Hans Preuschoff
Preußen wieder aktuell
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VORWORT
Die hier vorgelegte Schrift ist eine an einigen Stellen leicht überarbeitete
Zusammenfassung von acht Folgen, die von Weihnachten 1979 bis zum Sommer 1981 im
Mitteilungsblatt des Historischen Vereins für Ermland „Unsere ermländische
Heimat" (Beilage zu den von dem Apostolischen Visitator für die Ermländer in der
Bundesrepublik Deutschland herausgegebenen "Ermlandbriefen") erschienen sind.
Daß es sich um eine solche Zusammenfassung handelt, ersieht der Leser schon aus
den ersten Sätzen. In ihnen wird die Berliner Ausstellung „Preußen-Versuch einer
Bilanz" angekündigt. Sie geht inzwischen ihrem Ende entgegen oder ist womöglich
schon geschlossen, wenn diese Broschüre erscheint. Den Anstoß zu der Darstellung
der preußischen Geschichte gab das Buch von Sebastian Haffner, Preußen ohne
Legende, das Walter Görlitz noch im Juli 1981 „Spitzenreiter der Buchmodewelle"
nannte. Von anderen Erscheinungen der fast unübersehbaren Preußenwelle auf dem
Büchermarkt seien wenigstens einige genannt, ohne daß damit ein Werturteil
gefällt werden soll: Joachim Fernau, Sprechen wir über Preußen; Helmut Diwald
(Hrsg.), Im Zeichen des Adlers; Christian Graf von Krockow, Warnung vor Preußen;
Sebastian Haffner und Wolfgang Venohr, Preußische Profile; Siegfried
Fischer-Fabian, Preußens Gloria und Preußens Krieg und Frieden, sowie Werner
Knopp, Preußen, Versunkener Staat - lebendiges Erbe.
Was war Preußen? War es, wie es der ostpreußische Schriftsteller Friedrich
Reck-Malleczewen im August 1939 gesagt hat, der ewige Schreihals, der auch
morgen wieder den Krieg an den ganzen Erdball erklären werde? Oder war es, um
noch einmal den in Baden-Baden geborenen katholischen Dichter Reinhold Schneider
zu zitieren, die stärkste Form, die sich in die östliche Flut stellte? Eins ist
gewiß: Das 1947 vom Alliierten Kontrollrat offiziell für tot erklärte Preußen
wird noch lange die Gemüter beschäftigen.
Köln, im September 1981
Dr. Hans Preuschoff
Das Thema Preußen ist wieder “in”. Der Grund dafür sind eine Ausstellung und ein
Buch. Die Preußenausstellung hat der Regierende Bürgermeister von Berlin,
Dietrich Stobbe, ein gebürtiger Ostpreuße, in der alten preußischen Hauptstadt
für 1981 vorgesehen. Es ist klar, daß die Ankündigung der Ausstellung die
Gemüter in Wallung gebracht hat und zwischen den Anhängern von Preußens Gloria
und Preußens Verdammung eine lebhafte Diskussion in Gang gekommen ist, die einen
ersten Niederschlag in einer Dokumentation gefunden hat, die vom Presseund
Informationsamt der Stadt Berlin herausgegeben worden ist.
Das Buch, von dem die Rede ist, ist „Preußen ohne Legende" von Sebastian
Haffner, in verschwenderischer Ausstattung im Verlag Gruner & Jahr erschienen.
Haffner ist gewiß nicht jedermanns Freund. Aber schon seine „Anmerkungen zu
Hitler" haben weitgehende Zustimmung gefunden. In einer Besprechung dieses
Buches vergleicht der Publizist Hans-Georg Studnitz Haffner mit dem Maler
Picasso auf Grund seiner verschiedenen Perioden. Haffner schillert tatsächlich
in vielen Farben, und auch sein „Preußen ohne Legende" wird dieses Urteil
keinesfalls entkräften. Immerhin kann selbst ein amerikanischer Professor, der
seit einiger Zeit an der Universität Münster lehrt, Robert D. Walton, nicht
umhin, Haffners neues Buch als „lesenswert" zu bezeichnen, was für einen
Amerikaner ein großes Zugeständnis ist, wird doch in den USA nach Waltons
eigenen Worten Preußen gleichgesetzt mit Militarismus und Hitlers „Drittem
Reich". Aus einer solchen Einstellung heraus ist es ja auch zu dem
Kontrollratsbeschluß von 1947 gekommen, der Preußen auflöste, womit man
sozusagen dem längst gestorbenen Löwen noch nachträglich einen höchst
überflüssigen und im Grunde auch unberechtigten Tritt versetzte, denn das alte
Preußen hatte mit Hitlers „Drittem Reich" am wenigsten zu tun, auch wenn Hitler
in der Schmierenkomödie des Tages von Potsdam am 21. März 1933 die
Machtergreifung durch den Nationalsozialismus am Grabe Friedrichs des Großen als
die Erfüllung der preußischen Geschichte feierte.
Neben Haffners Buch seien keinesfalls die früheren Darstellungen Preußens und
des Preußentums vergessen. Eine der ersten, die nach dem Krieg lebhaft
diskutiert wurde, war die Arbeit „Die Tragik des Preußentums" von Otto Heinrich
von der Gablentz, vom Standpunkt des gläubigen evangelischen Christen aus
geschrieben, der kein Historiker war und darum auch nicht in den
Literaturverzeichnissen der Fachbücher erscheint, obschon wir seinen Gedanken
hier und da in der späteren Preußenliteratur zu begegnen meinen. Vor allem aber
sind die Bücher des Erlanger Historikers Hans-Joachim Schoeps zu beachten.
Schoeps, der sich offen als Monarchist bekennt, sah gerade als Jude in dem alten
preußischen Staat einen Platz für seinesgleichen, nachdem dieser durch das
Gesetz von 1812 ausdrücklich die Juden als gleichberechtigte Bürger anerkannt
hatte. Von seinen Preußenbüchern seien die genannt, die bei der Abfassung dieses
Beitrages vor allem gewürdigt worden sind, „Preußen, Geschichte eines Staates",
„Preußen und Deutschland, Wandlungen seit 1763", „Der Weg ins Deutsche
Kaiserreich" und „Das andere Preußen". Wenn Schoeps gelegentlich vorgeworfen
wird, daß er Preußen zu sehr verherrliche, so ist dem zu entgegnen, daß er bei
aller zugestandenen Sympathie für das alte Preußen diesem keineswegs unkritisch
gegenübersteht. Nicht zu übersehen ist das Buch von Arno Lubos „Deutsche und
Slawen" mit dem Kapitel „Preußen und Slawen". Doch wollen wir dieses Buch
stärker in einem besonderen Beitrag heranziehen, der dem Verhältnis von Preußen
und Polen gewidmet ist. So sollen auch die Leser nicht enttäuscht sein, wenn der
Polenfrage in diesem Aufsatz nach ihrer Meinung nicht der gebührende Platz
eingeräumt wird. Schließlich sei von der neueren Preußenliteratur noch das Buch
von Bernt Engelmann „Preußen - Land der unbegrenzten Möglichkeiten" erwähnt, das
die Wiener Zeitung „Die Presse" „ein preußisches Antigeschichtsbuch" nennt, in
dem die preußische Geschichte „mit Brachialgewalt auf roten Vordermann gebracht"
wird.
Die Friedrichs und die Wilhelms
In einer großen deutschen Tageszeitung schob die von uns sonst sehr
geschätzte Verfasserin eines Beitrags den Erlaß „Ruhe ist die erste
Bürgerpflicht" nach der Niederlage von Jena König Friedrich III. zu. Damit war
sie einem doppelten Irrtum unterlegen. Die Aufforderung stammt nicht vom König
selbst, sondern von seinem Minister von der Schulenburg, und der König hieß auch
nicht Friedrich III., sondern Friedrich Wilhelm III. Es ist schon ein rechtes
Kreuz mit den preußischen Königen. Sie kennen nur zwei Namen, Friedrich und
Wilhelm; manche von ihnen führen, wie wir eben gesehen haben, beide Namen,
glücklicherweise nur in der Folge Friedrich Wilhelm; wären noch Wilhelm
Friedrichs dabei, würden wir restlos verwirrt. Dürfen wir, ohne in den Verdacht
des Borussismus zu geraten, unseren Lesern eine Liste der preußischen Könige
präsentieren - den älteren zur Auffrischung ihrer Kenntnisse, den jüngeren zur
mehr oder weniger willkommenen Belehrung? Der erste preußische König, der sich
am 18. Januar 1701 im Königsberger Schloß selbst die Krone aufs Haupt setzte,
war Friedrich I., der Sohn des Großen Kurfürsten; als Kurfürst hieß er selbst
noch Friedrich III. Ihm folgte 1713 sein Sohn Friedrich Wilhelm I., bekannt als
der Soldatenkönig. Dessen Sohn und Nachfolger war Friedrich II. (1740 bis 1786),
den sie nach dem z. Schlesischen Krieg den Großen nannten. Da er kinderlos
starb, folgte ihm sein Neffe Friedrich Wilhelm II. Er gilt als der unfähigste
der preußischen Könige, was allerdings Haffner heftig bestreitet. Sein
Nachfolger Friedrich Wilhelm III. (1797 bis 1840) steht im Schatten seiner
bedeutenden, allerdings früh verstorbenen Frau Luise. Beider ältester Sohn,
Friedrich Wilhelm IV., regierte offiziell bis zu seinem Tod 1861, mußte aber
wegen einer schweren Erkrankung, da er selbst kinderlos war, seit 1857 von
seinem Bruder vertreten werden. Dieser herrschte dann von 1861 bis 1888 - seit
1871 auch als deutscher Kaiser. Wilhelms I. Sohn Friedrich III. regierte 1888
wegen Kehlkopfkrebses nur 99 Tage. Der letzte preußische König und deutsche
Kaiser war sein Sohn Wilhelm II. (1888 bis 1918).
Wie Preußen zu seinem Namen kam
Beginnt die preußische Geschichte mit der Krönung Friedrichs I.? Haffner will es
so wissen; was vorher geschehen ist, nennt er Früh- und Vorgeschichte. Lassen wir
es dabei. Was Haffner besonders gereizt hat, ist die Frage, wie der Staat zu
seinem Namen gekommen ist. Schließlich waren die Prußen ein baltisches Volk, das
vom Deutschen Ritterorden unterjocht wurde, und eben dieses unterworfene Volk
gab dem Staat, der auf seinem Boden gegründet wurde, den Namen. Frau Dr.
Brigitte Poschmann wies mich darauf hin, daß in den päpstlichen und anderen
lateinischen Urkunden von "Pruscia" und der „terra Pruscie" die Rede ist. Und so
ist diese Bezeichnung wie von selbst in den deutschen Sprachgebrauch übernommen
worden für ein Land, für das sich sonst kein anderer Name gefunden hätte.
"Deutschordensstaat" bezeichnet die Form des neuen Staatsgebildes, eignet sich
aber nicht als sein Name. Zur Unterwerfung der Preußen seit 1230 sei aus Hafners
Buch eine für ihn charakteristische Stelle zitiert:
„Die Eroberung und Unterwerfung des Preußenlandes an der Weichsel durch den
Deutschen Ritterorden ist eine Greuelgeschichte, aber der Staat, den der Orden
in dem eroberten Land errichtete, ist ein kleines Weltwunder seiner Zeit."
Unbedingt muß erwähnt werden, daß sich der Hochmeister des Deutschen Ordens,
Hermann von Salza, vielleicht der größte Politiker seiner Zeit, in der Goldenen
Bulle von Rimini (1226) vom Kaiser und acht Jahre später auch vom Papst den
Besitz des zu erobernden Preußenlandes mit voller Landeshoheit bestätigen ließ.
In seinem Drama „Das Kreuz an der Ostsee" legt Zacharias Werner der Herzogin von
Masovien, Agaphia, als ihr der Ordensgesandte Conrad von Landsberg eröffnet, daß
das eroberte Preußenland dem Orden verbleiben solle, die Worte in den Mund: „Ein
überreicher Lohn." Und sie, die sonst die eigentliche Lenkerin der
Staatsgeschäfte in Masovien ist, verschiebt die Zustimmung zu diesem Punkt bis
zur Rückkehr des Herzogs Konrad aus Krakau, gibt aber zu verstehen, daß er tun
werde, was er nicht lassen könne, was nur so zu deuten ist, daß er sich gegen
den Plan Hermann von Salzas nicht sträuben wird. Mag das Gespräch auch von
Werner erfunden worden sein, wie Agaphia dachten um 1800 gewiß viele Polen.
Interessant ist der Hinweis Haffners auf den Unterschied zwischen der
Christianisierung Brandenburgs und Preußens. In Brandenburg waren Eroberung und
Missionierung zweierlei gewesen. Die weltlichen Eroberer verlangten nur
Unterwerfung, die christliche Missionsarbeit verrichteten friedliche Mönche
(Zisterzienser). In Preußen dagegen brachten die erobernden Ordensritter das
Christentum mit dem Schwert, wobei, wie Haffner entgegen einer weitverbreiteten
Annahme ausdrücklich feststellt, die Prußen nicht völlig ausgerottet wurden.
Allerdings war die Kombination von Eroberung und Missionierung für letztere eine
schwere Belastung, und an den Aufständen gegen den Orden nahmen auch bereits
„bekehrte" Preußen teil.
Die Preußenschulen im Ermland
Es ist an der Zeit, ein Wort über die geistlichen Territorien zu sagen, die
unter der Oberherrschaft des Ordens auf preußischem Boden gebildet wurden. Uns
interessiert dabei natürlich vor allem das Ermland. Hier suchte man auf
friedlichere Weise die eingesessenen Prußen für den christlichen Glauben zu
gewinnen. Unser bedeutender, immer um eine sachliche Wiedergabe geschichtlicher
Vorgänge bemühter ermländischer Historiker Franz Hipler konnte feststellen, daß
im Ermland für das zeitliche Wohl wie für die geistige Ausbildung der
Stammpreußen am meisten getan worden sei. Um einen Klerus heranzubilden, der den
Prußen das Wort Gottes in ihrer eigenen Sprache verkündete, gründete man sog.
Preußenschulen. Eine solche hat am bischöflichen Hof in Heilsberg bis ins 15.
Jahrhundert hinein bestanden. Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts waren
wichtige kirchliche Stellen wie die des Guardians des Braunsberger
Franziskanerklosters und des Pfarrers von Wormditt mit Stammpreußen besetzt.
Die folgende hübsche Begebenheit soll unseren Lesern nicht vorenthalten werden,
mag es sich auch, um Haffners Wort zu gebrauchen, um eine Legende handeln. Im
Jahr 1355 begab sich der vom ermländischen Domkapitel zum Bischof gewählte
Johannes Stryprock nach Avignon, wo die Päpste damals residierten, um seine
Bestätigung durch Innozenz VI. zu erhalten. In Stryprocks Gefolge befand sich
der stammpreußische Adlige Nikolaus Gerke von Hohenberg, der in Prag Theologie
studierte. Als der Papst bei der Audienz feststellte, daß Stryprock die
preußische Sprache nicht beherrschte, soll er kurzerhand den Gerke zum Bischof
bestimmt haben mit dem Hinweis, es sei notwendig, daß die junge Pflanzung der
ermländischen Kirche möglichst viele einheimische Priester habe. Am nächsten Tag
aber, so wird weiter erzählt, seien Stryprock und Gerke nochmals zum Papst
gegangen, und Gerke habe bei diesem Besuch zugunsten des ursprünglich erwählten
Bischofs verzichtet, was der Papst dann auch akzeptierte. Ob die Dinge sich so
abgespielt haben, wie soeben berichtet wurde, sei dahingestellt. Auf jeden Fall
sollte die Geschichte die Haltung der Kirche in der Frage der Preußenmission
beweisen.
Albrechts Huldigung an Polen
Preußen gab nicht nur dem Deutschordensstaat den Namen, sondern auch dem 1701
durch den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. begründeten Königreich.
Warum nannte er sich nicht König von Brandenburg? Weil Brandenburg ein Teil des
Deutschen Reiches war, dessen König der Kaiser war. Eine Ausnahme bildete
Böhmen, dessen Herzog sich seit 1198 König nennen durfte (Kurfürst wurde er
auch). Gehörte aber Preußen nicht auch zum Deutschen Reich? Erich Caspar, der
große Historiker, dessen Buch „Hermann von Salza und die Gründung des
Deutschordensstaates in Preußen" das maßgebliche Werk für diese Fragen ist,
äußert sich zur These von der reichsfürstlichen Stellung des Hochmeisters, daß
diese nicht im Sinne der Zugehörigkeit zum deutschen Lehnsstaat zu sehen sei.
Der geschichtliche Lauf der Dinge hat zusätzlich zur Lösung Preußens vom Reich
beigetragen. Im zweiten Thorner Frieden von 1466 kamen Westpreußen und das
Ermland unter polnische Herrschaft bzw. Oberherrschaft. Der restliche
Ordensstaat Preußen mit dem Sitz des Hochmeisters in Königsberg trat in engere
Beziehung zu Polen, wobei noch von keinem eigentlichen Lehnsverhältnis zu
sprechen ist. Ein solches wurde erst nach der Umwandlung des Ordenslandes in das
Herzogtum Preußen durch den Hochmeister Albrecht von Brandenburg begründet, der
mit seinen Brüdern auf alle Rechte bei Kaiser und Reich verzichtete. Der
polnische Maler Jan Mateiko hat die Huldigung Albrechts in Krakau, die unter
großer Prunkentfaltung erfolgte und von der polnischen Geschichtsschreibung
stark herausgestellt wird, in einem seiner Kolossalgemälde verewigt. Haffner
nennt im übrigen das Verhalten Albrechts eine wenig erbauliche Geschichte, wobei
er nicht an die Huldigung in Krakau denkt, sondern an den 1525 erfolgten
Übertritt des Hochmeisters zur Lehre Luthers und die Umwandlung des
Ordensstaates in ein erbliches Herzogtum. Haffner spricht sogar von einem
Verrat, den Albrecht an seinem Amt und denen verübt habe, die ihn dazu gewählt
hätten.
Inzwischen hatten die Hohenzollern bereits in einem anderen Gebiet Fuß gefaßt.
Im Jahr 1415 übertrug gelegentlich des Konzils von Konstanz Kaiser Sigismund dem
Burggrafen von Nürnberg, Friedrich VI. von Hohenzollern, „als Belohnung für
wichtige ihm und dem Reiche geleistete Dienste" die Mark Brandenburg mit der
Kur- und Erzkämmererwürde. Die eigentliche Belehnung erfolgte am 18. April 1417.
In seiner neuen Würde wurde aus Friedrich VI. Friedrich I. Für die Zukunft als
besonders wichtig erwies sich die 1563 erfolgte Mitbelehnung der Söhne des
brandenburgischen Kurfürsten Joachim II., Johann Georg und Sigismund, über
Preußen, was 1618 dazu führte, daß der Kurfürst von Brandenburg, Johann
Sigismund, nach dem Tod des erbenlosen geisteskranken Herzogs Albrecht Friedrich
auch Herzog von Preußen wurde. „In der polnischen Geschichtsschreibung", bemerkt
Gotthold Rhode in seiner „Kleinen Geschichte Polens", „wird der Beschluß von
1563 oft scharf mißbilligt und als ein entscheidender Grund für die zur Teilung
führende Entwicklung und für die neuzeitliche deutsche Ostexpansion verurteilt."
Der Mitwelt seien, fährt Rhode fort, derartige Vorstellungen eines
preußisch-polnischen oder deutsch#polnischen Gegensatzes jedoch gänzlich fremd
gewesen. Im übrigen habe der starke polnische Einfluß im herzoglichen Preußen
die Zugehörigkeit Preußens und Brandenburgs zur gleichen Dynastie kaum
bedrohlich erscheinen lassen. Immerhin stimmten die beiden Teile des Staates
auch in der Konfession überein, seitdem Kurfürst Joachim II. sich 1539 zur Lehre
Luthers bekannt hatte.
Nachdem bereits 1614 im Vertrag von Xanten nach dem Jülich-Cleveschen
Erbfolgestreit Cleve, Mark und Ravensberg an Brandenburg gefallen waren, bestand
das Herrschaftsgebiet der Hohenzollern aus drei weit auseinander liegenden
Teilen, die das sei ohne eine moralische Wertung zu treffen, gesagt - zur
Vereinigung drängten. Schoeps spricht von einem unaufhaltsamen Trieb zur Einheit
des Ganzen, der durch die Krönung Friedrichs der Armee und den Behörden
eingepflanzt wurde. Und Haffner betont geradezu einen Zwang zur Größe, der das
Lebensgesetz des preußischen Staates wurde.
„König" ein Zauberwort wie „Demokratie"
Die Voraussetzung, daß Kurfürst Friedrich III. sich die preußische Krone in
Königsberg aufs Haupt setzen konnte, schuf sein Vater, der Große Kurfürst, indem
er im Frieden von Oliva 1660 die polnische Lehnsherrschaft über Ostpreußen
abschüttelte. Friedrich I., dessen Streben nach der Königskrone Haffner als im
Zuge der Zeit liegend bezeichnet - das Wort „König" sei damals ein Zauberwort
gewesen wie heute das Wort „Demokratie" -, dehnte, so lesen wir wieder bei
Schoeps, die neue Titelbezeichnung, „die die Kurie wegen des alten Ordensstaates
- geistliches Gebiet also - für ein Jahrhundert zur Kenntnis zu nehmen sich
weigerte, auch auf die anderen Landesteile des Staates aus, so daß allmählich
Brandenburger, Lausitzer, Pommern, Magdeburger und Westfalen zu Preußen wurden".
Auch in Brandenburg und Cleve gab es fortan nicht mehr kurfürstliche und
herzogliche Beamte, sondern königliche.
Schwierigkeiten bei der Erhebung des brandenburgischen Kurfürsten machte der
Deutsche Ritterorden, dessen Hochmeisterwürde nach 1525 auf den Deutschmeister
mit dem Sitz in Mergentheim übergegangen war. Erzkatholisch, so schreibt Haffner
in seinem uns nun schon bekannten aggressiven Stil, eng an Habsburg angelehnt,
bot der Orden in Wien jetzt seinen ganzen Einfluß auf, um zu verhindern, daß das
ketzerische, illegitime, geraubte preußische Herzogtum der Hohenzollern nun auch
als Königreich Anerkennung fand. Aber, wie wir sahen, blieben alle Bemühungen
des Ordens ohne Erfolg. Er wurde dann in Deutschland von Napoleon aufgelöst. In
Österreich blieb er bestehen. Nach dem letzten Krieg wurden auch in der
Bundesrepublik Deutschland einige Niederlassungen gegründet. Die Polen, für die
der Deutsche Ritterorden seit eh und je ein rotes Tuch ist und die ihren Sieg
über ihn bei Tannenberg 1410 als das vielleicht größte Ereignis ihrer Geschichte
feiern, haben es Konrad Adenauer sehr übelgenommen, daß er die Würde eines
Deutschordensritters annahm, obwohl der Orden heute nur noch rein karitative
Aufgaben hat.
Preußens erster König Friedrich I. war ein unheroischer, verschwenderischer,
aber gebildeter Mann. Er rief Andreas Schlüter nach Berlin und ließ ihn das
Königsschloß vollenden. Seine Wiederherstellung nach dem Zweiten Weltkrieg wäre
trotz erheblicher Bombentreffer durchaus möglich gewesen, doch ließen es die
neuen, kommunistischen Machthaber als Symbol des verhaßten Preußentums
niederreißen. Was ihnen inzwischen selbst am meisten leidgetan hat. Wie gern
würde Herr Honecker heute im alten Schloß der preußischen Könige residieren! Ein
Kuriosum ist die Rettung des Standbildes des Großen Kurfürsten, das Schlüter im
Angesicht des Schlosses errichtete und das viele für das beste Reiterstandbild
überhaupt halten. Wegen der Bombenangriffe sollte es auf einem Spreekahn in
Sicherheit gebracht werden, doch soff dieser Kahn aus irgendeinem Grund ab,
glücklicherweise noch im Gebiet von Westberlin. So konnte das Denkmal nach dem
Krieg geborgen und auf einem würdigen Platz vor dem Charlottenburger Schloß
aufgestellt werden.
Der preußische Militarismus
Die beiden großen preußischen Könige nennt Haffner die Nachfolger Friedrichs
I.: Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., den das Volk als den Großen verehrt
hat. Allerdings hat es schon vorher einen Großen in der Geschichte des Landes
gegeben: Friedrich Wilhelm, den Großen Kurfürsten. Er erkannte als erster den
schon erwähnten durch die Neuzugänge im Osten und Westen entstandenen „Zwang zur
Größe, der dann das Lebensgesetz des Staates Preußen werden sollte". Haffner
wehrt sich aber mit Nachdruck gegen die spätere Legende, als ob das Haus
Hohenzollern „im Zusammenwirken mit der Vorsehung" über Jahrhunderte bewußt und
weitschauend auf das künftige Preußen, und wir können hinzufügen auf das
Deutsche Reich, hingearbeitet habe. Anders als jeder andere europäische Staat
sei Preußen immer wegzudenken gewesen, es sei keineswegs aus einem Stamm
herausgewachsen wie etwa Bayern und Sachsen. Preußen habe zeitlebens eines
Übermaßes an staatlichem Lebenswillen und militärischer Selbstbehauptungsenergie
bedurft, um den Geburtsmakel auszugleichen. Das Mittel, diesen
auseinandergerissenen Staat ohne natürliche Grenzen am Leben zu halten und zu
arrondieren, wie die Fachleute sagen, war die Armee, die im Verhältnis zu
anderen Staaten erheblich größer war. So war der Militarismus eine
Notwendigkeit, den abfälligen Beigeschmack, den das Wort dann bekommen hat und
der Preußen zum Hauptvorwurf gemacht wurde - auch in dem erwähnten
Kontrollratsgesetz Nr. 46 -, hat es erst im Laufe der Zeit erhalten, als die
preußische Armee entscheidend an der erwähnten Arrondierung des Staates
beteiligt war und dadurch zu einer den anderen Völkern unheimlichen Macht wurde
und man im Militarismus die preußische Weltanschauung sah. Eine politische Rolle
hat anders als z. B. das Militär in südamerikanischen Staaten die preußische
Armee nie gespielt, sehen wir von dem Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944 ab,
an dem eine Anzahl von preußischen Offizieren beteiligt war. Der eigentliche
Attentäter Graf Stauffenberg kam aus Bayern, allerdings war er ein Nachkomme des
preußischen Generalfeldmarschalls Neithardt von Gneisenau, der wiederum aus
Sachsen stammte. Als politischer Faktor ist das Militär eher im Kaiserreich
hervorgetreten. Wir kommen darauf noch zurück.
Der Große Kurfürst hat im Gegensatz zu den früheren Söldnerheeren ein stehendes
Heer geschaffen. Sein Enkel Friedrich Wilhelm I. hat es weiter ausgebaut und ist
dadurch zu dem Beinamen Soldatenkönig gekommen. Nach der Einwohnerzahl war
Preußen zu seiner Zeit der 13., nach Umfang der 10., nach der Stärke der Armee
aber der 4. Staat in Europa. Friedrich Wilhelm I. war der erste Herrscher, der
ständig Uniform trug.
Was Haffner kaum beachtet, ist das starke religiöse Empfinden Friedrich Wilhelms
I. Aber sein übersteigertes Pflichtgefühl stammte nicht, wie Gablentz sagt, aus
evangelischer Freiheit, sondern war eine neue Werkgerechtigkeit, die weder in
einer kirchlichen Ethik noch in einer seelsorgerlichen Beichtpraxis ein Maß
fand, sondern nur an die grenzenlose Unruhe eines geängstigten,
selbstquälerischen Gewissens gebunden war. Es war Friedrich Wilhelm bitterernst
mit seinem Gebetsleben wie mit seiner Erziehungsarbeit am Volk. Er sagte: „Wenn
ich baue und verbessere das Land und mache keine Christen, so hilft mir das
alles nichts." Aber das Christentum soll ein tätiges sein. Leere Kirchen sind
ihm ein Greuel. So läßt er die wunderbare romanische Marienkirche vor den Toren
Brandenburgs abtragen und daraus ein Militärwaisenhaus in Potsdam bauen. Die
Königsgestalt Friedrich Wilhelms I. hat Jochen Klepper in seinem bedeutenden
Roman„ Der Vater" zu erfassen gesucht.
Ein rauher Vernunftsstaat
Was würde aus diesem Staat werden, fragt Gablentz, wenn das Vorbild bliebe,
diesem aber der Glaube fehlte? Würde der König noch, wie der Schwiegersohn
Franckes, des Gründers der berühmten Halleschen Stiftungen, schreibt, Amtmann
des Reiches Gottes sein? „Oder würde er", ich zitiere wieder Gablentz,
„fanatisch dem Ziel verfallen, ein Reich dieser Welt aufzubauen? Friedrich
Wilhelm I. war von Natur Soldat. Was würde aus diesem Soldatenstaat werden, wenn
einmal jemand an die Spitze käme, für den das Soldatensein nur einen furchtbaren
Zwang bedeutete und der doch aus übersteigertem Pflichtgefühl sich selbst an
diesen Zwang bände?" Diese Worte Gablentz„ sind auf Friedrich Wilhelms Sohn und
Nachfolger Friedrich II. (1740 bis 1786) gemünzt. Wir kennen den berühmten
Konflikt zwischen Vater und Sohn, wir wissen auch, daß Friedrich II., nachdem
ihn der Wille des Vaters gebrochen hatte, dessen Erbe auf seine Weise
fortführte, aber nicht im Geiste des Christentums, sondern der Aufklärung, wobei
er selbst zum Menschenverächter wurde. Man hat das Preußen Friedrichs II. einen
rauhen Vernunftsstaat genannt. So kann Haffner schreiben, daß bei der Prägung
dieses Staates der Zeitgeist mitgewirkt habe, der Geist der Staatsvernunft, der
Staatsräson, der damals in ganz Europa herrschend wurde und einen solchen
Vernunftsstaat wie Preußen begünstigte, ja geradezu nach einem solchen
Vernunftsstaat verlangte.
