BRAUNSBERGER
GESCHICHTEN Sieben
Billionen Jahre vor meiner Geburt war
ich eine Schwertlilie. Meine Wurzeln saugten sich in einen
Stern. Auf seinen
dunklen Wassern schwamm meine blaue
Riesenblüte. Da so in
Hinterindien rum muß ich
schon mal irgendwie gelebt haben. Das schrieb
1899 Arno Holz, der Apothekersohn aus Rastenburg.
Es mag 20 Jahre her sein, da las ich die Geschichte eines damals 12-jährigen
Jungen, die mich bis heute nicht losgelassen hat. Die Geschichte eines Jungen in
Hinterindien,der mit seinen Eltern von Thung Song im Süden Thailands weit in
den Norden des Landes nach Chiang Mai fuhr. Die Endstation der Bahnlinie befand
sich etwa 150 km vor Chiang Mai.
Die Weiterfahrt mit dem Bus war erst am nächsten Tag möglich. Fremd in
der Stadt, weder Eltern noch Sohn hatten je vorher den Ortsnamen gehört,
geschweige denn irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen zu seinen
Bewohnern, galt es nun, eine Unterkunft zu finden.
Nachdem sie die Bahnstation verlassen hatten, in die erste Straße
eingebogen waren, erhellten sich die Augen des Sohnes. Er behauptete, er kenne
sich in der Stadt aus. – Das Unglaubliche geschieht: er findet sich in dem Ort
tatsächlich zurecht, weiß, was ihn an
der nächsten Ecke erwartet. Er benennt und findet ohne fremde Hilfe eine
Pension. Er fiebert in schlafloser Nacht dem nächsten Tag entgegen, der ihn zu
einer Straßenkreuzung, an den Ort seines vormaligen Todes führt, wo er einen
Unfall erlitten hatte. Auf der Polizeistation erfährt er nach der Schilderung
des Unfallherganges aus den Polizeiakten unter dem Datum seiner Geburt seinen früheren
Namen und danach seine Vergangenheit.
Und das alles in einem Ort, dessen Namen er vorher nie gehört hatte.
Im Jahre 1983 reiste auch ich, einem inneren Drange folgend, in eine
Stadt, deren Namen ich in meiner Jugend nie gehört und nie gelesen hatte.
Und doch waren mir nach dem Passieren der Stadtgrenze die Wege, die Plätze,
der Fluß, die Brücken, die alten Gebäude vertraut.
Ich parke mein Auto vor einer Kirchenruine und betrete den Mittelteil
eines Gebäudekomplexes, der eine Art Schulhof von drei Seiten umschließt. Das
war meine ehemalige Schule gewesen. – Das obere Geschoß erreicht, stehe ich
zunächst vor einer häßlichen dunkelgrauen Stahlwand. Der Blick geht zurück.
Gab es nicht hier einmal, knapp unterhalb der Treppenhaus-Decke, drei Masken?
– Nicht Masken! – Es waren drei Nachbildungen der „Sterbenden Krieger“
von Andreas Schlüter, dem Schöpfer des Standbildes des „Großen Kurfürsten“
vor dem Charlottenburger Schloß in Berlin. Ich sehe ihre gequälten Gesichter
– ihre Schreie höre ich noch heute.
Doch weiter! – Die Tür in
der grauen Stahlwand läßt sich öffnen. Putzfrauen sind im Flur beschäftigt,
machen, als sie mich sehen, eifrig weiter. Die erste Tür rechts, – ich stehe
im Zeichensaal, setze mich in eine der mittleren Reihen. ---- Ganz allmählich
wird der Besenstiel der Putzfrau zum Zeigestock. Und langsam hebt sich der
Schleier. Da sitzen sie: der Spillus, der Negus, der Blank, der Orczekowski, Behlau, Lambeck, Conny Schulz, Ruhnau,
Krieger, Bernotat, Franz Wiewiorra, Blumental, Richter, Dannowski, Hasselberg,
Herbert Tolksdorf, Leo Kelch, Paulchen Werner, Georg Weißgerber, Ernst Walter,
Hutzel Arendt, Horst Schlobinski
und, alle überragend an Gewicht, Erwin Widder – und so weiter, und so weiter,
um nur einige zu nennen.
