Reiseskizzen aus OstpreußenPersönliche
Eindrücke von einer Reise in ein unbekanntes Land
von Ulrich Lange Teil 1: Das
Königsberger Gebiet 1ster
Tag
[Sonntag, 26. Mai 2002] Zu
nachtschlafender Zeit geht’s los. Nach kurzer Ruhe mache ich mich gegen 03.00
Uhr auf den Weg gen Süden nach Rodewald. Kein Verkehr auf der A 7. Auf Höhe der nördlichen Lüneburger Heide dämmert der Tag heran, von Kilometer zu Kilometer wird es lichter. 05.12 Uhr: Ankunft in Rodewald, ein netter kleiner Ort, ländlich, sittlich, um diese Zeit noch recht verschlafen. Ich habe mir Zeit gelassen; die ganze Strecke von 230 Kilometern ist wie im Traum an mir vorbeigerauscht. Ich bin nicht der erste, es sind bereits etliche Pkw auf dem Betriebsgelände der Fa. Busche versammelt, aber – wie ich’s geahnt habe – der bislang jüngste. Das bestätigt mein Blick über die Häupter der Anwesenden, graue Haare allenthalben. Um
06.00 Uhr fährt der zu ¾ gefüllte Bus ab und sammelt aus einem in der Nähe
gelegenen Landgasthof weitere Gäste auf. Die haben dort die Nacht verbracht
wegen des frühen Reisetermins. In der Altersskala rutsche ich auf den
vorletzten Platz. Ein Sohn, ich schätze ihn auf Anfang bis Mitte dreißig,
begleitet seine Eltern in die (k)alte Heimat. Viele der Mitreisenden kennen sich
von früheren Fahrten, ja, sind einander verwandtschaftlich bzw.
freundschaftlich verbunden, stammen aus dem Dorf Lichtenau im Kreis Braunsberg. Von
dort stammt auch Herr Kuhn, der Organisator dieser Reise. Nach ihm ist die Schar
der Reisenden benannt: Gruppe Kuhn. Herr Kuhn, der die Reisen nach Ostpreußen
und die anlässlich solcher Fahrten stattfindenden Treffen in seinem Heimatdorf
Lichtenau, das heute Lechowo heißt, plant und vorbereitet, ist ein freundlicher
älterer Herr mit schlohweißem Haupthaar und einer Sprachfärbung, die keinen
Zweifel an seiner Landsmannschaft aufkommen lässt.
In Hannover am ZOB steigt eine weitere Passagierin
zu. Ein Umweg über die BAB 19/319 wird erforderlich wegen einer
baustellenbedingten Vollsperrung der A 2 zwischen Hemmeler Wald und Peine.
Unterwegs Stopps, P-Pausen, Aufnahme weiterer Reisender an der Autobahnraststätte
Michendorf, zuletzt am Bahnhof in Königs Wusterhausen, dort ging 1922 mit dem
„Wirtschaftsrundspruchdienst” der erste regelmäßige Rundfunksender
Deutschlands in Betrieb.
Das Bild, das sich dem Busreisenden bei der Ortsdurchfahrt bietet: ansehnliches
Städtchen auf märkischem Sand, vermittelt trotz der nahen Metropole Berlin
durchaus provinzielle Gemütlichkeit. Auf dem Weg an die Grenze durch das märkische
Oderland liegt Seelow. Herr Kuhn klärt die Reisegesellschaft auf über die
furchtbaren Kriegsscharmützel von Ende Januar bis Mitte April des Jahres 1945,
die über das Oderbruch und die Seelower Höhen hinweg gingen. Wochenlang bebte
die Erde, Geschosse zerstörten die Äcker, explodierende Bomben und Granaten übertönten
die Schmerzensschreie der Verwundeten und Sterbenden. Eine Gedenkstätte samt
Museum Seelower Höhen am Ortsausgang erinnert an jene schrecklichen Wochen. Grenzübergang Küstrin. Die polnische
Grenzkontrolle lässt es sich nicht nehmen, die Reisepässe von jedem
Busreisenden persönlich in Empfang zu nehmen mit flüchtigem Blick zum
Vergleich der Übereinstimmung von Bild und Gesicht, um sie nach angemessener
Dauer, versehen mit einem zur Einreise berechtigenden Stempel der Rzeczpospolita
Polska, in den Bus zurück zu reichen, wo Herr Kuhn sie an die rechtmäßigen
Inhaber weitergibt. Der Besuch des rechter Hand kenntlich werdenden
„Polenmarktes, wo sie für kleines Geld alles kriegen können vom
Schwingschleifer bis zur Babywaage und von der Zahnbürste bis zum Dachgepäckträger
(man muss sich ja nicht unbedingt dafür interessieren, woher die Dinge
kommen...)“ wird uns für die Rückreise in Aussicht gestellt. Kurz hinter der Grenze: Stopp an einem Imbiss, der
gegrillte Krakauer feilbietet. Diese Köstlichkeit ist ihren Preis wert! 1,50
€. Toilettenbenutzung inbegriffen. Erste Eindrücke des Gastlandes: den Fassaden sind
die entbehrungsreichen Jahre des real existierenden Sozialismus durchaus
anzusehen. Insbesondere die zu Wohnzwecken errichteten Plattenbetonbauten tun
dies augenfällig und überdeutlich kund. Der Wille zur Marktwirtschaft indes
bricht sich Bahn mit viel bunter Werbung. Kaum ein Laternenmast, kaum eine
Freifläche, die von Reklame unverschont bleibt. Auf
den Monitoren des modernen Reisebusses wird den Reisegästen Kölner Karneval
von einer TV-Konserve serviert. Man hat allerdings schnell den Eindruck, dass
das „Colonia Duett“ mit ihren Späßchen nicht jedermanns Geschmack trifft.
Deutlicher könnte ein Kontrast kaum geraten: ein Reisebus, angefüllt mit
sechsundvierzig Touristen aus Deutschland, rollt durch polnische Städte und
Ortschaften. Zwischen der Innenwelt des Busses und der Außenwelt der
durchfahrenen Gebiete gibt es absolut keinerlei Verbindung. Die Innenwelt des
Busses ist ein ganz eigener Kosmos mit ganz eigenen Problemen, als da wäre ein
Unterhaltungsprogramm, das zeitlich ganz gewiss deplaziert ist (wer hat Ende Mai
noch Sinn für Kölner Karneval) und zumindest im Hinblick auf das Niveau nicht
nur auf ungeteilte Zustimmung stößt. Und diese Innenwelt hat so überhaupt
- noch nicht einmal ansatzweise - das Mindeste zu tun mit der
Lebensrealität jener Leute, deren Weg wir kreuzen auf den verregneten Straßen
von Küstrin, Landsberg, Woldenberg, Schloppe, Ruschendorf, Deutsch Krone bis
Schneidemühl. Schneidemühl. Da war doch was? Ach ja, jenes Konstrukt einer freien Prälatur, welches mit dem Preußenkonkordat
eingerichtet wurde. In Artikel 2 Absatz 6 des Vertragswerkes vom 14. Juni 1929
heißt es: „In Schneidemühl wird für die derzeit von einem Apostolischen
Administrator verwalteten westlichen Restgebiete des Erzbistums (Gnesen-)Posen
und des Bistums Kulm eine Praelatura nullius [freie Prälatur] errichtet. Das
zur Zeit vom Bischof von Ermland als Apostolischem Administrator mitverwaltete,
früher zur Diözese Kulm gehörige Gebiet von Pomesanien wird mit dem Bistum
Ermland vereinigt. Die Bistümer Ermland und Berlin und die Prälatur Schneidemühl
werden zusammen mit dem Erzbistum Breslau die Breslauer Kirchenprovinz
bilden.“ Veränderte geopolitische Gegebenheiten nach dem ersten Weltkrieg
machten es notwendig, die römischen Kirchenprovinzen im deutschen Osten neu zu
organisieren. In der Präambel des Konkordats liest sich das so: „Seine
Heiligkeit Papst Pius XI. und das Preußische Staatsministerium, die in dem
Wunsche einig sind, die Rechtslage der katholischen Kirche in Preußen den veränderten
Verhältnissen anzupassen, haben beschlossen, sie in einem förmlichen Vertrag
neu und dauernd zu ordnen.“ Schneidemühl war nämlich 1922 Hauptstadt der Grenzmark
Posen-Westpreußen geworden; die bestand aus Rudimenten der nach Maßgabe des
Versailler Vertrags an Polen abgetretenen preußischen Provinzen Posen und
Westpreußen. (Sic transit gloria mundi...) Das heutige polnische Piła hat gut und gerne
78.000 Einwohner. Viel bekommen wir von der Stadt nicht zu sehen. Es regnet
unentwegt. Beim Eintreffen am „Hotel Gromada“ versuchen drei junge Bengel
unserem Busfahrer einen in der Nähe des Fahrersitzes deponierten Karton „Kümmerling“
zu entwenden. Das beherzte Eingreifen eines Mitreisenden vereitelt den
Diebstahlsversuch und schlägt das Trio in die Flucht. Sollen, ja müssen wir so
bald schon, eines der am heftigsten grassierenden Vorurteile gegen Polen bestätigt
erhalten...? Das Hotel, ein Plattenbetonbau mit ca. 12/13
Stockwerken, samt seiner drei Sterne liegt inmitten des Stadtzentrums am Fluss
Gwda und bietet guten Komfort. Nur eine einzige Nacht hingegen verschafft einem
wenig Gelegenheit, all das in Anspruch zu nehmen, was für den Gast an
Annehmlichkeit vorgehalten wird. Dazu gehören etliche Restaurants, ein
Fitness-Zentrum, Sauna, Schwimmbad, Geschäfte für alles Mögliche, sogar eine
Bowling-Bahn hat man im Programm. Auf den Zimmern kann man sich die Zeit per
Satelitenschüssel mit deutschsprachigen Programmen von ARD, ZDF, RTL, SAT 1
u.a. vertreiben. Das Essen ist annehmbar, ½ Liter Bier vom Fass kostet 2,00
€, die als Zahlungsmittel gern und ganz selbstverständlich akzeptiert werden.