Unter Friedrich II. gewann Preußen zwei Provinzen: das reiche Schlesien und
Westpreußen mit Ermland. Der Gewinn Westpreußens war für seinen Staat um so
wichtiger, als er die Landbrücke zwischen Brandenburg-Pommern und Ostpreußen
herstellte. Kann man im Fall Westpreußens noch als Entschuldigung anführen, daß
Preußen dieses Verbindungsstück wirklich brauchte - was natürlich nur eine
politische Rechtfertigung ist -, so war der Kampf um Schlesien, wie man kurz
sagen könnte, ein Raubkrieg in drei Phasen, deren letzte, den Siebenjährigen
Krieg von 1756 bis 1763, Friedrich nur gewann, weil er den längeren Atem hatte
und seine schlimmste Gegnerin, die Kaiserin Elisabeth von Rußland, starb und ihr
Nachfolger Peter III. Friedrich zuneigte. Allerdings starb Peter noch im selben
Jahr mit oder ohne Zutun seiner Gemahlin und Nachfolgerin Katharina II. Diese
kündigte Friedrich die Freundschaft, ließ aber die russischen Truppen nicht mehr
in den Krieg eingreifen. So verloren auch die anderen Gegner Friedrichs,
Österreich und Frankreich, die Lust am Krieg, und Friedrich behielt Schlesien
endgültig, was ihm die Österreicher nie verziehen haben. Der Siebenjährige wie
Krieg wird, Haffner zutreffend bemerkt, gern als Glanz- und Prunkstück von
Preußens Gloria angesehen, mit den Siegen von Roßbach, Leuthen und Zorndorf. Der
wirkliche, für Friedrich längst nicht so günstige Verlauf des Krieges wird kaum
wahrge
nommen. Friedrich spekulierte, ehe der Krieg ausbrach, auf den angeblich
unüberwindlichen Gegensatz von Österreich und Frankreich. Aber Frankreich nahm
Friedrich das Bündnis mit England übel, das um die Zeit mit Frankreich und
Kanada und andere koloniale Besitzungen kämpfte. So kam es zum Dreibund
Österreich-Frankreich-Rußland, dessen Ziel die Rückführung Preußens auf
Brandenburg war. Warum, fragt Haffner, sollte man Preußen nicht einfach
aufteilen können wie später Polen? Nun, es kam nicht dazu, der David besiegte
die Goliaths, worauf die Jugend in Deutschland nach Goethes Wort „fritzisch"
gesinnt war. Die nationalsozialistische Führung wartete im zweiten Weltkrieg auf
ein „friederizianisches Wunder", womit der Tod der Zarin Elisabeth gemeint war,
und als Roosevelt am 12. April 1945 plötzlich starb, wurde sein Tod von Goebbels
als solches verkündet. Vergebens, wie wir wissen. Wunder lassen sich nicht
herbeikommandieren. Roosevelts Nachfolger, Truman, war kein Peter III.
Friedrichs II. religiöse Indifferenz
Friedrich des Großen vielgerühmte Toleranz entsprang nicht einer religiösen
Einstellung, sondern einer religiösen Indifferenz. Ihm, dem Atheisten, war es
gleichgültig, zu welcher Konfession und zu welcher Nationalität sich ein
Untertan bekannte, Hauptsache, er tat seine Pflicht. Daß Brandenburg-Preußen ein
übernationaler Staat war, hatte schon der Große Kurfürst bewiesen, als er die
Hugenotten in sein Land aufnahm, Friedrich Wilhelm I., als er den wegen ihres
Glaubens ausgewanderten Salzburgern eine neue Heimat gab, und Friedrich II.,
unter dem die bei der ersten Teilung hinzugekommenen Polen es nach Haffners
Ansicht nicht schlechter hatten als vorher in ihrem eigenen Staat. Seine
Toleranz, die nach einem zynisch gemeinten Wort jeden nach seiner Fasson selig
werden ließ, bewies Friedrich auch gegenüber den vor allem aus Schlesien in die
Hauptstadt gezogenen Katholiken. Er ließ ihnen im repräsentativen Stadtzentrum
eine Kirche erbauen, die nach der Heiligen Schlesiens, Hedwig, benannt wurde.
Uns wurde als Kindern gern erzählt, daß Friedrich auf die Frage, wie die neue
Kirche aussehen sollte, eine Kaffeetasse umgestülpt habe. In Wirklichkeit wurde
sie nach dem Vorbild des Pantheons in Rom erbaut. Einweihen ließ der König die
Kirche von seinem Geistesverwandten, den er zeitweilig nach Sanssouci zog, dem
Fürstbischof von Ermland Ignaz Krasicki.
Ein Abschnitt in dem Kapitel Haffners über Friedrich den Großen ist besonders zu
beachten. Der Verfasser äußert hier ähnliche Gedanken wie schon Gablentz. Das
alte Preußen, womit die Kernländer des preußischen Staates, Brandenburg,
Pommern, das stückweise den Hohenzollern zugefallen war, und Ostpreußen gemeint
waren, entbehrte der eigenen geistigen Prägung, wie Gablentz meint, und er fährt
fort: „Es war ein Land ohne Heilige und Märtyrer." Auch die Verehrer der hl.
Dorothea von Montau werden zugeben, daß sie für Preußen nicht die gleiche Rolle
gespielt hat wie die Heiligen Adalbert und Stanislaus für Polen, die hl. Hedwig
für Schlesien, der hl. Wenzel für Böhmen und der hl. Stephan für Ungarn. „So ist
das religiöse Leben dieses Landes blutleer und bodenlos geblieben, eine Sache
des Verstandes und der Städte, ganz im Gegensatz zu Polen", das den in Preußen
den Märtyrertod gestorbenen hl. Adalbert längst für sich in Anspruch genommen
hatte, als die Preußen katholisch wurden. Gablentz und Haffner weisen darauf
hin, daß das Christentum „auf dem Wege der Eroberung" (Gablentz) oder, wie es
Haffner ausdrückt, „oft unter schlimmen Begleitumständen" ins Land gekommen sei.
Die katholische Kirche hatte keine Zeit, Wurzeln zu schlagen, da wurde das Land
schon protestantisch. Auch der Übertritt zum Protestantismus war keine religiöse
Bekehrung, sondern im allgemeinen nur die Befolgung eines fürstlichen Befehls.
Soweit Gablentz. Und wieder Haffner: Kaum protestantisch geworden, wurde ihnen -
womit er die preußischen Kernlande meint - eine Toleranz aufgenötigt, die auch
die protestantischen Bekenntnisse relativierte. Haffner spielt hier auf den
Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund zum Kalvinismus an, nachdem er 1614
die reformierten Gebiete im Westen geerbt hatte. Der Große Kurfürst ordnete an,
daß sich in seinem Land Reformierte und Lutheraner nicht mehr bekämpfen sollten.
Das mißfiel dem Propst von St. Nicolai in Berlin, dem bekannten Liederdichter
Paul Gerhardt („O Haupt voll Blut und Wunden", „Befiehl du deine Wege"), der ein
eifriger Lutheraner war, so sehr, daß er seine Stelle aufgab. Wir zitieren
Haffner weiter: „Darf man sich wundern, daß dort, wo bei älteren Völkern die
Religion ihren festen Platz hatte, in Preußen eine gewisse Leere entstand und
daß in diese Leere etwas eindrang, was man eine bloße Pflichtreligion oder
Staatsethik nennen könnte?... Pflichterfüllung wurde in Preußen das erste und
oberste Gebot und zugleich die ganze Rechtfertigungslehre. Wer seine Pflicht
tat, sündigte nicht, mochte er tun, was er wollte... Mit diesem Religionssatz
ließ sich leben, und sogar ordentlich und anständig leben - solange der Staat,
dem man diente, ordentlich und anständig blieb. Die Grenzen und Gefahren der
preußischen Pflichtreligion haben sich erst unter Hitler gezeigt."
Der letzte Satz muß uns Ermländer ganz besonders beschäftigen. Wir wollen keine
Pharisäer sein: Aber war nicht unser Ländchen gefeiter gegen die Verführung
durch den Nationalsozialismus als etwa das übrige Ostpreußen? Nach der von
Haffner gezeichneten Entwicklung kann dies nur dadurch gekommen sein, daß im
Ermland die katholische Kirche wirklich Wurzeln schlagen konnte. Eine jüngst
veröffentlichte Statistik hat nachgewiesen, daß gerade in den katholischen
Gebieten, unter denen das Ermland ausdrücklich genannt wird, selbst bei der
Reichstagswahl vom 31. Juli 1932, bei der Hitler „sein bestes Ergebnis unter den
Bedingungen einer wirklich freien, gleichen und geheimen Wahl erzielte", die
Nationalsozialisten auf der Strecke geblieben seien. Noch bei der letzten freien
Wahl, wenn man sie im Hinblick auf die taktische Zurückhaltung der
Nationalsozialisten so nennen kann, am 5. März 1933, also bereits nach der
Machtergreifung Hitlers, errang im Kreis Braunsberg das Zentrum, die Partei des
politischen Katholizismus, die absolute Mehrheit ebenso wie in der Stadt
Braunsberg. Auch in den anderen ermländischen Kreisen war der Prozentsatz der
NS-Stimmen zum Teil erheblich niedriger als im übrigen Ostpreußen. Auffallend
ist nur ihre starke Zahl ausgerechnet in dem weitgehend von einer
polnischsprechenden Bevölkerung bewohnten Landkreis Allenstein. Es handelt sich
hier offensichtlich um Angstwahlen. Das übrige Ostpreußen wählte die braune
Farbe. Daß dann, als die Nationalsozialisten ihren Druck verstärkt hatten und
Wahlen oder besser Scheinwahlen nur noch stattfinden ließen, wenn sie mit einer
Frage gekoppelt wurden, deren Zustimmung sich kein deutscher Wähler entziehen
konnte, auch im Ermland die Ergebnisse in ihrem Sinne ausfielen, soll nicht
verschwiegen werden. Wir wollen uns auch nicht vor der Frage drücken, was
geworden wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß ein Kirchenkampf eingesetzt hätte,
gegen den Bismarcks Kulturkampf ein Kinderspiel gewesen wäre. Ein geistlicher
Freund erinnerte mich in diesem Zusammenhang an eine pessimistische Bemerkung
Bischof Maximilians. Dazu wird folgende kleine Begebenheit passen:
Es war im Krieg, als wir eines Tages in der Stube unseres Onkels in
Heinrichsdorf beisammensaßen. Der Onkel selbst beteiligte sich schon einige Zeit
nicht mehr an Gesprächen, sondern zog, wie es seine Art war, still an seiner
kalten Pfeife. Auf einmal sagte er, der ein guter Ermländer war, wie jeder von
uns zu sein glaubt, ganz unvermittelt (er sagte es auf plattdeutsch, ich darf es
für die unserer Heimatsprache unkundigen Leser ins Hochdeutsche übertragen):
„Das wird alles mal aufhören, das Nach-Bludau-in-die-Kirche-Fahren!" Widerspruch
gegen seine Einsicht ließ er nicht gelten. Hat er recht behalten? Nein - aber
mit einer entscheidenden Einschränkung: Sie fahren immer noch nach Bludau in die
Kirche, doch es sind nicht mehr die Menschen, die damals in die Kirche fuhren,
auch nicht ihre Kinder und Kindeskinder, sondern die, denen man heute unsere
Heimat überlassen hat. Und um es ganz genau zu sagen: Gerade die jetzigen
Heinrichsdorfer brauchen gar nicht mehr nach Bludau zu fahren, sondern der
Pfarrer kommt jeden Sonntag die sieben Kilometer mit dem Motorrad zu ihnen, um
den Gottesdienst in dem Kapellchen zu halten, das die alten Heinrichsdorfer zu
Ehren ihrer im Ersten Weltkrieg Gefallenen errichtet hatten 1).
Der erste Diener des Staates
Wenden wir uns wieder unserem eigentlichen Thema zu, und drehen wir das Rad
der Geschichte um 200 Jahre zurück. Immer noch regiert in Preußen Friedrich der
Große, längst der Alte Fritz genannt. Und er regiert völlig absolutistisch, d.
h., er gibt keine Entscheidungen an seine Mitarbeiter ab, sondern erledigt alle
Staatsgeschäfte, auch die weniger wichtigen, in eigener Person entweder durch
Verfügungen „aus seinem Kabinett" oder durch Marginalien. Das sind
Randbemerkungen zu den ihm auf den Tisch gelegten Vorschlägen oder Anträgen. Die
Untertanen waren in drei scharf gegeneinander abgegrenzte Stände gegliedert:
Adel, Bauern, Bürger. Dem ersten Stand, dem Adel, blieb die Besetzung der
Offiziersund höheren Beamtenstellen vorbehalten. Daß ein Bürgerlicher in den
Adelsstand aufstieg, kam höchst selten vor, so beim Oberpräsidenten Domhardt,
der sich besondere Verdienste um die Eingliederung Westpreußens in den
preußischen Staat nach 1772 erworben hatte. Die Bauern mußten für den Gutsherrn
arbeiten, möglichst nur drei Tage in der Woche. Die nachgeborenen Bauernsöhne
waren Rekruten für die Armee. Aus wirtschaftlichen Gründen mußten auch die
Bürger in ihrem Stand verbleiben. Dabei schätzte der König bürgerliche
Emporkömmlinge nicht, weil sie nach seiner Meinung zumeist aus niedriger
Gesinnung handelten. Zu den unbestreitbaren großen Leistungen des im Geist des
aufgeklärten Absolutismus unermüdlich tätigen Königs, der sich als der erste
Diener seines Staates bezeichnete, gehört die entscheidende Fortführung der
unter seinem Vater durch Cocceji begonnenen und unter Friedrich in ihr
entscheidendes Stadium tretenden Kodifizierung des „Allgemeinen Landrechtes für
die preußischen Staaten" (Sie lesen richtig: Staaten!) durch den Großkanzler von
Carmer und den hervorragenden Juristen Svarez. In Kraft getreten ist das
Landrecht erst unter seinem Nachfolger 1794. Es blieb in Kraft, bis es 1900
durch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) abgelöst wurde. Erwähnt seien noch die
Abschaffung der Folter, die Urbarmachung des Oder- und Netzebruches, die
Gründung der Berliner Porzellanmanufaktur, die verschiedenen Kanalbauten. Diesen
Leistungen stand ein strenges Steuersystem gegenüber, dessen Regie meist
französische Beamte übernahmen, was gewiß nicht der Popularität des Alten Fritz
dienlich war. Überhaupt war es um diese gegen Ende seines Lebens nicht mehr gut
bestellt. Die Berliner, die einst dem Sieger von Hohenfriedberg zugejubelt
hatten, bewahrten tiefstes Schweigen, als er wenige Monate vor seinem Tod, von
einer Truppenrevue kommend, durch die Wilhelmstraße ritt. Graf Mirabeau, zu
Beginn der Französischen Revolution der erste Repräsentant der
Nationalversammlung, weilte beim Tod Friedrichs II. zufällig in Berlin. „Ich
lebe noch", schreibt er, „und meine Seele entrüstet sich über das unwürdige
Schauspiel, das Berlin meinen erstaunten Augen am Todestag des Helden bot, der
die Welt vor Staunen schweigen oder vor Bewunderung reden ließ. Alles war
düster, niemand war traurig; alles war geschäftig, nie betrübt. Kein Bedauern,
kein Seufzer, keine Worte des Lobes." Friedrich der Große hatte nicht das Herz
seiner Untertanen gewinnen können. Kam das vielleicht daher, daß er selbst keins
oder nur ein kaltes Herz hatte? Gablentz, der solches feststellt, gibt
allerdings zu, daß es noch heute schwer sei, ein objektives Urteil über diese
Gestalt von dämonischer Größe zu fällen. Ernst Moritz Arndt charakterisiert den
Staat, den Friedrich II. geschaffen hat, noch 1806 kurz vor der Schlacht bei
Jena: „Alles Weisheit, Gerechtigkeit, lebendige Beweglichkeit. Und doch ist
alles Maschine."
Friedrichs Andenken halten die Bauten wach, die er durch seinen Baumeister
Knobelsdorff errichten ließ, so das Schloß Sanssouci in Potsdam und das
Opernhaus „Unter den Linden" in Berlin. Letzteres wurde nach seiner mehrfachen
Zerstörung im Zweiten Weltkrieg von den neuen Machthabern wiederaufgebaut. Als
Generalmusikdirektor verpflichtete die Regierung der „DDR" Erich Kleiber, der
diesen Posten schon bis zu seiner Emigration im Jahr 1935 innegehabt hatte.
Kleiber machte allerdings zur Bedingung, daß die Oper genauso aufgebaut werde,
wie sie Knobelsdorff errichtet hatte. Als man aber auf der Stirnseite der Oper
die einstige Inschrift "Fridericus Rex Apollini et musis" (König Friedrich dem
Apollo [als dem Gott der Künste] und den Musen) änderte, nahm Kleiber dies zum
Anlaß, auf die ihm angebotene Stelle zu verzichten. Wahrscheinlich kam dieser
Grund Kleiber gelegen, nachdem er seit der Rückkehr aus der Emigration gemerkt
hatte, wie die Dinge in der „DDR" liefen. Neben Kleiber wirkte übrigens an der
alten Staatsoper bis 1938 als Kapellmeister Leo Blech, obschon er Volljude war.
In diesem Punkt zeigte sich der Hausherr der Staatstheater, Hermann Göring,
großzügig, obwohl er sonst Gewalttaten keineswegs scheute. Wir erinnern nur an
das Blutbad, das er gelegentlich des sogenannten Röhm-Putsches 1934 in Berlin
anrichtete.
Regierung durch das Kabinett
Friedrich der Große hatte allein „aus dem Kabinett" regiert, unter seinen
Nachfolgern wurde daraus mehr und mehr eine Regierung „durch das Kabinett". Er
machte sich große Sorgen, wie die Dinge unter seinem Nachfolger laufen würden.
Dieser war sein Neffe: Friedrichs vom Vater erzwungene Ehe mit Elisabeth
Christine von Braunschweig war kinderlos geblieben. In seiner zynischen Art
äußerte er sich über den späteren Friedrich Wilhelm II.: „Wenn aber mein Herr
Neffe in seiner Schlaffheit einschlummert, sorglos in den Tag hineinlebt, wenn
er, verschwenderisch wie er ist, das Staatsvermögen verschleudert und nicht alle
Fähigkeiten seiner Seele neu aufleben läßt, so wird Herr Joseph (gemeint ist
Kaiser Joseph II. von Österreich) - ich sehe es voraus - ihn über die Löffel
barbieren, und binnen 30 Jahren wird weder von Preußen noch vom Hause
Brandenburg mehr die Rede sein." Nun, wir wissen, daß es nicht ganz so schlimm
kam, wie Friedrich II. hier prophezeite, aber viel hat nicht gefehlt, daß es so
wurde, allerdings erst unter Friedrich Wilhelm III. Und daß der von Friedrich
dem Großen vermutete Zerstörer Preußens nicht Joseph IL, sondern Napoleon hieß,
von dem der König natürlich nichts ahnen konnte. Auch nach dem Frieden von
Hubertusburg war das Mißtrauen Friedrichs gegen die schlesischen Katholiken
wachgeblieben, zumal gegen die hohe Geistlichkeit und die Magnaten, die
weiterhin nach Österreich tendierten. Für den Fall eines neuen Krieges mit
Österreich riet er, vor allem das Breslauer Domkapitel nach Magdeburg oder
Stettin zu deportieren. Einseitig auf die französische Kultur eingeschworen, sah
Friedrich nicht, daß gerade zu seiner Zeit Ostpreußen, das er freilich nicht
sehr liebte, weil es dem russischen Zaren gehuldigt hatte, die Heimat von
Männern wie Kant, Herder und Hamann war, die die deutsche Geistesgeschichte
entscheidend geprägt haben.
Wir deuteten schon an, daß Haffner Friedrich Wilhelm II. nicht für einen solchen
Schwächling hielt wie sein Vorgänger und die meisten Historiker. Man habe ihm
seine Mätressen und Nebenfrauen nicht verziehen. Haffner begründet seine
positivere Meinung über den König vor allem damit, daß unter ihm Preußen bei den
Teilungen Polens von 1793 und 1795 durch die Gewinnung von Südpreußen mit der
Hauptstadt Posen und Neuostpreußen mit Warschau einen riesigen Landzuwachs
erhalten habe. Im 18. Jahrhundert sei ein Zweivölkerstaat, wie es Preußen jetzt
wurde, durchaus nicht anstößig gewesen. Die Polen hätten in ihrer Glanzzeit auch
nicht gezögert, sich litauische, weißrussische, ukrainische, in Westpreußen auch
deutschbesiedelte Gebiete einzuverleiben. Allerdings muß auch Haffner zugeben,
daß durch die Teilungen viele Polen zu Nationalisten geworden sind. Doch nimmt
er auch die Gelegenheit wahr, um dem Historiker Treitschke und seinen
Gesinnungsgenossen zu widersprechen, die meinten, Friedrich Wilhelms
Polenpolitik habe sich nicht mit Preußens „deutscher Sendung" vertragen, die
angeblich schon mit dem Großen Kurfürsten, spätestens aber mit Friedrich dem
Großen begonnen habe. Mit Recht sagt Haffner: „An eine ,deutsche Sendung`
Preußens dachte kein Mensch, am wenigsten die Deutschen, aber auch die Preußen
nicht." So hatte gerade Friedrich der Große einmal geäußert, Elsaß-Lothringen
müsse bei Frankreich bleiben. Auf das Pluskonto der Regierung Friedrich Wilhelms
II. und seines Nachfolgers kann das reiche kulturelle Leben gesetzt werden, das
sich zu ihrer Zeit in Berlin entfaltete. Wir erwähnen den Bau des Brandenburger
Tors durch Langhans mit der Quadriga Schadows, die Napoleon nach Paris mitnahm
und Blücher zurückbrachte, sowie die Gegenwart vieler romantischer Dichter, von
denen wir nur unsere Ostpreußen E. T. A. Hoffmann und Zacharias Werner nennen.
Der völlige Zusammenbruch
Friedrich Wilhelm III. (seit 1797) war ein ängstlicher Zauderer. Seine
friedliebende Einstellung könnte einem sympathisch sein, sie führte aber zu
einer verhängnisvollen Isolierung Preußens. Daß das Ziel Napoleons, des
Überwinders und Vollstreckers der Französischen Revolution, der sich 1804 die
Kaiserkrone selbst aufs Haupt setzte, die Herrschaft über ganz Europa war,
erkannte der König nicht. Er sah seinem Vordringen nach Mitteleuropa tatenlos
zu. Nach der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz in Mähren (1805) und der Gründung
des Rheinbundes stand Preußen tatsächlich isoliert da und wurde zu einem
Spielball in Napoleons Händen, der Friedrich Wilhelm IL, um ihn einzulullen,
einmal sogar den Kaisertitel anbot, ebenso wie er den Rheinbundfürsten zu
Rangerhöhungen verholfen hatte. So wurden z. B. die Herren von Württemberg und
Bayern von seinen Gnaden Könige, und sie dachten nach Napoleons Sturz nicht
daran, ihre Kronen abzulegen. Rußland, das Napoleons Vordringen nach Osten
argwöhnisch gegenüberstand, konnte nach der Niederlage bei Austerlitz keine
unmittelbare Hilfe leisten. Als die kriegerische Auseinandersetzung mit Napoleon
unvermeidlich wurde, zeigten sich die negativen Auswirkungen des
„Maschinenstaates" Preußen: „Dem ganzen Heer fehlte die Begeisterung, dem Volk
die Opferwilligkeit", bemerkt lakonisch der gute alte Ploetz. In den Schlachten
von Jena und Auerstedt 1806 wurde die preußische Armee vernichtend geschlagen.
Noch deprimierender als diese Niederlage war die Art, wie Preußen danach wie ein
Kartenhaus zusammenfiel. Nur einige wenige Festungen hielten sich, so Graudenz
unter Courbière und Kolberg unter Gneisenau. Als die Russen mit zwei Heeren
Ostpreußen erreicht hatten, wurden sie nach der unentschiedenen Schlacht bei Pr.
Eylau und einem Gefecht bei Heilsberg am 10. Juli 1807 bei Friedland von
Napoleon schwer geschlagen. Die preußische Königsfamilie war inzwischen an das
äußerste Nordende des Staates nach Memel geflüchtet. Der bekannte Ausspruch der
Königin Luise aus dem Hause Mecklenburg-Strelitz: „Wir sind auf den Lorbeeren
Friedrichs des Großen eingeschlafen." Vergeblich versuchte sie mutig durch eine
persönliche Intervention Napoleon zu einem milden Frieden zu bewegen. Napoleon
war von ihrem Charme und ihrer Klugheit angetan, machte ihr aber keine
Zugeständnisse. Im Tilsiter Frieden mußte Preußen alle Gebiete westlich der Elbe
abtreten (zu den Erwerbungen von 1614 waren in der Zwischenzeit noch
Halberstadt, Minden, Magdeburg, Moers, Lingen, Quedlinburg, Tecklenburg,
Ostfriesland, Münster, Paderborn, Hildesheim, Bayreuth u. a. hinzugekommen). Auf
die Erwerbungen der zweiten und dritten Teilung Polens mußte Preußen zugunsten
des neugegründeten Herzogtums Warschau verzichten. Die Kriegsentschädigung wurde
auf 140 Millionen festgesetzt, damals eine horrende Summe. Schließlich durfte
Preußen nur ein Heer von 42 000 Mann unterhalten. In einigen Schlüsselstellungen
wurden starke französische Besatzungen konzentriert.
Die innere Erneuerung
Preußen schien hoffnungslos am Boden zu liegen, da erwachten in ihm Kräfte
zur inneren Erneuerung, die niemand von ihm erwartet hatte. Reformen, die von
einsichtigen Männern längst vorbereitet worden waren, die aber wegen der ewigen
Unentschlossenheit des Königs trotz des Eintretens seiner Frau Luise für sie
nicht durchgeführt worden waren, wurden jetzt Schlag auf Schlag in Angriff
genommen. Ihr Ziel war, kurz gesagt, aus dem Untertan einen Staatsbürger zu
machen. Es bleibt schon merkwürdig, daß es Persönlichkeiten vom Range Steins und
Hardenbergs, Schamhorsts und Gneisenaus, die alle Nichtpreußen waren, in den
Dienst ausgerechnet des „Maschinenstaates" gezogen hatte. Gablentz meint, es sei
die Faszination gewesen, die immer noch von Friedrich d. Gr. ausgegangen sei.
Spürten die genannten Männer, daß aus Preußen doch ein moderner Staat zu machen
sei? Zu ihnen kamen Preußen wie Wilhelm von Humboldt, Boyen, Clausewitz und
Schön, den wir bisher nur als scharfen Gegner der Schul- und Bildungspolitik des ermländischen Bischofs Josef von Hohenzollern kennengelernt haben. Gerade aber
die erste der Reformen, die Bauernbefreiung, sollte insofern zu einem Fiasko
werden, als sie nur den größeren Bauern zugute kam. Sie wurde durch ein Edikt
vom 9. Oktober 1807 verkündet. Leider mußte der König Stein bereits 1808 auf
Veranlassung Napoleons entlassen, und so wurde die von Stein bewirkte Landreform
später ins Gegenteil verkehrt. In einem Gesetz von 1816 wurde den Gutsherren,
die von Anfang an gegen die Reform waren, die Möglichkeit gegeben, die
Grundstücke der Kleinbauern einzuziehen und sie so zu besitzlosen Landarbeitern
zu machen, also "auszubauern", ein Ausdruck, den man heute nur noch beim
Sechsundsechzig kennt. Rund eine Million Hektar Bauernland soll nach 1816 an den
Großgrundbesitz verlorengegangen sein. Sehr scharf urteilt der bedeutende
Historiker Franz Schnabel („Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert"): Das
reaktionäre Edikt von 1816 habe zu einer Massenproletarisierung geführt, wie sie
die deutsche Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg und der Inflationszeit nicht
gekannt habe. Im Ermland war die „Regulierung" der bäuerlichen Verhältnisse
bereits 1772 nach seiner Besitznahme durch Preußen erfolgt. Ohnehin gab es hier
keine großen Güter, die Bauern „legen" konnten. Allerdings herrschten auch hier
in den französischen Kriegen und später noch furchtbare Notzeiten, doch blieb
den Bauern ihr Besitz erhalten.
Die Kabinettsregierung, die, wie wir schon hörten, längst zu einer Regierung
durch das nicht verantwortliche Kabinett geworden war und gegen die Stein
besonders heftig zum Unwillen des Königs opponiert hatte, wurde durch ein
verantwortliches Ministerium ersetzt mit den sozusagen klassischen Ministern für
Äußeres, Inneres, Krieg, Finanzen und Justiz. Heute haben selbst kleinere
Staaten ein Mehrfaches an Ministern. Die Erwerbung adliger Güter wurde auch den
Bürgerlichen freigegeben. Die Städteordnung von 1808 sollte den Bürgern am
Gemeinwesen interessieren und ihn daran teilnehmen lassen. Steins Nachfolger
Hardenberg hob den Zunftzwang auf und führte dadurch die Gewerbefreiheit ein.