Aber Paulchen Grunau kommt nie mehr, sein freundliches Gesicht, darunter,
breit lächelnd, die Fliege. Er hat doch müssen – zum Militär. Heute soll
der Neue kommen aus Königsberg, ein Kunstmaler. Und da erscheint er schon,
stellt sich vor die Klasse und beginnt: „Ich hoffe, daß wir alle gut
miteinander auskommen werden. Und zuallererst, die Anrede mit Herr Studienrat fällt
weg. Dafür sagt ihr: „Kamerad Biechert.“ Einige Wochen später, als das
Wort Sturmboote immer häufiger in den Wehrmachtsberichten auftaucht, kommt
folgender Spruch über „Kamerad Biecherts“ Lippen: „Ja, früher war alles
anders. Im ersten Weltkrieg hatten wir keine Sturmboote, da nahmen wir ein
einfaches Ruderboot, bemannten es, vorne kam ein MG drauf und schon war das
Sturmboot fertig.“ – Allmählich hatte sich das Verhältnis zwischen dem
„Kamerad Biechert“ (Büchert)
und den Kameradchens weiter entwickelt, und der „Kamerad“ wußte faßt immer
zu jeder Unterrichtsstunde eine humorige und, wie er wohl glaubte, eine
belehrende Geschichte aus seinem Leben zu erzählen, wobei die von seiner Beförderung
zum Zahlmeister für uns wohl am einprägsamsten war. – „Ja, ja,
Jungchen“, so begannen meistens seine Geschichten, – „Ja, ja, Jungchen,
ich war auch eìnmal jung, ich hatte auch einmal ein Mädchen gern. Aber zum
Schluß, was war – zahlen mußt’ ich.“
Die Putzfrau tippt mir auf die Schulter, zeigt mir ihre Schlüssel, sie
muß abschließen. Ich verlasse den Zeichensaal, trete auf den Flur hinaus, die
Sonne strahlt durch die Rundbogenfenster, die Wirklichkeit hat mich wieder. Ich
gehe durch die graue Stahlwand zum Treppenhaus, verweile am Geländer, starre
gegen die kahle gegenüberliegende Wand. Schemenhaft erkenne ich Masken, Larven
mit offenen Mäulern -----
Aber das sind doch die Schlüterschen schmerzverzerrten Köpfe der
„Sterbenden Krieger“. Darunter flimmern die Buchstaben in fein ziselierter
Antiqua: „Dulce et decorum est pro patria mori!“ Ich wiederhole die
Worte des Horaz und werde beim lauterwerdenden Wiederholen im Versmaß durch die
Veränderungen in den Gesichtern der sterbenden Krieger auf gespenstische Weise
gebremst . – Der vermeintlich kaum steigerbare Schmerzausdruck der gequälten
Antlitze gerät in Bewegung. Rhythmisches Keuchen dringt in meine Ohren und mit
gleichzeitigem Auf- und Zuklappen der Augenlider rinnen stoßweise Tränen- und
Schweißströme über die steinernen Gesichter. Wie eine Leuchtreklame laufen
die Worte über die gepeinigten Lippen der drei Sterbenden: „Dulce et decorum
est pro patria mori“, lauter und schneller werdend, geschleudert gegen meine
Person: “pro patria --- mori, patria mori, patria mori!“ hämmert es in
meinen Ohren: “patria mori --- mori!“ – und dann wie das Bersten eines überhitzten Kupferkessels in
die Schmerzensschreie --- die qualvolle
Geburt des Lachens, des Auslachens, des Hohngelächters: „mori –
Ha,Ha,Ha, --- pro patria --- Ha,Ha,Ha!“ Meine Arme rütteln und schütteln das
Geländer, – gefangen. Ich kann mich nicht lösen, klebe wie mit der Zunge am
frostklirrenden Stahlgeländer des Fischmarktes und warte auf Befreiung. – Die
kommt schlagartig durch die ins Schloß fallende graue Stahltür hinter mir und
mit den scheppernden Zinkeimern der Putzkolonne.
