KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN) e.V.Revolutionen in BraunsbergVon
Hans Preuschoff (1905 - 1989 Wenn
wir Älteren oder Alten das Wort „Revolution" hören, denken wir wohl
zuerst an die Revolution vom November 1918, als das Kaiserreich ein Ende nahm
und Deutschland eine Republik wurde. Halten wir uns nicht bei dem Streit der
Geschichtsforscher auf, ob die Revolution von 1918 eine echte war oder nicht,
weil der Kaiser ja nicht gestürzt wurde, sondern selbst abdankte. Auf jeden
Fall wurde so der Weg frei für eine parlamentarische Demokratie, nachdem in
einer, man darf es ruhig sagen, Entscheidung von weltgeschichtlicher Bedeutung
die deutsche Sozialdemokratie sich entschlossen hatte, das Rätesystem nach
bolschewistischem Muster abzulehnen. Tatsächlich
ist es im November 1918 zunächst zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten
gekommen, auch in Braunsberg. Ich war damals 13 Jahre alt und erinnere mich
noch, wie ich schon an anderer Stelle bemerkt habe, daß in mir eine Welt
versank, als ich auf der Straße hörte, daß der Kaiser nach Holland geflohen
sei. Weiter wurde gesagt, daß auf dem Bahnhof meuternde Soldaten den
ankommenden Offizieren die Schulterstücke abrissen. Unter den revoltierenden
Soldaten fielen Matrosen besonders auf. Sie traf man auch im darauffolgenden
Winter bei der Rodelbahn am Pflaumengrund an, die so etwas wie eine Agora
(Versammlungsplatz) war. Ich sehe dort noch unseren politisch sehr engagierten
Studienrat Ernst K. stehen, wie er vor aufmerksam lauschenden Zuhörern seine
Ansichten verkündete. Mir
sind sogar die Namen von zwei Mitgliedern des Braunsberger Arbeiter‑ und
Soldatenrates haften geblieben, wohl weil er für kurze Zeit der eigentliche
Machthaber in Braunsberg war. Der eine hieß Schmidt und heiratete die
Schwester des Kaufmanns Laserstein, der andere Kalisch und muß dann
Vorsitzender der Braunsberger SPD geworden sein. Jedenfalls war er, noch in
einer abgetragenen Soldatenuniform, der Redner einer Kundgebung auf dem
Schulhof des Gymnasiums, die sich wohl gegen die inzwischen bekanntgewordenen
grausamen Friedensbedingungen richtete. An den beiden Seiten von Kalisch
hatten sich schon die örtlichen Vorsitzenden der Parteien aufgebaut, die mit
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die sog. Weimarer
Koalition bildeten, Geheimrat Röhrich für die Zentrumspartei (kurz Zentrum
genannt) und Studienrat Scharlach für die Deutsche Demokratische Partei
(DDP). Ich gestehe, daß mein Interesse weniger den Worten des Redners galt
als dem Anblick des Herrn Professors von der Akademie und unseres
Mathematiklehrers. Sie standen unbewegt da wie Denkmäler. Das Rätesystem
drang zunächst auch in unser Gymnasium ein. Preußischer Kultusminister war
1918/19 der ultralinke Adolf Hoffmann. Nach seinem Buch „Die zehn
Gebote" und „Die besitzende Klasse" wurde er
Zehn‑Gebote‑Hoffmann genannt. Auf Grund einer von ihm erlassenen
Verfügung wurde eine Schülerversammlung einberufen, die einen Schülerrat wählte.
Diesem wurden besondere Funktionen zugewiesen; es sollte also in der Schule
fortan eine Art Mitbestimmung geben. Leider durfte unsere Untertertia noch
nicht an der Versammlung teilnehmen. So hörten wir gespannt zu, wie uns Bruno
Poschmann aus Mehlsack, der dabeigewesen war, von ihrem angeblich turbulenten
Verlauf erzählte. Der Schülerrat ist aber niemals in Aktion getreten, wohl
weil Hoffmann durch einen weniger radikalen Kultusminister abgelöst wurde.
