand beträgt 107 Hengste, davon 69 Warmblüter und 38 Kaltblüter,
die auf 45 Deckstellen verteilt sind.
Schon frühzeitig i. J. 1867 erbaute die Stadt eine Gasanstalt, 1881 wurde das
Schlachthaus eröffnet, das 1900 erweitert wurde. Unter der besonnenen
Amtsführung des Bürgermeisters Heinrich Sydath (1890—1917), dessen Gedächtnis in
einer neuen Straße fortlebt, wurde das städtische Wasserwerk errichtet, das im
Februar 1897 in Betrieb genommen werden konnte. In seine Amtszeit fällt die
durchgreifende, wohlgelungene Erneuerung der St. Katharinenkirche durch
Erzpriester Anton Matern, durch die das ehrwürdige mittelalterliche Gotteshaus
in verjüngter Schönheit erprangte (1891—97). 1910/11 wurde die Kanalisation der
Stadt durchgeführt. Der Abschluß dieses über 500 000 M. kostenden Werkes war der
Anlaß zu einer Ehrung der Stadt. Regierungspräsident Dr. Graf von Keyserlingk
gab in einer Festsitzung der städtischen Körperschaften am 25. Januar 1912 unter
anerkennenden Worten bekannt, daß dem Bürgermeister Sydath das Recht zum Anlegen
einer goldenen Amtskette, dem Stadtverordnetenvorsteher Justizrat Mehlhausen der
Rote Adlerorden 4. Klasse verliehen sei. Als Sydath zum Oktober 1917 in den Ruhestand trat, wurde er zum Ehrenbürger der
Stadt ernannt. Im Alter von 83 Jahren starb er 1931 in Neukölln bei Berlin.
Heinrich Sydath (1848 - 1931)
Bürgermeister der Stadt Braunsberg (1890 - 1917)
Zum Bild:
Heinrich Sydath gehört neben Simon Wichmann (1581 - 1638, Bürgermeister während der Schwedenherrschaft im
30jährigen Krieg) und Kommerzienrat Johann Oestreich (1750 - 1833, Kgl. Kommissar und Begründer des neuen
reformierten Bildungswesens) zu den Männern, die die Geschichte der Stadt Braunsberg entscheidend geprägt haben.
Unter seiner besonnenen Amtsführung wurde u. a. das städtische Wasserwerk erbaut und die St. Katharinenkirche
neugotisch ausgestattet. Höhepunkt in der 27-jährigen Amtszeit Sydaths war die Einweihung des städtischen
Kanalisationssystems. In einer Festsitzung der städtischen Körperschaften am 25. Januar 1912 teilte der
Regierungspräsident Dr. Graf von Keyserlingk dem Braunsberger Bürgermeister Sydath mit, daß der König ihm das Recht
verliehen habe, eine goldene Amtskette zu tragen. Während des Ersten Weltkrieges hat Bürgermeister Sydath durch
besonnenes Handeln größere Not von der Bevölkerung seiner Stadt abgewendet.
Braunsbergs jahrhundertealter Ruf als Schulstadt hat sich bis in die Gegenwart
behauptet. Zu den früheren Lehrstätten kam i. J. 1887 als eine der ersten
landwirtschaftlichen Schulen der Provinz die Braunsberger hinzu, die i. J. 1912
ein eigenes Heim erhielt. Seit 1926 ist ihr eine Hauswirtschaftliche Abteilung
für Mädchen angegliedert. Eine besonders blühende Entwicklung nahm die kath.
höhere Mädchenschule, die i. J. 1909 22 Klassen umfaßte und in vier Zweige
zerfiel: zwei Seminare für höhere Lehrerinnen und Volksschullehrerinnen, eine
dreiklassige Präparandie, eine zehnklassige höhere Mädchenschule und eine
achtstufige dreiklassige Übungsschule. Die verdiente Leiterin Elisabeth
Schröter hatte die Freude, daß diese wichtigste ermländische Bildungsstätte für
die weibliche Jugend i. J. 1909 vom Minister anerkannt wurde und als Lyzeum und
Oberlyzeum i. J. 1917 den Namen Elisabeth-Schule erhielt. Während der kritischen
Inflationsjahre i. J. 1922 mit der evangelischen höheren Mädchenschule vereinigt
und auf den städtischen Haushalt übernommen, wurde die Elisabeth-Schule, deren
Aufgabenkreis mit der Reform der Lehrerinnenbildung eingeschränkt worden war,
als öffentliche höhere Lehranstalt am 1. April 1925 anerkannt. Die das frühere
katholische Lehrerseminar in seinen Klassenräumen ablösende Schloßschule ist
1922 als deutsche Oberschule in Aufbauform begründet und führt in sechs Jahren
zur Reifeprüfung. Die 1906 eingerichtete Berufsschule umfaßt eine gewerbliche,
eine kaufmännische und eine hauswirtschaftliche Abteilung und eine
Haushaltungsschule. Eine Kraftfahrzeug-Mechanikerschule mit halbjährigen Kursen
wurde 1928 vom Mechaniker-Innungsverband Ostpreußens eingerichtet. Als neueste
Bildungsstätte ist die Bezirksschule für den Arbeitsdienst am 18. Januar 1934
feierlich eröffnet worden.