2ter Tag [Montag, 27. Mai 2002] Den ganzen Tag bewölkt, von Schneidemühl bis
Rauschen kein Spritzer Sonne, dabei nicht kalt. Fotopause an der Nogat zur
Ablichtung der Marienburg; eine Besichtigung des imposanten Bauwerks ist nicht
vorgesehen. Herr Kuhn drängt zur Eile. Seit Piła begleitet uns eine blonde
Polin, deren Alter nicht höher als dreißig Jahre veranschlagt werden kann.
Sowohl Figur als auch Körperhaltung würden jedem Modell zur Ehre gereichen.
Ihr Name ist Aliecija, sie stammt aus Lözen, spricht fließend Deutsch und
Russisch und wird der Gruppe Kuhn von nun an für den Rest der Reise erhalten
bleiben, Formalitäten klären, den Reisenden mit Rat und Tat zur Seite stehen
und uns mit Wissenswertem zu Vergangenheit und Gegenwart, zu Land und Leuten der
von uns bereisten Gegenden versorgen. Wenn heute die Rede ist von Ostpreußen, werden im
allgemeinen die Grenzen von 1937 zugrunde gelegt. Demnach erfolgte unser
Eintritt nach Ostpreußen mit Überqueren der Weichsel bei Dirschau, dem
heutigen Tczew. Die damalige Provinz Ostpreußen umfasste nämlich die
Regierungsbezirke: Königsberg, Gumbinnen, Allenstein und Westpreußen. Klammert
man den westpreußischen Vorposten mit so schönen Städten wie Marienburg und
Elbing aber aus, so beginnt Ostpreußen auf unserer Route erst mit Eintritt in
den Kreis Braunsberg. In Wahrheit aber gibt’s Ostpreußen nicht mehr. Da
ist die Geschichte drüber hingegangen, das existiert nur noch in einem
volkskundlichen, einem geschichtlichen Sinn. Das Ostpreußen unserer Tage ist
seit 1945 aufgeteilt in die russische kaliningradskaja oblast im Norden und die
polnische Wojwodschaft Warmia-Mazury
im Süden. Über Elbing, Frauenburg und Braunsberg geht’s an die polnische-russische Grenze bei Heiligenbeil, das heute ΜАΜАНΟВΟ (Mamonovo) heißt. Ein kompliziertes Procedere steht uns bevor. Das Grenzorgan der polnischen Republik in seinem Kontrollhäuschen lässt keine Anstalten erkennen, uns abfertigen zu wollen, obwohl ersichtlich andere Aufgaben zur Erledigung nicht anstehen. Aliecijas erster Einsatz: beherzt ergreift sie die Initiative, sammelt unsere Pässe ein und legt sie dem Uniformierten in seinem Häuschen auf den Tisch. Nach einer Weile darf sie den Stapel kleiner roter Hefte dort wieder in Empfang nehmen, um sie den Reisenden auszuhändigen. Vermittels eines Stempels bescheinigt der polnische Staat die Ausreise. Wie wir im Vertrauen erfahren dürfen von Herrn Kuhn, der solche Kenntnis nicht für sich behalten mag, haben die Polen überhaupt kein Interesse an denjenigen, die das Land Richtung Russland verlassen. Was sie auf den Plan ruft, sind die Schmuggelaktivitäten von jenseits der Grenze, wo vieles deutlich billiger ist. Langsam rollt der Bus über die Demarkationslinie in
die russische Förderation, genauer: die kaliningradskaja Oblast. Die Grenze ist
mit Zäunen und Stacheldraht stark befestigt, und man fragt sich, wer meint,
sich hier vor wem schützen zu müssen? Nach
einigen hundert Metern erfolgt die eigentliche Abfertigung. Aussteigen. Die
Reisegruppe Kuhn versammelt sich in einem flachen, länglichen Gebäude, welches
sich zur Mitte hin zu einer Schleuse verjüngt. Durch diesen Schlauch muss jeder
Reisende mitsamt seinem Pass und intensiver Gesichtskontrolle seitens des
russischen Grenzkontrollorgans. Ein Spiegel, der oberhalb des Hinterkopfes
angebracht ist, ermöglicht offenbar eine noch genauere Identifikation des
Passinhabers mit seinem Lichtbild. Das
Ganze erinnert stark an die schikanösen Kontrollen im Bahnhof Friedrichsstraße
in Berlin zu Zeiten deutscher Zweistaatlichkeit. Pro Person dauert dieses
Verfahren überbürokratisierter Personenkontrolle einschließlich Eingabe
entsprechender Daten in einen PC fünfzig Sekunden. Bei sechsundvierzig
Einreisewilligen macht das zweitausenddreihundert Sekunden, ergo achtunddreißig
Minuten und fünfzehn Sekunden. Dankenswerterweise befinden sich in dem Bau
Toiletten, wenn auch nicht im aller vorzeigbarsten Zustand, aber immerhin, zum
Abschlagen des Wasser reicht’s, so dass sich die Wartezeit sinnvoll nutzen lässt.
Und gottlob interessiert sich der russische Zoll mit seinen tellerbreiten
Uniformmützen nicht auch noch für unser Gepäck! Auf der Weiterfahrt passieren
wir zu unserer Linken eine kilometerlange Pkw-Schlange. Das lässt für die Rückfahrt
wenig Gutes erwarten... Der erste Eindruck vom kaliningrader Gebiet ist
alles andere als einladend. Schäbige Häuser und notdürftig zusammengenagelte
Hütten säumen die Straße zur Linken und Rechten. Alles wirkt schmutzig und
unaufgeräumt. Die Armut der Menschen springt einem förmlich ins Gesicht. Wo ist Ostpreußen? Wird es, wenn nicht an umbauter
Fläche, so an der Landschaft kenntlich? Viel Grün säumt den Weg, was für die
Jahreszeit als typisch angesehen werden darf. Doch die Landschaft ist
zersiedelt, eine raumordnende Hand nicht zu erkennen. Die riesigen Flächen
liegen unbearbeitet unter einem tief einhängenden Himmel. Sie versteppen,
werden zu Wiesen, zum Teil entwickeln sie sich zu Wäldern zurück. Dies war
einst die Kornkammer Deutschlands... Vielleicht ist der Versuch, Ostpreußen hier schon
finden zu wollen, zu früh, vielleicht auch ist er vollends untauglich für
einen, der hier nicht eingeboren ist. Man macht uns auf eine kleine Siedlung, bestehend
aus drei Reihen hübscher, bunter Häuschen aufmerksam, die in augenfälligem
Kontrast zu dem bisher Wahrgenommenen stehen. Allerdings sind nur zwei der drei
Reihen bewohnt. Alles vermittelt einen gepflegten Anschein, das Land drum herum
ist bestellt. Hier hat man vor ein paar Jahren mit Hilfe von Geldern aus
bundesdeutschem Steueraufkommen Wolgadeutsche angesiedelt, um ihnen die Lust zu
nehmen, nach Deutschland weiter zu wandern. Nicht in allen Fällen ist die
Rechnung aufgegangen, mancher Familie erschien es doch aussichtsreicher, gleich
ein paar hundert Kilometer weiter zu ziehen, um dann richtig im gelobten Land
anzukommen. Die sich in der kaliningradskaja Oblast eingerichtet haben, mühen
sich nunmehr redlich, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Wir kommen dem Reiseziel näher. Neben uns laufen
die Geleise der alten Samlandbahn, die gestern wie heute Königsberg mit der Küstenregion
verbindet. Wo früher dampfgetriebene Ungetüme über die Schienen schnauften,
tun dies heute E-Loks, die ihren Strom aus Oberleitungen beziehen und geläufig
sind als „Elektrischka“. Endstation ist Svetlogorsk-2, wo auch unsere
Bestimmung liegt. Das alte Rauschen unterhält zwei Bahnhöfe,
СВЕТЛОГОРСΚ-1
(Svetlogorsk-1) für die Stadt,
СВЕТЛОГОРСΚ-2
(Svetlogorsk-2) für den Strand, früher Rauschen-Ort und Rauschen-Düne geheißen.