1812 folgte das Edikt über die Emanzipation der Juden.
Scharnhorst bewirkte die Neuordnung des Heeres aufgrund der allgemeinen
Wehrpflicht, die aber erst 1814 zum Gesetz erhoben wurde. Die Möglichkeit, daß
fortan auch Bürgerliche in Offiziersstellen einrücken konnten, wurde besonders
von Gneisenau begrüßt. Das Bildungswesen wurde von Wilhelm von Humboldt im
Geiste des deutschen Idealismus neu gestaltet. 1810 wurde die Berliner
Universität gegründet, kurz darauf die Universität Frankfurt a. d. Oder nach
Breslau verlegt und mit der alten Jesuitenuniversität in deren herrlichem
Barockbau vereinigt. Die Krönung des Reformwerkes sollte eine Verfassung für das
ganze Land bilden, deren Kernstück eine Volksvertretung sein sollte. Sie wurde
wohl vom König mehrfach angekündigt, aber das Versprechen wurde nicht gehalten.
So sind die Reformen schließlich doch Stückwerk geblieben. Ein schwerer Verlust
für die Reformer und ganz Preußen war der Tod der erst 34jährigen Königin Luise
(1810). Ihr zu Ehren gestaltete der ostpreußische Dichter Max von Schenkendorf
eine weihevolle Trauerfeier in der katholischen Propsteikirche zu Königsberg 2).
Gemäß dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 erfolgte durch ein königliches
Edikt vom 30. 10. 1810 auch die Säkularisation der Kirchengüter im Osten
Preußens. Schon zuvor, am 28. 9. 1810, war eine königliche Kabinettsorder an den
Staatsminister Graf zu Dohna ergangen, in der von den vier Präbenden des
„entbehrlichen" Guttstädter Kollegiatstifts drei zur dringend notwendigen
Herstellung des in Verfall geratenen „kath. Seminarii (also des
Priesterseminars) zu Braunsberg" eingezogen wurden. Vergeblich protestierte
Bischof Josef von Hohenzollern gegen die königliche Verfügung mit dem Hinweis,
daß die Existenz des Priesterseminars auch ohne die Aufhebung des Guttstädter
Stiftes gesichert sei. Der „Zeitgeist", von dem der letzte Stiftspropst Rochus
Krämer spricht und der das erwähnte Edikt bewirkte, ließ eine Zurücknahme der
königlichen Verfügung nicht zu. Der „Zeitgeist" war es auch, der den Abbruch der
wunderbaren Franziskanerkirche in Braunsberg veranlaßte.
1812 zog Napoleon gegen Rußland, das sich der Kontinentalsperre gegen seinen
Hauptfeind England nicht angeschlossen hatte. Preußen, das Napoleon zu einem
Bündnis gezwungen hatte, stellte ein Hilfskorps von 20 000 Mann unter den Befehl
des Generals Yorck. Tatsächlich drang Napoleon bis Moskau vor. Was Hitler nicht
geschafft hat, der auch sonst aus dem Debakel Napoleons nichts gelernt hatte.
Als die Russen selbst ihre Stadt anzündeten, mußte Napoleon bei größter Kälte
den Rückzug antreten. Nachdem sie bereits beim Einmarsch in Rußland schwerste
Verluste erlitten hatten, wurden die Truppen Napoleons jetzt fast völlig
aufgerieben. Von den 600 000 Mann der Großen Armee sind 552 000 gefallen oder in
russische Gefangenschaft geraten. Napoleon fuhr im Eiltempo dem Rest seines
Heeres voraus nach Paris. In einem Alleingang schloß Yorck, der Befehlshaber des
preußischen Hilfskorps, das am äußersten linken Flügel eingesetzt, der
Vernichtung entgangen war, mit dem russischen General Diebitsch am 30. Dezember
1812 die Konvention von Tauroggen, wodurch der Auftakt zur Erhebung Preußens
gegeben wurde. Der König war freilich sehr unwillig über die Eigenmächtigkeit
Yorcks, weil er französische Repressalien fürchtete. Noch 1811 hatte er zu einer
Denkschrift Gneisenaus, die den Volkskrieg gegen Napoleon forderte, gesagt: „Als
Poesie gut!" Schließlich gab er nach der Katastrophe Napoleons in Rußland wider
seine eigene Meinung nach und erklärte im Bündnis mit dem Zaren den Franzosen
den Krieg. Es war fast unheimlich, wie Napoleon nach den ungeheuren Verlusten im
russischen Feldzug wieder so rasch eine kampfkräftige Armee aus Franzosen und
Rheinbundtruppen auf die Beine brachte und bis Schlesien vordrang. Wir Alten
sollen von der uns in der Schule eingelernten Vorstellung Abschied nehmen, daß
es sich bei den Befreiungskriegen um einen Volkskrieg handelte. Gewiß erließ
Friedrich Wilhelm III. den berühmten Aufruf an sein Volk, von Breslau aus, weil
er sich in Potsdam nicht mehr vor dem Zugriff der Franzosen sicher fühlte, und
er stiftete auch das Eiserne Kreuz. Aber Schoeps sagt es, und Haffner stimmt ihm
zu, daß es sich um „ein vom Volk bejahtes militärisches Unternehmen verbündeter
Kabinette" handelte 3).
Die Entscheidungsschlacht bei Leipzig
Wie recht Friedrich Wilhelm III. diesmal mit seinem Zögern hatte - er wollte
den Krieg ohne Teilnahme Österreichs nicht beginnen -, zeigte sich in seiner
ersten Phase, als die Franzosen die Preußen und Russen mehrfach schlugen. Wieder
stand das Schicksal Preußens auf des Messers Schneide. Aufgrund der
beiderseitigen schweren Verluste kam es zu einem sechswöchigen Waffenstillstand.
Währenddessen machte Napoleon den Österreichern und auch den Russen die
verlockendsten Angebote, deren Annahme die völlige Auslöschung Preußens von der
Landkarte bedeutet hätte: Schlesien sollte zurück an Österreich fallen,
Ostpreußen an Rußland, Westpreußen an ein wieder zu gründendes Polen,
Brandenburg mit Berlin an Sachsen. Der österreichische Staatskanzler Fürst
Metternich ging aber auf die Vorschläge des Schwiegersohns des Kaisers - gerade
auf sein Drängen hatte die Erzherzogin Maria Luise 1810 Napoleon geheiratet -
nicht ein, weil er Preußen zur Erhaltung des Mächtegleichgewichts in Europa für
notwendig hielt, zumal Napoleon sich nicht hinter den Rhein zurückzuziehen
gedachte. So trat Österreich an die Seite der Verbündeten, und in der
Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 wurde Napoleon
entscheidend geschlagen. Es erübrigt sich, den Verlauf der Befreiungskriege von
1813/14 und 1815 im einzelnen zu schildern. Wen er interessiert, der greife zu
dem Buch des englischen Historikers Roger Parkinson über Blücher (1979 bei Heyne
als Taschenbuch erschienen). Es fließt in diesem Buch allerdings sehr viel Blut.
Der preußische General und spätere Feldmarschall und Fürst Blücher wurde 1813
der Oberbefehlshaber der aus preußischen und russischen Truppen bestehenden
Schlesischen Armee. Sein Generalstabschef war zunächst Scharnhorst, nach dessen
Tod an einer vernachlässigten Wunde Gneisenau. In den zwanziger Jahren wurde in
Max Reinhardts „Deutschem Theater" in Berlin ein Schauspiel von Wolfgang Götz
„Gneisenau" aufgeführt. Schon der Titel des Stückes und die Besetzung der
Hauptrolle mit dem ersten deutschen Schauspieler Werner Krauss und der des
Blücher mit dem Komiker Otto Wallburg läßt die Tendenz des Dramas erkennen. Die
Aufführung löste eine heftige Diskussion in der Berliner Presse aus, in der sich
der frühere Reichskanzler und derzeitige Außenminister Gustav Stresemann auf die
Seite Blüchers stellte. Napoleon urteilte über ihn: „Der alte Teufel griff mich
immer wieder mit der gleichen Kraft an. Wenn er geschlagen war, zeigte er sich
einen Augenblick später bereits wieder zum Kampfe bereit." Schließlich Blücher
selbst: „Es war meine Verwegenheit, Gneisenaus Besonnenheit und des großen
Gottes Barmherzigkeit." Wobei sich eine solche Berufung auf Gott in dem
Zusammenhang zumindest etwas seltsam ausnimmt.
Der Wiener Kongreß
Mit der Verbannung Napoleons auf die einsame Atlantikinsel St. Helena fanden
die von ihm veranlaßten Kriege ein Ende. Inzwischen war in Wien ein Kongreß der
europäischen Mächte zusammengetreten, um die durch Napoleon verwirrte Landkarte
neu zu ordnen. Maßgeblicher Mann war bei dem Kongreß Fürst Metternich, von Hause
aus übrigens ein Rheinländer. Auch Frankreich wurde zu dem Kongreß als
gleichberechtigter Partner zugelassen, glänzend vertreten durch den mit allen
Wassern gewaschenen Talleyrand. Was uns sehr verwundert, denken wir nur an die
Behandlung, die hundert Jahre später Deutschland durch die Siegermächte zuteil
wurde. Die erste Enttäuschung bereitete der Kongreß den Polen, die von ihm die
Wiederherstellung ihres Staates erwartet hatten. Die drei Teilungsmächte dachten
nicht daran, auf ihre Beute zu verzichten. Doch kam es zu einer bedeutenden
Verschiebung: Rußland steckte sich den Löwenanteil an polnischem Gebiet ein, das
sog. Kongreßpolen mit Warschau. Preußen blieb auf Westpreußen und zur Abrundung
seines Gebietes auf Posen beschränkt. Sachsen, das Preußen gern vollständig
vereinnahmt hätte, mußte immerhin die Hälfte seines Gebietes abgeben. Im übrigen
wurde im Westen Deutschlands ein Tauschhandel betrieben, den wir hier nicht in
allen Einzelheiten aufzählen können. Aus den Preußen zugestandenen Gebieten
entstanden die Provinz Westfalen und die Rheinprovinz. Ansbach und Bayreuth
gingen an Bayern, der Rest von Vorpommern wiederum an Preußen.
Schalten wir hier eine hochinteressante Feststellung Konrad Adenauers ein. Bei
einer Gelegenheit fragte er den englischen Hochkommissar, welches der größte
Fehler Englands in seiner Geschichte gewesen sei. Der Hochkommissar tippte auf
München oder Jalta. Aber Adenauer hatte den Wiener Kongreß im Auge: „Preußen
wollte doch nur Sachsen. England hat es gezwungen, an den Rhein zu gehen, und
den Schwerpunkt der preußischen Macht nach Westen verlagert. Das war es, was
erst Deutschland und dann Europa zerstört hat." Es wäre zu billig, in den Worten
Adenauers den ihm zugesagten antipreußischen Affekt zu sehen. Erinnert sei hier
nur an die Äußerung von Gablentz, daß das Preußentum von Haus aus die politische
Lebensform des deutschen Ostens sei. Adenauer meinte, daß durch die Zuteilung
des Rheinlandes an Preußen dieses eine gemeinsame Grenze mit Frankreich bekommen
habe, woraus sich am Ende die von ihm genannten Folgerungen gewissermaßen
zwangsläufig ergeben hätten. England, das sich weiterhin von Frankreich bedroht
glaubte, wies in Wien als Gegengewicht Preußen „die Wacht am Rhein" zu. Im
übrigen sind die Rheinländer anders als die Westfalen, von denen viele die
urpreußischen Vornamen Friedrich (Fritz) und Wilhelm (Willi) tragen - auch Frau
Wilhelmine Lübke aus dem Sauerland darf hier genannt werden -, die Tatsache
niemals richtige Preußen geworden. Woran auch nichts ändert, daß dort, wo das
Rheinland am rheinischsten ist, also in Köln, die Hohenzollernbrücke von den
hoch zu Roß reitenden letzten vier Hohenzollernherrschern flankiert wird und daß
noch heute in Köln drei Gymnasien nach Hohenzollern benannt sind: das
Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, die Königin-Luise-Schule und die
Kaiserin-Augusta-Schule.
Ein uns Heutige ein wenig seltsam anmutendes Ergebnis des Wiener Kongresses war
die Hl. Allianz mit einer allgemeinchristlichen Tendenz, zu der sich die drei
Monarchen von Rußland, Österreich und Preußen zusammenfanden und der sich die
anderen Monarchien anschlossen außer einigen wenigen, z. B. England. Was auch
immer dieser Hl. Allianz nachgesagt werden kann: sie hat zumindest für ein gutes
Menschenalter den Frieden in Europa gesichert.
Drum gibt es nicht Preußen und Östreicher mehr,
Nicht Bayern, auch Sachsen noch Hessen.
Wir alle sind nur Ein deutsches Heer,
Was uns trennte, wir haben's vergessen:
Wir Deutschen, wir reichen uns Deutschen die Hand,
Nur der Deutsche soll herrschen im deutschen Land.
Der diese Verse dichtete, ist Zacharias Werner - derselbe Werner, der in der
Zeit, als er preußischer Beamter in den bei den Teilungen vereinnahmten
polnischen Gebieten war, den Freiheitskampf der Polen unter Tadeusz Kosciuszko
in enthusiastischen Liedern besang. Wir haben schon an anderer Stelle den
polnischen Werner-Forscher Kozielek zitiert, der auf seinen angleichungsfähigen
Charakter hinwies, „der ihn völlig vorbehaltlos in der jeweiligen Umgebung
aufgehen ließ" (ZGAE 1978, S. 32). In diesem Fall ging es schließlich um sein
eigenes deutsches Vaterland.
Wenn mit Werner die deutschen Patrioten gehofft hatten, daß das „Eine deutsche
Heer" „Ein deutsches Reich" wiedererkämpfen werde, so wurden sie schwer
enttäuscht. Das alte Reich, genannt das „Heilige Römische Reich Deutscher
Nation", hatte sein Leben in den Wirren der Napoleonischen Kriege endgültig
ausgehaucht. Es war ohnehin längst zu einem Monstrum geworden. Auf seinem Boden
hatte sich der Dreißigjährige Krieg abgespielt. Während noch Friedrich Wilhelm
I. trotz allem Ärger, den ihm der hochfahrende Wiener Hof bereitete, niemals die
Hand gegen den Kaiser erhoben hätte, nahm sein Sohn Friedrich IL solche
Rücksichten nicht. Die Schlesischen Kriege führten in Deutschland zu einem
Dualismus zwischen Österreich und dem siegreichen Preußen. Den letzten Todesstoß
gab dem alten Reich die Gründung des Rheinbundes durch Napoleon im Juli 1806,
dem alle deutschen Fürsten beitraten außer Preußen, Österreich, Braunschweig und
Kurhessen. So war es nur konsequent, daß Kaiser Franz IL, der schon 1804 als
Franz I. den Titel eines Kaisers von Österreich angenommen hatte, noch 1806 die
deutsche Kaiserkrone niederlegte. Alle Bemühungen des Freiherrn vom Stein, nach
der Niederlage Napoleons die Kaiserwürde unter den Habsburgern
wiederherzustellen, blieben vergeblich. Der Deutsche Bund, von dem gleich die
Rede sein wird, war nicht im geringsten das, was die deutschen Patrioten nach
den Befreiungskriegen erwartet hatten.
Köln nicht Provinzialhauptstadt
Ergänzen wir den Verlauf des Wiener Kongresses in der letzten Folge noch
dahingehend, daß Preußen doch einen Teil von Sachsen zugesprochen bekam, aber
nicht das ganze, das es, wie auch Adenauer meinte, gern haben wollte,
einschließlich der Hauptstadt Dresden und der Messestadt Leipzig, die beim
Restkönigtum Sachsen blieben. Aus den meisten Preußen zugesprochenen sächsischen
und einigen angrenzenden Gebieten wurde 1816 die Provinz Sachsen mit der
Hauptstadt Magdeburg gebildet. Jedenfalls griff Preußen, das Napoleon im
Tilsiter Frieden von 1807 auf seine ostelbischen Gebiete beschränkt hatte, nach
dem Wiener Kongreß wieder weit über die Elbe nach Westen hinaus - nach Adenauers
Ansicht eben viel zu weit. Mit dem von Napoleon gegründeten Königreich Westfalen
hatte es ein Ende. Das eigentliche Westfalen, das zum großen Teil schon früher
preußisch gewesen war, wurde mit einigen Ausnahmen zu einer preußischen Provinz
mit der Hauptstadt Münster. Eine Bemerkung noch zur Wahl der Hauptstadt der
Rheinprovinz. An sich hätte sie Köln heißen müssen. Aber im „heiligen Köln"
residierte der Erzbischof der bedeutendsten preußischen Diözese, und so hätte
der Oberpräsident womöglich in seinem Schatten gestanden. Auf diese Weise kam
Koblenz zur unverhofften Würde der Provinzialhauptstadt. Von 1849 bis 1857 war
die Stadt auch die Residenz des Militärgouverneurs von Rheinland und Westfalen,
Prinz Wilhelm von Preußen.
Man hat das 19. Jahrhundert das Zeitalter des Nationalismus genannt. Dieser ist
auch im 20. Jahrhundert noch keineswegs überwunden. Die Nationen forderten ihren
eigenen Nationalstaat. Während viele von ihnen „im wohltuenden Dunkel der
Geschichte" zu ihrem eigenen Staat gekommen waren, so Frankreich, Rußland,
Spanien, Portugal, England, seien am Beginn des 19. Jahrhunderts, so sagte man,
zwei Nationen ohne ihren Staat gewesen, die deutsche und die italienische. Kein
Wort verloren in diesem Zusammenhang unsere Geschichtsprofessoren über die
polnische Nation, auch nicht über die anderen kleineren slawischen Völker
Europas. Dabei war es der deutsche Dichter und Kulturphilosoph Johann Gottfried
Herder gewesen, der durch seine Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern" und
durch seine Geschichtstheorien das Selbstbewußtsein gerade der slawischen Völker
geweckt und gestärkt hatte. So existiert heute nicht ohne Grund in seiner
Geburtsstadt Mohrungen ein Herdermuseum.
Allerdings hat der nach dem Ersten Weltkrieg gemachte Versuch, auch den west-
und südslawischen Völkern und den Völkern im baltischen Raum zu einem
Nationalstaat zu verhelfen, bewiesen, daß dieses Prinzip, wie die Beispiele
Tschechoslowakei und Jugoslawien zeigen, nicht hundertprozentig zu verwirklichen
war und daß sie eines Tages die Beute der stärkeren Nachbarn wurden. Soweit sie
nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstanden sind, zahlen sie dafür als Preis den
Verlust ihrer Unabhängigkeit, ausgenommen - wenigstens im Moment noch (März
1980) - Jugoslawien. Wir können auf diese Dinge im Rahmen unseres Themas nicht
näher eingehen, allenfalls darauf hinweisen, daß die „preußische Staatsidee",
wie sie Haffner nennt, einen übernationalen Staat meinte. In den Berliner
Parlamenten erklärten um 1870 polnische Abgeordnete, sie könnten sehr wohl
Preußen sein, aber niemals Deutsche.
Der kümmerliche Deutsche Bund
Was für die Deutschen nach den Befreiungskriegen als Kompromißlösung
herauskam, war dürftig genug: der Deutsche Bund, gebildet von 35 souveränen, d.
h. selbständigen, Staaten und vier Freien Städten. Seine oberste Behörde war der
Bundestag in Frankfurt, eine Versammlung von Gesandten der Bundesstaaten unter
Vorsitz des österreichischen. Preußen gehörte ohne Ost- und Westpreußen und
Posen zum Bund. Dagegen wurden der König von England als König von Hannover, der
König von Dänemark als Herzog von Holstein, der König der Niederlande als
Großherzog von Luxemburg in ihn aufgenommen. Die Mitgliedschaft des Königs von
England erlosch 1837 mit der Thronbesteigung der Königin Viktoria, da in
Hannover nach dem salischen Gesetz nur die männliche Thronfolge galt. Luxemburg
gehörte dem Deutschen Bund bis zu seiner Auflösung (1866) an. Da die
Mitgliedstaaten, wie gesagt, souverän waren, gab es keine gemeinsame deutsche
Außenpolitik.
Der preußische Staat nach 1815 blieb, wie wir schon festgestellt haben, ohne die
vom König versprochene Verfassung. Verschiedene negative Einflüsse wirkten dabei
auf den König ein, so das „steigende Gewicht des opponierenden Grundadels" und
die Bindung an das autokratische Österreich Metternichs. Die Spannungen, die
sich aus solcher Haltung des preußischen Monarchen ergaben, schlugen sich nieder
in dem Austritt der liberalen Minister Humboldt, Boyen und Beyme aus der
Regierung am Silvestertag 1819 nach heftigen Auseinandersetzungen. Unmittelbarer
Anlaß zu diesem Entschluß war die nach der Meinung der drei Minister
unerträgliche Annahme der Karlsbader Beschlüsse (von denen gleich die Rede sein
wird) durch die preußische Regierung. Wilhelm von Humboldt, der übrigens für
eine deutsche Kulturnation anstelle eines deutschen Nationalstaates eintrat, war
erst kurz zuvor in das Kabinett eingetreten. Der Kriegsminister v. Boyen hatte
1814 die allgemeine Wehrpflicht nach den Vorstellungen von Scharnhorst
eingeführt. Der berühmte Konflikt mit Humboldt und Boyen, schreibt der
Historiker Hans Herzfeld in seinem hervorragenden Werk „Die moderne Welt
1789-1945", habe nur den letzten, die Niederlage (der Reformpartei)
entscheidenden Wendepunkt bedeutet. Preußen habe sich mit der Bildung eines
Staatsrates und der Errichtung bloßer Provinzial- und Kreisstände begnügt. „Der
Charakter Preußens als eines übermächtig durch das Bündnis von Monarchie und
konservativem Offiziers-, Beamten- und Grundadel bestimmten Staatswesens blieb
von dieser schicksalsvollen Krise der Jahre 1815/19 bis zu dem Zusammenbruch von
1918 bestehen." 1842 wurde auch der Oberpräsident und Staatsminister Theodor von
Schön in Königsberg wegen seines Eintretens für eine Verfassung und überhaupt
seiner liberalen Anschauungen wegen entlassen. Wir werden bald in Jacoby und
Simson weiteren Liberalen aus Königsberg begegnen, deren bürgerlicher
Liberalismus allerdings anders geartet war als der aristokratische von Schön und
seinen Freunden aus dem ostpreußischen Adel. Organ des radikaldemokratischen
Forderungen vertretenden Liberalismus war die „Königsberger Hartungsche
Zeitung", deren Lektüre in Thomas Manns „Buddenbrooks" der Burschenschafter
Morten Schwarzkopf der Lübecker Großbürgerstochter Tony Buddenbrook
angelegentlich empfiehlt.
Das Ermland wurde zerschnitten
Unbestreitbar sind die Leistungen, die der preußische Staat nach 1815 auf dem
Gebiet der Justiz und Verwaltung vollbrachte. Der systematische Aufbau des
Justizwesens: vom Amtsgericht und der Verwaltung bis zum Oberpräsidenten, wurde
damals durchgeführt. Ost- und Westpreußen wurden 1824 zu einer Provinz unter dem
eben genannten v. Schön vereinigt, 1878 wurden sie wieder getrennt. In
Ostpreußen wurde neben Königsberg und Gumbinnen später als dritter
Regierungsbezirk Allenstein geschaffen, wobei das Ermland gewiß nicht ohne
Absicht zerschnitten wurde; die Kreise Braunsberg und Heilsberg blieben
beim Regierungsbezirk Königsberg, neben Allenstein selbst kam auch der Kreis
Rößel zum neuen Regierungsbezirk.
Im Jahr 1817 hatte Friedrich Wilhelm III. die Vereinigung der Lutheraner und
Reformierten zur Evangelischen Union verfügt. Dieser Verwaltungsakt wurde
freilich nicht ohne Widerspruch hingenommen. Immerhin hat sich die Bezeichnung
„evangelisch" im amtlichen und allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. Am
liebsten hätte der König auch die katholische Kirche in die Union einbezogen,
was sich aber als unmöglich erwies. Wohl aber mußten die katholischen Soldaten
einmal im Monat am evangelischen Gottesdienst teilnehmen. Die Verhältnisse mit
der katholischen Kirche wurden durch die einem Konkordat gleichkommende Bulle
„De salute animarum" von 1821 geregelt. Mit der Ausführung der Bulle wurde der
ermländische Bischof Joseph von Hohenzollern-Hechingen beauftragt. Dessen
Berufung auf den Kölner Erzbischofstuhl, für die sich besonders der berühmte
Publizist Görres einsetzte (oder war es der Dichter Clemens von Brentano?),
scheiterte an der Weigerung Josephs, der erklärte, die Zeit für Bischöfe aus
fürstlichem Geblüt sei vorüber.
Eine bedeutende Leistung aus der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. war die
nach den Ideen des großen Schwaben Friedrich List erfolgte Gründung des
Deutschen Zollvereins (1834), bei der das Hauptverdienst dem preußischen
Finanzminister v. Motz zukam.
Die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse
Sehr zustatten kam den in der Hl. Allianz zusammengeschlossenen Mächten die
Ermordung des Dichters und russischen Staatsrats August v. Kotzebue durch den
Studenten Sand in Mannheim. Dieser hatte Kotzebue nicht wegen seiner schlechten
Theaterstücke umgebracht, sondern weil er in seiner Zeitschrift die Deutschen
Burschenschaften verspottet hatte. Die vom Geist der Befreiungskriege getragenen
studentischen Verbindungen waren zum ersten Mal 1817 beim Wartburgfest an die
Öffentlichkeit getreten. Ihre Farben Schwarz-Rot-Gold wurden das Sinnbild der
deutschen Nationalbewegung. Die reaktionäre Haltung der führenden Mächte
bewirkte eine steigende Radikalisierung der Burschenschaften, wie sie in dem
Attentat Sands zum Ausdruck kam. Auf einer von Metternich nach Karlsbad
einberufenen Ministerkonferenz wurden Beschlüsse gegen die liberale und
nationale Bewegung gefaßt, die u. a. die Überwachung der Universitäten, Zensur
der Druckschriften sowie die Einsetzung einer Untersuchungskommission gegen
demagogische, d. h. "volkverhetzende", Umtriebe vorsahen. Es kam zur sogenannten
Demagogenriecherei, deren bekanntestes Opfer in Preußen neben Ernst Moritz
Arndt, der seiner Bonner Geschichtsprofessur beraubt wurde, der niederdeutsche
Dichter Fritz Reuter war. Als Mitglied einer Jenaer Burschenschaft wurde er in
Preußen 1833 zunächst zum Tode, dann zu 30 Jahren Festungshaft verurteilt,
schließlich 1840 begnadigt und in sein Heimatland Mecklenburg abgeschoben. Seine
Erfahrungen als Häftling hat er in seinem Buch "Ut mine Festungstid"
niedergelegt. Sein "Ut mine Stromtid" mit der prächtigen Gestalt des Onkel
Bräsig gehört in die erste Reihe der deutschen Romane. Diejenigen von uns, die
ihn nicht in der plattdeutschen Originalsprache lesen können, mögen zu der jetzt
erschienenen allgemein gelobten Übertragung ins Hochdeutsche greifen.
Die letzten Regierungsjahre Friedrich Wilhelms III. wurden überschattet von dem
sogenannten Kölner Kirchenstreit. Der 1824 zum Erzbischof von Köln ernannte Graf
Spiegel hatte in einer geheimen Vereinbarung mit dem Staat die kirchliche
Einsegnung konfessionsverschiedener Ehen ohne die Zusage der katholischen
Kindererziehung gestattet. Spiegels Nachfolger, der Westfale Freiherr Droste zu
Vischering (1833), forderte dagegen die katholische Kindererziehung auch in
Mischehen und wurde deshalb von der preußischen Regierung festgesetzt. Die
breitere Öffentlichkeit wurde auf den Kölner Kirchenstreit durch die
Kampfschrift "Athanasius" von Josef Görres aufmerksam gemacht. Das gleiche
Schicksal wie Droste-Vischering ereilte den Erzbischof von Gnesen-Posen v. Dunin,
der die Haltung seines Kölner Amtsbruders teilte. Wobei man staatlicherseits
wohl befürchtete, daß in seinen Diözesen eine katholische Kindererziehung
Polonisierung bedeutete.
Eine kleine Bemerkung ganz am Rande: Unsere ermländischen Whistbrüder wird die
Feststellung eines Chronisten vergnügen, daß die wirklichen politischen
Entscheidungen unter Friedrich Wilhelm III. am allabendlichen Whisttisch des
Hausministers Fürst Wittgenstein fielen.
Vollendung des Kölner Domes
Dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. (1840) sah man allgemein mit
großen Erwartungen entgegen. Zunächst überraschte er sein Volk dadurch, daß er
ausführliche Reden hielt, was noch keiner seiner Vorgänger getan hatte. Es waren
keine politischen, eher fromme Deklamationen. Er traf aber sofort auch eine
Reihe von populären Maßnahmen. Ernst Moritz Arndt wurde wieder in seine Bonner
Professur eingesetzt und Boyen wieder zum Kriegsminister ernannt. Für die
verhafteten Burschenschafter wurde eine Amnestie verkündet. Nachdem bereits 1839
der Kölner Erzbischof Droste-Vischering aus der Haft entlassen worden war,
durfte jetzt auch Dunin auf seinen erzbischöflichen Stuhl zurückkehren. Im
Kultusministerium richtete der König eine katholische Abteilung ein. Das Placet,
d. h. die Genehmigung kirchlicher Gesetze durch den Staat, wurde aufgehoben.