Keineswegs traurig wird darob das Lehrerkollegium gewesen sein. Vielen; wenn
nicht den meisten Herren fiel die Umstellung auf die neuen Verhältnisse
ohnehin nicht leicht. Vor den Osterferien 1919 wurden einige Professoren in
den Ruhestand versetzt. Sie hatten den ihnen verliehenen Titel beibehalten,
auch nachdem während des Ersten Weltkrieges aus den Oberlehrern Studienräte
geworden waren. Bei ihrer Verabschiedung in der Aula klagte Direktor Jüttner
mit spürbarer Rührung in der Stimme; daß sie die ersten seien, die ohne den
Roten Adlerorden 4. Klasse in Pension gehen müßten. Die Auszeichnung wurde
aus dem Anlaß in der kaiserlichen Zeit regelmäßig verliehen. Die Weimarer
Republik kannte keine Orden. Wenn die Bundesrepublik Deutschland sie eingeführt
hat, wußte sie schon warum. Mit den nationalen Gedenktagen taten und tun sich
freilich beide schwer, die Weimarer Republik mit dem 11. August
(Verfassungstag), die Bundesrepublik mit dem 17. Juni. Es ist nicht so recht
gelungen, sie im Bewußtsein des Volkes zu verankern. Als
demokratische Einrichtung gab es auf der Schule fortan nur noch das Amt eines
Klassensprechers. Es kam auf die Einstellung der Klasse und des Gewählten an,
was daraus gemacht wurde. Ich trug jedenfalls als solcher wiederholt unsere Wünsche
dem Klassenlehrer vor. Eines Tages aber, als ich ihm wieder etwas gesagt
hatte, was ihm mißfiel, fuhr mich Studienrat Dr. Hohmann, entrüstet an:
„Was er nur immer hat! Ich muß doch einmal mit dem Vater sprechen, wenn ich
ihn auf der Stadtkasse treffe." Mein Vater war Lehrer, und die Beamten
begegneten sich am Ersten des Monats auf der Stadtkasse, um ihre Gehälter
abzuheben. Aus Angst vor dem väterlichen Zorn .legte ich mein Amt als
Klassensprecher prompt nieder, was der Tithemi, wie wir Dr. Hohmann nannten,
befriedigt zur Kenntnis nahm, mich aber bis auf den heutigen Tag fuchst.
Eigentlich hätte Dr. Hohmann als führender Zentrumsmann, der er in
Braunsberg war, mehr Demokratieverständnis beweisen müssen, da doch die
Partei, wie schon erwähnt, in der Weimarer Republik mitregierte. Aber die
guten Zentrumsleute blieben im Herzen noch mehr oder weniger lange Zeit
Monarchisten von der alten Sorte, zumindest dachten sie, um ein heutiges
Schlagwort zu gebrauchen, autoritär. Die Klasse zeigte sich mit mir
solidarisch und wählte keinen Nachfolger, so daß sie bis zum Ende des
Schuljahres ohne demokratische Vertretung blieb. Was sie aber mit Fassung
getragen hat. Es
sei noch nachgeholt, daß vor der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung am
19. Januar 1919 und zur verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung die
Bevölkerung geradezu von einem politischen Fieber befallen wurde. Der heftige
Wahlkampf wurde in Braunsberg vor allem zwischen der Zentrumspartei und den
Sozialdemokraten geführt. Es soll dazu gekommen sein, daß eine Dame aus der
Gesellschaft, deren Mann im Kriege der Vaterlandspartei beigetreten war, die
nun aber wacker fürs Zentrum focht, vor den sie im Vereinshaus attackierenden
Sozialdemokraten durchs Fenster flüchten mußte. Die politische Hektik griff
auch auf unsere Untertertia über. Getreu der Haltung meines Elternhauses
schwenkte ich das Zentrumsbanner, die Brüder Sellien stritten für die
Deutsche Demokratische Partei mit einer Schlagseite zu den Sozialdemokraten
hin. Die Bauernsöhne (sie ließen sich lieber Besitzersöhne nennen) aus
Zagern, Peterswalde, Lautern usw. machten in schweigender Mehrheit. Ihnen war
der Whist wichtiger als die Politik. Der Klassenlehrer Professor Schlonski,
genannt Papa Schlonni, dem mein Kampfeseifer mißfiel, fühlte sich
verpflichtet, mir eine Lektion in Toleranz zu erteilen. Wir waren baff, als
sich nach den Wahlen ausgerechnet Zentrum, SPD und DDP zum bereits zitierten Bündnis
zusammenfanden. Uns war, als sei vor unseren Augen ein großer Luftballon
geplatzt. Das Politisieren in der Klasse hörte mit einem Schlage auf. Zu
ernsthafteren Unruhen unter der Bevölkerung kam es in Braunsberg erst einige
Jahre später, nach meinen Erinnerungen im Herbst 1923. Doch lasse ich mich
von Lesern, die es noch genauer wissen, gern eines Besseren belehren.