Unsere Unterkunft liegt nicht weit entfernt vom Strandbahnhof. Es ist ein
riesiger Komplex mit dem schönen Namen „Haus Bernsteinküste“ (Янтарньій
берег). Viel nacktes Beton verweist überdeutlich
auf die Entstehenszeit des Bauwerks in der Sowjetära. Ideologischen Ballast in
Form von Monumenten, Büsten, Spruchbändern und dergleichen mehr hat man
zwischenzeitlich entfernt. Früher ausschließlich als Sanatorium genutzt, steht
es heute auch Gästen aus aller Herren Länder als Hotel zur Verfügung. Die
Zimmereinrichtung ist zufriedenstellend, z.T. sind die Räume modernisiert und
dem westlichen Standard angepasst. Hier wird man es gut ein paar Nächte lang
aushalten können. 3ter Tag
[Dienstag,
28. Mai 2002] Herr Kuhn, der nette Rentner aus Nienburg an der
Weser, hat Erbarmen mit seiner Reisegruppe. Die Abfahrtzeitpunkt nach Pillau
wird für neun Uhr angegeben. Zum Frühstück ab halb acht („Bitte nicht früher,
das Personal mag das nicht!“) gibt’s Eierpfannkuchen mit Schmand. Man hat
uns gewarnt. Die russische Küche sei sehr fett, ohne Wodka liefe da nichts! Der wird natürlich nicht zum Frühstück gereicht.
Zum Abendessen aber tragen die Serviererinnen - als quasi ersten Gang – große Tabletts mit Gläsern eisgekühlten
Stolichnaya auf. Wodka scheint Grundnahrungsmittel zu sein in Russland. Stogramm,
das sind einhundert Gramm, kosten einen Euro. Die 0,33-l-Flasche Bier namens EB,
ein wohlschmeckendes Produkt von jenseits der Grenze aus einer elbing’schen
Brauerei, ebenfalls ein Euro; jedes Getränk, ob mit oder ohne Alkohol, kostet
einen Euro. Natürlich alles nichts fürs Frühstück. Da gibt es Kaffee und
Tee, jedoch nicht frisch gekocht; der Kaffee kommt gefriergetrocknet im Glas auf
dem Tisch, dazu eine Kanne heißen Wassers. Tee gibt es aus Beuteln, die
gleichfalls mit heißem Wasser begossen werden dürfen. Und das in einem
Teetrinkerland... Vor dem Frühstücksraum erwartet eine Frau
mittleren Alters, angezogen wie aus der Altkleiderkammer der Caritas, die Gäste
aus dem Westen. Sie bietet mit merkwürdig befremdlichem Zungenschlag hinter
einer Reihe schadhafter Zähne für 1,50 € ein Druckwerk zum Kauf an, welches
sie vor sich herträgt wie die Zeugen Jehovas ihren Wachturm. Das Wechselgeld
entnimmt sie einem sorgsam gehüteten Plastiksäckchen mit Münzen. Diese
Druckschrift namens „Königsberger Express“, Ausgabe Mai 2002, entpuppt sich
als deutsch-sprachiges Käseblättchen mit Informationen für Touristen und
sonstig an der kaliningrader Gegend Interessierte. Sogar Marion Gräfin Dönhoff
– so ist zu lesen - hat diesem Erzeugnis in gewiss landsmannschaftlicher
Verbundenheit ihr gräfliches und journalistisches Lob gezollt und es für die
ZEIT-Redaktion abonniert. Zu lesen ist u.a. über den gescheiterten Versuch der
Einführung eines Tagesvisums, das an den Grenzen der Oblast hätte erstanden
werden können. Warum das Vorhaben letztlich missglückt, kann dem Artikel so
recht nicht entnommen werden, er legt jedoch die Vermutung nahe, dass eine träge
Bürokratie dieses an sich löbliche Vorhaben zu unterlaufen verstanden hat .
Der geneigte Leser erfährt des weiteren, dass die EU aufgefordert ist, sich
Gedanken zu machen, wie wirtschaftlich mit der russischen Exklave zu verfahren
sein wird nach Beitritt der baltischen Länder und Polens zur europäischen
Union. Da fragt man sich allerdings, wer sich da für wen
einen Kopf machen muss? Der „Königsberg Express“ informiert, was Grund und
Boden in der Oblast kosten und dass Ausländer keinen solchen erwerben dürfen.
Berichtet wird von einer Spendenaktion der Landeshauptstadt Kiel zugunsten ihrer
Partnerstadt Königsberg für ein Projekt zur Betreuung von Waisenkindern und
noch dies und das, wovon die Zeitungsmacher meinen, dass es druckreif ist und
jemanden interessieren könnte. Fahrt durchs Samland entlang der Bernsteinküste
nach Pillau, welches heute Baltisk heißt und militärisches Sperrgebiet ist.
Touristen werden gleichwohl hinein gelassen mit einer Sondergenehmigung. In
Pillau ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der „baltischen Flotte“
stationiert. Es ist der westlichste Militärstützpunkt der russischen Förderation
und verfügt über den Vorteil der Eisfreiheit. Seit Polens Mitgliedschaft in
der Nato ist seine strategische Bedeutung sogar noch gewachsen. Die uns an der Einlasskontrolle für das Sperrgebiet
in Empfang nehmende Stadtführerin berichtet in ausgezeichnetem Deutsch von
verheerenden Kämpfen im April 1945. Alles – abgesehen von wenigen Ausnahmen
– ist kaputt gegangen, die Stadt quasi völlig neu aufgebaut worden. Ihr Gepräge
ist russisch: durch und durch. Militäranlagen und Uniformen dominieren das
Stadtbild. Dennoch – die Verfassung dieser Stadt scheint keine gute zu sein:
die Plattenbetonbauten mit ihren amateurhaft zugebauten Balkonen und geborstenen
Fensterscheiben, die mühsam mit Klebstreifen zusammengehalten werden, machen
einen verwahrlosten Eindruck. Straßen und Wege sind schmutzig und entweder gar
nicht oder nur unzureichend befestigte. Welch Wunder, wird doch vermutlich jeder
Rubel, der in diese Stadt fließt, für militärische Zwecke ausgegeben. Aber es
reicht noch nicht einmal, die militärischen Anlagen und Gebäude vernünftig
instand zu halten, mal ganz abgesehen davon, dass das investierte Kapital auf
immer und ewig verloren ist, denn Profit darf sich von solchem
mamonverschlingenden Moloch keiner erwarten. Am Hafen ist neben einer Vielzahl an Kriegsschiffen,
die wir eigentlich gar nicht zur Kenntnis nehmen dürften, geschweige denn davon
Filme belichten, was sich auch niemand erdreistet, zweierlei zu bestaunen: einen
von Schinkel erbauten Leuchtturm sowie das Denkmal Zar Peter des Großen, der
nicht zuletzt mit Hilfe einer schlagkräftigen Streitmacht zur See Russland zum
Ende des 17. Jahrhunderts zur Großmacht entwickelte. Das alte Gymnasium sowie das alte Amtsgericht,
beides Bauten aus der Gründerzeit, haben die Kriegsscharmützel vom April 1945
unbeschadet überstanden. Beide werden für museale Zwecke genutzt, das alte
Schulhaus als Stadtmuseum, das Gericht für militärhistorische Ausstellungen
der baltischen Flotte. Die Zitadelle darf mit Sondergenehmigung betreten werden.