Auch wurde unter seiner Regierung alsbald der Weiterbau des Kölner Domes in
Angriff genommen, nachdem die Bauarbeiten 1560 eingestellt worden waren. Die
Weihe des vollendeten Doms 1880 stand unter keinem günstigen Stern: Wohl nahm
Kaiser Wilhelm I. daran teil, aber der Erzbischof Paulus Melchers war 1876 im
Kulturkampf abgesetzt worden und lebte im Ausland. Der Ausbau des Kölner Domes
im Westen Preußens war das Gegenstück zur Wiederherstellung der Marienburg im
Osten. In beiden Fällen gaben Romantiker einen entscheidenden Anstoß: bei der
Marienburg Max v. Schenkendorf und Joseph v. Eichendorff, beim Kölner Dom
Friedrich v. Schlegel.
Die Hoffnungen, die das Volk auf den neuen König hinsichtlich der alsbaldigen
Verkündigung einer Verfassung gesetzt hatte, erfüllten sich nicht. Es kam
lediglich 1847 zur Einberufung der Provinzialstände, die den Vereinigten Landtag
bildeten. Ihm fehlte das wesentliche Moment eines Parlaments, die Periodizität,
d. h., er durfte nicht regelmäßig tagen, sondern mußte warten, bis ihn der König
einberief. Immerhin wurde zu den Verhandlungen die Presse zugelassen und dem
Vereinigten Landtag das Recht zugestanden, neue Steuern zu bewilligen.
Eine Revolution aus Versehen
Doch die dem Vereinigten Landtag gemachten Zugeständnisse genügten nicht
mehr. In Frankreich war 1848 wieder einmal eine Revolution ausgebrochen, die
nach Deutschland überschwappte. Es kam in mehreren Städten des Bundesgebietes zu
Aufständen, die von Regierungstruppen unterdrückt wurden.
Der Aufstand in Wien zwang Metternich, der jahrzehntelang die Zügel Europas in
seinen Händen gehalten hatte, zur Flucht nach England. In Berlin erließ der
König ein Patent, in dem er endlich eine preußische Verfassung versprach. „Aber
wie so oft bei diesem König kam alles - der gute Wille und die rechte Einsicht
-einen Posttag zu spät." Vor dem Berliner Schloß war in der Freude über die
königlichen Zugeständnisse eine Menschenmenge zusammengeströmt, als im Gedränge
aus Versehen zwei Schüsse fielen, die keinen verletzten, aber eine
unbeschreibliche Wut auslösten. Es kam zu Barrikadenkämpfen zwischen den
aufgeregten Volksmassen und dem Militär. Auf Befehl des Königs verließen die
Truppen Berlin, und eine Bürgerwehr übernahm den Schutz des Schlosses und der
Stadt. Der König wurde gezwungen, mit einer schwarzrotgoldenen Binde am Arm
(andere sagen: hinter einer schwarzrotgoldenen Fahne) durch die Stadt zu reiten,
und stellte sich mit dem Ausspruch „Preußen geht fortan in Deutschland auf!"
(woran er nachher nicht im Traum dachte) an die Spitze der nationalen
Bestrebungen. Auf Grund allgemeiner und gleicher Wahlen trat am z. Mai die
preußische Nationalversammlung zusammen. Prinz Wilhelm, der Bruder und
Nachfolger des Königs - dessen Ehe mit Elisabeth von Bayern war kinderlos
geblieben -, wollte die Revolution mit Gewalt unterdrücken, was ihm den Beinamen
„Kartätschenprinz" eintrug und ihn zur Flucht nach England nötigte.
Nachdem Ende Oktober 1848 Wien durch die kaiserlichen Truppen wiedererobert und
die Revolution dort endgültig niedergeschlagen worden war, gewannen auch in
Berlin die reaktionären Kräfte immer mehr die Oberhand, zumal die
Nationalversammlung, in der die Radikalen wie der schon genannte Königsberger
Arzt Jacoby das große Wort führten, immer stärker unter den Einfluß der Masse
geriet, die am 15. Mai das Zeughaus plünderte. Die Nationalversammlung wurde
unter dem Ministerium des Grafen Brandenburg, eines Sohnes Friedrich Wilhelms
II. und der Gräfin Dönhoff, auf Befehl des Königs nach Brandenburg verlegt. Ohne
auf Widerstand zu stoßen, rückten am 10. November die Truppen wieder in Berlin
ein. Der revolutionäre Elan unter den Bürgern war, so schnell er aufgeflammt
war, ebenso schnell abgeklungen.
Das „Kommunistische Manifest" der im Rheinland geborenen Karl Marx und Friedrich
Engels von 1847/48 hatte auf die revolutionäre Bewegung von 1848 noch keinen
Einfluß. Sie war eine ausgesprochene Angelegenheit des Bürgertums.
Die preußische Nationalversammlung wurde aufgelöst, und der König verfügte, da
eine Verfassung nun einmal unvermeidlich war, eine solche von oben, die darum
eine oktroyierte, d. h. aufgezwungene, genannt wurde. Zu ihren wichtigsten
Bestimmungen gehörte die Bildung eines Landtages, der aus zwei
gleichberechtigten Häusern, dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus, bestand.
Ein Gesetz bedurfte darum der Zustimmung beider Häuser. Die Mitglieder des
Abgeordnetenhauses wurden in öffentlicher Abstimmung nach drei Klassen gewählt,
die auf Grund ihrer Steuerleistung abgestuft waren. Gegen alle Versuche, dies
immer unzeitgemäßer werdende Wahlrecht zu ändern, hat es sich bis 1918 erhalten.
Das Herrenhaus kann man nur unter großen Bedenken mit dem englischen Oberhaus
vergleichen. Die Entwicklung der Dinge in Berlin wurde nicht überall im Lande
ohne weiteres hingenommen. So kam es z. B. im Wuppertale und dem Bergischen Land
zu Unruhen, die als Elberfelder Aufstand von 1849 in die Geschichte eingegangen
sind. Die enttäuschten Liberalen und Demokraten mußten mit Waffengewalt zur
Räson gebracht werden. (Diesen Hinweis verdanke ich Oberstudienrat a. D. Josef
Bauer, Wuppertal, früher Danzig). Ein besonders heftiger Aufstand in Baden wurde
mit Hilfe preußischer Truppen unter dem Oberbefehl des aus England
zurückgekehrten Prinzen Wilhelm niedergeschlagen.
Keine Kaiserkrone von Volkes Gnaden
Während der Vorgänge in Berlin und Wien trat in Frankfurt a. M. zunächst ein
Vorparlament und am 18. Mai die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche
zusammen. Ihr gehörte die geistige und bürgerliche Elite Deutschlands an, aber
nur ein Kleinbauer und kein Arbeiter. Die Führer des ostelbischen Adels wie
Schön und Brünneck waren Mitglieder des preußischen Parlaments. Die oktroyierte
Verfassung von 1850 genügte dem altpreußischen Adel durchaus als die Erfüllung
seiner liberalen Wünsche. Wichtig ist noch zu vermerken, daß auch die
Ostprovinzen, die 1815 noch nicht dem Deutschen Bund angehörten, ihre Vertreter
in das Frankfurter Parlament entsenden durften. Der in Frankfurt zum
Reichsverweser gewählte Erzherzog Johann von Österreich war tatsächlich ein
„Johann ohne Land", denn ihm fehlte es an jeder wirklichen Macht.
Nachdem man kostbare Zeit mit der Beratung der Grundrechte des deutschen Volkes
vertan hatte, ging man endlich an die Vollendung der Reichsverfassung. Zwei
Parteien standen sich gegenüber: die großdeutsche, die ein Reich unter Führung
Österreichs wollte, und die kleindeutsche, die unter Ausschluß Österreichs einen
engeren Bund unter Führung Preußens anstrebte. Knapper Sieger blieben die
Kleindeutschen. Mit dem Präsidenten der Nationalversammlung, dem Königsberger
Eduard Simson an der Spitze, machte sich eine Deputation auf den Weg nach
Berlin, um Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone anzubieten. Doch
lehnte sie am 9. April 1849 der König ab. Er wollte als König von Gottes Gnaden
die Krone nicht aus den Händen des Volkes entgegennehmen und war der Meinung als
letzter Hohenzoller! - es sei wider den Geist der deutschen Geschichte, daß ein
Preußenkönig die ehrwürdige Kaiserkrone auf sein Haupt setzte, die nach
historischem Recht nur den Herrschern von Österreich gebühre.
Eine Episode blieb 1850 der Versuch Friedrich Wilhelms IV., unter dem Einfluß
seines katholischen Außenministers v. Radowitz eine deutsche Union wieder einmal
„von oben" zu schaffen. Österreich und Rußland waren dagegen, Österreich aus
verständlichen Gründen, Rußland, weil der Zar die preußische Unionspolitik als
demokratisch, ja revolutionär verurteilte.
Preußische Truppen rückten in Hessen ein, das sich zur deutschen Union bekannte,
aber auf Beschluß des Bundestages bereits von österreichischen und bayerischen
Truppen besetzt war. Nahe dem Dorf Bronnzell bei Fulda kam es zu einem
Vorpostengefecht, bei dem nur ein armer Schimmel sein Leben lassen mußte. Dann
zogen sich die Preußen zurück.
Im Vertrag von Olmütz mußte Preußen auf seine Unionspläne verzichten und der
Wiederbelebung des Deutschen Bundes zustimmen. Das bedeutete für Preußen eine
tiefe Demütigung. Immerhin hat ein Mann wie Bismarck das Einlenken Preußens
verteidigt.
Die letzten Lebensjahre Friedrich Wilhelms IV. waren durch eine qualvolle
Erkrankung verdüstert, die ihren Ausgang von einer Gesichtsrose nahm. Sein
Bruder Wilhelm übernahm die Regierungsgeschäfte seit 1857 zunächst als sein
Stellvertreter, von 1858 bis zum Tode Friedrich Wilhelms IV. 1861 als
Prinzregent. Während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. machte der
Deutschkatholizismus der ehemaligen Priester Runge und Czerski viel von sich
reden. Aber trotz kräftiger Unterstützung von liberaler Seite war ihm auf die
Dauer kein Leben beschieden.
Ein christlicher Staat?
Es sind noch einige Worte über die Auffassung Friedrich Wilhelms IV. von
seinem Königtum zu sagen sowie über den Kreis von Männern, der ihn umgab, die
sogenannte Kamarilla - das andere Preußen, wie es der uns schon mehrfach
begegnete Historiker Hans Joachim Schoeps nennt, womit er feststellen will, daß
das Preußen Friedrich Wilhelms IV. in seiner Art von den bekannten
Ausdrucksformen des Preußentums erheblich abweicht. Friedrich Wilhelm IV. sei,
so schreibt Schoeps, nur aus seinen Erlebnissen in den zwanziger Jahren des 19.
Jahrhunderts zu verstehen, die er als den Kampf des christlichen Weltbildes mit
dem Unglauben der Aufklärung erfahren hat. Die Besonderheit der sogenannten
Erweckungsbewegung, d. i. die innerprotestantische religiöse
Erneuerungsbewegung, wie sie Friedrich Wilhelm als Kronprinz gesehen und die
sich vor allem bei einem Teil des Landadels durchgesetzt hatte, bestand in der
tatkräftig verfolgten Überzeugung, daß das Christentum den Aufbau des Reiches
Gottes in der Welt zum Auftrag habe, da das Christentum mehr sei als eine
Lebensform der persönlichen Frömmigkeit. Der damalige Kronprinz glaubte an die
Möglichkeit der Aufrichtung eines Staates, der sich auf den christlichen Glauben
begründet. „Das Wesen des monarchischen Prinzips sah er in dem Bündnis von Thron
und Altar." Diesen Anschauungen ist Friedrich Wilhelm auch als König treu
geblieben. Wenn er sich König von Gottes Gnaden nannte, so war dies keine
Redensart, sondern er meinte es bitterernst, weil er der Überzeugung war, daß
Gott den, den er König werden läßt, geistig und seelisch weit über jeden anderen
ausstattet. „Die Revolution von 1848 nahm er als eine göttliche Bestrafung
seiner eigenen Person hin, für die er Buße zu leisten habe." Aus seiner
Auffassung vom Göttlichen Auftrag seines Amtes wird auch verständlich, daß er
sich dagegen sträubte, daß ein „Fetzen Papier", wie er die Verfassung nannte,
sich zwischen ihn und sein Volk drängte.
Einer der führenden Männer der Kamarilla war neben dem General von Gerlach sein
Bruder Ludwig, Oberlandgerichtspräsident in Magdeburg. Von Friedrich Wilhelm
IV., dessen getreuester Gefolgsmann er sonst war, unterschied ihn die
Auffassung, daß das Gottesgnadentum des Königs nicht an dessen Person, sondern
an sein Amt gebunden sei. Wohl dachte Gerlach an eine Volksvertretung, aber
keine gewählte, sondern eine ständische. Immer wieder hat er seine Stimme gegen
das revolutionäre Kopfzahlprinzip erhoben. Es sei gerade für ihn als den
Vertreter einer christlich-germanischen Staatsidee das Grundrecht der Deutschen,
nicht nach der Stückzahl der Heringe in Frage zu kommen. Die Verwirklichung der
demokratischen Prinzipien werde schließlich zu einem aus den Massen kommenden
Absolutismus führen. Später allerdings hat sich Gerlach mehr und mehr von der
ständischen zur konstitutionellen Monarchie hin entwickelt. Daß er dem
Nationalismus und dem Nationalstaat ablehnend gegenüberstand, ist aufgrund
seiner Anschauungen klar.
Die Zehn Gebote Gottes verletzt
Ludwig v. Gerlach war der Mitbegründer der Konservativen Partei im
Revolutionsjahr 1848 und der Führer bis zum Eintritt der Regentschaft 1858 sowie
er maßgeblich an der Gründung der „Kreuzzeitung" beteiligt war, für die er als
„Rundschauer" regelmäßig schrieb. Mit Bismarck verband Gerlach zunächst eine
persönliche Freundschaft, die auf der Gemeinsamkeit der konservativen Anschauung
gegründet war. Er wurde der Pate von Bismarcks Sohn Herbert. Aber schon 1853
hatte Gerlach geäußert, daß Bismarck leicht der Weltlichkeit und dem Satan
verfallen könne. Bismarck, der sich zum „Realpolitiker" mauserte, löste sich
allmählich von den strengen Grundsätzen der Konservativen Partei, die meisten
anderen Mitglieder folgten ihm. Zum endgültigen Bruch zwischen Gerlach und
Bismarck kam es wegen des nach Gerlach „sündhaften Bruderkrieges" zwischen
Preußen und Österreich von 1866 und der für ihn einem Diebstahl gleichkommenden
Annexion von Hannover, Nassau, Schleswig-Holstein, Frankfurt und Kurhessen durch
Preußen. 1867 erklärte Gerlach: „Mein Schmerz ist der eines preußischen,
deutschen Christen, daß meine Partei und mein Vaterland Preußen schmählich die
zehn Gebote Gottes verletzt und durch das Laster des Pseudopatriotismus Schaden
an seiner Seele genommen und sein Gewissen befleckt hat." Ein besonderer Greuel
war ihm der Krieg gegen Österreich, „weil ihm speziell dieser Krieg als ein
gegen den heiligen Sinn der deutschen Geschichte geführter Krieg" erschien und
er sich nicht ein Deutschland ohne Österreich vorstellen konnte. Weiter unten
wird vom Deutschen Krieg noch ausführlicher gesprochen werden.
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, warum Gerlach selbst kein politisches
Amt übernommen hat, in welchem er seine Auffassung vom christlichen Staatsmann
hätte durchsetzen können. Die Möglichkeit dazu hätte er gewiß gehabt. Fürchtete
er etwa doch, daß seine idealen Vorstellungen der rauhen Wirklichkeit des
politischen Alltags nicht hätten standhalten können? Der frühere amerikanische
Außenminister Henry A. Kissinger schreibt in seinen Memoiren: „Der Außenseiter"
- als solchen können wir Gerlach gewiß bezeichnen - „denkt in absoluten
Begriffen; für ihn sind Recht und Unrecht begrifflich genau definiert. Der
politische Führer kann sich diesen Luxus nicht leisten. Er erreicht sein Ziel
selten anders als stufenweise, und jeder einzelne Schritt muß seine moralischen
Mängel haben, aber dennoch kann man sich der Moral ohne diese Schritte nicht
nähern." Diese Worte Kissingers könnten fast auf Bismarck gemünzt sein, den der
amerikanische Politiker de Gaulle gegenüber als den größten Diplomaten des 19.
Jahrhunderts bezeichnet hat. Kissinger selbst begründet allerdings sein Urteil
über Bismarck mit dessen gemäßigter Haltung nach dem Sieg.
Von den Konservativen zu den Deutschnationalen
Die Konservative Partei entwickelte sich mitsamt der „Kreuzzeitung" von der
Weltanschauungspartei zur Interessenpartei, die die Anliegen des preußischen
Junkertums vertrat. Als Deutschnationale verbündeten sie sich, wenn wir der
Geschichte vorgreifen wollen, nach 1881 mit der rheinisch#westfälischen
Schwerindustrie. So wurde schließlich nicht mehr ein Junker, sondern ein
Vertreter der Schwerindustrie, Alfred Hugenberg, Vorsitzender der
Deutschnationalen Volkspartei - wobei die Bezeichnung „Volkspartei" wie Hohn
klingt. Hugenbergs unheilvolle Rolle bei der Machtergreifung Hitlers ist
bekannt. Erztyp eines Junkers, der auch bei den Deutschnationalen landete, war
der skurrile Elard v. Oldenburg, nach seinem Gut in Westpreußen der Januschauer
genannt. „Berühmt" ist sein Ausspruch, den er 1910 im Reichstag von sich gab,
daß der Kaiser diesen durch einen Leutnant mit zehn Mann nach Hause schicken
könne.
Auf Gerlachs Seite standen u. a. Bischof v. Ketteler, der zunächst Jurist im
preußischen Staatsdienst gewesen war, in einer Schrift „Preußen nach 1866", und
der berühmte Schweizer Kulturhistoriker Carl Burckhardt, der den Krieg von 1866
die große deutsche Revolution nannte (er ist nicht zu verwechseln mit dem
Danziger Völkerbundkommissar Carl J. Burckhardt). Von allen alten Freunden
verlassen, fand Gerlach Verständnis beim politischen Katholizismus, also der
Zentrumspartei, die ihn zu ihrem Ehrenmitglied machte und ihm im Wahlkreis
Siegburg zu einem Landtagsmandat und im Januar 1877 zu einem Reichstagsmandat in
Osnabrück verhalf. Noch im selben Jahr ist Gerlach mit 82 Jahren bei einem
Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er starb als treuer Protestant. In den
Kulturkampf hatte er als heftigster Gegner der neuen Kirchengesetze u. a. mit
einer Rede gegen den Kultusminister Falk im Landtag eingegriffen, während er
selbst von seinem alten Freunde Bismarck höchstpersönlich an der gleichen Stelle
scharf attackiert wurde.
Im preußischen Abgeordnetenhaus hatte sich 1852 eine katholische Fraktion
gebildet, die sich seit 1859 wegen ihrer Sitze in der Mitte des Parlaments
Zentrumspartei nannte. Bemerkenswerterweise zerfiel diese Partei 1862, im Jahre
des Amtsantritts Bismarcks. 1870 wurde sie von den Brüdern Reichensperger und v.
Mallinckrodt zu neuem Leben erweckt. Ihr eigentlicher Führer wurde der frühere
hannoversche Justizminister Ludwig Windthorst, obwohl er niemals Partei- oder
Fraktionsvorsitzender war. Der glänzende Redner war ein erbitterter Gegner
Bismarcks während des Kulturkampfes und auch wegen seiner Anhänglichkeit an das
von Bismarck gestürzte Welfenhaus.
Schließen wir das Kapitel Gerlach mit dem Zitat aus einem Artikel, den er im
November 1851 in der „Kreuzzeitung" geschrieben hat. Er klingt geradezu
prophetisch: „Das alles zersetzende Geld, der Repräsentant der Genußsucht und
des Egoismus, wird als allein überlebende Macht unseren Grundbesitz und unsere
ständische Gliederung, aber viel früher das Innere unserer Städte in Staub
zertreten. Es wird in Verbindung mit Gesetzen, die alles Feste und Substantielle
auflösen und zersetzen, die Ehe und die Schule, die Familie und den Sonntag, den
Staat und die Kirche - in Verbindung mit gottloser Aufklärung und flachem
Unglauben - die Säulen und Fundamente unseres Vaterlandes zerfressen. Nur
mechanische Staats- und Rechtsformationen werden Doch möglich sein, Zustände -
in denen man nach und nach jedes Ideal von Recht und Freiheit als Aberglauben
verabschieden, den Säbel aber und zuletzt die Knute als die allein realen
Herrscher, als die populärsten Retter der Welt begrüßen wird, bis die zum
Untergang reifen Kulturvölker wie vor 1400 Jahren neuen Barbaren Platz machen."
Otto von Bismarcks Berufung
Nach diesem Überblick über den Versuch eines christlichen Staates unter
Friedrich Wilhelm IV., den wir gerade unseren Lesern nicht vorenthalten wollten,
kehren wir sozusagen wieder auf die Erde zurück. Wilhelm L, der 64jährig seinem
Bruder auf den Thron folgte, ließ sich nach Friedrich I. als einziger
preußischer König in Königsberg krönen und bestätigte dadurch, wie sehr er sich
als König von Preußen fühlte - auch dann, als er deutscher Kaiser geworden war.
Wilhelm I. war vor allem Soldat, und so nimmt es nicht wunder, daß sein erster
Plan nach dem Regierungsantritt der Reform des Heeres galt. Trotz der
angewachsenen Bevölkerung war dieses auf dem Stand von 1814 geblieben. Die
angemessene Erhöhung der Truppenstärke hätte das Abgeordnetenhaus, das mit dem
Herrenhaus die Mittel zu bewilligen hatte, noch hingenommen. Der eigentliche
Konflikt zwischen dem König und der das Abgeordnetenhaus beherrschenden
Fortschrittspartei spitzte sich auf die Dienstzeit zu. Der Kriegsminister v.
Roon forderte die Beibehaltung der dreijährigen Dienstzeit, das Parlament wollte
sich mit zwei Jahren begnügen, und als der König, dessen Auffassung Roon
vertrat, nicht nachgab, strich das Abgeordnetenhaus die Ausgaben für das Heer
ganz. (Das Herrenhaus hatte sie bewilligt.) So kam es schließlich zu einem
Machtkampf zwischen König und Parlament. In dieser verfahrenen Situation berief
auf Roons Rat Wilhelm I. als letzte Reserve 1862 den Mann zum
Ministerpräsidenten, der es auf sich nahm, die Heeresreform auch ohne Zustimmung
des Abgeordnetenhauses durchzuführen: Otto v. Bismarcks 4).
War wäre geworden, fragt Haffner, wenn der König 1862 Bismarck nicht berufen
und, wie er schon ernsthaft erwog, zugunsten seines Sohnes Friedrich abgedankt
hätte? Dieser war mit Viktoria, der Tochter der englischen Königin, verheiratet
und neigte unter ihrem Einfluß liberaleren Anschauungen zu. Er hätte
möglicherweise Preußen zur parlamentarischen Monarchie gemacht. Es wäre sehr
unwahrscheinlich gewesen, daß ein solches Preußen je hätte Deutschland gegen den
Widerstand Frankreichs, Rußlands, Österreichs und der deutschen Mittelstaaten
einigen können. Das alles meint Haffner, und er zieht daraus die kühne
Folgerung: „Es ist durchaus vorstellbar, daß Preußen dann noch existierte." Wie
sagt doch der Dichter: Die Kinder, sie hören es gerne! Die Kinder - das sind in
diesem Falle wir Heimatvertriebenen aus dem preußischen Osten . . .
Bismarck wurde als preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt zum
erbitterten Gegner Österreichs. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 war
der Frankfurter Bundestag wiedereröffnet worden. Österreich, das sich nach den
Aufständen jener Zeit errafft hatte - in Ungarn allerdings nur mit russischer
Hilfe -, wurde von Fürst Schwarzenberg geführt. Er entwickelte den Plan eines
mächtigen mitteleuropäischen Reiches, natürlich unter der Führung Österreichs,
das in das Reich auch seine nichtdeutschen Völker eingebracht hätte. Für Preußen
war in diesem Konzept kein Platz. Nach Schwarzenbergs Vorstellung sollte Preußen
erst geschwächt und dann vernichtet werden. Aus diesem hochfliegenden Plan wurde
schon darum nichts, weil Schwarzenberg bereits 1852 starb. Als 1863 Kaiser Franz
Joseph einen Fürstentag nach Frankfurt einberief, um eine Reform des Deutschen
Bundes zu veranlassen, blieb Wilhelm I. auf Bismarcks Drängen diesem fern. Damit
war der Fürstentag zur Ergebnislosigkeit verurteilt. Hatte Bismarcks Widerstand
die Bildung eines 70 Millionen Reiches in Europa, diesmal auf der Basis eines
echten Ausgleichs, verhindert? Schoeps möchte Bismarck diesen Vorwurf machen,
doch muß er zugeben, daß ein solcher Vielvölkerstaat im Zeitalter des
Nationalismus sich kaum hätte behaupten können.
Noch einmal kämpften Österreich und Preußen Seite an Seite
Noch einmal kämpften Österreich und Preußen Seite an Seite, und zwar 1864
gegen die Dänen. Es ging dabei um Schleswig Holstein. Das ist eine verzwickte
Geschichte, deren Darlegung wir lieber den Examenskandidaten überlassen, für die
sie eine bei den Geschichtsprofessoren beliebte Frage ist. Jedenfalls gingen die
Wogen der Erregung in Deutschland hoch, als sich nach einer neuen
Verfassung die Dänen anschickten, sich die
Herzogtümer völlig einzuverleiben. Im Auftrag des Deutschen Bundes, zu dem ja
Holstein gehörte, überzogen österreichische und preußische Truppen Dänemark mit
einem Krieg eine Redensart, die aus dem Lateinunterricht hängengeblieben ist.
Die Entscheidung fiel mit der Erstürmung der Düppeler Schanzen durch die
Preußen. Es war Bismarcks Staatskunst zu verdanken, daß die Aktion um die
Herzogtümer ohne Einmischung des Auslands vor sich ging. Als England richtig
merkte, was gespielt wurde, war schon alles passiert. Dänemark mußte die
Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen
abtreten. Dies war keine Lösung für die Dauer, auch wenn im Gasteiner Vertrag
von 1865 Preußen die Verwaltung von Schleswig, Österreich die von Holstein
zugesprochen wurde. Der preußisch österreichische Bruderkrieg von 1866, der
Deutsche Krieg genannt, hat eine Diskussion ausgelöst, die heute noch nicht
abgeklungen ist. Wir haben bereits die bewegte Klage Ludwig v. Gerlachs über den
Krieg und seine Folgen vernommen. Bismarck hatte 1862 in einer Rede gesagt, die
deutsche Frage könne nur mit Blut und Eisen gelöst werden. Nichts ist ihm mehr
nachgetragen worden als diese Äußerung, und gewiß hat er sie später bitter
bereut. Aber es kam doch so, wie Bismarck angekündigt hatte.
Vergessen wir nicht, worum es ihm ging: eine Landverbindung zwischen dem Zentrum
Preußens und seinen westlichen Besitzungen herzustellen. Der führende Historiker
Theodor Schieder, der früher an der Albertus-Universität Königsberg lehrte, hat
allerdings gemeint, daß die preußische Staatsräson auch andere Wege hätte
offenlassen können. Die Einverleibung Hannovers durch Preußen habe an die
Rheinbundzeit erinnert und das monarchisch konservative Bewußtsein aufs
schwerste erschüttert. Schoeps schiebt allerdings einen großen Teil der Schuld
an dieser Entwicklung dem „unheilvollen Einfluß" des Justizministers Windthorst
zu, wenn Hannover alle preußischen Neutralitäts- und Bündnisangebote abgelehnt
habe.
Wie dem auch immer sei: Im April 1866 stellte Bismarck beim Bundestag in
Frankfurt den Antrag auf eine Reform der Verfassung des Deutschen Bundes durch
Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Er wußte genau, das ein solches Wahlrecht
für den Vielvölkerstaat Österreich tödlich sein mußte ein Ergebnis, daß er
selbst, wie wir noch sehen werden, im Grunde gar nicht wünschte. Als dann
Österreich in der schleswig-holsteinischen Frage den Deutschen Bundestag anrief,
erklärte Preußen dieses als einen Bruch des Gasteiner Vertrages und trat aus dem
Deutschen Bund aus. Nun sollte doch der Krieg entscheiden, wer die Führung in
Deutschland hatte. Nach Königgrätz: „Die Welt stürzt ein!“ Allgemein erwartete
man einen Sieg Österreichs, auf dessen Seite sich die meisten deutschen Staaten
stellten. Allgemein: Gehörte dazu auch Frankreich? Der französische Kaiser
Napoleon III., ein Neffe Napoleons L, der nach den revolutionären Wirren von
1848 schließlich durch eine Volksabstimmung Kaiser der Franzosen geworden war,
stützte sich, um sich behaupten zu können, auf die Kirche und die nationalen
Bewegungen in Europa. Haffner drückt das in seiner spöttischen Art so aus:
„Sein, Napoleons, Mittel war das Bündnis mit dem Nationalismus: zuerst dem
italienischen, wobei er Erfolg hatte; dann dem polnischen, wobei nichts
herauskam, schließlich sogar dem deutschen, wobei er sich das Genick brach."