Ich stürze die Treppe hinunter, rutsche durch blutige Schweißpfützen
auf dem Treppenpodest unterhalb der Kriegerköpfe. Hinaus
! --- hinaus
! „Patria
–mori, --- mori!” schallt das Gelächter nach und wiederholt sich echoartig.
– Beim Zurückblicken sehe ich, wie die Putzfrauen kopfschüttelnd, immer
wieder zur Decke schauend, das Treppenpodest reinigen. Ich verlasse Gebäude und
Schulhof, gehe benommen über die Langgasse zur Ruine der Pfarrkirche. Der
Wiederaufbau hat begonnen. Das Kirchenschiff ist bereits eingedeckt. Ein
schlanker Rest des Turms ragt in den Himmel wie der Zeigefinger Gottes, nicht
drohend, sondern mahnend zum Frieden und zur Versöhnung. Die Kreatur hat das
versöhnliche Zeichen verstanden und ganz oben auf der Kuppe des Zeigefingers
ein Nest gebaut, ein Storchennest, das schließlich mit dem Baufortschritt durch
ein Balkenzelt abgedeckt wurde, um nicht im kommenden Jahr ein Storchenpaar
vertreiben zu müssen.
Wie human waren inzwischen die polnischen Menschen geworden! !
Doch nun brauchte ich die Gewißheit, daß die übrige Welt noch
existierte. Konnte ich sie hier erhalten? Daß neben der strahlenden Sonne auch
noch die Sterne am Firmament standen. Hier, d.h. Königsberger Straße,
Hausnummer 44 auf blauweißem Emaille–Quadrat. Ich öffnete die Gartenpforte,
Frau Hohmann, die Witwe eines Postbeamten, saß am Stubenfenster, schob die
Gardine etwas zur Seite und nickte freundlich. Es war wie immer. Ich durfte die
Weltordnung kontrollieren. Ich betrat das Haus, und durch eine Art Stalltür
ging’s direkt in den Schornstein. Hier hingen winters die Schinken,
Speckseiten und Würste. Da stand man mitten im Schornstein, schaute nach oben
und musterte die Delikatessen, die an allen Seiten des Schornsteins hingen und
vom Holzrauch aus den Öfen der
dahinter liegenden Stuben beräuchert wurden. – Das war gewissermaßen eine
heilige Handlung für die Hausbesitzerin, die von ihrem Fach etwas verstand und
immer eine stattliche Liste von Räucherinteressenten in ihrer Vertiko-Schublade
hatte. Denn perfekt geräucherte Ware war einiges wert während des ganzen
Jahres. Und wie gut das Geräucherte war, konnte man an den in der Erbsensuppe
oder im Sauerkohl mitgekochten Speckschwarten beurteilen. Wurden die schön
weich, war der Rauch gut. Diese Gedanken machten Appetit, und der führte zurück
in die Wirklichkeit, aber nur für kurze Zeit. Hier war ein märchenhaftes Phänomen
zu bestaunen, das mir bis heute ein Rätsel geblieben ist und auch bleiben soll.
Ich schloß die Tür und stand in völliger Dunkelheit auf dem 2m x 2m
großen Backsteinboden. Ich sah nach oben in den quadratischen Ausschnitt des
Himmels. Ich war wieder Sterngucker am helllichten Tage. Da funkelten sie, die
Sterne, vom wolkenlosen Himmel, trotz strahlender Mittagssonne. Die Welt war
doch in Ordnung!