An den Decken der feucht-kalten Kasematten hängen schlafende Fledermäuse. Eine
Fahrt mit der Fähre an die Nordspitze der frischen Nehrung erlaubt eine andere
Perspektive auf Hafen und Stadt, soweit die Rußfahne des ohrenbetäubenden
alten Schiffsdiesels nicht die Sicht vernebelt. Wir teilen die Überfahrt zur
Mittagsstunde mit einer ganzen Reihe von Schulkindern, die angenehm auffallen
durch ordentliche Kleidung und diszipliniertes Verhalten. Den Fremden begegnen
sie mit unaufdringlicher Freundlichkeit, ganz im Gegenteil zu ihren
Altersgenossen, die uns seit unserer Ankunft verfolgen, weniger ordentlich
gekleidet sind und offensichtlich nicht zur Schule gehen. Stattdessen wollen sie
uns lieber bröselige Krümel verkaufen mit der Behauptung, es handele sich um
Bernstein. Manche verzichten lieber gleich auf solche Mühe und fragen ohne
Umschweif nach Bonbon oder Rubel. Unser Besuch in
БАЛТИЙСК (Baltijsk) endet mit
einem Spaziergang auf der Nordmole, an die sich ein Badestrand anschließt. Wir verlassen die Stadt samt das sie umschließende
Sperrgebiet und halten im nicht weit entfernten Germau. Sofort sind wir erneut
umlagert von einer Schar Kinder mit Angeboten an Bernsteinbröckchen, von
irgendwelchen Wiesen gerupften Feldblumen und selbstgebasteltem Tand. Die solche
Art Wegelagerei bereits aus vorangegangenen Reisen kennen gelernt haben, sind
versorgt mit allerlei Süßigkeit, um sie unter die Kinder zu verteilen. Dem von uns besuchten deutschen Soldatenfriedhof
liegt ein Mahnmal für die in dieser Gegend umgekommenen Soldaten der
ruhmreichen roten Armee gegenüber. Es wird kaum zur Kenntnis genommen. Das
Interesse der Gruppe Kuhn gilt dem Andenken der deutschen Toten. Ein großes
Kreuz, um welches in die Erde versenkte Steinplatten mit Namen der Gefallenen
gruppiert sind, lässt manchen innehalten für ein stilles Gebet und Andenken an
im Krieg verstorbene Angehörige und Freunde. Von den Kindern erstandene
Blumensträuße werden auf die Platten niedergelegt. Nachdem der Bus abgefahren
ist, nehmen sie sie wieder auf, um sie den nächsten Friedhofsbesuchern zu
verkaufen. In Palmnikken gibt es nichts zu sehen als eine Grube
am Meeresrand. Diese Grube aber hat es in sich im wahrsten Sinne des Worte. Hier
befördert das Kombinat Jantarnyi Jahr für Jahr nicht
weniger als sage und schreibe 700 Tonnen Bernstein ans Tageslicht, darunter
bemerkenswerte Stücke mit sog. Inklusen, Einschlüssen von Jahrmillionen alten
Insekten, die für die Wissenschaft von höchstem Interesse sind und natürlich
ihren Preis haben. Passend dazu bieten fliegende Händler, die in der Lage sind,
überall dort, wo Touristenbusse halten, in Windeseile Klapptische aufzubauen
und mit Ware zu belegen, Bernsteinschmuck zum Kauf an. Man warnt uns: nicht
alles sei echt. Das gelte besonders für die Teile mit Einschluss. Die seien so
wertvoll, dass sie außerhalb entsprechender Geschäftsläden jedenfalls keine Käufer
fänden oder aber nur in Museen bestaunt werden könnten. Natürlich kann in
Euro gezahlt werden. Mit den Händlern, einer Frau und einem Mann, ist Verständigung
leicht möglich, sie sprechen gutes Deutsch. 4ter Tag
[Mittwoch,
29. Mai 2002] Abfahrt 8.00 Uhr. Überlandfahrt mit viel Grün (es
ist halt Mai) und unzähligen Störchen: in der Luft, in den Wiesen, in den
Nestern. Aus dem einen und anderen Horst ragen die kecken Schnäbel des
Nachwuchses, der den Hals nicht schnell genug voll bekommen kann. Die drittgrößte Stadt der Oblast mit 45.000
Einwohnern heißt seit 1945 Tschernjachowsk (ЧЕРНЯXOBCK)
und so sieht sie auch aus. Russisch. Eine antlitzlose Stadt, deren Zentrum ein
großer, von einem Monument dominierter Platz ist. Wen man da auf den Sockel
gehoben hat, entbehrt meines Interesses. Zu deutscher Zeit, da die Stadt Insterburg hieß, soll sie die schönsten Plätze von ganz Ostpreußen besessen haben, dazu Kinos und Hotels. Recht lebendig soll es da zugegangen sein. Ich mache mich mit einer von Herrn Kuhn angeführten
Gruppe auf den Weg zum nahe gelegenen Bahnhof. Der ist von der Architektur her
sofort als in der Sowjetzeit entstanden zu identifizieren. Fotografieren darf
man ihn nicht, denn auch Bahnhöfe sind in das strenge Fotografierverbot militärischer
Anlagen inbegriffen. Und Militär sieht man in der Tat viel, die ganze
Bahnhofswartehalle ist angefüllt mit Uniformen. Das Bauwerk ist durchaus gefällig,
innen wie außen. An der Bahnsteigkante erzählt Herr Kuhn die
Geschichte seiner Deportation. Die nahm auf diesem Bahnhof ihren Anfang und
endete drei Wochen später in Sibirien. Aus ganz Ostpreußen – so die Aussage
des Herrn Kuhn – habe man die Menschen nach Insterburg getrieben, um sie aus
ihrer Heimat in die Weiten Russlands zu verschleppen. Die Erinnerung wühlt den
alten Mann so stark auf, dass er seine Erzählung nicht zu Ende bringt, was man
ihm nachsieht. In Gumbinnen, dem heutigen Gusev (ГУCEB),
steht man kurz vor Abschluss der Renovierung des alten, aus deutscher Zeit
stammenden Rathauses. Für den schönen Jugendstilbau hat man heute eine andere
Verwendung gefunden, doch auch als Hotel bleibt ihm die gebührende Ehre nicht
versagt. Die Fassade ist bereits wieder hergerichtet und die hinter dem
stuckverzierten Giebel aufragende Holzkonstruktion eines neuen Dachstuhls deutet
auf den baldigen Abschluss der Arbeiten hin. Während ich auf der Brücke über die Pissa (die
tatsächlich so heißt!) nach einer günstiger Position für ein Foto des
instandgesetzten Gebäudes suche, spricht mich ein alter Mann an. Er ist von
kleiner untersetzter Statur und versucht es zunächst in russisch. Als ich ihm
zu verstehen gebe, ihn nicht zu verstehen, versucht er es in Deutsch. Auf diese
Weise erfahre ich die Lebensgeschichte eines Ukrainers, den die Deutschen 1942
nach München und Ulm zur Sklavenarbeit verschleppt haben. Aber es sei ihm –
wie er sagt – nie schlecht gegangen „bei die Deitschen“. Nach dem Krieg
ist er in Russland gelandet und musste zu allem Überfluss von 1947 bis 1950
Soldat werden. Stalin hat ihn die kaliningradskaja oblast beordert, wo er
heimisch wurde und in Gusev Wurzeln geschlagen hat. Nach fünfzig Jahren Arbeit
im E-Werk ist er nun Rentner und baut im Garten Kartoffeln und Tomaten an. Je länger
er erzählt, desto fließender kommen ihm die deutschen Vokabeln über die
Lippen, und ich habe den Eindruck, dass es ihm Freude macht, zu erfahren, wie
gut es noch klappt mit dieser Sprache. Gerne hätte ich ihm länger zugehört, muss aber
zurück zum Bus; die uns für eigene Erkundung zugebilligte halbe Stunde ist so
gut wie verstrichen und der sonst so nette Herr Kuhn kann bei
Disziplinlosigkeiten wie beispielsweise Verspätungen recht ungehalten
reagieren. Dennoch erwirke ich eine fünfminütige Verlängerung, um das berühmte
Elchdenkmal von Gumbinnen auf Zelluloid zu bannen. Für solches Bedürfnis hat
er Verständnis. In Trakehnen lässt sich besichtigen, was einmal das
wohl berühmteste Gestüt Deutschlands war. Pferde gibt es dort schon lange
nicht mehr, und Stallungen und Reithalle sind dem Verfall preisgegeben. Das
ehemalige Haus des Landstallmeisters allerdings ist gut in Schuss und beherbergt
ein Museum, wo der Glanz besserer Tage für die Nachwelt aufbewahrt ist. Die
ebenso attraktive wie charmante Museumsleiterin hat leider wenig Zeit für die
Gruppe Kuhn, die unangemeldet kurz vor der Mittagspause ins Haus schneit. Nach
ein paar freundlichen, von Alicija übersetzten Begrüßungsworten lässt sie
uns teilhaben an der längst vergangenen Blütezeit Trakehnens vermittels eines
alten Schwarzweißfilmes aus den dreißiger Jahren. Damit hat sich unser
Interesse zufrieden zu geben, alles weitere kann unter freiem Himmel persönlich
in Augenschein genommen werden. Etwas außerhalb des Gestüts betreiben
Russlanddeutsche eine Gastwirtschaft, die sie nach der früheren Bestimmung des
Hauses „Alte Apotheke“ nennen. Obwohl auch hier keine Reservierung für die
Gruppe Kuhn vorliegt, schafft es die Küche eine Mittagsmahlzeit bestehend aus
Gulasch, Kartoffeln und Salatbeilage binnen einer Stunde für sechsundvierzig
hungrige Mäuler zuzubereiten. Die Gaststube muss den Vergleich mit einer
bundesdeutschen der fünfziger- bzw. sechziger Jahre nicht scheuen. Der Region
angemessen, hängt eine Elchschaufel an der Wand. Und zur Freude aller hier
einkehrender Heimwehtouristen findet sich als weiterer Wandschmuck das auf ein
Holzwappen gebrannte Ostpreußenlied. Trakehnerpferde sehen wir auf der Rückfahrt in
Georgenburg bei Insterburg, wo ein österreichischer Pferdeliebhaber viel Geld
in die Zucht dieser edlen Tiere investiert und eine Gutsanlage geschaffen hat,
die den Eindruck einer großen Baustelle macht, weil man momentan damit beschäftigt
ist, den Folgen eines nicht unbeträchtlichen Brandschadens beizukommen. Obwohl
ГВАРДЕИСК (Gvardesk), weil
auf der Route liegend, angefahren wird, sieht sich keine Teilnehmerin und kein
Teilnehmer der Reisegruppe Kuhn in der Lage einen Fuß aus dem Bus zu setzen.