Jedenfalls müssen sie sich vor der Einführung der Rentenmark am 15. November
1923 ereignet haben. Damals wurde eine Billion Papiermark einer Billion
Reichsmark gleichgesetzt. Wenn ich auf der Schule richtig aufgepaßt habe, ist
eine Billion eine Eins mit zwölf Nullen. Bei der seit Kriegsende immer stärker
galoppierenden Inflation bekamen die Arbeiter für ihren Wochenlohn nach ein
paar Tagen kaum mehr genug für ihre vielfach großen Familien zu essen. Wer
bei den im folgenden geschilderten Vorgängen Regie geführt hat, vermag ich
nicht zu sagen, politische Ziele spielten bei ihnen gewiß keine Rolle. An
einem Nachmittag rotteten sich Männer und Frauen aus Arbeiterkreisen
zusammen, um die Kolonialwarengeschäfte der .Stadt heimzusuchen. Ich
gebrauche mit Absicht nicht das Wort plündern. Es trifft in unserem Falle
nicht zu. Man versteht darunter, daß Türen eingetreten, Schaufenster zertrümmert,
Möbel zerstört und Geschäfte ausgeraubt werden, wie es z. B. in der berüchtigten
„Reichskristallnacht" vom 9./10. November 1938 der Fall war. So ging es
damals in Braunsberg mitnichten zu. Eine Deputation der Arbeiterersuchte den
Geschäftsinhaber, mit seinen Waren herauszurücken. Dieser folgte der
Aufforderung, schon um die Arbeiter nicht doch noch zu einem schärferen
Vorgehen zu reizen. Die Waren wurden, soweit der Vorrat langte, an die auf der
Straße harrende Menge verteilt. Dann ging es zum nächsten Laden. Einen Höhepunkt
erreichte die Aktion in der Langgasse. Von ihr führte ein Gäßchen zur
Zentralmolkerei. Zu ihr wurde eine Kette von Männern gebildet. Diese leiteten
über ihre Köpfe hinweg die Käselaibe, die die Angestellten aus den Fenstern
der Meierei herausreichten, weiter zur Volksmasse (Volksmasse ist ein
etwas übertriebenes Wort) in der Langgasse. Die stadtbekannte Frau K. aus der
Mauerstraße, die alle anderen um Haupteslänge überragte und so etwas von
den Pariser Marktfrauen an sich hatte, die 1789 zum Königsschloß nach
Versailles zogen, hielt die Gelegenheit für günstig, unter den Arbeitern
eine revolutionäre Stimmung zu erzeugen. Sie rief den Männern zu „Singt
doch e bät!" Doch einer antwortete knurrend: „Wat es hier to
singe?" Die anderen schwiegen. Die Arbeiter verfolgten also tatsächlich
keine politischen Absichten. Somit handelte es sich hier eigentlich um keine
echte Revolution. In
der Nähe der Menge hatte sich eine Hundertschaft der Schutzpolizei
aufgestellt, die damals noch Braunsberg bewachte. Sie hatte keinen Anlaß
einzugreifen, da nirgendwo Gewalt angewendet wurde. Aber dem Führer der
Hundertschaft, einem Leutnant, war verständlicherweise nicht wohl in seiner
Haut. Er suchte ein Ventil für die in ihm angestaute Wut und fand es in einem
Haufen Pennäler, die in einigem Abstand dem Schauspiel, das ihnen die Käseverteilung
bot, mit Vergnügen folgten. In dem Grüppchen war auch ich zu finden. Der
Leutnant stürzte auf uns zu: „Was haben Sie hier verloren? Machen Sie, daß
Sie nach Hause kommen!" Als er unter uns den Sohn des Direktors