Arno Holz beschreibt diese Erscheinung so: In uns’rer
alten Apotheke mit den
vielen Treppen und Dachböden waren lauter
Schornsteine. Unter den
einen konnte man sich mitten drunter
stellen und sah dann
am helllichten Tage die Sterne. Manchmal war
alles dunkel. Dann sah man
gar nichts und fühlte nur, wie einem die
dicken, schweren Regentropfen eiskalt auf
die Backen platschten. Aber das Schönste
war doch, wenn man kurz vor Weihnachten, frühmorgens, wenn das
ganze Haus nach Marzipanherzen roch, grad’ unter
dem kleinen, viereckigen Kuckloch oben, unten auf der
Erde einen weißen, spitzen Schneehaufen entdeckte. Der glitzerte
dann wie eine Konditormütze !
Eine Konditormütze sehe ich jetzt nicht. Ich stehe im Freien. Viel Leere
um mich herum. Nur noch 3 Häuser auf der Sonnenseite der Königsberger Straße.
Jetzt ist
1 9 8 3 ! Die Schule ist aus! – Es zieht mich wie immer von der Schule ins Elternhaus. Es müßte noch am anderen Ende der Stadt zu finden sein, eingeschlossen von beiden evangelischen Friedhöfen am Ende der Ritterstraße. 77 war die Hausnummer. Aber die stimmt heute nicht mehr. Die Haustür ist geschlossen. Mit Hilfe eines alten Photos, das uns drei erstgeborene Jungens, schön versteckt hinter den Latten des Staketenzauns, zeigt, während Vater und Mutter als stolze Hausbesitzer aus dem Fenster sehen, mit diesem Photo, das ich auf Scheckkartengröße zusammengefaltet und stabilisiert habe, öffne ich die Haustür, indem ich ganz vorsichtig den Schnäpper zurückdrücke.
Vier Türen sind im Erdgeschoß, sie öffnen die kreisförmig um den
Schornstein angeordneten Räume: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Flur.
Hei! – Jetzt kann der Reigen beginnen, immer im Kreise, linksherum, die
Zeit zurückgedreht. Aber aufgepaßt, nicht stolpern über die Türschwellen.
Schnell hat man sich wieder daran gewöhnt, und dann geht es, mit jedem
Kreislauf jünger werdend, mit Schwung die Treppe in drei, vier Sätzen hinauf
auf die Lucht, und dann bin ich im Kinderzimmer. Mittendrin der übergroße
Tisch, an dem wir unsere Schularbeiten machten. An einer Wand zwei Betten, an
der gegenüberliegenden Seite Kleiderschränke mit Bücherfach. Zwischen beiden
Fenstern eine schwere Kommode mit 3 Schubfächern und einer Marmorplatte, darauf
stehen Waschschüssel und Wasserkrug aus Tolkemiter Majolika. Neben der
Eingangstür der transportable Kachelofen, dessen Heizleistung jedoch nicht
ausreichte, während des Winters den Wasserkrug eisfrei zu halten.
Es ist die Zeit, da das 4 ½ – Pfundbrot 45 Pfennige kostete und beim Bäcker
Alshut in der Seeligerstraße nur auf Marken zu bekommen war: 1 9 4 1 !
Verdunkelungszeit, und auch die Sraßenlaterne vor dem Haus war ausgepustet. Ich
kann nicht einschlafen.
Da höre ich jemanden die knarrende Holztreppe heraufkommen. Zwei kräftige
Fäuste trommeln gegen die Tür: bumm, bumm
– bumm, bumm
– bumm, bumm.
– Die Tür wird geöffnet,
schlurfende Gehgeräusche wie auf Filzschlorren bewegen sich um den Tisch, ganz
dicht an meinem Bett vorbei. Ich halte die Luft an, die Bettdecke mit beiden Händen
über die Nase gezogen, nur die Augen freilassend und dem Geräusch folgend. –
Ich kann nichts erkennen. Und noch einmal der Gang um den Tisch
– an meinem Bett vorbei
– wieder nichts zu sehen.