Alle sind von dem bisherigen Tagesprogramm zu erschöpft, als dass sie meinen,
Energien für weitere Erkundungen mobilisieren zu können. Eigentlich schade,
denn laut Marco Polos Reiseführer „Königsberg Ostpreußen Nord“ (3.,
aktualisierte Auflage 2001) hat das damalige Tapiau die besterhaltene Innenstadt
aller nordostpreußischen Städte. Außerdem erblickte hier einer der
bedeutendsten Maler des Impressionismus, Lovis Corinth, am 21. Juli 1858 das
Licht der Welt. 5ter Tag
[Donnerstag,
30. Mai 2002] Auf einen Besuch in Crantz müssen wir verzichten.
Busse dürfen nicht in den Ort hinein fahren. Dem Vernehmen nach haben die da
einen Bürgermeister, dessen vornehmstes Ansinnen es ist, seinen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern das Ärgernis hoher Verkehrsfrequenzen und neugieriger Touristen
zu ersparen. Unsere erste Station auf der kurischen Nehrung ist
Rossitten. Die ehemalige Vogelwarte dient als Museum für Ornithologie und
Fliegerei. Von Letzterer erfährt der Besucher, das sie auf der sichelförmigen
Halbinsel eine reiche Tradition hat. Die heutige Vogelwarte liegt einige
Kilometer nördlich und verfügt zumindest an diesem 30. Mai 2002 über die
wahrscheinlich höchste Mückendichte in ganz Europa, wenn nicht darüber
hinaus. Den interessanten Ausführungen des jungen Wissenschaftlers über
Vogelzug, Lebensart und Gegenstand der Forschungen dieser Station, von Alicija
simultan übersetzt, ist kaum zu folgen, weil man wahre Abwehrschlachten gegen
die glücklicherweise nicht stechfreudigen Mückenplage zu unterhalten genötigt
ist. Für die Vogelwelt ist dies natürlich ein überaus reich gedeckter Tisch,
den sie nur allzu gern anfliegt, um sich dabei in den weit gespannten, riesigen
Netzen zu verfangen. Mit einem Ring am Fuß werden sie dann aber nach nur kurzem
Freiheitsentzug schnell wieder entlassen. Von der hohen Düne von Epha hat man ein prächtiges
Panorama. Schaut man nach Norden in Richtung Nidden, das schon auf der
litauischen Seite liegt und für uns unerreichbar bleibt, weil ein Überschreiten
der Grenze den Verfall des Visums bedeuten würde mit der Folge, nicht erneut in
die Oblast eingelassen zu werden, so liegt linker Hand die freie Ostsee und
rechts das kurische Haff. Der feine weiße Sand erinnert an jenen von Dueodde
auf Bornholm ebenso wie die Dünenlandschaft, nur dass sie hier viel weitläufiger
und ursprünglicher daherkommt. Zurück in der Ferienanlage „Haus Bernsteinküste“
– der viele nackte Beton erinnert stark an ähnliche Einrichtungen in der
ehemaligen DDR – höre und sehe ich auf einem Balkon des gegenüberliegenden Gästehauses
einen älteren Mann gefühlvoll und mit schöner Stimme aus voller Kehle ein
Lied singen. Als er endet, ertönt von irgendwo her ein weibliche Stimme, die
„spassiba“ ruft. Der alte Mann verneigt sich freundlich gegen die Stimme und
verlässt den Balkon. Für den vorletzten Abend in Rauschen ist Folklore
angesagt. Nach dem Abendessen. Im Speisesaal. Eine bunt gewandete Combo hält
unter Klatschen Einzug: je ein Mann für Schlagzeug, Gitarre, Klarinette und
Akkordeon. Zwei Frauen für den Gesang. Die ältere, die die Darbietungen
moderiert, lässt durchblicken, dass sie ausgebildete Opernsängerin ist,
weshalb nach dem ersten Teil mit Folklore ein zweiter folgt, in dem sie Arien
aus Opern und Operetten schmettert. Dann ist Pause, die dazu genutzt wird, CDs
der Musikgruppe an die Anwesenden zu verkaufen. Ein guter Zeitpunkt, sich
diskret aus dem Staub zu machen, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, das Tanzbein schwingen zu müssen, wie es angesagt wird. In einem Lokal in Strandnähe lässt sich der Abend in entspannterer Atmosphäre fortsetzen. So lernt man Leute und Schicksale kennen, etwa das einer außerordentlich feinfühligen Frau aus der ehemaligen DDR: Selbst die Drangsal von vierzig Jahren staatlich verordneten Atheismus’ haben sie und ihre Familie nicht bewegen können, sich ihren ermländisch ererbten Katholizismus abzugewöhnen. Nachteile haben sie dafür genug in Kauf genommen, in beruflicher Hinsicht und dass die Kinder nicht studieren durften, denn die sind wohl zur Erstkommunion, nicht aber zur Jugendweihe gegangen. Es kommt aber kein Laut des Vorwurfs über die Lippen unserer Reisegefährtin, die Familie hat dies klaglos erduldet und gewusst warum. 6ter Tag [Freitag, 31. Mai 2002] Anstelle einer Reise an die Gilge, aus der wegen
einer nicht befahrbaren Brücke nichts werden kann, begibt sich die Gruppe Kuhn
zur Besichtigung der Metropole Königsberg. Bei der Stadtrundfahrt ist unser
Chauffeur, Herr Krüger, in besonderer Weise gefordert. Er meistert alle
Situationen mit professioneller Souveränität. Wieder gibt es eine russische
Stadt zu besichtigen mit ein paar deutschen Einsprengseln, die teilweise in
recht ordentlichem Zustand daherkommen. Zu Fuß geht’s zum Kant-Denkmal vor
der Universität. Fotopause am Schlossteich. Wo einst das Schloss stand, ragt
nun eine hässlich klobige Betonruine in den blauen Himmel. Sie sollte das
„Haus der Räte“ werden. Gorbatschow, die Wende und der Zerfall des
Sowjetimperiums haben den hochfliegenden Plänen ein Ende gesetzt bevor das
Monstrum vollendet war. Heute dient es Obdachlosen zum Aufenthaltsort. Genauso
wie es vor zehn und mehr Jahren am erforderlichen Geld mangelte, das begonnene
Werk zu vollenden, genauso fehlen jetzt die Rubel, es dem Erdboden wieder gleich
zu machen, was städtebaulich unabweisbar ist, und dem ganzen Projekt angemessen
erscheinen würde. Kant zum Zweiten: an der Rückseite des Doms halten wir inne
an seinem Grabmal. Die Restaurierung des Doms ist abgeschlossen. Seine
wesentliche Bestimmung ist nun die eines Museums, welches einem die
stadtgeschichtliche Entwicklung zunächst Königsbergs, später KАЛИНИНГАД
(Kaliningrads) näher zu bringen trachtet. Für gottesdienstliche Zwecke sind
zwei Kapellen vorgehalten: eine russisch-orthodoxe, eine
evangelisch-lutherische. Der Nachmittag unseres letzten Tages in der Oblast
ist zur freien Verfügung in Rauschen. Prächtiges Frühlingswetter lädt ein zu
ziellosem Bummel. Versteckt hinter viel Grün in stillen Seitenstraßen findet
sich das eine und andere architektonische Schmuckstück, schöne Häuser, zum
Teil noch aus deutscher Zeit, in die man sofort einziehen möchte. Viel Treiben
auf der Hauptstraße. Links und rechts Verkaufsstände mit Bernstein und
Kleidung, Kioske, Buden, Läden für den täglichen Bedarf. Freundliches
Promenieren, gelöste Stimmung. Fotomotive in Hülle und Fülle: der Wasserturm,
die Strandpromenade, das Steilufer, sogar der Bahnhof ist es wert, belichtet zu
werden. Es ist wahrlich so schön, dass Überlegungen, hier einen angenehmen
(und gewiss preiswerten) Sommerurlaub zu verbringen, gar nicht so abwegig
erscheinen. Das Abschiednehmen fällt schwer angesichts dieser letzten Eindrücke
von СВЕТЛОГОРСΚ,
dem ehemaligen Rauschen, das noch 1938 Austragungsort der
Tennisweltmeisterschaften war. Apropos Weltmeisterschaft: Heute wird die Fußballweltmeisterschaft
in Südkoreas Hauptstadt Seoul eröffnet. Titelverteidiger Frankreich verliert
gegen das Team aus Senegal mit 1:0. Der Siegestreffer fällt bereits in der
ersten Halbzeit. Teil 2: Das
Ermland
7ter Tag [Samstag, 1. Juni 2002] In der kaliningradskaja oblast ticken die Uhren nach
Moskauer Zeit. Sie sind der mitteleuropäischen Sommerzeit um eine Stunde
voraus. Wir frühstücken um sechs Uhr Moskauer Zeit und starten um sieben Uhr
Moskauer Zeit in Richtung Ermland. An der Grenze je eine Stunde Wartezeit auf
beiden Seiten: vertane Zeit, unnütz vergeudete Zeit, aber die Bürokratie will
das so und nicht anders. Dabei haben wir gewiss noch Glück eingedenk der
Pkw-Schlangen diesseits und jenseits der Schlagbäume. Wer mit dem Privatwagen
reist, braucht ein nachgerade übermenschliches Maß an Geduld. Zum Teil wird
von Wartezeiten von mehr als vierundzwanzig Stunden berichtet. Die (relativ) zügigere
Abfertigung von Busladungen voller Touristen hat sicherlich etwas damit zu tun,
dass sich die Reiseunternehmen auf die Bakshishmentalität
der Grenz- und Zollorgane verstehen und diese zum Vorteil für ihre Kundschaft
zu bedienen wissen. Der damit verbundene finanzielle Mehraufwand dürfte
vermutlich in die Preiskalkulation einfließen. Während der Warterei zieht sich der Himmel zu und lässt
der Sonne für den Rest des Tages keine Chance mehr. Es beginnt zu regnen,
regnet sich ein, ein richtig schöner Landregen begleitet den Einzug der Gruppe
Kuhn ins gelobte (Erm-)Land. Der Juni führt sich nicht gut ein, aber wann war
der sechste Monat des Jahres je Garant für beständig schönes Wetter? Der
vorgesehene Abstecher zum Gestüt Liesken fällt wortwörtlich ins Wasser.