Im Deutschen Krieg ergriff Napoleon für den vermeintlich schwächeren Gegner
Preußen Partei, zumal Bismarck ihn mit vagen Versprechungen geködert hatte.
Durch den entscheidenden Sieg der Preußen über die Österreicher bei Königgrätz
am 3. Juli 1866 wurde nicht nur Napoleon schockiert. Der Kardinalstaatssekretär
Antonelli soll auf die Nachricht von der Niederlage Österreichs ausgerufen
haben: „Die Welt stürzt ein!" Wenn bei irgendeiner Gelegenheit Bismarck sich als
genialer Politiker erwiesen hat, dann nach der Schlacht bei Königgrätz. Für den
König und seine Generale schien es selbstverständlich, daß nach dem Sieg die
Preußen in der österreichischen Hauptstadt Wien einzogen. Dem widersetzte sich
Bismarck im Hauptquartier von Nikolsburg mit aller Macht. Grollend gab der König
schließlich nach. Bismarck wußte, daß ein Triumphzug der preußischen Truppen
durch die Wiener Straßen Österreich, das durch die schwere Niederlage aufs
tiefste verwundet war, dem ohnehin im Land unbeliebten Preußen niemals verzeihen
und sich bei erstbester Gelegenheit an ihm rächen würde. Eine solche wäre ein
Bündnis mit Napoleon gewesen, der es nicht verwinden konnte, sich getäuscht zu
haben, und die Scharte, die sein Ansehen schwächte, auszuwetzen versuchen würde.
Für einen Krieg mit Frankreich, den Bismarck einkalkulieren mußte, hatte Preußen
alles zu tun, um einen Zweifrontenkrieg durch den Eintritt Österreichs auf
seiten Frankreichs zu vermeiden. So drängte er auf einen schnellen
Friedensschluß unter milden Bedingungen für Österreich. Er verzichtete auf jede
Gebietsabtretung wie die von Österreich#Schlesien, was ihm der König und die
Militärs ebenfalls verübelten. Wir wissen, daß Bismarcks Politik gegenüber
Österreich ihre Früchte getragen hat. Es hielt sich 1870 vom
Deutsch-Französischen Krieg fern. Bismarck kam es nur darauf an, daß Königgrätz
endgültig den Dualismus zwischen Österreich und Preußen in Deutschland zugunsten
des letzteren entschieden hatte. Auch sah er sehr wohl, welch große Aufgabe
Österreich in Europa noch zu erfüllen hatte. Was sollte an seine Stelle gesetzt
werden, wer sollte die Aufgaben übernehmen, die der österreichische Staat von
Tirol bis in die Bukowina erfüllte? So fragt Bismarck in seinen
Erinnerungen. Auch DeutschÖsterreich könnten wir, fährt er fort, weder ganz noch
teilweise brauchen. Wien sei als ein Zubehör von Berlin aus nicht zu regieren.
Schonte Bismarck Österreich, so vereinnahmte Preußen, wie schon gesagt,
Hannover, dazu Schleswig-Holstein, Kurhessen, Nassau und die Freie Stadt
Frankfurt, der von den Militärs so hohe Kontributionen auferlegt wurden, daß ihr
Bürgermeister Selbstmord beging. Mit der Einverleibung der genannten Länder, die
den Sturz der angestammten Herrscherhäuser bedeutete, so der Welfen in Hannover,
verletzte, wie bereits Schieder bemerkte, Bismarck das dynastische Prinzip, das
Preußen für sich selbst um des Zusammenhaltes seiner so stark verschiedenen
Landesteile willen in ganz besonderer Weise in Anspruch nahm. Der Vorwurf der
Ländergier, der bereits durch die Besitznahme Schlesiens, Westpreußens und
Posens gegen Preußen erhoben wurde, erhielt durch diese Eroberungen kräftigste
Nahrung.
Bismarcks Bündnis mit den Nationalliberalen
Der seit 1862 wegen der eigenmächtigen Heeresreform Bismarcks bestehende
Verfassungskonflikt in Preußen wurde dadurch beendet, daß unter dem Eindruck der
Schlacht von Königgrätz der größte Teil der Fortschrittspartei unter Beteiligung
des linken Zentrums als Nationalliberale Partei ins Lager Bismarcks
überschwenkte (darunter auch unser Landsmann Simson) und im Landtag das sog.
Indemnitätsgesetz beschloß, d. h., die Militärausgaben Bismarcks wurden
gebilligt. Der Erfolg blieb auch hier der letzte Sieger. Die Nationalliberalen
als Vertreter des deutschen Bürgertums waren dann sogar Bismarcks stärkste
Stütze bei seiner Gründung des Deutschen Reiches.
Da Bismarck Realpolitiker war, paktierte er, wenn es ihm zweckmäßig erschien,
mit den Zeitströmungen des Nationalismus und der Demokratie, ohne allerdings in
seinem Selbstgefühl zu fürchten, daß ihm diese eines Tages über den Kopf wachsen
könnten. An sich war, wie Haffner mit ganz besonderem Nachdruck betont, das
Bündnis zwischen der preußischen Staatsidee und der deutschen Nationalidee ein
Bündnis zwischen Feuer und Wasser. Wir werden uns gerade dieser höchst
interessanten Feststellung Haffners noch bei anderer Gelegenheit erinnern.
Bismarck kam es auch nicht darauf an, mit Ferdinand Lassalle zu verhandeln, der
einen Sozialismus auf nationalstaatlicher Grundlage errichten wollte. Lassalle
fiel aber bereits 1864 in Genf in einem Duell, und der von ihm gegründete
Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ging später in der SPD auf. Sehr bezeichnend
für Bismarcks Einstellung war auch, daß er einmal vom Nationalitätenschwindel
sprach.
„Rache für Sadowa!"
Zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten wurde ein geheimes
Schutz-und-Trutz-Bündnis geschlossen, das die gegenseitige Garantie der Gebiete
enthielt sowie die Zusage der Süddeutschen, ihre Truppen im Kriegsfall unter den
Oberbefehl des Königs von Preußen zu stellen. Diese überraschende Haltung der
süddeutschen Staaten wird erklärlich durch die Ansprüche Napoleons III. auf die
bayerische Rheinpfalz und das linksrheinische Hessen, die er unter Umständen
auch mit Hilfe eines Krieges erwerben wollte. Napoleon stand gerade durch den
preußischen Sieg bei Königgrätz unter besonders starkem Erfolgszwang, und so
ließ er in Frankreich die Parole ausgeben: „Rache für Sadowa!" Sadowa war ein
Ort in der Nähe von Königgrätz.
Nach dem Krieg von 1866 erfolgte die Gründung des Norddeutschen Bundes. Dieser
war im Gegensatz zum Deutschen Bund ein Bundesstaat unter deutscher Führung. In
ihm ist die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 vorgeformt worden. Auf der
Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, welches
schon Bismarck vor dem Krieg von 1866 gefordert hatte und das er jetzt wohl oder
übel übernehmen mußte, wurde ein Reichstag gewählt, der 1867 zum erstenmal in
Berlin zusammentrat. Mit dem Zugeständnis des demokratischen Wahlrechts war aber
angesichts der beschränkten Rechte des Reichstages - er wurde z. B. nicht an der
Ernennung des Kanzlers beteiligt - keinesfalls die Einführung eines
parlamentarischen Regierungssystems verbunden. Das Bundespräsidium war erblich
bei der Krone Preußens, die den Bund völkerrechtlich vertrat, in seinem Namen
Krieg und Frieden erklärte und Frieden und Bündnisse schloß. Die Vertretung der
Länderregierungen war der Bundesrat, in dem Preußen 17, die übrigen Bundesländer
zusammen 21 Stimmen hatten. Gemeinsam mit dem Reichstag hatte er das Recht,
Gesetze zu beschließen und den Heeresetat zu bewilligen.
Das, was Bismarck erwartet hatte, trat ein. Anlaß zum Krieg zwischen Preußen und
Frankreich bot die in Aussicht genommene und, wie man wissen will, von Bismarck
zunächst insgeheim begünstigte Wahl des Prinzen Leopold von der katholischen
Sigmaringer Linie der Hohenzollern zum König von Spanien. Frankreich mochte eine
Umklammerung durch die Hohenzollern wie einstmals durch die Habsburger
befürchten. Auch nachdem Leopold auf das spanische Angebot verzichtet hatte,
stellte der französische Gesandte Benedetti König Wilhelm I. auf der
Kurpromenade von Ems und verlangte von ihm, daß er auch in Zukunft eine
Kandidatur des Hohenzollernprinzen für die Krone von Spanien nicht zulassen
werde. Über dieses aufdringliche Verhalten des französischen Gesandten ließ der
König Bismarck telegraphisch in Berlin unterrichten. Aus dem Bericht strich der
Bundeskanzler die vieldiskutierte "Emser Depesche" zusammen, die er der Presse
übergab. Napoleon blieb daraufhin, wenn er sein Gesicht wahren wollte, nichts
anderes übrig, als Preußen den Krieg zu erklären.
Vom Kabinettskrieg zum Volkskrieg
Die süddeutschen Staaten hielten ihre Bündnisverpflichtungen ein, und so
konnte der Krieg von 1870 wie der von 1866 nach den Plänen des preußischen
Generalstabes unter dem genialen Strategen v. Moltke sozusagen programmäßig
ablaufen bis zur Schlacht von Sedan am z. September. Sie endete mit einem
völligen Sieg der preußisch-deutschen Armee, wobei der französische
Oberbefehlshaber Mac Mahon und Napoleon selbst gefangengenommen wurden. Dem
Kaiser wurde das Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel als „Gefängnis" zugewiesen. 1871
wurde er nach England abgeschoben, wo er schon 1873 gestorben ist. Hatte mit
Sedan die Entscheidungsschlacht des Krieges stattgefunden? Mitnichten! Haffner
hatte schon zum Beginn des Krieges bemerkt, daß die süddeutschen Staaten weniger
aus Liebe zu Preußen als aus Franzosenhaß zu Felde gezogen waren, der von den
Erinnerung an die Zeit des ersten Napoleon gespeist war. Hatte aber nicht gerade
Haffner Wert auf die Feststellung gelegt, daß die Napoleonischen Kriege weniger
Volkskriege als Kabinettskriege gewesen seien? Nun aber, nachdem Napoleon III.
abgedankt hatte und in Frankreich die Republik unter Gambetta ausgerufen worden
war, kämpften die Franzosen erbittert weiter. Es war eine neue, für Bismarck
erschreckende Erscheinung: „Plötzlich kämpften nicht Staaten miteinander,
sondern Völker." Erst mit der Übergabe von Paris am 28. Januar 1871 fand der
Krieg ein Ende. Im Frieden von Frankfurt trat Frankreich Elsaß-Lothringen an
Deutschland ab und zahlte in drei Jahren 5 Milliarden Franken als
Kriegsentschädigung. Diese nicht durch ehrliche Arbeit verdienten Milliarden
haben der deutschen Wirtschaft keinen Segen gebracht. Die in der sog.
Gründerzeit mit ihrer Hilfe erfolgten zahlreichen Neugründungen brachen zum
erheblichen Teil schon 1873 mit großem Krach zusammen.
Der König wollte nicht Kaiser werden
Inzwischen war im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles König Wilhelm I.
von Preußen zum Deutschen Kaiser ausgerufen worden. Die Kaiserproklamation
erfolgte, was heute für uns schwer zu begreifen ist, während eines Krieges im
Feindesland und unter Teilnahme eines einzigen Zivilisten. Dieser hieß Bismarck,
und er hatte aus dem Anlaß auch seine geliebte Uniform der Magdeburger
Kürassiere angelegt. Frankreich hat die Kaiserproklamation in Versailles schwer
erbittert, und so mußte im selben Spiegelsaal am 28. Juni 1919 von der deutschen
Delegation der Diktatfrieden unterzeichnet werden. Der Kanzler hatte darauf
bestanden, daß die Kaiserwürde seinem König durch die deutschen Fürsten
angetragen wurde. Der Norddeutsche Reichstag durfte lediglich vorher durch eine
Deputation, an deren Spitze der uns schon wohlbekannte Königsberger Simson 5)
stand, den König bitten, das Angebot der deutschen Fürsten nicht auszuschlagen.
So paradox es klingt: Die größten Schwierigkeiten machte bei der Übertragung der
Kaiserwürde Wilhelm I. selbst. Nicht aus Rücksicht auf Österreich, wie sie noch
sein Bruder Friedrich Wilhelm IV. genommen hatte, sondern weil er lieber König
von Preußen bleiben und kein Charaktermajor sein wollte. Unter einem
Charaktermajor verstand man im alten Heer einen Hauptmann, dem man bei seiner
Verabschiedung den Charakter eines Majors verlieh, aber nicht dessen Bezüge. So
sah sich der König von Preußen als Deutscher Kaiser, und als ihn am Abend vor
der Proklamation Bismarck endlich herumkriegte, sagte der König, in Tränen
ausbrechend: „Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens. Da tragen wir das
preußische Königtum zu Grabe." Hat er womöglich recht behalten? Haffner datiert
von dieser Proklamation des Königs Wilhelm I. zum Kaiser „Preußens langes
Sterben".
Schließlich einigte man sich darauf, daß der Großherzog von Baden, Friedrich I.,
ein Hoch auf Kaiser Wilhelm I. ausbringen sollte. Warum gerade er? Die
Proklamation wäre eigentlich Sache der Könige gewesen, vor allem des bayrischen,
der nach dem Preußenkönig über das größte Herrschaftsgebiet verfügte. Aber der
„Märchenkönig" Ludwig II. war gar nicht in Versailles anwesend, und es hatte
Bismarck überhaupt große Mühe gekostet, ihn zum Beitritt zum Deutschen Reich zu
bewegen. Er griff dem ewig von einer großen Schuldenlast bedrängten König # man
denke nur an den kostspieligen Bau der Schlösser Linderhof, Neuschwanstein und
Herrenchiemsee sowie die großzügige Förderung Richard Wagners! - mit einem
beträchtlichen Zuschuß aus dem sog. Welfenfonds unter die Arme. Die anderen
Fürsten überließen Friedrich von Baden die Proklamation gern als dem
Schwiegersohn des neuen Kaisers. Seine Gattin Luise war ebenso eine Gegnerin
Bismarcks wie ihre Mutter, die Königin und Kaiserin Augusta, und ihre
Schwägerin, Kronprinzessin Viktoria. Man kann Wilhelm I. nur bewundern, daß er
dieser mächtigen weiblichen Phalanx gegenüber an Bismarck festhielt, obschon ihm
dessen Politik manch schwere Stunde bereitete.
Die Verfassung des Deutschen Reiches wurde vom Norddeutschen Bund übernommen,
nur daß der Bundespräsident jetzt Deutscher Kaiser hieß und der Bundeskanzler
Reichskanzler.
Das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht bestehen zu lassen, wird Bismarck
besonders sauer angekommen sein. Aber die Geister, die er gerufen hatte, als er
1866 den Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahlrechts stellte und damit den
Deutschen Bund sprengte, ließen ihn nicht mehr los. Er mußte jetzt wohl oder
übel den Preis für seinen kühnen Vorstoß zahlen. So existierten bis 1918 in
Preußen zwei Wahlsysteme nebeneinander: für das Abgeordnetenhaus das
Dreiklassenwahlrecht, für den Reichstag das allgemeine Wahlrecht. So gab es bis
1908 im Landtag keine sozialdemokratischen Abgeordneten, im Reichstag dagegen
schließlich 120.
War das Deutsche Reich ein Großpreußen?
Welchen Platz nahm nun Preußen in dem von ihm gegründeten Deutschen Reich
ein? Die einen sagen, dieses sei ein Großpreußen gewesen, zumal diese
Kaiserproklamation in Versailles am 18. Januar stattfand, dem Tag, an dem 1701
Friedrich I. zum ersten preußischen König gekrönt wurde. Dieser Ansicht sind z.
B. von der Gablentz und der konservative Staatsphilosoph Konstantin Frantz. Und
daß Bismarck, der Schöpfer und erste Kanzler des neuen Reiches, ein Preuße mit
Leib und Seele war und es bis an sein Lebensende blieb, ist nicht zu leugnen.
Sehr interessant ist eine Bemerkung, die Bismarck Wilhelm II. gegenüber machte.
„Mit dem Deutschen Reich ist es soso lala", sagte der Kanzler. „Suchen Sie nur
Preußen stark zu machen. Es ist egal, was aus dem andern wird." Dazu Wilhelm IL
zu seinem Freund Fürst Eulenburg: „Ich habe eine Art Falle für mich darin
gesehen." Wilhelm IL, vom Glanz seines Kaisertums geblendet, verstand die
Bemerkung Bismarcks nicht, dem offensichtlich Zweifel an seiner eigenen Gründung
gekommen waren. Wir werden davon noch mehr hören.
Andere dagegen meinen, daß Preußen, wie es in einer schwachen Stunde Friedrich
Wilhelm IV. geäußert und es auch Haffner übernommen hat, in Deutschland
aufgegangen sei. Sie führen zur Begründung ihrer Ansicht unter anderem an, daß
fortan kein Mensch mehr von Berlin als der preußischen Hauptstadt sprach,
sondern nur von der Reichshauptstadt. Und da das Amt des preußischen
Ministerpräsidenten mit dem des Reichskanzlers gekoppelt war, wurden in der
Folgezeit eine Reihe von Nichtpreußen preußische Ministerpräsidenten, so die
Bayern Hohenlohe und Hertling, der Mecklenburger Bülow, schließlich mit Max von
Baden sogar das Mitglied eines nichtpreußischen Fürstenhauses. Vom preußischen
Ministerpräsidenten war keine Rede mehr, allein vom Reichskanzler.
„Der böse Dämon Deutschlands"
Viele ausländische, besonders englische, aber auch süddeutsche Historiker
hätten, bemerkt Haffner gewiß mit Recht, die Friedenspolitik des Urpreußen
Bismarck nach 1871 nicht wahrhaben wollen. Für sei sie Preußen überhaupt die
Wurzel allen Übels, der böse Dämon Deutschlands und die Ursache der Katastrophen
gewesen, in die Deutschland sich und die Welt in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts gestürzt habe. Preußen sei ein erobernder Staat gewesen, und es
habe, so war die weitverbreitete Meinung, diese Eroberungspolitik dem Deutschen
Reich vererbt, sozusagen eingeimpft. Noch im August 1939 schrieb der in
Ostpreußen geborene Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen: „Morgen werden
wir den zweiten gegen die Geographie geführten Weltkrieg haben, und ich zweifle
nicht daran, daß er, von dem ewigen Schreihals Preußen wieder an den ganzen
Erdball erklärt, verloren ist noch vor dem ersten Flintenschuß." Dazu können wir
nur fragen: Wer war damals der Schreihals? Und wo kam er her? Bei solchen
Vorwürfen spielt offensichtlich die preußische Annexionspolitik, das heißt die
Vereinnahmung einer Reihe von deutschen Staaten nach dem Krieg von 1866, eine
besondere Rolle. Bismarck selbst macht das Zugeständnis, Preußen sei nach 1871
satt und übersatt gewesen. Daher hat Bismarck, solange er im Reiche etwas zu
sagen hatte, als bremsendes Element gewirkt: „Wenn Preußen die deutsche
Führungsmacht bleiben wollte, durfte Deutschland auf keinen Fall größer werden,
als es schon war. In einem Großdeutschland oder einer deutschen Weltmacht wäre
seine Lage hoffnungslos gewesen." Weltmachtpolitik hat Deutschland erst nach
Bismarcks Sturz (1890) getrieben, als Wilhelm II., der Bismarcks Warnung nicht
verstanden hatte oder verstehen wollte, die Parolen ausgab: „Unsere Zukunft
liegt auf dem Wasser!", und darum: „Volldampf voraus!"
Das Schlagwort vom preußischen Militarismus
Das zweite Argument der Kritiker Preußens ist nach Haffner der preußische
Militarismus gewesen: „Aber es war nicht die Armee, die vor den beiden
Weltkriegen die deutsche Politik bestimmte und zum Krieg drängte, von dem
zweiten hat sie sogar dringend abgeraten." Ob gegen diese verallgemeinernden
Feststellungen Haffners nicht doch Bedenken anzumelden sind? Wenn ein General
Graf Brandenburg preußischer Ministerpräsident und ein General Graf Caprivi
Reichskanzler wurde, so wurden sie dies gewiß nicht als Vertreter der Armee.
Aber es gab auch einen vom preußischen Generalstab entwickelten und von den
Politikern abgesegneten Schlieffenplan, der eine Verletzung der Neutralität
Belgiens im Fall eines Krieges mit Frankreich vorsah. Und vor allem gab es einen
Admiral von Tirpitz, dessen unmäßiger, vom Kaiser begrüßter Ausbau der deutschen
Kriegsflotte England herausforderte. Aber die Kriegsmarine war Reichssache,
nicht preußische - doch wer machte im Ausland schon diesen Unterschied? Immerhin
war Tirpitz in der preußischen Festungsstadt Küstrin geboren. Die Flottenleitung
setzte beim Kaiser die Entlassung des deutschen Botschafters in London, Graf
Metternich, durch, der vor der Wirkung des Flottenbaus auf England gewarnt
hatte. Im Ersten Weltkrieg, zu dem nach einer Äußerung des Historikers Golo Mann
den Kaiser die Generale zu treiben suchten, gewann die Oberste Heeresleitung
immer stärkeren Einfluß auf die Reichspolitik. Der Kaiser machte sich
unsichtbar, nachdem er noch am Kriegsbeginn die markigen Worte gesprochen hatte:
„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!" Gegen Ende der
Weimarer Zeit trat mit Kurt von Schleicher ein typischer politisierender General
hervor.
Und was den zweiten Teil der Behauptung Haffners betrifft: Gewiß haben die
Generäle Hitlers dringend von einem Krieg abgeraten, aber die Konsequenz aus
ihrer Einsicht zog nur der Chef des Generalstabes des Heeres, Ludwig Beck, indem
er 1938 zurücktrat. Das Buch von W. Förster über ihn trägt den bezeichnenden
Titel „Ein General kämpft gegen den Krieg". Entschiedener Kriegsgegner war auch
der Oberbefehlshaber des Heeres, von Fritsch. Die Gestapo schaltete ihn auf
höheren Befehl durch eine an Gemeinheit unüberbietbare Verleumdung aus. Es ist
kein Ruhmesblatt für die deutsche Generalität, daß sie sich nicht mit Fritsch
solidarisch erklärte. Ihre Entschuldigung, sie habe von den Intrigen gegen ihn
nichts gewußt, ist alles andere als überzeugend. Im Kriege nahmen die Generäle
aus Hitlers Hand gern den Marschallstab entgegen, so daß man von einer
förmlichen Inflation von Feldmarschällen reden konnte.
Der Leutnant rangierte vor dem Professor
Das Wort vom preußischen Militarismus hat seinen Ursprung in der Tatsache,
daß Brandenburg-Preußen wegen seiner Streulage und seiner offenen Grenzen von
Anfang an auf ein starkes Heer angewiesen war. So blieb es nicht aus, daß dem
Militär eine bevorzugte Stellung eingeräumt und es schließlich gewissermaßen der
Inbegriff des preußischen Staates wurde. in einer merkwürdigen Hofrangordnung,
die allerdings erst unter Wilhelm II. üblich wurde, stand der Leutnant vor dem
Universitätsprofessor. Jedenfalls haben sich die Preußen nach Schoeps, der gewiß
alles andere als ein Preußenfresser ist, durch übertriebenes militärisches
Gebaren, Militarisierung auch des zivilen Lebens sowie ein schroffes Auftreten
und mangelndes Einfühlungsvermögen vor allem auch in Süddeutschland und den
neuerworbenen Reichsländern oft sehr unbeliebt gemacht. Bismarck selbst hat 1873
in einer Rede darüber geklagt, daß der preußische Beamte nicht dafür berühmt
sei, in geschickter Weise Freunde zu gewinnen und unangenehme Dinge in
liebenswürdiger Weise zu erledigen. Der dümmlich-arrogante preußische Leutnant
mit und ohne Monokel war eine ständige Figur in der Münchener satirischen
Zeitschrift "Simplicissimus". Die Macht der Uniform zeigte sich am Beispiel des
Hauptmanns von Köpenick, der Carl Zuckmayer zu seiner vielgespielten Komödie
angeregt hat. Den militärischzackigen Beamten, der von der pfiffigen Mutter
Wolffen aufs Kreuz gelegt wird, treffen wir in der Gestalt des Amtsvorstehers
von Werhahn in Gerhart Hauptmanns „Biberpelz" an. Trotz allem gilt für den
preußischen Staat, was der einstige preußische Ministerpräsident Otto Braun in
der Emigration über ihn geschrieben hat. Sowenig der preußische Staat seine
militärische Entstehung und Entfaltung verleugnen konnte: „Er hatte eine straff
organisierte, mustergültige Verwaltung, verfügte über eine gut durchgebildete
unbestechliche Beamtenschaft in Justiz und Verwaltung, die ihm das Gepräge eines
wohlgeordneten Rechtsstaats gaben. Allerdings", fügt der Sozialdemokrat Braun
hinzu, „rekrutierte sich die regierende Oberschicht fast ausschließlich aus der
Kaste des konservativen Landadels."
Die Zabernaffäre von 1913
Was immerhin vor dem Ersten Weltkrieg möglich war, beweißt der Fall Zabern
aus dem Jahre 1913. Ich erinnere mich seiner noch sehr genau. Als Achtjähriger
habe ich die langen Berichte darüber in der Ermländischen Zeitung verschlungen
und bei Tisch begierig den Gesprächen der Eltern gelauscht, wenn sie sich
darüber unterhielten. Was war geschehen? Das elsässische Städtchen Zabern hatte,
wie der bekannte aus dem Elsaß stammende Schriftsteller Rene Schickele („Hans im
Schnackenloch") feststellt, nach dem 70er-Krieg am schnellsten an die deutsche
Vergangenheit angeknüpft und sogar Bismarck eine Ergebenheitsadresse übersandt.
Ausgerechnet in dieser Stadt sagte der 20jährige Leutnant von Forstner zu einem
wegen Messerstecherei zu zwei Monaten verknackten Rekruten: „Wenn du einen
Elsässer Wackes zusammenstichst, erhältst du keine zwei Monate; für jeden dieser
Dreckwackes, die du mir bringst, erhälst du zehn Mark." "Wackes", wenn es wie
hier als Schimpfwort gebraucht wurde, entsprach dem französischen „Boche" für
die Deutschen. Über die Äußerung des Leutnants erschien im "Zaberner Anzeiger"
vom 9. November 1913 ein Bericht, der sie „eine skrupellose Beleidigung der
Elsässer" nannte. Der Fall wäre durch eine schnelle Versetzung des Leutnants in
eine andere Garnison und eine entsprechende Mitteilung an die Presse am ehesten
erledigt worden. Aber der Regimentskommandeur von Reuter und der Kommandierende
General von Deimling taten dies nicht, sondern stellten sich vor den Leutnant.
So wuchs aus der Maus, wenn wir die üble Bemerkung des unreifen jungen Offiziers
als eine solche gelten lassen wollen, ein Elefant. Es setzte eine heftige
Pressekampagne ein, die immer größere Kreise zog. Ob von Forstner und von Reuter
Preußen waren, weiß ich nicht, der General von Deimling, der eigentlich als
letzte Instanz den Fall hätten bereinigen müssen, war jedenfalls Badener. Aber
gerade er versagte vollständig. Dabei heißt ein altes badisches Sprichwort: Die
Wackes sind uns näher als die Preußen! Beinahe zwangsläufig fiel in der
Pressefehde auch das Wort vom preußischen Militärdünkel. Die Affäre schlug immer
weitere Wellen, sie beschäftigte sogar den Reichstag und den deutschen
Kronprinzen. Die Folgen, die sie für die Stimmung unter den Elsässern hatte, und
die Reaktion, die sie vor allem in Frankreich auslöste, können wir uns nur zu
gut vorstellen. Das alles kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges!
Der überflüssige Kulturkampf
So erfolgreich Bismarck auf dem Gebiet der Außenpolitik war - die
Reichsgründung von 1871 ohne Einmischung des Auslandes war eine Meisterleistung
-, so wenig glücklich war er in der Innenpolitik, eben weil er die Methoden der
Außenpolitik auch auf diese übertrug. Sein Verhalten gegenüber den Katholiken
und Sozialisten beweist dies. Wenn er beide, im Parlament vertreten durch die
Zentrumspartei und die Sozialdemokratische Partei, als Reichsfeinde bezeichnete,
so erscheint es gerade als eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet diese
beiden Parteien von 1919 bis 1932 Preußen zu einer gewissen Nachblüte verhalfen.