erblickte, erteilte er ihm noch eine Extrabelehrung. Nach dem "Anschiß"
verkrümelten wir uns verlegen heimwärts. Die Arbeiter sind dann noch bis zum
Kaufmann Wichmann am Ende oder richtiger Anfang der Langgasse gezogen. Der
Kaufmann Kirstein (nicht der würdige alte Herr Stadtrat, sondern sein Sohn)
erklärte nachher zynisch, er sei glücklich, auf diese Weise alle Ladenhüter
losgeworden zu sein. Als
die Rentenmark eingeführt wurde, bekamen die Arbeiter für ihren oft kargen
Lohn wenigstens satt zu essen: Die Leidtragenden an der Inflation waren vor
allem auch die Rentiers, die durch sie ihr ganzes Vermögen verloren. Es waren
zumeist ältere Besitzer (Bauern ließen sie sich, wir lasen es schon, nicht
gern nennen), die ihre Grundstücke verkauft hatten und in die Stadt gezogen
waren. Eine typische Rentiersstraße war in Braunsberg die Malzstraße. In dem
Haus, in dem wir in dieser Straße jahrelang wohnten, gab es gleich zwei
Rentiersfamilien; Knoblauchs aus Hogendorf und Brauns aus Pettelkau. Der alte
Herr Braun lag tagsüber, sofern er nicht mit Frau und Tochter in die Kirche
gegangen war, im Fenster, um den Stoßverkehr von und zum Haffuferbahnhof auf
der ansonsten stillen Malzstraße zu beobachten. Bis zum Ende des Ersten
Weltkrieges marschierten die Soldaten von der Kaserne in der Rodelshöfer Straße
durch die Malzstraße zu Schießübungen in den Stadtwald. Der
schon, genannte Geheimrat Röhrich, ein eigenwilliger Idealist aus einer
angesehenen Mehlsacker Familie, machte seine Zentrumspartei mitverantwortlich
für das Schicksal der Rentiers und legte ans Protest sein Landtagsmandat
nieder. Eine
echte Revolution gab es in Deutschland im Jahre 1933. Sie war um so schlimmer,
als sie unter dem Deckmantel der Legalität vor sich ging. Aus der
parlamentarischen Demokratie wurde eine Diktatur. Sie begründete ihre
Existenzberechtigung nicht zuletzt durch einen Antisemitismus, der sich bis zu
der 1942 eingeleiteten entsetzlichen „Endlösung" der angeblichen
Judenfrage steigerte. Zwischenstationen auf dem Wege von der Demokratie zur
Diktatur waren die autoritären Regierungen von Brüning, Papen und
Schleicher, wobei die Brünings noch über eine Rückendeckung durch den
Reichstag verfügte. Die städtische Selbstverwaltung aus der Zeit des
Freiherrn vom Stein, auf die wir so stolz waren, wurde durch eine Verwaltung
nach dem Führerprinzip ersetzt. So wurden‑ in Braunsberg nach der
schmachvollen Entlassung des um die Stadt hochverdienten Ersten Bürgermeisters
Kayser ‑ er durfte sich nicht einmal von seinen Mitarbeitern
verabschieden ‑ zum Stadtoberhaupt nacheinander alte Parteigenossen
ernannt, von denen einer immer unfähiger war als der andere. Während des
Krieges, wo es sonst wahrhaftig wenig zu lachen gab, lachte ganz Ostpreußen
über eine Anzeige in der "Ermländischen Zeitung": „Die
Behauptung, daß Herr Bürgermeister Meyer frühmorgens im betrunkenen Zustand
von einer alten Frau im Schubkarren nach Hause gebracht worden ist, nehme ich