Bartenstein und sein Stadtfest versinken in Regen und Matsch. Daselbst gibt es
um die Mittagszeit eine längere Rast zur Einnahme einer Mahlzeit in einem
Hotel. Heilsbergs ist unsere Heimstatt für die nächsten
drei Nächte, genauer gesagt das Hotel „Pod Klobukiem“ in der ul. Olsztynska
4. Das Haus befindet sich dank eines neuen Besitzers im Zustand der Renovierung.
Die Zimmer sind davon bislang noch verschont geblieben. Für deren Zustand dürfte
man noch nicht einmal einen Stern vergeben. Trotzdem – zum Schlafen reicht’s,
und weitere Ansprüche entstehen gar nicht erst. Der
Wirt des „Pod Klobukiem“, ein junger Mann, der es im Gastgewerbe
offensichtlich zu etwas bringen will, begrüßt die Reisegruppe Kuhn im
Speisesaal und wünscht in holprigem Deutsch einen schönen Aufenthalt. Als
Aperitif lässt er Bärenfang, ein ostpreußisches Traditionsgetränk,
servieren. In Saporo bei der Fußball-WM endet das erste
Vorrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft mit einem sensationellen 8:0
gegen Saudi-Arabien. Der Jubel ist groß! 8ter Tag
[2.
Juni 2002] Die Lichtenauer, sie stellen das mit Abstand größte
Reisekontingent, machen sich mitsamt Herrn Krüger und dem Mercedesbus der Firma
Busche auf den Weg in ihr Heimatdorf zu völkerverständigem Treff. Dort wollen
sie mit den Familien, die nun ihre Häuser bewohnen und ihre Höfe
bewirtschaften, die Erstkommunion der Kinder feiern. Es ist nicht das erste Mal.
Man kennt sich von vielen vorangegangen Besuchen in der (k)alten Heimat. Wer sich den Lichtenauern nicht zugehörig fühlt,
verbringt den Tag nach eigenem Gusto. Alicija, die unermüdlich um das Wohl der
Touristen aus Deutschland besorgt ist, telefoniert schon seit dem Vorabend
herum, um Taxen mit deutschsprachigen Fahrern zu buchen, die alle
Nicht-Lichtenauer an diesem Sonntag durchs Ermland kutschieren wollen. Unser
Chauffeur heißt Edward Andrysiak und reist mit seiner Mercedes-Benz-Droschke pünktlich
zur vereinbarten Zeit aus Allenstein an. Nach kurzer Verhandlung werden wir uns
mit dem freundlichen Mitvierziger einig über einen Pauschalpreis für einen Tag
Rundreise durch das Land Warmia. Die
von uns nunmehr bereiste Gegend erscheint als satt-grüne Offenbarung. Da sich
die Sonne noch zurückhält, kommt das Chlorophyll besonders kräftig zum
Vorschein. (Die an sich wünschenswerte Einstrahlung von Sonnenlicht bewirkt
eine staubhelle Einfärbung, welche dem Farbton einen bedauerlichen Mattschimmer
beimischt.) Die Alleen, Tunneln ähnlich, nehmen kein Ende. Es herrscht wenig
Verkehr auf den schmalen Chausseen. Das Ermland ist nicht so flach wie das
Samland, auch liegen dort nicht so viele Flächen brach. Es sieht einfach
gepflegter, insgesamt aufgeräumter aus. Die Städte hier haben nicht so
gelitten unter den Kriegsereignissen wie die im russischen Teil. Tiedmannsdorf: hier ist mein Vater aufgewachsen. Das
Haus der Familie lässt sich nicht identifizieren - es gibt Hinweise auf eine
Lage am südlichen Ortsausgang - aber Kirche und Schule sind eindeutig zu
erkennen. Von beiden Gebäuden darf man als gewiss annehmen, dass das Kind, das
mein Vater damals war, dort viele Stunden seines jungen Lebens verbracht hat. Es
gerät die Vorstellung nachgerade ulkig, das Rad der Zeit um Jahre und
Jahrzehnte zurück drehen zu können und ihn als jungen Steppke durch das Dorf
toben zu sehen. Auf dem Friedhof vor der Kirche gibt es keine Spuren
mehr von deutschem Leben in dieser Gegend. Die Kirche selbst ist ein schlichter
Sakralbau. Die hellen Bänder, mit denen man in Polen anlässlich des Hochfestes
Fronleichnam die Gotteshäuser zu schmücken pflegt, sind hängen geblieben.
Auch von den Wegkreuzen hat man sie noch nicht entfernt. Es ist ja auch gerade
erst drei Tage her, dass man der Gegenwart Christi im Sakrament der Eucharistie
gedachte. Davon haben wir in Russland natürlich herzlich wenig mitbekommen. Das
einstige Schulhaus wird heute zu Wohnzwecken genutzt. Die Unterrichtung der
Jugend erfolgt in einem Bau neueren Datums etwas außerhalb des Ortes, der heute
Cruściel heißt. Zu dieser vormittäglichen Zeit wirkt das Dorf wie
ausgestorben, obwohl niemand in der Kirche anzutreffen ist. Ein paar Kinder
lassen sich blicken und kurze Zeit später findet man sich betrachtet aus den
Augen einiger Erwachsener, denen relativ schnell klar gewesen sein darf, wer
sich da in ihre Heimat und zu welchem Zweck begeben hat. Weiter geht’s in die
Kreisstadt Braunsberg. Die jüngst zur Basilika erhobene Katharinenkirche steht
zur Besichtigung nicht zur Verfügung. Bis 13.00 Uhr finden ununterbrochen
Messfeiern statt. Wir sind nicht einfach nur in einem katholischen Land, wir
sind in Polen... Edward Andrysiak fährt
mit uns entlang der Passarge bis ans frische Haff. Während der ganzen Tour tut
er nicht nur seinen Job als Chauffeur, nein, er erweist er sich auch als
freundlicher und kompetenter Auskunftgeber zu diesem und jenem links und rechts
der Chaussee und nimmt Anteil am Interesse seiner Fahrgäste. Der Wind bläst
beträchtlich aus Ost und treibt kleine Wellen ans Ufer. Im Dunst ist die
frische Nehrung zu erkennen. Sie ist – wie die kurische – zweigeteilt, die
russische Grenze ist nicht weit. Nachdem ein paar Fotos geschossen sind, geht es
retour nach Braniewo. Im „Hotel Warmia“
wartet ein vortreffliches Mittagsmahl. Das Speiselokal befindet sich im Keller.
Das recht urige Ambiente dieses Gewölbes lädt zum Wohlfühlen ein. Eine umfängliche,
polnisch-deutsche Speisekarte tut das ihre, sich willkommen und angenommen zu
wissen. Die Entscheidung fällt auf ermländischen Schweinebraten und kostet
samt Hauptgericht, Vorsuppe, Getränk pro
Person 22,50 Złoty, was in etwa 7,33 € entspricht. Mit dermaßen preiswert
und wohlschmeckend gefülltem Magen steht nunmehr für eine kurze
gottesdienstfreie Frist (auch am Nachmittag werden Messen gefeiert) die
Besichtigung der in den Jahren 1346-81 erbauten Pfarrkirche St. Katharinen an.
Nach ihrem Niedergang im Jahre 1945 wurde sie zwischen 1979 und 1986 nach alten
Plänen wieder aufgebaut und durfte sich bei dieser Gelegenheit von allerhand
vorkonziliär schwülstigem Ballast trennen. Jetzt kommt sie in ausgesprochen nüchternem
und lichten Outfit daher. Die Helligkeit des Kirchenraums macht die gotischen
Strukturen gut kenntlich und verleiht ihm eine klar gegliederte Form. Die Pfarrkirche von Wormditt (Orneta) ist
verschlossen. Zwar stehen die Portale offen, so dass man hinein schauen kann,
doch ein schweres Eisengitter verhindert weiteres Vordringen. Da fragt man sich,
wie es sein kann, im katholischen Polen eine katholische Kirche nicht betreten
zu können? Zu vermuten sind kriminalpräventive Absichten. Edward Andrysiak,
seit vierundzwanzig Jahren selbständiger Taxenunternehmer, hingegen überrascht
mit einer anderen Theorie. Das verschlossene Gitter zwingt die es nach
Besichtigung verlangt ins Pfarrhaus, um vom Pfarrer den Schlüssel zum Öffnen
des Eisengitters zu erbitten. Bei Rückgabe hält Hochwürden die Hände auf für
eine Spende zur Erhaltung des Gotteshauses. Nun kann man darüber nachdenken,
welcher Erklärungsansatz denn der richtige ist. Vermutlich beide. Die Stadt hat den Krieg unbeschadet überstanden.