Der Kulturkampf (der Ausdruck stammt von dem berühmten Arzt und liberalen
Politiker Virchow) war „trotz aller anderen Mitwirkenden Bismarcks persönliches
Werk". Über seine Anfänge im Ermland haben wir in UEH 25, 2 und 3 berichtet. Die
erste Kampfhandlung der Regierung war 1871 die Aufhebung der seit 1841
bestehenden katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium. Es sei
sogleich darauf hingewiesen, daß der Kulturkampf sich nicht nur in Preußen
abspielte, sondern auch durch Reichsgesetze gefördert wurde.
Was veranlaßte aber Bismarck zu seinem Vorgehen gegen den Katholizismus? Es wird
manchem Leser unseres eben erwähnten Beitrages aufgestoßen sein, daß in den
Kulturkampf auch das Auswärtige Amt eingeschaltet wurde. Das bestätigt die
Auffassung, daß für Bismarck der Kulturkampf nicht zuletzt eine
Auseinandersetzung mit der fremden Macht des Papstes in Rom war. Der Kanzler
wollte die Bindung der katholischen Kirche an diese Macht, Ultramontanismus
genannt, lösen. Ultramontan besagt: jenseits der Berge, in diesem Falle der
Alpen. Ultramontanismus bedeutet laut Duden ganz genau gesagt eine streng
päpstliche Gesinnung besonders im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Hoffnungen
der Regierung, in den Altkatholiken, die die vom 1. Vatikanischen Konzil
beschlossene Lehre vom Primat und der Unfehlbarkeit des Papstes ablehnten, einen
wichtigen Bundesgenossen zu haben, erwies sich wegen der geringen Zahl der
Altkatholiken bald als trügerisch.
Was Bismarck nicht sah oder nicht sehen wollte oder konnte: daß man in einem
Rechtsstaat gegen eine geistliche Macht nicht mit Mitteln der Verwaltung
vorgehen konnte. Dies machte ihm auch in einer Vorlesung über Kaiser Heinrich
IV. (1056-1106) der in Berlin (vorher in Königsberg) lehrende Professor Albert
Brackmann zum Vorwurf. Der Kaiser konnte in seinem Kampf gegen Papst Gregor VII.
nicht ahnen, daß ihm mit diesem der Vorkämpfer einer geistlichen Bewegung
gegenüberstand, die es in dieser Art im Mittelalter bisher nicht gegeben hatte:
die der Kluniazenser. So verhielt sich Heinrich IV. dem Papst gegenüber wie die
früheren Kaiser und erlitt dabei Schiffbruch. Bismarck aber hätte aus der
Geschichte lernen müssen, ehe er den Kulturkampf begann.
Die Maigesetze von 1873
Dessen Höhepunkt bildeten die Maigesetze von 1873 über die wissenschaftliche
Vorbildung und Anstellung der Geistlichen, über die kirchliche
Disziplinargewalt, über die Anwendung kirchlicher Straf- und Zuchtmittel und über
den Austritt aus der Kirche: „Sie zielten auf die Zerstörung der Hierarchie und
die Umwandlung in eine nationale Staatskirche." Wir wollen den unseligen
Kulturkampf hier nicht in allen Einzelheiten verfolgen. In seinem Verlauf wurden
mehrere Bischöfe für abgesetzt erklärt, darunter die Erzbischöfe von Köln und
Gnesen-Posen. Bei der Erwähnung des letzteren sei auch auf die antipolnische
Tendenz des Kulturkampfes hingewiesen. 1876 waren alle preußischen Bischöfe
abgesetzt oder verhaftet oder ins Ausland geflüchtet mit Ausnahme des ermländischen Philipp Krementz, über den, wie wir schon früher berichteten, die
Kaiserin Augusta ihre schützende Hand hielt. Das Ende des Kulturkampfes war
gegeben, als Bismarck einsehen mußte, daß er infolge des Widerstandes des
katholischen Volksteils seine Ziele nicht erreichen konnte und er auch für seine
Zollpolitik die Zustimmung der Zentrumspartei brauchte. Durch die Vermittlung
des Fuldaer, später Breslauer Bischofs Kopp kamen 1886 und 1887 die beiden
Friedensgesetze zwischen Bismarck und dem zur Versöhnung bereiten Papst Leo
XIII. (seit 1878) zustande. Die Zentrumspartei fühlte sich durch die direkten,
von Kopp bewirkten Verhandlungen zwischen Berlin und dem Vatikan nicht zu
Unrecht übergangen, nachdem sie sich während des Kulturkampfes tapfer für die
Kirche geschlagen hatte. Von den Kulturkampfgesetzen blieben aber einige
bestehen, so das Gesetz über die staatliche Schulaufsicht, der sog.
Kanzelparagraph, der den Geistlichen verbot, Angelegenheiten des Staates in
einer „den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise" zu erörtern, die Zivilehe
und (bis 1917) das Jesuitengesetz. Bismarck erhielt nach Abbruch des
Kulturkampfes den höchsten päpstlichen Orden, den Christusorden. Ob er ihn
jemals angelegt hat? Für sein neues Reich war der Kulturkampf „ein immenses
Unglück für Staat und Kirche", weil er es den Katholiken, die zwei Fünftel der
Bewohner des Reiches ausmachten, lange erschwerte, in ihm heimisch zu werden.
Waren die Ermländer Mußpreußen?
Der Kulturkampf wirkte sich natürlich auch auf die größtenteils katholische
Bevölkerung des Ermlands aus. Es kam das Wort von den Mußpreußen auf, die die
Ermländer seien. Als die Kulturkampfgeneration abgetreten war und der Glanz des
neuen Reiches auch auf die Ermländer ausstrahlte, erfolgte allmählich eine
Änderung in ihrer Einstellung zu Staat und Reich. Aber noch nach dem Ersten
Weltkrieg bezeichnete, worauf wir schon einmal hingewiesen haben, Otto Miller
die Ermländer als Mußpreußen, wobei ihm Eugen Brachvogel zustimmte und mit ihm
vielleicht noch heute mancher Ermländer, besonders unter unseren geistlichen
Herren. Wir erwähnten gleichfalls, daß unser unbedingt ermlandtreuer Historiker
Franz Buchholz Otto Miller heftig widersprochen hat, wenn er auch zugab, daß das
frühere Königreich Preußen die Katholiken zurücksetzte. Wobei er gewiß nicht
zuletzt daran dachte, daß an der Spitze der hochprozentig katholischen
ermländischen Kreise in der Regel evangelische Landräte standen. Aus Franz
Buchholz sprach der preußische Offizier des Ersten Weltkrieges. Wie denn
überhaupt das Militär schon in Friedenszeiten viele Ermländer zu wackeren
Preußen machte. In den Stuben auf dem Lande hingen unter Glas gerahmt die
Urkunden oder Kompaniebilder „Zur Erinnerung an meine Dienstzeit". Besonders
stolz waren die strammen ermländischen Bauernjungen, wenn sie zur Garde nach
Berlin oder Potsdam eingezogen wurden. Sie brachten von dort freilich nicht nur
schöne Erinnerungen mit, manche auch weniger angenehme Andenken an das
Sündenbabel Berlin.
Eine reizvolle, vom Gesetzgeber kaum bedachte Folge hatte die aus dem
Kulturkampf beibehaltene Bestimmung, daß der Bewerber um eine Pfarrstelle ein
staatlich anerkanntes Abitur nachzuweisen hatte. Man war seitens der Regierung
doch sehr besorgt um das geistige Niveau des katholischen Klerus! Der 1873 in
Allenstein geborene Franz Justus Rarkowski trat, ohne in seiner Vaterstadt das
Abitur gemacht zu haben, in die Kongregation der Maristen ein und wurde 1899 in
Brixen zum Priester geweiht. Als er aus dem Orden ausschied und in seine Heimat
zurückkehrte, konnte er aus dem eben erwähnten Grund keine Pfarrstelle erhalten.
Wenn er als Kuratus von Lötzen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges sich zum
Seelsorgedienst beim Heer meldete, tat er dies gewiß nicht nur, wie B. M.
Rosenberg annimmt, im Überschwang nationaler Begeisterung (ZGAE 39, S. 95),
sondern auch aus der Erkenntnis, daß er im Ermland nicht Pfarrer werden konnte.
Darum blieb er nach dem Kriege Geistlicher bei der Reichswehr, wo er die
Stufenleiter bis zum Feldbischof emporstieg. Es war also sein Glück, daß er kein
staatliches Abitur gemacht hatte! Mit einem solchen, das für
Reichswehrgeistliche offensichtlich nicht verlangt wurde, hätte er es im besten
Fall zum Erzpriester und Domherrn, aber nicht zum Mitraträger gebracht. Aber war
es wirklich sein Glück, daß er ein solcher wurde? Nach dem Aufsatz von Hans
Apold über Rarkowski, der auch die oben erwähnte Bemerkung von Rosenberg
enthält, möchte man es bezweifeln.
Bismarck wollte das Reich auflösen
Durch das allgemeine Wahlrecht konnten sich, wie schon gesagt, im Reichstag
anders als im Landtag mit seinem Dreiklassenwahlrecht auch die Sozialdemokraten
ihre Plätze sichern. Mit dem Sozialistengesetz von 1878, das alle
sozialistischen und kommunistischen Organisationen und Druckschriften verbot und
das bis 1890 verlängert wurde, erreichte Bismarck wie durch die
Kulturkampfgesetze genau das Gegenteil. Die neuformierte SPD wurde nach
Aufhebung des Verbotes immer stärker und bei den Reichstagswahlen 1912 sogar die
stärkste Partei. Bismarck soll sich gegen Ende seiner Regierung wegen des vielen
Ärgers mit dem Reichstag, dessen Parteien er dadurch zu korrumpieren suchte, daß
er sie gegeneinander ausspielte, ernsthaft mit dem absurden Gedanken getragen
haben, das Reich wieder aufzulösen und als reinen Fürstenbund neu zu bilden. Daß
Bismarck überhaupt einen solchen Einfall hatte, zeigt, wie wenig der alte
Kanzler die Zeichen der Zeit erkannte. Keineswegs dachte er daran, das Reich
etwa in Richtung einer parlamentarischen Monarchie zu entwickeln.
Das war schon eher von dem Kaiser der 99 Tage, Friedrich III., zu erwarten. So
wäre, wenn Friedrich länger am Leben geblieben wäre, Bismarcks Zeit als
Reichskanzler noch schneller zu Ende gegangen, als es ohnehin schon der Fall
war. Dazu kam Friedrichs unbändiger Stolz. Zu den Ehrungen anläßlich des 70.
Geburtstages von Bismarck sagte er abschätzig: Ein Minister? Was ist ein
Minister? Nichts als ein Beamter des Königs - dies, damit meinte er Bismarck! -
ist aber kein Minister, sondern ein Diktator, dies ist der Untergang der
Monarchie. Solche Äußerungen schienen sich schlecht mit den angeblich liberalen
Anschauungen Friedrichs in Übereinstimmung bringen zu lassen. Aber seine
abfälligen Äußerungen über Bismarck dürften der Eifersucht auf den ersten
Ratgeber seines Vaters entstammen sowie dem Einfluß seiner Frau Viktoria.
Friedrich lehnte es auch ab, auf seiner Reise nach San Remo in München Station
zu machen, weil die Bayernkönige ihre Krone nur Napoleon zu verdanken hätten.
Größere Erwartungen setzte Bismarck auf Wilhelm II. Er wußte, daß dieser wie er
Wilhelm I. sehr verehrte. Der junge Kaiser, der sich übrigens gegen seine Mutter
Viktoria sehr häßlich benahm, trieb mit seinem Großvater einen förmlichen Kult.
Er wollte ihn unbedingt zu Wilhelm dem Großen machen, aber das Volk spielte
nicht mit, sosehr es den alten Kaiser wegen seiner schlichten Art gerade auch in
Süddeutschland schätzte. Im übrigen unterschied sich Wilhelm II. in seinem
naßforschen Auftreten, das nur seine Minderwertigkeitsgefühle überdecken sollte,
völlig vom Großvater. So wurde auch Bismarck bald von Wilhelm II. enttäuscht.
Der tiefste Grund der Entzweiung zwischen Kaiser und Kanzler ist darin zu sehen,
daß der erstere nicht seine Macht mit Bismarck teilen, sondern allein regieren
wollte.
„Es ist ein Glück, daß wir Bismarck los sind!"
So kam es 1890 zur Entlassung Bismarcks, die auf eine beschämende Weise vor
sich ging. Bemerkenswert ist, daß die Öffentlichkeit das Ausscheiden des alten
Kanzlers mit einem Gefühl der Erleichterung aufgenommen hat. Selbst ein Theodor
Fontane schrieb an einen Bekannten: „Es ist ein Glück, daß wir ihn los sind",
derselbe Fontane, der noch 1879 gesagt hatte: „Man mag Bismarck lieben oder ihn
hassen, so muß doch immer zugestanden werden, daß intellektuell dasselbe von ihm
gilt, was in physischer Beziehung von ihm gesagt worden ist: ein gewaltiger
Mann!" Aber es gibt noch andere Beispiele dafür, daß die Öffentlichkeit der
alten Männer überdrüssig wird, wenn sie angeblich zu lange regieren. Wir nennen
nur die Namen Friedrich der Große und Konrad Adenauer. Aber oft tritt sehr bald,
zumal wenn die Nachfolger nicht einschlagen, ein Stimmungsumschwung ein. Das
beste Zeichen dafür sind die Anekdoten und Legenden, die sich um die Gestalten
der alten Regenten und Staatsmänner ranken. Im Ausland schien man übrigens
klarer als in Deutschland zu erkennen, was die Entlassung Bismarcks bedeute.
Erinnert sei hier nur an die berühmte Karikatur der englischen satirischen
Wochenschrift „Punch": Der Lotse geht von Bord. Bismarck steigt die
Schiffstreppe hinab, der Kaiser sieht ihm mit der Krone auf dem Haupte von der
Reling nach.
Grollend und düster in die Zukunft blickend, zog sich Bismarck auf seinen
Alterssitz Friedrichsruh zurück. Den Titel eines Herzogs von Lauenburg, den ihm
Wilhelm II. noch verliehen hatte, hat er nie geführt. Noch kurz vor seinem Tode
am 30. April 1898 hat er geäußert: „Zwanzig Jahre nach dem Tode Friedrichs des
Großen kam Jena, und zwanzig Jahre nach meinem Ableben wird Deutschland
zusammenbrechen, wenn es so weiter regiert wird." Bismarcks Prophezeiung ist
genau auf das Jahr eingetroffen, wenn man unter Zusammenbruch das Ende der
Monarchie versteht, ohne die sich ein Bismarck kein Preußen und kein Deutsches
Reich vorstellen konnte.
Mehr Kaiser als König
Wilhelm II. war der letzte deutsche Kaiser. Daß er auch und eigentlich in
erster Linie König von Preußen war, wurde kaum noch wahrgenommen, obwohl wir in
Braunsberg ein königliches Gymnasium besuchten und nebenan das Lyceum Hosianum
1912 in Königliche Akademie umbenannt wurde, wohl weil die Bezeichnung Lyceum
als Lyzeum von der höheren Mädchenschule in Beschlag genommen wurde und der
Patron der Hochschule, Ermlands größter Bischof, zumindest polnischer Neigungen
verdächtig war. Königliche Hosius-Akademie, für solch einen Namen genierte man
sich offensichtlich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde daraus die Staatliche
Akademie. Immerhin führte dann unsere Schule, die ihre Anfänge auch auf den
Bischof zurückführte, den Namen Gymnasium Hosianum, bis nach 1933 die neuen
Machthaber an ihm Ärgernis nahmen und mit der neuen Schulform den Namen
Hermann-von-Salza-Schule einführten eine Verlegenheitslösung. Ebensogut hätte
die Aufbauschule in Ragnit nach dem großen Hochmeister und Staatsmann benannt
werden können.
Wilhelm II. war für uns eben der Kaiser. Als er, der ständig unterwegs war und
darum Reisekaiser genannt wurde, einmal in seinem Auto von seinem Gut Cadinen
bei Tolkemit nach seinem Jagdschloß Rominten durch Braunsberg fuhr, standen wir
Schulkinder in der Langgasse Spalier und schrien laut "hurrah!", als der Kaiser
an uns vorbeirauschte. Ich sehe ihn noch in seinem Auto hoch thronend in der
grünen Jägeruniform sitzen. Am meisten imponierte mir der prächtige Schnurrbart,
dessen Enden wie von unsichtbaren Drähten hochgezogen wirkten. Mir fielen die
Onkel in Heinrichsdorf ein, die den ganzen Sonntagmorgen mit der
Schnurrbartbinde umherliefen. Doch wenn sie diese abgenommen hatten, senkten
sich alsbald die Spitzen ihrer Bärte wieder traurig hinab. Die Onkel waren eben
nicht der Kaiser.
Der Kaiser im Auto: Wilhelm II. war insofern ein moderner Mensch, als er allen
technischen Neuerungen durchaus aufgeschlossen gegenüberstand. Vier Technische
Hochschulen wurden in seiner Regierungszeit gegründet, darunter 1904 die
Danziger. Das Realschulwesen wurde mächtig gefördert. Männer wie Krupp und
Ballin, der Generaldirektor der Hapag, waren seine Freunde. Wilhelm II. war auch
der Begründer der berühmten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der
Wissenschaften, heute Max-Planck-Gesellschaft genannt.
Wenn die Ära Wilhelms II. Wilhelminismus genannt wird, so ist es unbillig, ihm
die Schuld an den negativen Erscheinungen jener Zeit allein zuzuschieben - an
der Großmannssucht, der parvenühaften Prahlerei und Protzerei. Der Kaiser war
so, wie die Zeit war und wie sie ihn haben wollte. Und wenn wir die Kölner
Hohenzollernbrücke mit den Denkmälern der Kaiser und Könige erwähnten, so
beweist das nur, daß man gerade im Westen Preußen-Deutschlands von dem
wirtschaftlichen Aufschwung der Wilhelminischen Ära profitierte und ihm auf
diese Weise seinen Dank abstatten wollte.
Der preußische Osten Kostgänger des Reiches
Das preußische Kernland Ostelbien, ohne das es kein Deutsches Reich gegeben
hätte, sah sich plötzlich in die Rolle des armen Mannes und Kostgängers des
Reiches versetzt. Seine Getreideproduktion konnte nur durch hohe Schutzzölle am
Leben erhalten werden. So ging man dort in den Schmollwinkel. 1898 las Fontane
den Junkern die Leviten: „In unserer Oberschicht herrscht die naive Neigung,
alles Preußische für eine höhere Kulturform zu halten." Ähnliches meinte Golo
Mann, wenn er sagt, daß man gerade in Preußen einen Lebensstil und
Herrschaftsformen bewahrte, die früher ihre Verdiente und damit ihre
Daseinsberechtigung hatten, nun aber nicht mehr in die Zeit paßten. Haffner
nennt den letzten wunderbaren Roman Fontanes „Der Stechlin" ein Abschiedswerk in
jedem Sinne. „Es ist auch Fontanes Abschied von Preußen."
In seinem sehr beachtenswerten Roman „Die Prosna-Preußen" läßt
Lipinski-Gottersdorf 6) einen Kreis von Adeligen aus der Nordostecke
Oberschlesiens über den "Stechlin" diskutieren. Olga von Rewen, eine geborene
Russin, die das Rittergut ihres Mannes, eines aktiven Offiziers, bewirtschaftet,
will Fontane beweisen, daß der preußische Adel noch lebendiger sei als sein
liebenswerter, aber sterbensmüder alter Stechlin. Der Besitzer von Schmongrow
und Gastgeber von Morhaken stimmt ihr zwar zu, fordert allerdings eine
Umstellung der Wirtschaftsmethoden. „Spezialisierung", sagt von Morhaken,
„darauf kommt es an. Wir leben in einem Industriestaat und haben das noch nicht
gemerkt, aber auch wir werden uns darauf einrichten müssen. Das Alte ist vorbei,
auch in der Landwirtschaft." Morhaken beweist seinen Gästen, daß er selbst mit
der Umstellung Ernst gemacht hat. In den ehemaligen Fohlenkoppeln - die
Pferdezucht war ein kostspieliger Luxus, den die Herren vom Grundadel sich
schuldig zu sein glaubten - tummeln sich mehrere hundert Läuferschweine im
Schnee. Olga von Rewen ist aber nicht zu überzeugen. Sie meint, der Adel brauche
sich nicht zu ändern, er habe in Preußen immer für den Staat gelebt. Eine
Begründung, die die eben zitierten Worte von Theodor Fontane und Golo Mann
bestätigt. Dazu noch die freche Bemerkung des Oberschlesiers August Scholtis:
„Das Wohl des Staates scheint mir etwas, womit man rechts der Elbe gern seine
Molke wässert." Scholtis, der zeit seines Lebens an den Enttäuschungen litt, die
ihm das von ihm geliebte Preußen bereitete, schrieb als sein bestes Werk den
Roman „Ein Herr aus Bolatitz", den auch der eben genannte Golo Mann mit Recht
lobt. Der Herr von Bolatitz ist der Fürst Karl Max Lichnowsky, ein
oberschlesischer Magnat, der 1912-1914 als Botschafter in London um eine
deutsch-englische Verständigung bemüht war und der wegen der ohne sein Wissen
veröffentlichten Schrift „Meine Londoner Mission 1912-1914", die das Auswärtige
Amt in Berlin angriff, aus dem Preußischen Herrenhaus ausgestoßen wurde.
„Es muß wieder ein Krieg kommen!"
In den Ersten Weltkrieg sind die Völker Europas nach einem Wort des
englischen Staatsmannes Lloyd George hineingestolpert. Es schien fast so, daß
die Welt wieder reif für einen Krieg war - so unglaublich töricht sich das
ausnimmt. Als Junge hörte ich die Erwachsenen immer wieder sagen: Das kann nicht
mehr so weitergehen! Es muß wieder einmal ein Krieg kommen! Was nicht mehr
weitergehen konnte, sagten sie nicht, vielleicht das gute Leben, das sie
führten. Das Wort vom Stahlbad, das der Krieg sein sollte, ging um. Die
Hurrastimmung bei Kriegsausbruch, wenn sie bei uns in Ostpreußen überhaupt
aufkam, verschwand sehr bald vor der Angst vor der russischen Dampfwalze, die
uns zu überrollen drohte. So wurde der Sieger von Tannenberg, Hindenburg, gerade
bei uns sehr rasch eine populäre Gestalt.
Der Krieg ging verloren. Der Kaiser dankte ab und floh nach Holland, das ihm
Asyl gewährte und ihn auch nicht an die Siegermächte auslieferte, als diese es
forderten. Daß er noch König von Preußen bleiben könnte, war eine
Selbsttäuschung, wie sich nur zu bald herausstellte. Auch Kronprinz Wilhelm
entsagte allen Ansprüchen auf die preußische Krone und die Kaiserwürde. Ich
erinnere mich noch, daß in mir 13jährigem eine Welt zusammenbrach, als ich am 9.
November 1918 auf der Straße hörte, wie eine Frau zur anderen sagte: „Der Kaiser
hat abgedankt!" Fast zu gleicher Zeit traten die drei großen Dynastien des
europäischen Kontinents, die Romanows in Rußland, die Habsburger in
Österreich-Ungarn und in Deutschland die Hohenzollern, von der Weltbühne ab.
Haben die Deutschen, vor allem die Preußen, den Hohenzollern nachgetrauert?
Wilhelm II. war uns fremd geworden, weil er, wir sagten es schon, im Kriege kaum
noch hervorgetreten ist. Sahen wir sein Bild einmal in der Wochenschau oder in
einer Illustrierten, konnten wir kaum fassen, daß der über eine Karte gebückte
alte Mann mit dem grauen Spitzbart derselbe schneidige Kaiser war, der uns noch
vor gar nicht so langer Zeit in Glanz und Gloria gezeigt wurde. Was man vom
Kronprinzen erzählte, war auch nicht geeignet, ihm im deutschen Volk größere
Sympathien zu wecken, so aufgebauscht vieles auch sein mochte. Das
Hohenzollernerbe zu hüten sahen in der Weimarer Zeit die Deutschnationalen als
ihre besondere Mission an. Sie fühlten sich als die „echten" Preußen. Zum
Wirtschaftsimperium, das sich ihr Vorsitzender Hugenberg aufgebaut hatte,
gehörten der Scherl-Verlag mit dem natürlich ganz in seinem Sinne eingestellten
Massenblatt „Berliner Lokalanzeiger" sowie die größte deutsche Filmgesellschaft,
die „Ufa". Diese drehte mehr oder weniger kitschige Fridericus-Rex-Filme. Die
nationalistischen Gefühle, die sie erregten, kamen aber weniger den
Deutschnationalen als den Nationalsozialisten zugute. Zwar trat Hugenberg am 30.
Januar 1933 mit seinen Gesinnungsgenossen ä la Papen in das Hitler-Kabinett ein
in dem naiven Glauben, den zu wirklicher politischer Arbeit angeblich unfähigen
„Trommler" ans Gängelband nehmen zu können. Aber Hitler zeigte sehr bald, daß er
allein zu regieren und schon gar nicht die Macht mit den Deutschnationalen zu
teilen gewillt war. Schwer enttäuscht schied Hugenberg alsbald aus dem Kabinett
aus. Hitler hat ihm keine Träne nachgeweint. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit
getan.
Als ich neulich beim Arzt war, fragte er mich, wie weit ich mit meiner
Preußengeschichte gekommen sei, für die er sich sehr interessiert. Er sagte mir,
daß er soeben wieder „Die Hohenzollern" von Reinhold Schneider gelesen habe. Zu
Hause war mein erster Schritt an das Bücherregal, wo ich mir das schon reichlich
vergilbte Fischer-Bändchen herausholte. Welche werden fragen, wieso Reinhold
Schneider dazu kam, gerade den Hohenzollern ein literarisches Denkmal zu setzen,
wie man so redet. Übernehmen wir ruhig, was das Herder-Lexikon über ihn
vermerkt: „Schneider geht es um das Problem der Macht, die Erfahrung des
Tragischen in der Geschichte." Diese Erkenntnis hat Schneider an den drei großen
Hohenzollernherrschern, dem Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm I. und
Friedrich II., dargestellt. Mich bewegt am meisten die Gestalt Friedrich
Wilhelms I., den eine simple Geschichtsbeschreibung als den Soldatenkönig mit
den langen Kerls abgestempelt hat. Auf den großartigen Roman über ihn - „Der
Vater" - habe ich bereits hingewiesen. Der Verfasser Jochen Klepper ist auf
traurige Weise geendet. Ehe seine jüdische Frau und seine Tochter nach Auschwitz
verschleppt wurden, gingen alle drei in den Tod. Ein ähnliches Schicksal erlitt
der vor allem als evangelischer Kirchenkomponist bekannte Hugo Distler.
Übersensibel, wie er war, hatte er eine schreckliche Angst vor dem preußischen
Kommiß. Um ihn davor zu bewahren, machte ihn der Intendant der Berliner
Staatsoper, Tietjen, zum Leiter des Staatsund Domchores. Als er dann doch eines
Tages den Einberufungsbefehl erhielt, schied auch Distler aus dem Leben.
„Könige müssen mehr leiden als andere"
Es wundert mich gar nicht, warum Sebastian Haffner, wie ich schon einmal
sagte, mit Friedrich Wilhelm I. im Grunde wenig anzufangen weiß, auch wenn er
ihn zu den beiden großen preußischen Königen rechnet. „Könige müssen mehr leiden
können als andere Menschen", der Ausspruch Friedrich Wilhelms ist das Motto von
Kleppers „Vater"; „in tormentis", „unter Qualen", den Worten begegnen wir auch
bei Reinhold Schneider. Im übrigen entziehen sich die Bücher Schneiders und
Haffners jedem Vergleich. Schneider steigt in die Tiefen der menschlichen Seele
hinab. Haffner, der seinen Instinkt für historische Vorgänge schon an seinen mit
Recht gerühmten „Anmerkungen zu Hitler" bewiesen hat, liefert uns mitunter
glänzend zugespitzte Formulierungen, die einen manchmal sogar überrumpeln können
und darum ein wenig abgeklopft werden müssen. Das alles ist nicht abwertend
gemeint, zumal ich selbst, wie die Leser schon bemerkt haben, mich ihrer gern
bediene.
Der Erste Weltkrieg, wir sagten es schon, ging verloren. Das Bismarckreich aber
blieb bestehen, wenn auch durch härteste Friedensbedingungen belastet,
einschließlich der Gebietsabtretungen, die mit Ausnahme von Elsaß-Lothringen
sämtlich auf Kosten Preußens erfolgten. Die schmerzlichsten Verluste waren der
von Westpreußen, wodurch der sog. polnische Korridor zwischen Ostpreußen und dem
Reich geschaffen wurde, sowie der von Ostoberschlesien. Die Monarchie wurde
durch eine Republik ersetzt. Die Einsicht Churchills kam zu spät: „Eine weise
Politik hätte die Weimarer Demokratie gekrönt und gefestigt, indem ein
konstitutioneller Fürst in der Person eines minderjährigen Enkels unter einem
Regentschaftsrat eingesetzt worden wäre." Können wir uns Prinz Louis Ferdinand
als einen solchen Enkel vorstellen? Man sagt, daß Friedrich Ebert gar nicht so
begeistert war, daß Philipp Scheidemann im November 1918 die Republik ausrief.
Die Siegermächte, die sie von vornherein gefordert hatten, taten nichts, sie zu
stützen - im Gegenteil, durch die Bedingungen des Versailler Vertrags war ihr
Ende fast schon vorprogrammiert, ohne mit dieser Feststellung den Nihilisten
Hitler zu rechtfertigen. In einer Monarchie wäre auch die infame
„Dolchstoßlegende" nicht aufgekommen.