hiermit reuevoll zurück. Josef Samland, Klosterwirt." Für Leser, die es
ganz genau wissen wollen: Opfer der Anzeige wurde nicht Samland, sondern
Meyer. Dieser hatte dem von Rechtsanwalt Dr. Neumann wohlberatenen Klosterwirt
schriftlich seine Zustimmung zu der Anzeige gegeben. Die NSDAP, die sich durch
Meyer blamiert fühlte, ließ ihn über Nacht seines Bürgermeisteramtes
entheben. Alsbald
nach der Machtübernahme durch Hitler wurde, wenn ich mich recht erinnere, der
christliche Gewerkschaftssekretär Krause zusammengeschlagen. Später wurde
auch der Vorsitzende der SPD Otto Ziegler verhaftet, aber nach einigen Tagen
freigelassen, da man ihm nicht das Geringste nachweisen konnte. Ziegler war
ein ehrenwerter Mann, Krause aber auch. Bei den besonderen Braunsberger Verhältnissen
schien der Haß der Nationalsozialisten gegen die Christen noch größer zu
sein als gegen die Sozialdemokraten. Der jüdische Inhaber der Neustädtischen
Apotheke Wolff hatte sich nicht rechtzeitig abgesetzt. Freund Geo Grimme erzählte
mir, Wolff habe ihm gesagt, ihnen werde nichts passieren, Deutschland sei ein
Kulturland. Doch wurde er schon nach den Märzwahlen 1933 gezwungen, die
antinationalsozialistischen Wahlplakate abzureißen. Wolff konnte noch seine
Apotheke verkaufen und ist mit seiner Frau nach Berlin gezogen, wo sie weniger
auffielen. Dort nahm sich Frau Barzel, die Gattin meines Deutsch‑ und
Geschichtslehrers und Mutter Rainer Barzels, ihrer an. Mitte oder Ende der
dreißiger Jahre traf ich Wolff in Berlin am Staatlichen Schauspielhaus.
Kunstliebend wie er war, studierte er eifrig den Spielplan. Eine Aufführung
durfte er zu seinem großen Schmerz nicht besuchen, was am wenigsten am
Hausherren Gustaf Gründgens lag. Herr und Frau Wolff sind dann auch Opfer der
grausigen „Endlösung" geworden. Ihre Kinder hatten in den USA Zuflucht
gefunden. Unsere
Mutter berichtete uns, ganz erschüttert, sie habe zufällig gesehen, wie das
in der Hindenburgstraße wohnende alte jüdische Ehepaar Leopold Aris auf ein
Fuhrwerk gesetzt wurde. Keiner hat bei dem Anblick aufgeschrien, weil jeder fürchtete,
er müsse dann womöglich den gleichen Weg ins Ungewisse gehen wie die beiden
armen Leutchen, die niemals einem etwas zuleide getan hatten. In der schon erwähnten
,;Reichskristallnacht" vom November 1938 brannte natürlich auch in
Braunsberg die Synagoge. Die letzten noch bestehenden jüdischen Geschäfte
von Klein und Schachmann sowie der Zentralbasar der in der ganzen Stadt
beliebten Sara Levi wurden verwüstet und enteignet, ihre Inhaber von der SS
verschleppt. ‑ Über die Vorgänge in Braunsberg im Jahr 1933 hat der
schon genannte Erste Bürgermeister Ludwig Kayser ausführlich und authentisch
im Ermlandbuch 1977 berichtet. Es
sei noch die Frage angeschnitten, ob es im alten Braunsberg einen
Antisemitismus gegeben hat. Bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung
gewiß nicht. Manche Leute bevorzugten sogar jüdische Geschäfte, weil sie
dort eine reichhaltige Auswahl, billige Preise und gute Bedienung erwarteten.