Davon zeugt ein in sich geschlossener Ortskern mit Bebauung aus deutscher Zeit.
Hier endlich ist Gelegenheit sich vorzustellen, wie es vielerorts in den
Provinzstädten des Ermlands, dessen Hauptstadt Wormditt einstmals war,
ausgesehen haben mag. Wenn ich die mir zu Gebote stehenden Möglichkeiten des
Vergleichs bemühe, dann kommen mir die gemütlichen Kleinstädte der
mecklenburgischen Provinz in den Sinn. Heilsberg sei tot, behauptet Herr Kuhn, eine tote
Stadt, zumindest im Vergleich zu Bartenstein, welches zunächst auserkoren war,
die Gruppe Kuhn für drei Nächte zu beherbergen. Allein dort fand sich keine
geeignete Unterkunft, weshalb das „Pod Klobukiem“ in Lidzbark Warmiński
den Zuschlag erhält. Was diesen Sonntagnachmittag angeht, mag er recht haben
der Ostpreußenkenner und Leiter der nach ihm benannten Reisegruppe, der Ort
macht in der Tat keinen sonderlich lebendigen Eindruck, da war in Braunsberg und
Wormditt trotz sonntäglicher Schläfrigkeit mehr los. Ein paar Gestalten
verlassen das Schloss, um das herum im 14. Jahrhundert die Stadt entstand.
Bischofssitz war sie bis 1772. Wir belassen es bei äußerer Betrachtung des
Schlosses, das manche Kostbarkeit bergen soll. 9ter Tag [Montag, 03. Juni 2002] Beim Frühstück im Speiseraum des „Pod Klobukiem“,
der den Charme einer Interzonenraststätte versprüht, erzählt einer von seiner
Lektüre. Zur Vorbereitung auf die Reise habe er Surminski und Lenz gelesen, zur
Zeit die jüngst erschienene Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass.
Daraufhin echauffiert sich sein Tischnachbar über die einseitige Parteinahme
des Literaturnobelpreisträgers für die SPD. Der Grass-Leser indes fährt
unbeeindruckt fort und erwähnt gleich einen weiteren Nobelpreisträger seiner
Heimatstadt Lübeck. Beim Klang des Namens Willi Brandt müssen der Tischnachbar
samt seiner Gattin förmlich um Fassung ringen. Da möchte sich die Frau
Gemahlin doch lieber über die tagesaktuelle Kontroverse um Jürgen Möllemann
und den Vorwurf des Antisemitismus austauschen, wobei sie niemanden über ihre
Genugtuung im Unklaren lässt, dass endlich mal einer aufsteht und es wagt, den
Juden Paroli zu bieten. Das Hoch aus dem Westen ist nun endlich auch im
Ermland angekommen. Das deutete sich gestern ja schon an. Den ganzen Tag
Sonnenschein, der die Landschaft schön ausleuchtet für manch gutes Foto. Dabei
geht eine leichte Brise, so dass die Erfrischung nicht ausbleibt. In Mehlsack ist die Pfarrkirche zu besichtigen. Ein
neugotischer Bau aus dem Jahre 1897, davor eine Marienstatue, weiter nichts
Aufregendes. Eine aus dem Pfarrhaus herbei eilende Frau öffnet uns die Gitter,
so dass wir bis ins Kircheninnere vordringen können. Sie bleibt uns während
der Besichtigung erhalten. Am Marienaltar stimmt sie ein Lied an – auf
deutsch: „Maria hilf!“ und manch sangesfreudige Mitglied aus der
Kuhn’schen Reisegruppe stimmt inbrünstig mit ein. In Frauenburg, der Wirkungsstätte von Nicolaus
Coperinkus, besichtigen wir den Dom, darin sich eine Büste des letzten
deutschen Episcopus des Ermlands, Bischof Kaller findet, der 1947 in Frankfurt
am Main verstarb. Bemerkenswert ist dieser Umstand, da sich an einer Außenmauer
der Kathedrale eine Stele befindet, auf der alle Oberhirten dieser
Kirchenprovinz aufgeführt sind mit Ausnahme der deutschen. Der Turm neben dem
Dom bietet bei diesem prächtigen Wetter ein phantastisches Panorama über
Stadt, Haff und Nehrung. Fotoapparaten und Videokameras bieten sich Motive in Hülle
und Fülle. Natürlich wird auch dem nur wenige Kilometer
entfernten Braunsberg ein Besuch abgestattet und gerne betrachten wir uns
nochmals die schöne schlichte wie lichte Basilika St. Kathrinen von innen und
außen. Alicija, trotz ihrer jungen Jahre im Beruf erfahren genug, dass sie die
politischen Vorlieben ihrer deutschen Heimwehtouristen richtig einzuschätzen
weiß, erwähnt den im Jahre 1924 in Braunsberg geborenen CDU-Politiker Rainer
Barzel und erntet für diesen Hinweis zustimmende Resonanz. Abends im Hotel heißt’s schon wieder Koffer
packen. 10ter Tag
[Dienstag,
04. Juni 2002] Auf
dem Weg nach Buchwalde wird ein Zwischenstopp in Wormditt erforderlich. Dort hat
sich die Gruppe Kuhn am Samstag vorübergehend von drei hochbetagten Damen
getrennt, die ihre Unterbringung hinter Klostermauern der im Hotel vorgezogen
haben. Jetzt sind sie wieder eingesammelt, und die nunmehr
vollzählige Reisegruppe Kuhn fährt weiter in Richtung Mohrungen (Morąg),
wo es, vis-à-vis der Kirche, das Geburtshaus Johann Gottfried Herders zu
besichtigen gibt, jenes Theologen und Philosophen, den Johann Wolfgang Goethe im
Jahre 1776 als Hofprediger an den Weimarer Hof vermittelte und dessen Ideen
nicht ohne Einfluss auf ihn blieben. Als wir gegen 18.30 Uhr im Hotel Elzam in Elbląg,
dem alten westpreußischen Elbing, eintreffen, liegt der vielleicht schönste
Tag der ganzen Reise hinter uns. Sonnenschein von morgens bis abends und ein
weiter blauer Himmel ohne eine einzige Wolke. In Buchwalde besteigen wir das
Schiff zu einer einzigartigen Tour zu Wasser und zu Lande über die sogenannten
Rollberge, über welche das Boot auf sogenannten Rollwagen, die dem Laufwerk von
Eisenbahnwaggons ähneln, allein mit Wasserkraft gezogen wird, um mit Erklimmen
der Kuppe auf der anderen Seite langsam wieder in den Oberländer Kanal hinab zu
gleiten. Das Gefälle ist zum Teil beachtlich. Dieses Schauspiel wiederholt sich
fünfmal, dauert jedes Mal gut und gerne fünfzehn Minuten und ist immer wieder
von neuem ein Faszinosum, das man erlebt haben muss. Sprache und Bilder sind nur
unzureichende Medien, um das anschaulich zu machen und wiederzugeben, was die
Ingenieurskunst von vor über einhundertvierzig Jahren vollbracht hat. Die ganze
Anlage ist ein technisches Meisterstück und dient heute nicht mehr dazu, Waren
und Güter zu transportieren, sondern für Kurzweil bei Touristen zu sorgen, um
sie auf diese Weise mit einer wunderschönen Landschaft vertraut zu machen. Nach
den Rollbergen endet die Reise auf dem Draussensee, einem zusehends stärker
verlandenden Gewässer mit einer einzigartigen Population an Wasservögeln, wie
Reiher, Kormorane, Störche, Schwäne in unendlicher Vielzahl. Endstation ist Elbing. Vom Boot aus hat man einen
trefflichen Blick auf die total renovierte Altstadt, die man ohne zu übertreiben
als Schmuckstück bezeichnen darf, aus deren Mitte der 96 m hohe Turm der
Nikolaikirche aufragt wie ein Fingerzeig Gottes in den frühsommerlich hellen
Abendhimmel. Am Ufer Jung und Alt mit Angeln. Frohe Rufe und Grüße werden
ausgetauscht. Das schöne Wetter hebt die Stimmung. Alicija, die ihren letzten Abend mit uns verbringt,
morgen muss sie zurück nach Giżycko (Lötzen), um anderentags eine neue
Reisegruppe in Piła (Schneidemühl) in Empfang zu nehmen, um mit denen
wiederum in die kaliningradskaja oblast zu reisen (armes Marjellchen...), warnt
vor Alleingängen in Dämmer und Dunkelheit in die Altstadt. Die Polen könnten
aggressiv gestimmt sein. Das erste Spiel ihrer Fußballnationalmannschaft bei
der WM heute Nachmittag gegen Südkorea ging mit 2:0 verloren. Herrn Kuhn, einen weiteren Mitreisenden und mich hält
das nicht ab, eine Herrn Kuhn bekannte Kneipe in der Nähe des Hotels inmitten
der Altstadt aufzusuchen und die Hitze des Tages mit einem kühlen Blonden zu löschen.