Brüning, „ein Preuße ohne Furcht und Tadel"
Ein deutscher Politiker, den in einer Besprechung seiner Memoiren in
„Hochland" (Mai/Juni 1971) Albert Mirgeler einen Preußen ohne Furcht und Tadel
und einen katholischen Preußen nennt, Heinrich Brüning, erklärt in diesen
Memoiren wörtlich: „Stets betrachtete ich mich als Treuhänder des
Reichspräsidenten (Hindenburg). Ihn wollte ich als Staatsoberhaupt erhalten mit
dem Ziel, die friedliche Wiedereinführung der Monarchie vor seinem Ableben zu
ermöglichen." Wir wissen, daß Brüning schon durch seinen Sturz nicht mehr dazu
kam, sein Ziel zu verwirklichen - wenn es überhaupt nicht nur ein Wunschtraum
war. Ob die Arbeiterschaft eine Monarchie der NS-Herrschaft vorgezogen hätte,
wie Brüning meinte? Niemals, sagt immerhin der Monarchist Schoeps, wäre ein
totaler Terrorstaat möglich gewesen, wenn die legitime oberste Staatsspitze
erhalten geblieben wäre, im schlimmsten Fall ein Führer und Reichskanzler des
Mussolinistils 7).
Hindenburg verpflichtete sich den Junkern
Der ostelbische, zum großen Teil adlige Großgrundbesitz erwies sich auch nach
dem Ersten Weltkrieg trotz aller staatlichen Hilfe vielfach als nicht mehr
lebensfähig. Als Brüning daran dachte, die am meisten unrentablen Güter
aufzusiedeln, wurde er von den Junkern beim Reichspräsidenten als
Agrarbolschewist verleumdet. Die Herren hatten es geschickt angestellt: Auf
Veranlassung v. Oldenburgs war dem bisher besitzlosen Hindenburg mit Mitteln aus
Industriekreisen zum 80. Geburtstag das Rittergut Neudeck in Westpreußen
geschenkt worden. So hatten die Großagrarier Hindenburg zu einem der Ihrigen
gemacht, und so fanden sie mit ihrer Anklage gegen Brüning bei ihm ein geneigtes
Ohr. Schlauerweise ließen die Spender von Neudeck das Gut auch gleich für den
Fall des Todes des alten Reichspräsidenten auf seinen Sohn Oskar überschreiben.
Dieser revanchierte sich bei ihnen dadurch, daß er in der Folgezeit bei den
verhängnisvollen Vorgängen, die schließlich zur Machtergreifung Hitlers führten,
eine besonders schlimme Rolle spielte.
Die Beschwerde der Junker gab den letzten Anstoß zu Brünings Entlassung, nachdem
dieser mit dem ganzen Einsatz seiner Persönlichkeit Hindenburg zur Wiederwahl
verholfen hatte. In Bert Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui", der
natürlich Hitler ist, trat in der Aufführung des Ost-Berliner Brechttheaters eine
Gestalt auf, die schon in der Maske Hindenburg täuschend ähnlich sah. Neudeck
wird in dem Stück durch ein Haus am See vertreten. Zu spät erkennt der
Hindenburg Brechts, was er angerichtet hat, als er - jetzt gebrauche ich das von
mir an sich verpönte Wort selbst - den Faschisten an die Regierung
geholfen hat. Von Gewissensbissen geplagt, sagt er immer wieder: „Das Haus am
See, das hätte ich nicht nehmen dürfen!" Ich gestehe, daß ich einigermaßen
verwirrt war, als ich das Theater am Schiffbauerdamm verließ, um vom Bahnhof
Friedrichstraße in mein Quartier in West-Berlin zu fahren. So sympathisch wie
der Hindenburg Brechts ist mir der wirkliche Reichspräsident Hindenburg nie
gewesen, der als 85jähriger schließlich dem Drängen der Papen, Hugenberg und
seines Sohnes nachgab und Hitler, den er zunächst als „böhmischen Gefreiten"
hartnäckig abgelehnt hatte, zur Macht kommen ließ.
Der Brüderstreit um den Brüningplan
Ich denke noch daran, wie wir an einem späten Augustabend, es muß im Jahr
1931 gewesen sein, mit dem Fuhrwerk vom Rochusfest in Neukirchhöhe nach
Heinrichsdorf gefahren sind. Die Baumwipfel auf beiden Seiten des schmalen
Landweges berührten einander fast, so daß wir nur einen schmalen Ausschnitt des
Sternenhimmels zu sehen bekamen. Meine Aufmerksamkeit galt zunächst den
zahllosen Glühwürmchen, die im Gebüsch flimmerten. Auch dachte ich daran, daß
wir irgendwo zwischen Birkau und Dittersdorf nicht nur über die Kreisgrenze von
Elbing und Braunsberg fuhren, sondern auch über die Grenze zwischen der alten
Provinz Westpreußen und Ostpreußen. Dann aber mußte ich ein Streitgespräch
anhören, das zwischen meinem Vater und seinem ältesten Bruder, Josef, Besitzer
in Heinrichsdorf, in Gang gekommen war. (Bauern gab es bei uns nur im
Ermländischen Bauernverein und in der NS-Zeit.) Worum ging es? Mein Vater,
Lehrer in Braunsberg, meinte, es müsse möglich sein, wie es sich Brüning dachte,
Arbeitslose aus dem Ruhrgebiet, die selbst oder deren Väter und Vorfahren aus
dem Osten ins Revier abgewandert waren, zur Besiedlung der aufgelassenen Güter
in ihrer angestammten Heimat zu bewegen. Onkel Josef widersprach ihm heftig. Er
meinte, daß die Menschen, die vom Land in die Stadt gezogen seien, für die
Landarbeit verloren seien, auch wenn sie m der Stadt in kümmerlichsten
Verhältnissen leben müßten. Vor allem bezweifelte Onkel Josef, daß die
Rücksiedler in der Lage sein würden, eine Wirtschaft zu führen, wenn sie vorher
eine solche nicht besessen hätten. Der Streit der Brüder endete unentschieden:
Brünings Entlassung ließ seine Absicht erst gar nicht zu den ersten Planungen
kommen.
Der Triumph, den die Junker feierten, als Brüning gestürzt war, ist längst einem
Katzenjammer gewichen. Sie haben erleben müssen, daß statt des angeblichen
Agrarbolschewisten ihr Land jetzt unter der Herrschaft der wirklichen
Bolschewisten und ihrer Satelliten geraten ist und sie ihre Rittergüter, die sie
den geänderten Verhältnissen anzupassen oder, wenn sie sie nicht mehr halten
konnten, aufzugeben sich mit Händen und Füßen sträubten, verloren haben. Da
nutzt es auch nichts mehr, wenn Schoeps darauf hinweist, daß Churchill und mit
ihm andere Staatsmänner erst viel später erkannt hätten, daß als die schlimmste
Folge des Zweiten Weltkrieges mit der Zerschlagung Preußens und der Verdrängung
aus seinen östlichen Grenzpositionen ein Platz auf der Landkarte leer geworden
sei. Was natürlich aus der westlichen Sicht zu verstehen ist. Hatte Adenauer
nicht ähnliches gemeint, als er es als den größten Fehler der englischen Politik
bezeichnete, Preußen die „Wacht am Rhein" aufgedrängt zu haben, statt daß es,
wie wir aus Adenauers Feststellung folgern dürfen, die „Wacht im Osten" als
historische Aufgabe hatte? Wir werden uns dieser Frage erinnern, wenn wir den
letzten Satz dieses Ganges durch die preußische Geschichte lesen.
Bismarcks „Reichsfeinde" regieren Preußen
Kehren wir zu den Vorgängen nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Preußen war
zunächst bereit, in einem Deutschen Reich aufzugehen. Als aber die süddeutschen
Staaten einen solchen Einheitsstaat ablehnten, zeigte sich auch Preußen bockig
und war nicht willens, sich in mehrere Bundesstaaten aufzulösen, wie es z. B.
Adenauer mit dem Rheinland beabsichtigte. Adenauer war gewiß kein Separatist,
wie Böswillige ihm nachsagen, d. h., er strebte keine Loslösung des Rheinlandes
von Deutschland an, sondern er wollte es zu einem eigenen Bundesstaat machen,
wie es Bayern, Württemberg usw. auch waren. Die Preußen aber wollten, nachdem es
mit dem Einheitsstaat nichts wurde, sich nicht in Rheinländer, Westfalen,
Niedersachsen und Ostelbier ausdividieren lassen, wie es Haffner ausdrückt. So
hätten Sozialdemokraten, Zentrumsleute und Liberale „halb trotzig, halb
widerwillig das Erbe der preußischen Könige angetreten", und sie haben es, wenn
man die Umstände bedenkt, nicht schlecht verwaltet. Übrigens behielten in der
Weimarer Republik nur das Zentrum und die SPD ihre Namen bei, die Fortschrittler
nannten sich Deutsche Demokratische Partei (zuletzt Staatspartei), die
Nationalliberalen Deutsche Volkspartei, die Konservativen Deutschnationale
Volkspartei.
Nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine fast hektisch zu nennende politische
Aktivität in der Bevölkerung ein. Unsere Eltern gingen immer wieder zu
politischen Versammlungen, vor allem natürlich zu denen des Zentrums. In diesen
wurde besonders gegen die gottlose Sozialdemokratie gewettert. So wirkte es auf
viele brave Zentrumsleute wie ein Schock, als nach den Wahlen das Zentrum eine
Koalition mit den Sozialdemokraten einging. Diesem Bündnis in den oberen
Regionen entsprach keinesfalls das Verhältnis „an der Basis", wie man heute
sagt. Wenn ein Freund neulich meinte, man müsse schon für die damalige Zeit
zwischen Sozialdemokraten und Sozialisten unterscheiden, so kann ich ihm nicht
zustimmen. Bestätigt werde ich in meiner Meinung durch die Erinnerungen des
früheren ostpreußischen Ministerpräsidenten Otto Braun, eines SPD-Mannes aus
Königsberg („Von Weimar zu Hitler", New York 1940), der die Begriffe
sozialdemokratisch und sozialistisch als gleichwertig nebeneinander gebraucht.
Sooft der großmächtige Erzpriester von Braunsberg Aloys Schulz von der Kanzel
gegen den Sozialismus donnerte, zu dem sich das Christentum wie Feuer und Wasser
verhalte, meinte er gewiß die Sozialdemokratie, die direkt beim Namen zu nennen
ihn möglicherweise der immer noch gültige Kanzelparagraph hinderte (er wurde
erst 1953 aufgehoben). Und ins Katholische Vereinshaus in Braunsberg kamen die
Sozialdemokraten auch nach 1918 mit ihren Versammlungen nicht hinein, wohl aber
die Deutschnationalen; obwohl diese in Preußen ständig und im Reich meistens in
Opposition zum politischen Katholizismus in Gestalt der Zentrumspartei standen.
Sie waren eben eine bürgerliche Partei.
Dr. Candidus Barzel wurde niedergeschrien
Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Versammlung des Deutschnationalen
Katholikenausschusses 1924 im Katholischen Vereinshaus, schon weil bei dieser
mehrere unserer alten Lehrer in Erscheinung traten: Studienrat Ernst Krause auf
deutschnationaler Seite, die Studienräte Franz Buchholz, Dr. Ernst Hohmann und
Dr. Candidus Barzel auf der des Zentrums. Es ging bei dieser Versammlung für
unsere Verhältnisse recht turbulent zu. Als Redner hatte man aus Köln Professor
Martin Spahn geholt. Er war in Marienburg geboren worden, weil sein Vater, Peter
Spahn, zu der Zeit dort Amtsrichter war. Als solcher hatte er von 1884 bis 1890
den Wahlkreis Braunsberg-Heilsberg als Zentrumsabgeordneter im Reichstag
vertreten. Er wäre gern in Altpreußen geblieben, aber seine Frau zog es zurück
in den Westen, und so mußte er mitziehen. Seit 1869 im Justizdienst stehend,
wurde der bedeutende Jurist Peter Spahn 1898 Reichsgerichtsrat in Leipzig und
1905 Oberlandesgerichtspräsident in Kiel. Was damals großes Aufsehen erregte,
war Schleswig-Holstein doch fast ausschließlich evangelisch. Die preußische
Regierung, die sich die ständigen berechtigten Klagen über die Zurücksetzung der
Katholiken besonders in den höheren Ämtern anhören mußte, wollte jetzt wohl
zeigen, daß es auch andersrum ging. Peter Spahn machte ihr das insofern
leichter, als er auf dem bürgerlich-konservativen Flügel des Zentrums stand.
1917 bis 1918 war er, der von 1891 bis 1896 entscheidend an den Arbeiten für das
Bürgerliche Gesetzbuch beteiligt war, sogar königlich-preußischer
Justizminister, nachdem er von 1912 bis 1917 Fraktionsvorsitzender der
Zentrumspartei im Reichstag gewesen war.
Sein Sohn Martin wurde mit 26 Jahren vom Kaiser zum Professor der Geschichte in
Straßburg ernannt, nach dem Verlust des Elsasses wirkte er in Köln. Nachdem er
noch von 1910 bis 1912 im Reichstag das Zentrum vertreten hatte, trat er nach
dem Krieg zu den Deutschnationalen über und schloß sich nach 1933 der NSDAP an.
Seine Angriffe in der genannten Versammlung richteten sich natürlich vor allem
gegen das Zentrum. Als in der Diskussion Dr. Candidus Barzel, der Vater Rainer
Barzels, die Frage stellte, ob es besonders geschmackvoll sei, wenn der Redner
gegen das Zentrum in dem Wahlkreis agiere, der seinen Vater als Abgeordneten
dieser Partei in den Reichstag geschickt habe, wurde er niedergeschrien und
mußte das Rednerpult verlassen. Vorsitzender des Deutschnationalen
Katholikenausschusses im ganzen Reich war der Vorgänger Konrad Adenauers als
Oberbürgermeister von Köln, Max Wallraf, der 1917 Staatssekretär im Reichsamt
des Inneren wurde. Adenauer selbst war übrigens der Sohn eines aktiven
preußischen Unteroffiziers, der nach der Schlacht bei Königgrätz wegen
besonderer Tapferkeit vor dem Feind zum Leutnant befördert wurde, was eine ganz
große Ausnahme war. Nach seiner Verabschiedung aus dem Militärdienst brachte
Adenauers Vater es im Justizdienst zum obersten Verwaltungsbeamten des Kölner
Appellationsgerichts. Jetzt sage ich eine kleine Ketzerei: Ich habe in der
straffen Haltung Konrad Adenauers, der alles andere als ein Preußenfreund sein
wollte, und an so manchem in seiner Art oft ein väterliches Erbteil
festzustellen gemeint. Eine hübsche Bemerkung aus den Erinnerungen des früheren
Kölner Generalintendanten Oskar Fritz Schuh sei bei dieser Gelegenheit noch ganz
nebenbei zitiert. Schuh kommt natürlich auch auf den Kölner Karneval zu
sprechen, und dazu entfährt ihm der Satz: „In der Prinzengarde steckt
Preußengeist." Da komme noch einer und sage, die Rheinländer und speziell die
Kölner wollten nichts von den Preußen wissen!
„Braun und Severing waren Männer!"
Ob die ehemaligen „Reichsfeinde" gern oder ungern die Aufgabe übernahmen, die
preußische Regierung zu stellen - man muß es ihnen lassen, sie haben, wie schon
gesagt, Preußen bis zum bitteren Ende von 1932 gar nicht schlecht regiert.
Ministerpräsident war die meiste Zeit Otto Braun, ein geborener Königsberger,
von Beruf Buch- und Steindrucker, Innenminister viele Jahre der Westfale Karl
Severing. Braun wurde der rote Zar von Preußen genannt. Jedenfalls war Preußen
gegenüber dem Reich, wo die Regierungen ständig wechselten, gewissermaßen der
ruhende Pol. „Der Braun und der Severing, das waren Männer!" pflegte mit
blitzenden Augen Franz Pingel, Propst von Marienburg und langjähriger
Abgeordneter des Zentrums im Preußischen Landtag, zu sagen, wenn wir ihn in
seiner letzten Zuflucht auf Erden, im Pfarrhaus von St. Karl Borromäus in Köln,
besuchten. Wegen seines Eintretens für die Koalition mit den Sozialdemokraten
hieß Pingel der „rote Propst". Der erste preußische Ministerpräsident nach dem
Krieg, der Sozialdemokrat Paul Hirsch, hatte noch am 29. März 1919 gesagt: „Aus
dem alten Preußen wollen wir in die Zukunft das hinübernehmen, was gut an ihm
war: den schlichten Geist echter Pflichterfüllung und den Geist nüchterner
Sachlichkeit. Durch eine schwere Zeit muß unser Land hindurch. Das neue Preußen
wird sich genau wie das alte großhungern müssen." Und am 5. September 1922
erließ der Innenminister Severing eine Verfügung zur Bekämpfung des Schlemmens
in Gasthäusern, Dielen, Bars usw. Sie mutet uns heute angesichts der wilden
„goldenen 20er" garadezu rührend an.
Der Ermländer siegte über den Parteimann
Daß in der Personalpolitik durch die Koalition zwischen Zentrum und
Sozialdemokraten die Katholiken stärker berücksichtigt wurden, deuteten wir
schon an. 1929 kam das Konkordat zwischen Preußen und dem Heiligen Stuhl
zustande, der in Berlin durch den Nuntius Eugenio Pacelli, den späteren Papst
Pius XII., vertreten wurde. Im kirchentreuen Ermland wurde das Konkordat
freilich nicht mit ganz ungeteiltem Beifall aufgenommen. So mußte das Domkapitel
zwei Stellen an das neugegründete Bistum Berlin abgeben. Vor allem verlor die
ermländische Diözese ihre seit 400 Jahren bestehende Exemtion, d. h. ihre
unmittelbare Unterstellung unter den Heiligen Stuhl. Sie wurde der
neugegründeten Kirchenprovinz Breslau zugeteilt. In einem Artikel in der
Ermländischen Zeitung beklagte sich Otto Miller, wenn ich mich nicht sehr irre,
besonders auch darüber, daß man Bischof Augustinus Bludau über die das Ermland
betreffenden Maßnahmen bei der Vorbereitung des Konkordats im unklaren gelassen
habe. Die Nuntiatur antwortete auf Millers Beschwerde mit einer geharnischten
Gegenerklärung in der Berliner katholischen Zeitung „Germania", die Otto Miller
mit der ihm eigenen Gelassenheit hingenommen hat.
Bei der Abstimmung über das Konkordat im Preußischen Landtag stimmten die
Deutschnationalen dagegen - mit einer Ausnahme: Der Bauer Goldau aus Schönwiese
bei Guttstadt entschied sich für das Konkordat. Der Ermländer in ihm war stärker
als der Parteimann. Goldau wurde aus der Deutschnationalen Volkspartei
ausgeschlossen und legte sein Landtagsmandat nieder. In der Weimarer Zeit kam es
allen Bemühungen Pacellis zum Trotz zu keinem Reichskonkordat, erst unter Hitler
. . .
Auf kulturpolitischem Gebiet ist die Berufung des Königsbergers Leopold Jessner,
der bis dahin Intendant des Neuen Schauspielhauses in seiner Vaterstadt war, zum
Intendanten des Staatlichen Schauspielhauses am Berliner Gendarmenmarkt zu
erwähnen. Nach dem Urteil des Dichters Carl Zuckmayer machte Jessner aus dem
verstaubten Hoftheater in einem einzigen Jahr die bedeutendste Bühne im
deutschen Sprachbereich. Der Berliner Universitätsprofessor Dr. Carl Heinrich
Becker ersetzte als Kultusminister die Lehrerseminare durch die pädagogischen
Akademien.
Papens Staatsstreich von 1932
Das Ende des preußischen „Musterstaates" war freilich alles andere als
ruhmvoll. Immer mehr erwies sich das Nebeneinander der Reichsregierung und der
Regierung von Preußen, das weit größer war als alle übrigen Bundesländer
zusammen, als wenig glücklich. In der kaiserlichen Zeit waren beide durch die
Personalunion zwischen dem Reichskanzler und dem preußischen Ministerpräsidenten
verzahnt. So regte Otto Braun im August 1931 eine ähnliche Zusammenfassung der
beiden Regierungen an, wobei er dem Reichskanzler Brüning den Vortritt lassen
wollte. Aber es wurde nichts daraus. Braun blieb nur deshalb im Amt, weil sich
auch in Preußen durch das Anwachsen der radikalen Flügelparteien eine Regierung
mit parlamentarischer Mehrheit als unmöglich erwies. Am 4. Juni 1932 ging Braun
erschöpft und kränkelnd mit der Absicht, nicht mehr in sein Amt zurückzukehren,
in Urlaub, zunächst in sein Dreizimmerhäuschen in Zehlendorf. Sein
Stellvertreter war der Wohlfahrtsminister Hirtsiefer vom Zentrum. Der
Innenminister Severing erwies sich ohne die Rückendeckung Brauns als weitgehend
hilflos. Jedenfalls zeigten sich die von unserem lieben Propst Pingel als Männer
gerühmten Braun und Severing im entscheidenden Augenblick eigentlich wenig
mannhaft. So konnte der Reichskanzler von Papen, der inzwischen Brüning abgelöst
hatte, am 20. Juli 1932 sich vom Reichspräsidenten von Hindenburg als
Reichskommissar für das Land Preußen bestellen lassen und als solcher Braun und
Severing ihrer Ämter entheben. Der ganze Vorgang ist als "Papenschlag" oder
„Preußenschlag" in die Geschichte eingegangen. Wie sollte die preußische
Regierung darauf reagieren? Der Ministerialdirektor im preußischen
Innenministerium Klausener hat später über den 20. Juli 1932 gesagt, die
Entscheidung wäre anders ausgefallen, wenn Preußen die gesamte Polizei in die
höchste Alarmstufe versetzt hätte und Severing zwei schwerbewaffnete
Hundertschaften der Polizei hätte aufmarschieren lassen und in Begleitung
mehrerer Polizeioffziere sich zur Kabinettssitzung, in der der „Preußenschlag"
verkündet wurde, begeben hätte mit der Frage: „Was wollen Sie, Herr von Papen?"
Diese Äußerung klingt sehr kühn, aber angesichts der schon unsicheren
Einstellung der Polizei, besonders ihrer Offiziere, und vor allem der Haltung
der Reichswehr auch recht problematisch. Schon am 12. Juli hatte die
Reichsregierung beschlossen, daß für den Fall, daß Widerstand zu erwarten sei,
über Berlin und Umgebung der militärische Ausnahmezustand zu verhängen sei.
Tatsächlich wurde der Beschluß am 20. Juli in Kraft gesetzt, als Severing doch
erklärte, er werde nur „der Gewalt weichen". Die spätere Rechtfertigung Brauns
und Severings, sie hätten durch ihr Verhalten den Bürgerkrieg vermeiden wollen,
wird man nicht so ohne weiteres vom Tisch wischen können, sosehr man ihnen einen
besseren Abgang gegönnt hätte. Die Dienstgeschäfte des Ministerpräsidenten
übernahm von Papen selbst, die Leitung des preußischen Innenministeriums
übertrug er dem Essener Oberbürgermeister Bracht. Dieser wurde der
Zwickel-Bracht genannt, weil er verfügte, daß die Badehosen mit einem Zwickel
versehen sein müßten. Hagen Schulze nennt in seiner Biographie Otto Brauns, die
für die Geschichte der Weimarer Zeit überhaupt wertvoll ist, das Vorgehen von
Papens einen Staatsstreich.
Konrad Adenauer machte nicht mit
Otto Braun, der sich inzwischen wieder eingeschaltet hatte, ging vor den
Staatsgerichtshof. Von den süddeutschen Staaten, die ohnehin nicht bereit waren,
mit einer zu scharfen Reaktion den Bruch mit von Papen zu riskieren, schloß sich
Bayern zwar der Klage Brauns an, vergaß aber nicht zu betonen, daß sich Preußen
in der Vergangenheit immer als schärfster Gegner Bayerns erwiesen habe. Das
Ergebnis der Klage Brauns: „Brecht hat das Recht, Bracht hat die Macht!" So hieß
es im Volk nach dem Urteil. Brecht war der Prozeßbevollmächtigte Brauns, Konrad
Adenauer, Präsident des Staatsrats, der Vertretung der preußischen Provinzen,
bemühte sich vergeblich um einen Vergleich. Später, schon nach der Ernennung
Hitlers zum Reichskanzler, erhob das preußische Staatsministerium eine Klage
gegen die Notverordnung, die die Auflösung des Preußischen Landtags zum Ziel
hatte. Bemerkenswerterweise wollte Adenauer in dieser Klage nicht mit aufgeführt
werden, weil „das Ministerium Braun sich in seiner ganzen Amtszeit gegenüber dem
Staatsrat doch so unfreundlich benommen hat, daß ich es nicht für angemessen
halte, als Präsident des Staatsrats ihm besondere Hilfestellung zu leiten". Was
Adenauer auch nicht vor seiner Entlassung als Oberbürgermeister von Köln durch
Göring rettete. Am 25. März 1933 teilte der Amtliche Preußische Pressedienst den
endgültigen Amtsverzicht der preußischen Minister der Öffentlichkeit mit, wo die
Meldung „auf mildes Erstaunen stieß, daß es das Kabinett Braun bis jetzt noch
gegeben habe".
Am 11. April 1933 wurde Hermann Göring zum Preußischen Ministerpräsidenten und
Innenminister ernannt. Er gab den Anstoß zur Gründung der Geheimen
Staatspolizei, Gestapo genannt, deren Leitung er später an Himmler und Heydrich
abtrat. Wahrscheinlich im Verein mit diesen Komplizen stellte er eine Liste für
den Fall auf, daß, wenn Hitler gegen die SA#Führer vorgehe, gleichzeitig in
Berlin unter den Parteigegnern aufgeräumt werden sollte. Was denn auch geschehen
ist.
Göring ließ Erich Klausener ermorden
Am 30. Juni 1934 und in den folgenden Tagen wurden gelegentlich des
sogenannten Röhmputsches in Berlin u. a. die beiden Generale von Schleicher und
von Bredow ermordet sowie die engsten Mitarbeiter von Papens, von Bose und Edgar
Jung, der für seinen Herrn eine bemerkenswert mutige Rede über die Mißstände des
NS-Regimes ausgearbeitet hatte, die von Papen dann vor den Marburger Studenten
hielt. Ein Opfer des Berliner Massakers wurde auch der schon genannte
Ministerialdirektor Erich Klausener, der in seinem Amtszimmer im Berliner
Ministerium ermordet wurde. Klausener hatte sich als sehr rühriger Vorsitzender
der Katholischen Aktion bei der Partei höchst unbeliebt gemacht. Noch am 24.
Juni 1934 hatte er in der Rennbahn von Berlin-Hoppegarten 60 000 Gläubige zum
42. Berliner Katholikentag versammelt und bewegende Schlußworte an sie
gerichtet. Da man die Reaktion nicht nur unter den Berliner Katholiken
fürchtete, gab man vor, daß Klausener Selbstmord begangen habe. Dem
stellvertretenden US-Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen, R. M. W.
Kempner, der bis 1933 unter Klausener als Oberregierungsrat im Preußischen
Innenministerium tätig gewesen war, hat Göring nach einigen Ausflüchten
gestanden, daß er persönlich für die Ermordung Klauseners verantwortlich gewesen
sei.
In der Folgezeit hatte Göring als Preußischer Ministerpräsident und Minister des
Innern sowie als Reichsstatthalter von Preußen wenig mehr zu bedeuten. Der
„Reichsmarschall", zweiter Mann an der Seite Hitlers, bis ihn Ende des Krieges
Bormann verdrängte, war aber ein Meister der Korruption und führte auf Schloß
Karinhall ein verschwenderisches Leben. Die eigentliche Macht lag bei den
Gauleitern, deren Gaue sich im Osten in den meisten Fällen mit den
Provinzgrenzen deckten, so daß die Gauleiter zugleich Oberpräsidenten waren. Als
solche unterstanden sie wohl Göring, aber wer sprach schon in Ostpreußen vom
Oberpräsidenten Koch? Die Rede war nur vom Gauleiter, der im übrigen aus
Wuppertal stammte und sich mit Hilfe der Erich-Koch-Stiftung schamlos
bereicherte. Hitler, der seinen Gauleitern eine fast sentimentale Zuneigung
bewahrte, nannte sie „Gau-Könige", „die nur die ganz großen Weisungen von oben
erhalten", und zwar durch Bormann. Allerdings sollte ihr Amt nicht erheblich
werden!
Maximilian Kaller Erzbischof von Köln?