– Dann wird die Tür kräftig
zugeschlagen. Mörtelstaub rieselt hinter der Türbekleidung. Das Hinuntergehen
über die Holztreppe kann ich nicht
vernehmen. So warte ich denn, ob sich der Rundgang um den Tisch
wiederholt. Aber es geschieht –
nichts. Der
nächste Morgen. Ob mir meine Mutter Angst machen wollte? Das ist nicht ihre
Art. Sie verneint, es gewesen zu sein.
Aber jetzt ist 1 9 8 3 ! Während
ich den damaligen Ereignissen nachsinne, höre ich auf der Treppe wieder
Schritte, fremde Schritte. Höre sie mit ähnlicher Aufregung.– Zwei Frauen
betreten die Stube, eine jüngere mit Kind und Frau Dudzinska von der Ritterstraße
9, wie sich später herausstellte. Sie ist Deutsche. Keine Vorwürfe, daß ich
das Haus ohne Erlaubnis betreten habe. Mein Auto vor der Tür habe mich
angemeldet. Frau Dudzinska kann meinen Bericht über das damals Erlebte übersetzen.
Aber ich komme über den Anfang nicht hinaus. Die junge Polin erzählt mein
Erlebnis von 1941, das viele Jahre später auch ihr Erlebnis wurde, mit ihren
Worten ganz genauso, wie ich es zitternd im Bett erfahren hatte noch einmal und
setzt am Schluß nach einer längeren Pause hinzu: „Wir haben geglaubt, es wäre
die Seele irgendeines gefallenen deutschen Soldaten.“ Ihre Mutter, mit dem
deutschen Namen Erdt, die unbemerkt dazugekommen war, ergänzte
später: „Als wir 1945 das Haus bezogen, lagen hier drei tote deutsche
Soldaten drin, die haben wir gegenüber auf dem Friedhof beerdigt.“ Und beim
Hinausgehen an der Stubentür: „Bald 40 Jahre habe ich nun das Haus von oben
bis unten saubergehalten, aber soviel Mörtelstaub wie an jenem Morgen habe ich
an der Tür nie wieder gefunden. Was
ist ein „Ermländer“?
Waren alle Ermländer Katholiken? Gewiß nicht. Etwa 10 % der Ermländer
waren Protestanten. Aber es gab auch kirchenfreie Ermländer. Die begaben sich
sonntags zwar auch auf den Kirchweg, brachten es aber in der Neustadt nur bis zu
„Angrick“ und in der Altstadt bis zur 1. Kirchenstraße zu „Fittkau“.
--- Da war Schluß. ------ Dort
bekamen sie einen Hafersack umgebunden und warteten das Ende des Gottesdienstes
ab: unsere gutmütigen, zugkräftigen Ermländer, ohne die die Entwicklung
unserer Heimat nicht möglich gewesen wäre.
Doch zurück zu den Zweibeinern und zum Verhältnis zwischen Katholiken
und Protestanten. Schon durch die Trennung von katholischen und evangelischen
Kindern in den Volksschulen war ein differenziertes Denken über die andere
Konfession gegeben. Auf dem Schulhof in der Seeligerstraße gab es einen imaginären
Kreidestrich, der in den Pausen von den Kindern der jeweils anderen Konfession
nicht überschritten werden durfte. – Ehen zwischen Katholiken und
Protestanten galten als Mischehen. Ich habe ein Gebet meiner Mutter im Ohr, das
sie immer an den Schluß des mit uns Kindern gebeteten Rosenkranzes
setzte: „Lieber Gott, mach’, daß die Evangelischen wieder zum
rechten Glauben zurückfinden“. Es
führen viele Wege nach Braunsberg! Diesmal ist es die Stadt Viersen im
Rheinland – etwa 1 9 6 5 . In
Viersen gibt es einen gut geführten Farben –, Glas– und Tapetengroßhandel:
Peters senior. – Der Besitzer war der zu jener Zeit etwa 80- jährige Dr. Hülser,
gleichzeitig Oberbürgermeister der Stadt Viersen.