Von aggressiver Stimmung auf den Straßen ist nichts zu spüren. Aber wir wissen
Alicijas Sorge um unser Wohlergehen zu schätzen. 11ter Tag
[Mittwoch, 05. Juni 2002] Alicija, der blonde Engel, hat uns verlassen. In
aller Herrgottsfrühe. Unser Geschick liegt nun ausschließlich in den Händen
der Herren Kuhn und Krüger. Hinter Danzig, das wir nur kurz streifen für flüchtige
Blicke auf Marienkirche und Krantor, offenbart sich eine unvermutet liebliche
Landschaft mit hübsch aufgeräumten kleinen Ortschaften, sanft belichteten Höhen
und glitzernden Seen: die kaschubische Schweiz, Heimat eines besonderen Völkchens,
das sich mittlerweile einen Minderheitenstatus zugute halten darf, halb
polnisch, halb deutsch, und wer mehr darüber wissen will, dem sei die Lektüre
von Günter Grass’ Blechtrommel anempfohlen. Jener schaut gelegentlich einmal
vorbei in seiner Heimat – man erinnere sich der Schilderung seiner
kaschubischen Großmutter mit den vielen Röcken auf dem Kartoffelacker – und
Herr Kuhn kennt die Pension, in welcher der Literaturnobelpreisträger zu
logieren pflegt. Sie liegt auf unserer Route, wir fahren daran vorbei. Bevor wir die Gelegenheit zur Rast am Radauner See,
dem zweitgrößten der Region, nutzen, statten wir Karthaus und seiner
Klosterkirche einen Besuch ab. Zum Kloster gehörten laut Ordensregel der Kartäuser
Mönche, die aus dem französischen Chartreuse kamen, sechzehn kleine Klausen,
in denen je ein Mönch in Abgeschiedenheit lebte. Es ist überliefert, dass die
Bettgestelle der Mönche Särgen ähnlich sahen. Auch das Dach der Klosterkirche
sieht aus wie ein Sargdeckel. Der Pfarrer des heute als Pfarrkirche genutzten
Gotteshauses verfügt trotz (oder wegen) seiner mehr als siebzig Lebensjahre über
Entertainerqualität. Seine Führung durch die Kirche hat durchaus
unterhaltsamen Charakter, und es gibt wahrlich Beachtsames zu bestaunen:
barockes, reich verziertes Chorgestühl, bemerkenswerte lederne Wandbehänge
sowie ein wertvolles Triptychon von 1444. Doch bei aller Kurzweil mahnt der
Gottesmann, der ganz leidlich deutsch spricht, man sei in einer Kirche und nicht
im Museum, weshalb er flugs Großer Gott,
wir loben dich und Allein Gott in der
Höh’ anstimmen lässt, womit die Führung dann auch sozusagen ausklingt. Dieser vorletzte Tag unserer Ostpreußenreise endet
im „Hotel Woldenik“ in Woldenberg (Dobiegniew). Nach dem Abendessen stellt
der Wirt ein TV-Gerät in den Speiseraum, damit seine Gäste Deutschlands
zweites WM-Vorrundenspiel gegen Irland gemeinschaftlich verfolgen können. Es
geht 1:1 ohne große Highlights aus. Abend und Nacht sind von milder Temperatur,
sodass ein Schlaftrunk im Freien, auf der Terrasse genossen, das Gegebene
scheint, den Tag zu beschließen. Man kommt ins Gespräch miteinander. Aus einem
ansonsten recht zurückhaltenden Mitreisenden, er stammt aus Heilsberg, bricht
es wie eine emotionale Eruption heraus, welches Entsetzen das Wiedersehen mit
der Heimatstadt nach so langer Zeit – als Fünfzehnjähriger musste er sie
verlassen – ausgelöst hat: „Meine Güte, wie sieht Heilsberg schlimm aus!
Die haben da eine Latrine hin gesetzt!“ Und weil er schon dabei ist, seinen
Gefühlen freien Lauf zu lassen, dürfen wir auch noch erfahren, wie schwer ihn
der Verlust der alten Heimat getroffen hat und dass er in der neuen Heimat zunächst
todunglücklich war. Sein Vater ist in einem Massengrab in der kaliningradskaja
oblast verscharrt. Bei einem unserer Ausflüge im russischen Teil Ostpreußens wäre
er bald unter der Last der Erinnerung zusammen geklappt. Ein anderer Herr aus der Schar der Mitreisenden,
schon in gesetzterem Alter,
ist ein wandelndes Geschichtsbuch und versteht, die Historie Ostpreußens
mit Anekdoten und persönlichen Anmerkungen zu würzen, sodass er immer einer
aufmerksamen Zuhörerschar gewiss ist. Besonders die katholische Engstirnigkeit
mancher Landsleute im Umgang mit Andersgläubigen ist immer wieder Ziel seines
Spotts. Schade, dass sich nicht schon eher Gelegenheit geboten hat, ihm zuzuhören... Gottlob
höre ich auf der ganzen Reise keine revanchistischen Töne. Die von der Firma
Busche durch ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen kutschierten
Heimwehtouristen haben sich mit ihrem und dem Schicksal Ostpreußens arrangiert.
Kaum einer glaubt ernsthaft, dass dies je wieder deutsch werden würde. Aber es
ist Teil eines geeinten Europas, spätestens mit Beitritt Polens zur EU. 12ter Tag
[Donnerstag,
06. Juni 2002] Abschied. Um 07.00 Uhr Abfahrt aus dem Hotel Wodnik
in Woldenberg. Fahrt über Friedeberg, Landsberg an der Warthe und Vietz nach Küstrin.
Je weiter westlich, desto geordneter will mir das Land scheinen. Kurz vor der
Grenze wird das Versprechen zum Einkauf auf dem „Polenmarkt“ eingelöst. In
der Tat gibt es nichts, was es nicht gibt. Der Renner sind Schnaps und
Zigaretten. Wie auf jedem Wochenmarkt bekommt man auch frisches Obst und Gemüse,
Fleisch- und Backwaren, Fisch, Tonträger, E-Geräte; was immer man denken kann,
wird feilgeboten. Dabei warten die Verkäufer nicht auf den Kunden, die
Verkaufstatik ist sehr offensiv mit direkter Ansprache, zuweilen sogar
aufdringlich bis aggressiv. Mein Einkauf beschränkt sich auf zwei T-Shirts zum
Preis von 8,00 € und eine Stange Marlboro Lights für 12,50 €, was unter
Fachleuten als guter Preis gilt. Kein langer Aufenthalt an der Grenze. Einzig die
polnischen Kontrolleure interessieren sich für unsere Pässe. Zurück in der Heimat werden Lieder angestimmt. Beim
Ostpreußenlied klappt immerhin die erste Strophe. Zwischendurch wird
kollektiert für Herrn Krüger und Herrn Kuhn. Die Beschenkten bedanken sich
artig und schmeicheln den Schenkenden, was für eine tolle Truppe sie gewesen
seien, richtig pflegeleicht und tugendhaft in Bezug auf Pünktlichkeit und
Zuverlässigkeit. Die ersten Mitreisenden steigen in Königs
Wusterhausen aus, die nächste auf einem Rastplatz in der Nähe Brandenburgs. In
Hannover am ZOB folgt ein weiterer Schwung. Von dort quält sich Herr Krüger
durch den Feierabendverkehr auf der B 6 nach Rodewald. Während der
gesamte Reise ist er 3.700 Kilometer mit uns unterwegs gewesen. Von
Rodewald nach Königsberg sind es 1.000 Kilometer. Gegen 21.00 Uhr mache ich mich auf den Heimweg.
Erfreulich wenig Verkehr auf der A 7. Nach genau 2 ½ Stunden bin ich wieder
zuhause. Unterwegs Gedanken: wie war’s, was hat’s gebracht? Für ein Resümee ist es zu früh, das muss wohl
erst sacken. Immerhin: Es war spannend, dass Land der Väter gesehen zu haben,
auch wenn die Geschichte darüber hingegangen ist. Die dabei gesammelten
Erfahrungen, die vielen Eindrücke und Erlebnisse waren es Wert, gemacht – und
vielleicht auch wiederholt zu werden. Für mich bleibt Ostpreußen ein Mythos. Da ich das
Land nicht als Eingeborener kennen gelernt habe, bleibt es mir als Mythos
erhalten, denn was früher war und nun nicht mehr ist, das entzieht sich meiner
persönlichen Anschauung. Ich verlasse mich auf das, was überkommen ist in Erzählungen,
auf Bildern und sonstigen Quellen. Ein Nachgeborener steht nicht in der Gefahr
entmythologisieren zu müssen, um Realitätsverlusten vorzubeugen. Ich kann
Ostpreußen so nehmen, wie es ist und freue mich, einen Teil Russlands und einen
Teil Polens erlebt zu haben. Dass auch meine Wurzeln dort liegen, stört in
diesem Zusammenhang überhaupt nicht. Es ist Teil des Mythos. |