Katholische St. Katharinenpfarrkirche
Evangelische Pfarrkirche
Braunsbergs jahrhundertealter Ruf als Schulstadt hat sich bis in die Gegenwart
behauptet. Zu den früheren Lehrstätten kam i. J. 1887 als eine der ersten
landwirtschaftlichen Schulen der Provinz die Braunsberger hinzu, die i. J. 1912
ein eigenes Heim erhielt. Seit 1926 ist ihr eine Hauswirtschaftliche Abteilung
für Mädchen angegliedert. Eine besonders blühende Entwicklung nahm die kath.
höhere Mädchenschule, die i. J. 1909 22 Klassen umfaßte und in vier Zweige
zerfiel: zwei Seminare für höhere Lehrerinnen und Volksschullehrerinnen, eine
dreiklassige Präparandie, eine zehnklassige höhere Mädchenschule und eine
achtstufige dreiklassige Übungsschule. Die verdiente Leiterin Elisabeth
Schröter hatte die Freude, daß diese wichtigste ermländische Bildungsstätte für
die weibliche Jugend i. J. 1909 vom Minister anerkannt wurde und als Lyzeum und
Oberlyzeum i. J. 1917 den Namen Elisabeth-Schule erhielt. Während der kritischen
Inflationsjahre i. J. 1922 mit der evangelischen höheren Mädchenschule vereinigt
und auf den städtischen Haushalt übernommen, wurde die Elisabeth-Schule, deren
Aufgabenkreis mit der Reform der Lehrerinnenbildung eingeschränkt worden war,
als öffentliche höhere Lehranstalt am 1. April 1925 anerkannt. Die das frühere
katholische Lehrerseminar in seinen Klassenräumen ablösende Schloßschule ist
1922 als deutsche Oberschule in Aufbauform begründet und führt in sechs Jahren
zur Reifeprüfung. Die 1906 eingerichtete Berufsschule umfaßt eine gewerbliche,
eine kaufmännische und eine hauswirtschaftliche Abteilung und eine
Haushaltungsschule. Eine Kraftfahrzeug-Mechanikerschule mit halbjährigen Kursen
wurde 1928 vom Mechaniker-Innungsverband Ostpreußens eingerichtet. Als neueste
Bildungsstätte ist die Bezirksschule für den Arbeitsdienst am 18. Januar 1934
feierlich eröffnet worden.
Abtransport russischer Gefangener nach der Schlacht bei Tannenberg, September
1914 - im Zusammenhang mit
den Kämpfen in Ostpreußen
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges drangen zwei russische Armeen von Osten und Süden in
Ostpreußen ein. Nach der deutschen Niederlage von Gumbinnen (20.08.1914) flohen große Teile der
ostpreußischen Bevölkerung bis hinter die Weichsel. Der Süden des Kreises Braunsberg wurde von
russischen Truppen besetzt, die Stadt Braunsberg selbst wurde nicht direkt bedroht. Hindenburgs
Erfolge in der Schlacht bei Tannenberg (26. 30.08.1914) mit der Vernichtung der russischen NarewArmee und in der Schlacht an den masurischen Seen (06. - 15.09.1914) mit der schweren Niederlage
der Njimen-Armee bedeuteten das Ende des russischen Vormarsches und den Beginn der
Rückeroberung Ostpreußens. Die Stadt Braunsberg blieb von den Auswirkungen des Krieges nicht verschont. 400 Männer fielen an
der Front, eine große Zahl Flüchtlinge wurde in der Stadt aufgenommen. Der durch die
Kampfhandlungen bedingte Verlust der Ernte führte zur Lebensmittelknappheit. Zur Milderung der Not
übernahm die Stadt Münster eine Kriegspatenschaft über Braunsberg.
Die ruhige, aufstrebende Entwicklung des kulturellen und wirtschaftlichen
Lebens der Stadt erfuhr durch die schon lange drohende katastrophale Entladung
des Weltkrieges einen schweren Rückschlag. Erhebend die Begeisterung, mit der
rund 100 der 347 Gymnasiasten bis zum Alter von 16 Jahren als Freiwillige zu den
Waffen eilten, die Opferwilligkeit, mit der die ganze Einwohnerschaft in der
Ablieferung von Gold, Zeichnung von Kriegsanleihen, der Liebestätigkeit für die
Feldgrauen und Lazarettkranken, in allen möglichen Sammlungen ihre Liebe zum
Vaterland bekundete. Zwar wurde die Stadt nicht unmittelbar von den
Schrecknissen des Russeneinfalls 225 betroffen wie die meisten Gebiete der Provinz, aber den Jammer der Flüchtlinge,
die Sorge um das Schicksal ihrer Söhne, die steigende Not an Lebensmitteln und
den verschiedensten Bedarfsstoffen durchkostete auch sie in der
zuversichtlichen Hoffnung, daß das Durchhalten zum endlichen Siege führen müsse.
Über 3000 Braunsberger Männer und Jünglinge, d. h. fast jeder 4. Einwohner,
zogen nach und nach mit Gott für Kaiser und Reich an die verschiedensten
Fronten, und nicht weniger als 400 von ihnen sind den Heldentod gestorben.
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Dies ist ein Kapitel der Festschrift "Braunsberg
im Wandel der Jahrhunderte" von Franz Buchholz zum 650jährigen Stadtjubiläum
www.braunsberg-ostpreussen.de
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