Allenfalls kann man von einer hier und da anzutreffenden Zurückhaltung
sprechen, zu der damals noch die Kirche ein wenig beitrug. Wir erinnern an die
Fürbitte für die Juden in der Karfreitagsliturgie, bei welcher der Priester
die bei den anderen Fürbitten übliche Kniebeuge unterließ, weil die Juden
durch sie den Heiland verspottet hätten, Papst Johannes XXIII. hat die Fürbitte
abgeschafft. Einen
wirklichen Judenhaß traf man in Braunsberg vor 1933 nur im Rasensportverein
an, der sich zu einer antisemitischen Zelle entwickelte. Sein Vorsitzender
Puschke wurde in der NS‑Zeit Reichsmechanikermeister. Jeder Fußballfreund
weiß, wie rar gute Linksaußen sind. Der Rasensportverein hatte einen
solchen, aber er hieß Cohn, war also ein Jude, und so trennte man sich von
ihm, als die antisemitischen Tendenzen im Verein immer stärker wurden, wie
man noch in gemeiner Weise verlauten ließ: in aller Freundschaft. In
der Neujahrsnacht 1923/24 kam es auf der Straße zu Rempeleien zwischen
Mitgliedern des Rasensportvereins und Gästen des jüdischen Kaufmanns
Schachmann. Dabei erschoß der jüdische Student Wechselmann aus Königsberg
den Rasensportler Willy Kirstein. Wechselmann flüchtete m. W. zunächst nach
Litauen, stellte sich dann aber freiwillig der deutschen Polizei. Der Prozeß
gegen ihn vor dem Braunsberger Landgericht bewegte natürlich die Gemüter
weit über die Grenzen der Stadt hinaus. Die Zeugenbefragungen konnten über
die Vorgänge in der dunklen Nacht keine volle Klarheit schaffen, zumal der
Alkohol bei den Rempeleien eine große Rolle spielte. Da Notwehr nicht ganz
ausgeschlossen wurde, fiel das Urteil gegen Wechselmann verhältnismäßig
milde aus. Seine genaue Höhe weiß ich nicht mehr zu sagen. Nach den
kirchlichen Zeremonien kam es auf dem Rochusfriedhof am offenen Grabe
Kirsteins zu einer antisemitischen Demonstration. Mit
der Zunahme der nationalsozialistischen Stimmen auch in Braunsberg wuchs natürlich
in der Stadt der Antisemitismus. So regte sich eine Frau G. heftig darüber
auf, daß Professor Dr. Switalski und der Arzt Dr. Tietz dem angesehenen jüdischen
Zahnarzt Dr. Hirschfeld das letzte Geleit gaben. Der Trauerzug führte bei uns
daheim noch vom Trauerhaus durch die Straßen der Stadt zum Kirchhof. In dem
Zusammenhang sei vermerkt, daß die Nationalsozialisten im Ermland im ganzen
nicht die Gewinne verzeichnen konnten wie im übrigen Ostpreußen. Noch bei
den letzten halbwegs freien Wahlen im März 1933 erzielte die alles andere als
antisemitische Zentrumspartei in Stadt und Kreis Braunsberg die absolute
Mehrheit. Im
Braunsberger Gymnasium gab es zu meiner Zeit (1915‑1924) nur wenige jüdische
Schüler. In unserer Klasse hatten wir keinen, ich hatte den Eindruck, daß
sie in anderen nicht zu leiden hatten. Als militanter Antisemit gebärdete
sich damals nur ein Schüler des Gymnasiums, doch keiner nahm ihn ernst. Merkwürdigerweise
erwählte er nach dem Abitur den Priesterberuf, aber glücklich ist er darin
nicht geworden. Es
mag sein, daß der eine oder andere Leser bei den soeben geschilderten Vorgängen
gezweifelt hat, ob es sich in jedem Falle um eine wirkliche Revolution
gehandelt hat. Solche Bedenken wird niemand äußern, wenn er sogleich erfährt,
was sich im stürmischen Jahre 1848 in Braunsberg ereignet hat. Im Anschluß