Ein Mitspracherecht stand Göring in seiner Eigenschaft als preußischer
Ministerpräsident in kirchenpolitischen Fragen zu. So berichtet Ulrich von Hehl
in seinem Buch „Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln 1933
bis 1945" (Mainz 1977), daß nach der Wahl von Joseph Frings durch das Domkapitel
am B. März 1942 das Regierungspräsidium, das Reichsicherheitshauptamt (seine
wichtigste Untergliederung war die Gestapo), das Reichskirchenministerium sowie
der Ministerpräsident mit der Anfrage befaßt wurden, ob staatlicherseits gegen
den Erwählten Bedenken erhoben würden. Solche äußerte allein Göring, die sich
aber weniger gegen die Person von Frings richteten als gegen die angeblichen
staatsfeindlichen Umtriebe in dem von ihm als Regens geleiteten Bensberger
Priesterseminar. Am 17. April erging dann doch das staatliche Einverständnis mit
der Wahl von Frings an das Domkapitel. Frings soll der achte Kandidat für den
durch den Tod von Kardinal Schulte verwaisten Kölner Erzbischofsstuhl gewesen
sein. Die sieben von Frings diskutierten Kandidaten scheiterten entweder an dem
Einspruch des Staates bzw. der NSDAP oder der Kirche. Offiziell wurden die Namen
der Kandidaten nicht bekanntgegeben, aber sie sickerten durch verschiedene
Kanäle durch, von denen einer die Gestapo war. Als erste Kandidaten glaubte man
den Bischof von Berlin, Graf von Preysing, und den Bischof von Ermland,
Maximilian Kaller, nennen zu können. Daß beide den Nationalsozialisten am
wenigsten genehm waren, läßt auch aus einer von seinem Mitarbeiter Walter Adolph
am 4. Februar 1938 aufgezeichneten Bemerkung von Preysings erkennen: „Klar sähen
nur noch Kaller und er." Dennoch scheint von Preysing mit seiner Versetzung nach
Köln gerechnet zu haben. Und Maximilian Kaller? Bischof Wienken, der Kontakte zu
Regierungs- und Parteistellen besaß, hatte schon 1937 oder Anfang 1938 auf dem
Geheimen Staatspolizeiamt erfahren, daß Kaller noch vor Graf Galen der
bestgehaßte Bischof sei.
„Königlich-Preußischer Generalmusikdirektor"
Zuständig war Göring als preußischer Ministerpräsident noch für die
Preußischen Staatstheater, die er dem Zugriff des eigentlichen Theaterministers,
seines Intimfeindes Goebbels, entzog wir dürfen sagen, nicht zu ihrem Schaden.
Göring führte sich auf wie ein Pascha, und als solcher brauchte er zu seiner
Selbstdarstellung „das beste Theater der Welt". Den Generalintendanten Heinz
Tietjen, einen hervorragenden Theatermann, der vor allem für die Staatsoper
zuständig war, ließ er in seinem Amt. In den folgenden Jahren soll Goebbels
elfmal vergeblich versucht haben, Tietjen zu stürzen. Das Staatliche
Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt war nach der Machtergreifung durch die
Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zunächst zwei alten Parteigenossen
ausgeliefert worden. Als diese beiden nicht das Theater machten, wie er es sich
vorstellte, jagte Göring sie zum Tempel hinaus. Auf den Rat von Tietjen berief
er zum allgemeinen Erstaunen einen Mann, der nun wirklich alles andere als ein
typischer Nationalsozialist war: den 34jährigen Gustaf Gründgens. Dieser folgte
in seiner Tätigkeit als Intendant des Schauspielhauses den Spuren des in
Königsberg geborenen Leopold Jessner und übernahm von diesem auch das großartige
Ensemble mit dem genialen Regisseur Jürgen Fehling. Goebbels schäumte vor Wut.
Gründgens war davon überzeugt, daß dieser ihn sofort ins KZ steckte, wenn er nur
an ihn herankam. Aber Göring hielt seine schützende Hand über ihn. Mit Hilfe von
Görings Frau, der früheren Schauspielerin Emmy Sonnemann, und der bei Göring gut
angeschriebenen Schauspielerin Käthe Dorsch gelang es Gründgens, eine Anzahl von
Schauspielern, die jüdische Frauen hatten, am Staatstheater zu halten, ohne daß
sie sich von ihren Frauen trennen mußten. Man hat Gründgens vorgeworfen, er habe
durch sein künstlerisches Genie nicht nur seinem eigenen Ruhm, sondern auch dem
des Nationalsozialismus genutzt. Sein ehemaliger Schwager Klaus Mann tut dies z.
B. in seinem Schlüsselroman „Mephisto", der als Theaterstück auch auf unseren
Bühnen aufgetaucht ist. Wir Theaterfreunde, die wir in den „tausend Jahren"
nicht emigrieren konnten, waren glücklich, daß Gründgens bei uns geblieben war.
Wenn ich in den herrlichen Schinkelbau am Gendarmenmarkt ging, hatte ich das
Gefühl, ich beträte eine Oase der geistigen Freiheit. Heute gehe ich nur noch
mit einem Gefühl der Angst in ein Theater, weil ich befürchten muß, daß mir
entweder ein Klassikermord oder ein Tendenzstück oder auch beides zusammen
zugemutet wird.
An der Berliner Staatsoper dirigierte bis 1937 der Volljude Leo Blech. Als er
nach dem Krieg über Riga und Stockholm nach Berlin zurückgekehrt war, stand in
der Todesanzeige unter seinem Namen: „Königlich-Preußischer
Generalmusikdirektor."
Träger alter preußischer Namen
Die Feststellung, daß die Generale gern aus Hitlers Hand den Marschallstab
entgegennahmen (vgl. oben, Seite 53), ist dahingehend zu ergänzen, daß einer von
ihnen, Erwin von Witzleben, der von den Widerstandskämpfern als Oberbefehlshaber
der Wehrmacht vorgesehen war, nach dem mißglückten Attentat auf Hitler am 20.
Juli 1944 vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde. Die
Feldmarschälle Erwin Rommel und Günther von Kluge verübten Selbstmord, um dem
Bluthund Freisler zu entgehen. Bemerkenswert gerade im Hinblick auf die soeben
getroffene Feststellung ist die Äußerung über von Kluge (Publikation „20. Juli
1944" der Bundeszentrale für Heimatdienst Bonn): „Er lehnte Hitler ab, fühlte
sich aber doch immer wieder an ihn gebunden - vielleicht sprach das
verpflichtende Gefühl mit, das ihm aus der Annahme besonderer Ehrungen aus der
Hand Hitlers erwuchs." Solche Gründe werden andere für Hitlers Gegner gehaltene
Feldmarschälle bewogen haben, sich nicht am aktiven Widerstand gegen den
„Führer" zu beteiligen. Wenn dem so ist, wäre es ein Beweis für Hitlers
gerissene Taktik im Umgang mit Menschen, die er brauchte. Unter den
Widerstandskämpfern, die nach dem 20. Juli 1944 gleichfalls vom Volksgerichtshof
zum Tod verurteilt und hingerichtet wurden, finden sich Träger alter preußischer
Namen wie Dohna, Lehndorff, Kleist, Schulenburg, Moltke, Schwerin, York von
Wartenburg. Doch ging es ihnen nicht mehr um Preußen, sondern, wie der Bayer
Graf von Stauffenberg - man sagt, er sei ein Nachkomme Gneisenaus gewesen - kurz
bevor ihn wegen seines Anschlages auf Hitler die tödliche Salve traf, ausrief,
um das „heilige Deutschland". Eines dürfen wir nicht vergessen: Wäre das
Attentat geglückt, wäre unweigerlich eine zweite Dolchstoßlegende aufgekommen.
Denken wir nur an das viele Geschwätz von den Wunderwaffen, die der Führer noch
als letzte Reserve besitze und die er im Fall eines gelungenen Attentats nicht
mehr habe einsetzen können. Er hat sie auch so nicht eingesetzt - weil er sie
nicht hatte.
War nach dem Ersten Weltkrieg das Deutsche Reich und mit ihm Preußen am Leben
gelassen worden, so gibt es heute kein Deutsches Reich und kein Preußen mehr.
Letzteres war, wie wir sahen, in der NS-Zeit ohnehin fast schon zur Attrappe
geworden, nachdem Hitler noch einmal durch die makabre Beschwörung des Geistes
von Potsdam mit dem Komödienspiel in der Garnisonskirche den alten
Reichspräsidenten von Hindenburg, der von ihm die Wiederherstellung der
Monarchie erwartete, eingelullt hatte. Wieder ist die Elbe zur Scheidelinie
geworden, wie nach dem Frieden von Tilsit 1807. Blieb damals das alte preußische
Gebiet östlich der Elbe dem Königreich erhalten, so ist gerade dieses jetzt für
die freie Welt verloren. Was die Sowjets und Polen nicht für sich beanspruchten,
wurde der Kern der moskauhörigen „Deutschen Demokratischen Republik", aus der
als eine Insel der Freiheit Westberlin herausragt. Das Neupreußen westlich der
Elbe und der Werra wurde auf die Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen,
Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz verteilt. Mit Bayern,
Baden-Württemberg, Hamburg und Bremen bilden diese Länder, zu denen dann 1957
das Saarland trat, die Bundesrepublik Deutschland.
Der Arbeitssohn und der Graf
Bewegend ist der Briefwechsel, der nach der Katastrophe zwischen zwei
standes- und wesensverschiedenen Menschen zustande gekommen ist. Was sie einte,
war die Liebe zur gemeinsamen ostpreußischen Heimat. Der eine der Briefschreiber
war der frühere Ministerpräsident Otto Braun, der seit März 1933 im
schweizerischen Ascona lebte. Während viele seiner Genossen unter „dem Zwiespalt
zwischen der evolutionären sozialistischen Ideologie der Partei und dem
unüberwindbaren Kompromißcharakter des liberalen Parteistaates litten" (H.
Schulze), hatte Braun solche Komplexe nicht. Er sei davon überzeugt gewesen,
schreibt Schulze weiter, daß sein Rezept für die Arbeiterklasse ebenso wie für
das Volksganze richtig gewesen sei: „ein demokratisch-parlamentarischer Staat
auf strikt rechtlichen Grundlagen, bestimmt, das demokratische Bürgertum und die
sozialdemokratische Arbeiterschaft, den politischen Katholizismus und die
kirchlich nicht gebundene Linke für die Dauer zusammenzuführen." Schulze zitiert
dazu den schon genannten Historiker Golo Mann, Sohn von Thomas Mann, vor allem
durch seine „Wallenstein"-Biographie bekannt geworden. „Vielleicht ist nie seit
dem Freiherrn von Stein den Deutschen ein anständigerer Begriff politischen
Zusammenlebens angeboten worden." Da hat unser Propst Pingel mit seinem Lob für
Braun doch so unrecht nicht gehabt. Der Briefpartner Brauns war der frühere
Reichsernährungsminister Graf Kanitz, den älteren Ermländern zumindest dem Namen
nach bekannt. Er war keiner von den reaktionären Junkern, was sein Übertritt von
den Deutschnationalen zur liberalen Deutschen Volkspartei beweist. Wir sind ihm
bereits in dem Beitrag „In schwerer Zeit bewährt" (UEH 24,4) als
Entlastungszeugen für den von den Nationalsozialisten entlassenen Landrat von
Pr. Holland, Dr. Robert-Tornow, begegnet. Seit Rittergut Podangen lag im Pr.
Holländer Kreis an der ermländischen Grenze in der Nähe von Wormditt. Graf
Kanitz schüttete dem Königsberger Arbeitersohn sein „schmerzerfülltes
Preußenherz hemmungslos aus", und Braun redete ihm gut zu. Es handele sich zur
Zeit, schrieb er Kanitz, darum, ob man ein geschichtliches Faktum anerkennen
oder weiter seinen Wünschen nachhängen wolle. „Tatsache ist, daß die
Siegermächte unter Ausnutzung des in der ganzen Welt grassierenden
Preußenkollers Preußen als Staatsbegriff z. Z. von der Landkarte ausgestrichen
haben. Die Frage, ob es gerechtfertigt war, ob es klug und politisch weitsichtig
war, spielt z. Z. keine Rolle." Wir haben früher auf die zu späten Einsichten
Churchills und anderer westlicher Staatsmänner hingewiesen. Braun fährt fort:
Man könne nur für eine gerechte historische Beurteilung Preußens werben. Aber
auch dafür sei die politische Atmosphäre noch zu vergiftet, „da alles Unheil,
das die Naziverbrecher über Deutschland und die Welt gebracht haben, unter
Mißachtung des tatsächlichen Verhältnisses auf Preußen zurückgeführt wird.
Also", schließt Braun seinen Brief, „mein lieber Graf, wir müssen uns noch
gedulden."
Schieben wir schnell zwei Sätze aus den „Erinnerungen" des großen
Sozialdemokraten Professor Carlo Schmid ein, der im letzten Krieg als
Militärverwaltungsrat in Lille in Nordfrankreich eingesetzt war. Schmid, in
Frankreich geborener Sohn eines schwäbischen Vaters und einer französischen
Mutter, schreibt: „Der bisherige Oberfeldrichter wurde durch Wilhelm Klinkert,
einen schwerverwundeten Reserveoffizier und Rechtsanwalt aus Kolberg in Pommern,
abgelöst. Wir verbrachten viele Abende zusammen, und ich lernte in ihm einen
Preußen kennen, der mit Leib und Seele Soldat war, aber - und das war auch
preußisch an ihm - nicht das geringste für den Nationalsozialismus übrighatte."
„Der preußische Traum"
Erwähnen wir noch die Worte, die Henning von Tresckow an seine Söhne
anläßlich ihrer Konfirmation gerichtet hat. Tresckow war beim Überfall auf Polen
erster Generalstabsoffizier der 228. Landwehr-Infanterie-Division. Zu ihr
gehörte auch das im Raum Braunsberg aufgestellte Infanterieregiment 356. Als die
13. Kompanie diese Regimenter im August 1939 von ihrem Sammelpunkt Huntenberg
durch die nächtlichen Straßen Braunsbergs zum Bahnhof zog, um ins
„Übungsgelände" an der polnischen Grenze verladen zu werden, war ich
buchstäblich der letzte Schütze dieser Kompanie. Hinter mir kam nur noch der
Spieß, bei unserer bespannten Kompanie hoch zu Roß. Tresckow war, wie Bodo
Scheurig in seiner kürzlich auch als Ullstein-Taschenbuch erschienenen
Biographie bemerkt, zunächst als aktiver Offizier wie viele seiner Potsdamer
Kameraden von Hitler und dem Nationalsozialismus angezogen worden. Seine
Wandlung wurde durch die Ereignisse vom 30. Juni 1934 bewirkt. Scheurig drückt
seine Reaktion mit folgenden Worten aus: "Ungeheuerliches war geschehen. Der
Führer des Staates und seine Regierung hatten ungestraft gemordet." Seitdem
entwickelte sich von Tresckow zu dem neben Graf. Stauffenberg unbedingtesten und
aktivsten Vorkämpfer des militärischen Widerstandes gegen Hitler.
In seiner Ansprache an die beiden Söhne am 11. April 1943 erinnerte von Tresckow
sie zunächst daran, daß ihre Einsegnung an einer besonders ehrwürdigen Stätte
des Preußentums erfolge, in der Potsdamer Garnisonskirche. Dieses Preußentum,
fuhr er fort, „birgt eine große Verpflichtung in sich, die Verpflichtung zur
Wahrheit, zur innerlichen und äußerlichen Disziplin, zur Pflichterfüllung bis
zum Letzten. Aber man soll niemals vom Preußentum sprechen, ohne darauf
hinzuweisen, daß es sich damit nicht erschöpft. Es wird so oft mißverstanden.
Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Wahres
Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen
selbstverständlicher Unterordnung und richtig verstandenem Herrentum, zwischen
den Stolz auf das Eigene und Verständnis für anderes, zwischen Härte und
Mitleid. Ohne diese Verbindung läuft es Gefahr, zu seelenlosem Kommiß und
engherziger Rechthaberei herabzusinken. Nur in der Synthese liegt die deutsche
und europäische Aufgabe des Preußentums, liegt der preußische Traum!"
Der letzte Pfeiler weggerissen
Seinem Nachwort von 1933 hat Reinhold Schneider in seinem Hohenzollernbuch
noch ein zweites hinzugefügt, das die Zeit von 1933 bis 1945 umfaßt. Alles, was
über die Tragödie der zwölf Jahre zu sagen sei, schreibt Schneider, stehe in den
wenigen Zeilen, die der am 5. September 1939 im Alter von 24 Jahren in Polen
gefallene Prinz Oskar von Preußen, ein Enkel Wilhelms II., in der Erleuchtung
frühen Todes mit der Genialität des Abberufenen geschrieben habe: „. . . Jetzt
sind wir am Ende. Vor uns dehnt sich die Steppe ohne Maß, ohne Halt, und scheint
im Osten drohend zu glühen. Rauch steht am Himmel. Es gibt nur noch ein
Vorwärts, zu den fernen Linien, hinter denen sich unser Schicksal schwer und
dumpf fertig schreibt. Wir werden ihm nicht entgehen. Mit uns tragen wir das
Bild von zwei Jahrtausenden glanzvoll ragender Geschichte, und nur ein stilles
Leuchten blieb von den Kränzen und Bändern, die sie gewunden . . . Wir stehen
vor den brennenden Toren Europas und ziehen hinein in unser Ragnarök, und ein
Schauer des Glaubens verklärt unsere Züge, von dem, der da sagt, daß er bei uns
sein wolle bis an der Welt Ende." Ragnarök, das ist der in einem Lied der Edda
geschilderte Weltuntergang. Wie Prinz Oskar ist auch sein Vetter Wilhelm, der
älteste Sohn des Kronprinzen, im Zweiten Weltkrieg gefallen. Später verfügte
Hitler, daß die Mitglieder früherer Herrscherhäuser wehrunwürdig seien.
Daraufhin übernahm der zweite Sohn des Kronprinzen, Prinz Louis Ferdinand, den
kaiserlichen Privatbesitz Cadinen. Durch seine Heirat mit der Tochter des
Großfürsten Kyrill, der sich nach der Ermordung Nikolaus' II. durch die
Bolschewisten selbst als Zar bezeichnete, war Louis Ferdinand mit seiner Familie
beim Einmarsch der Sowjets besonders gefährdet. Doch gelang es ihm, mit seinen
Arbeitern den rettenden Westen zu erreichen.
Geben wir Reinhold Schneider selbst das Schlußwort unseres Ganges durch die
preußische Geschichte: „So war das Ende vorweggenommen, das sich am 14.
September des Jahres 1952 auf der Burg Hohenzollern in einer Sichtbarkeit
darstellte, die dem Ende einer Machtform nur selten gewährt wird. In der oberen
Kapelle erklang bei geöffneten Fenstern die Flötenmelodie Friedrichs noch
einmal, das Solo von Sanssouci, Gegenwart einer königlichen Seele. Sie schwang
sich in den grenzenlosen Herbsthimmel über dem schwäbischen Land, dem, wie der
Hohenzollern, der Hohenstaufen entsteigt; sehr fern waren auch die Habsburger
nicht, und die Herzogsburg Urach, und es war das Fest der Kreuzerhöhung, der
Tag, der als einzig mögliche Verheißung dem schweren Sterben Philipps II.
folgte, der Agonie der spanischen Macht. In der unteren Kapelle, die noch den
Namen des alten Glaubens der Erbauer führt, standen unter Blumen die Särge
Friedrich Wilhelms und seines Sohnes, an den Ursprung zurückgeschleudertes
Strandgut. Vom Königreich war nicht soviel Erde geblieben, wie die Särge
beanspruchten, eben die Särge, über denen im März des Jahres 33 Ragnarök
aufgenommen war. Die stärkste Form, die sich in die östliche Flut gestellt
hatte, war geborsten, der letzte Pfeiler weggerissen.“
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1)Hier sei noch auf zwei Hinweise eingegangen, die zum ersten Beitrag den
Verfasser erreichten. Dr. Ernst Manfred Wermter schreibt zu der Bemerkung von O.
H. von der Gablentz, daß es in Preußen keine Heilige und Märtyrer gegeben habe,
daß die heilige Dorothea von Montau für kurze Zeit wie ein leuchtender Stern
über dem Lande gewesen sei. Ich stehe nicht an, hier den Satz des bedeutenden
Dorotheenforschers Dr. Richard Stachnik zu zitieren: „Nach ihrem Tode am 25.
Juni 1394 aber wurde sie (die hl. Dorothea) mit einem Schlage die populärste
Frau des Weichsel-Ostsee-Kulturkreises, die Patronin des Preußenlandes, weit
über die Grenzen ihrer Heimat hinaus verehrt und gepriesen." Gablentz wiederum
sei Gerechtigkeit widerfahren mit dem Hinweis auf seine Feststellung, daß
Preußen aus der christlichen Führerschicht keinen Fürbitter gefunden habe, der
es vor Gott vertrete in den oberen Rängen. Wobei ihm die Frage entgegengehalten
werden kann, ob der Fürbitter gerade aus den „oberen Rängen" kommen mußte. Einen
besonders interessanten Hinweis gab mir Domherr Prälat Leo Kaminski, und zwar zu
der Reise des Bischofskandidaten Johannes Stryprock mit dem Prußen Nikolaus
Gerke von Hohenberg zu Papst Innozenz VI. 1355 nach Avignon, wobei es sich
offensichtlich um einen wirklichen Vorgang gehandelt hat. Der Pruße, den der
Papst zum ermländischen Bischof machen wollte, habe ursprünglich "Klauko"
geheißen. Bischof Stryprock, zu dessen Gunsten der prußische Edle auf die
ermländische Kathedra verzichtete, habe ihm nach der Heimkehr ein Rittergut von
etwa 2000 Morgen verliehen, das nach ihm Adl. Klaukendorf genannt wurde. Dazu
kamen sechs Hufen Pfarrland und das Patronatsrecht über die Kirche, das den
Besitzern des Rittergutes bis zuletzt zustand und auf Grund dessen auch Prälat
Kaminski 1932 Pfarrer von Klaukendorf geworden ist.
2) Vgl.die ausführliche Schilderung der Totenfeier im Ermländischen Kalender
1955, S. 41.
3) In der „DDR" ist man freilich anderer Meinung. Hier sucht man vielleicht auch
im Hinblick auf unsere Geschichtslosigkeit, die von Männern wie Walter Scheel
und Karl Carstens beklagt wird, neuerdings den Anschluß an die
preußisch-deutsche Geschichte, die zu bestimmten Zwecken ausgedeutet, wir können
ruhig sagen manipuliert, wird. In dem Vorwort zur ersten Auflage des Buches
“Befreiungskriege, Erläuterungen zur deutschen Geschichte" erschienen im
Berliner Volkseigenen Verlag „Volk und Wissen", das in der mir vorliegenden 7.
Aufl. von 1976 zitiert wird, heißt es: „Die Befreiungskriege waren nach dem
Bauernkrieg die erste große politische Massenbewegung in Deutschland. Im Kampf
gegen die napoleonische Fremdherrschaft erstarkte das Nationalbewußtsein; das
politische Denken der Volksmassen wurde revolutioniert. Zugleich entstand eine
umfangreiche und wirkungsvolle politische Literatur, die diese Prozesse
vorbereitete und förderte. Die bedeutendsten literarischen Leistungen wurden
dabei von jenen Schriftstellern geboten, die mit dem Kampf für die nationale
Unabhängigkeit Deutschlands die Forderungen nach politischer Freiheit und
sozialer Gerechtigkeit verbanden. Ihre Werke sind für die sozialistische
Gesellschaft ein wichtiges Erbe, dessen Behandlung im Deutschunterricht
wesentlich zur patriotischen Erziehung der Jugend beitragen kann." In den
Leseproben des Buches werden neben Stellen aus Fichtes „Reden an die deutsche
Nation" u. a. Gedichte von Ernst Moritz Arndt („Der Gott, der Eisen wachsen
ließ" und „Was ist des Deutschen Vaterland?"), Theodor Körner („Das Volk steht
auf, der Sturm bricht los!", „Du Schwert an meiner Linken", „Was glänzt dort vom
Walde im Sonnenschein?", "Frischauf, mein Volk! Die Flammenzeichen rauchen"),
Max v. Schenkendorf („Freiheit, die ich meine" und „Muttersprache, Mutterlaut")
im vollen Wortlaut wiedergegeben. Diese zum größten Teil martialischen Gedichte
haben wir Alten in der Schule gelernt oder zum mindesten kennengelernt. Was
würden ihre Verfasser dazu sagen, wenn sie wüßten, wozu sie heute gebraucht
werden?
4) Bismarck, 1815 in Schönhausen in der Altmark geboren, war von Hause aus ein
preußischer Junker. Seine Mutter war allerdings eine Bürgerliche aus einer
angesehenen Familie. Seine Kindheit verbrachte er in Kniephof in Pommern, wo er
später einem Kreis von Pietisten nahetrat. Aus diesem wählte er seine Frau
Johanna v. Puttkamer. Er wollte eigentlich die höhere Beamtenlaufbahn
einschlagen, aber nach dem Referendarexamen entschloß Bismarck sich, auf die
„Ochsentour", wie er sie nannte, zu verzichten. Er zog das freiere Leben eines
Gutsherrn vor, der die Familiengüter bewirtschaftete. Aber die Politik nahm ihn
bald gefangen. Er war Mitglied des Vereinigten Landtags und der Zweiten Kammer,
wo er auf dem äußersten rechten Flügel saß. Friedrich Wilhelm IV. ernannte ihn
auf Rat der Kamarilla zum preußischen Gesandten beim Bundestag in Frankfurt
(18511859), wo er eine für ihn sehr wichtige Lehrzeit auf dem Gebiet der großen
Politik durchmachte. 1859-1861 war er preußischer Gesandter in St. Petersburg,
im Frühjahr 1862 kam er als solcher nach Paris. Wilhelm I. wollte von ihm
zunächst nichts wissen, weil er ihm in seiner ganzen Art zu dynamisch war. Noch
unheimlicher war er der Königin Augusta, die zeitlebens, wenn der Ausdruck
erlaubt ist, seine Intimfeindin geblieben ist wie übrigens auch ihre
Schwiegertochter Viktoria. Der König spürte aber die unbedingte Ergebenheit
Bismarcks ihm gegenüber.
5) Eduard Martin Simson, der 1810 in Königsberg geboren wurde, war später auch
der erste Präsident des Deutschen Reichstages. Bei der Errichtung des
Reichsgerichts in Leipzig wurde er 1879 zu dessen erstem Präsidenten berufen. Es
ist bemerkenswert, daß Kaiser Friedrich III., dem man liberale Neigungen
nachsagte, während seiner kurzen Regierungszeit 1888 dem alten Liberalen Simson
den Schwarzen Adlerorden verlieh, mit dem der Erbadel verbunden war.
6) Hans Lipinski-Gottersdorf stammt selbst aus der Nordostecke Oberschlesiens,
in der der Roman spielt, den einzigen evangelischen Kreisen der Provinz
Rosenberg und Kreuzburg. Durch die Gemeinsamkeit der Konfession wurde hier den
Menschen der Zugang zum Preußentum erleichtert. So widmet der Verfasser sein
Buch dem Andenken seines Vaters, der als Offizier, Beamter und letzter Herr
eines alten Familienbesitzes sein Leben lang nach Haltung und Gesinnung ein
slawischer Preuße gewesen sei.
7) Es wird manchen wundern, daß Schoeps hier offensichtlich einen Unterschied
zwischen dem Stil Hitlers und dem Mussolinis macht. Auf eine
Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Diktatoren sei hier wenigstens
hingewiesen: Mussolini riet Hitler immer wieder, nicht so hart gegen die Kirchen
vorgehen, vergeblich. Vor allem: Mussolini wurde zwar vom italienischen König
berufen, aber auch von ihm ab- und gefangengesetzt, allerdings nach einem
Beschluß des Faschistischen Großrats.
Benutzungshinweise:
Lieber Kybernaut!
Ich bin als Sohn des Journalisten und Webmaster der Kreisgemeinschaft Braunsberg
in einem argen Dilemma: Auf der einen Seite weiß ich, wie sehr es das Anliegen
meines Vaters war, daß sich möglichst viele Menschen unmittelbar von der
"Erlebnisgeneration" informieren, und daher hatte er auch auf seine alten Tage
aufgeschrieben, was ihm wichtig war weiterzugeben. Und er wäre gewiß glücklich
über die Möglichkeiten des Internets gewesen, hätte er davon zu seinen Lebzeiten
gewußt. Auf der anderen Seite stehen allerdings die wirtschaftlichen Interessen
des Vereins, der seine Arbeiten herausgegeben hat, dem entgegen: Dort gibt es
ganz offensichtlich die Befürchtung, daß durch eine Internetveröffentlichung
mögliche Kunden für die noch vorhandenen gedruckten Ausgaben wegbleiben.
Sollten Sie also zu denen zählen, die eigentlich eine der Arbeiten gekauft
hätten, doch aufgrund dieser Veröffentlichung das nicht mehr nötig hatten, so
bitte ich um Mitteilung, damit ich dem Verein den entgangenen Schaden ersetzen
kann. Sollten Sie allerdings durch Zufall (etwa über Suchmaschinen) auf diese
Arbeiten gestoßen sein, von denen Sie sonst nie eine Ahnung bekommen hätten,
wären Sie natürlich auch sowieso nie Kunde geworden und das Problem eines
Schadens für den Verein gibt es von vornherein nicht. Und sollten Sie durch die
Internetrepräsentation jedoch sogar zum Kauf angeregt worden sein, bitte ich
allerdings um Information,
denn das wäre ja auch für den Verein ein Argument für die Veröffentlichung hier!
Die Arbeit wurde mit größter Sorgfalt von dem gedruckten Werk gescannt und
durchgesehen, dabei wurden auch offensichtliche Druckfehler korrigiert. Dennoch ist es nicht auszuschließen, daß Übertragungsfehler
übersehen wurden. Für wissenschaftliche Verwendung empfehle ich daher unbedingt
die gedruckte Ausgabe.
Sie ist zu erhalten bei:
Historischer Verein für Ermland e.V.
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Und nun viel Freude bei der Lektüre!
Ihr Webmaster Braunsberg (Ostpreussen)
Michael Preuschoff
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