an die Februarrevolution in Paris kam es zu schweren Unruhen in den meisten
deutschen Staaten, vor allem auch in den Hauptstädten Wien und Berlin: Der österreichische
Staatskanzler Fürst Metternich, der bis dahin alle freiheitlichen
Bestrebungen in ganz Deutschland gewaltsam unterdrückt hatte, mußte nach
England fliehen. Nach blutigen Barrikadenkämpfen mußte in Berlin König
Friedrich Wilhelm IV. mit einer schwarz‑rot‑goldenen Schärpe
durch die Stadt reiten. Das Militär hatte die Stadt verlassen, zur
Aufrechterhaltung der Ordnung wurde eine Bürgerwehr aufgestellt. Daß die
Unruhen auch in das sonst so friedliche Braunsberg überschwappten, schildert
der bedeutende ermländische Historiker Franz Buchholz in seiner Braunsberger
Stadtgeschichte ("Braunsberg im Wandel der. Jahrhunderte",
Braunsberg 1934). Wir entnehmen ihr im folgenden die Darstellung der
Geschehnisse in Braunsberg im Jahre 1948: „Am
22. März wurde auch in Braunsberg eine Bürgergarde aus 800 Mann gebildet,
deren Kern die Schützengilde war. Sie erhielt auf Antrag vom Kommandierenden
General Grafen zu Dohna 400 Gewehre aus dem Zeughause der städtischen
Garnison zugewiesen und versah den Wachtund Patrouillendienst zur
Aufrechterhaltung der Ruhe, zumal seitdem am 26. April das Füsilier-Bataillon
des 3. Infanterie‑Regiments verlegt worden war. Bauinspektor Bertram war
der Kommandeur der Bürgerwehr, die durch die Turmglocken alarmiert werden
sollte und eine eigene Standarte führte. Am 1.
Mai sollte die Wahl der Wahlmänner (für die Nationalversammlung) erfolgen.
Unter dem agitatorischen Einfluß radikaler Führer schaffte sich die
Unzufriedenheit der Arbeiter und Knechte über ihre bedrängte Lage, die
geringen Löhne und die teuren Mieten und Lebensmittelpreise, die Konkurrenz
auswärtiger Arbeiter u. a. gewaltsam Luft. Am Sonntag, dem 30. April,
rotteten sich Arbeitergruppen von etwa 200 Mann auf dem vorstädtischen Markt
zusammen, nahmen trotz der gütlichen Mahnungen des Kommandeurs der Bürgergarde
eine drohende Haltung ein und begannen die als Klubhaus der Reichen verhaßte
Ressource (Museumsgebäude) zu stürmen und zu demolieren. Indessen wurde die
Bürgerwehr von der Wache herbeigeholt, viele freiwillige Bewaffnete schlossen
sich ihr an, und nach einem kurzen und energischen Bajonettangriff lagen die
Tumultanten furchtbar zerstoßen und zerschlagen am Boden, 19 Rädelsführer
wurden auf die Wache geschleppt, die übrigen zerstoben. Die Untersuchung
ergab eine vorbereitete Aktion und führte zur Festnahme weiterer 11
Delinquenten. Einer der Hauptschuldigen erhängte sich nach zwei Tagen im Gefängnis,
die anderen wurden mit harten Zuchthausstrafen (6 bis 1 1/2 Jahre)
belegt." Soweit
die Schilderung von Franz Buchholz. Nach ihr wird keiner bezweifeln, daß es
im Frühjahr 1848 in Braunsberg zu einer echten, wenn auch kurzen Revolution
gekommen ist. Ob wir heute den "Tumultanten" unsere Sympathie so
ganz versagen können? Die überaus harten Strafen sind nur so zu erklären,
daß in Preußen die Revolution zusammengebrochen war und die alten Gewalten
wieder die Macht übernommen hatten. Dieser
Artikel ist dem Ermlandbuch 1986 entnommen. Diese Site ist Teil der Website www.braunsberg-ostpreussen.de. |