Eines Tages betrat ich die Eingangshalle der Farbengroßhandlung. Dr. Hülser
kam auf mich zu und fragte nach meinen Wünschen. Als ich die vortrug, erkannte
ich in seinen Augen eine Veränderung, die jedoch nicht von dem geschäftlichen
Gespräch herrühren konnte. – Ich sah mich veranlaßt, innezuhalten, was
erkennbar dankbar aufgenommen wurde.– Dr. Hülser fragte mich: „Was sind sie
für ein Landsmann?“ – „Ostpreuße“, sagte ich. „Ja, ja, das habe ich
wohl gehört, aber woher?“ – „Aus Braunsberg.“ – Und
damit, glaubte ich, wäre die Ostpreußenreise wohl beendet.Was konnte ein
Rheinländer schon von Braunsberg wissen? – Aber es kam ganz anders.–
Dr. Hülser: „Es war wohl so
1919, 1920. Ich war junger
Kommandeur der Nachrichtentruppe in Königsberg. Eine politisch unruhige Zeit,
Nachkriegs – Wehen mit Unruhen, demonstrierenden Parteien, bewaffnete Anschläge
und ähnliche Aktionen des Spartakus, Kapp-Putsch usw. Zur Bekämpfung dieser
Revolten wurde sogar Artillerie eingesetzt. Und so war es passiert, daß ein
Geschoß in ein Eckhaus ein großes Loch gerissen hatte. Nachdem sich die
Lage beruhigt hatte, ging ich in das Haus, um den Bewohnern meine Hilfe
anzubieten. Das war anscheinend nicht erwünscht. – Eine Frau, die dabei war,
die Glassplitter aufzufegen, sagte zu mir (und jetzt sprach der Rheinländer Dr.
Hülser waschechtes Ostpreußisch): „Ach, wissen se, Herr Leitnant, das is
alles halb so schlimm, aber ich hab’ 10 Jahre lang in Braunsberg gewohnt, mang
lauter Katholiken, das war viel schlimmer!“
-- Das war 1920. --
Unser lieber Grönke, ( Papiergeschäft an der Steinbrücke) äußerte
einmal zum Thema Katholiken – Protestanten: „Wir waren doch tolerant.“
Liegt darin nicht eine gewisse Überheblichkeit, ein Herabschauen auf etwas
Geduldetes? In meinem
Elternhaus hingen keine Gainsboroughs, wurde auch
kein Chopin gespielt. Vater und
Mutter waren schon mal im Theater gewesen, im Stadtwald,
vor der Freilichtbühne.-- Operette? – Ja ! Und einmal
„Ein Sommernachtstraum“, so 1936/37. Davon zehrten
wir alle! (nach
Gottfried Benn) Von
Mutters Gesang zehrten wir alle. Von morgens bis abends sang sie, dann war sie
gesund, das hielt gesund. Aber sonst zehrten wir nicht von Reichtümern. Zu
einem wesentlichen Teil sind wir von Glums, Krischel und Klunkermus groß
geworden. Und, wenn die Zeit gekommen war, Gänsebraten, sonntags, aus eigener
Schlachtung. Dann wurden die Fenster geöffnet und mit kräftigen Stimmen
gesungen: „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage.“ Damit die
Nachbarn von dem ohrenbetäubenden Duft auch etwas mitbekamen. Freude wurde gern
weitergegeben. Es
sind die Erinnerungen, die uns geblieben sind, Erinnerungen, die allmählich zu
Träumen werden, zu Träumen nach rückwärts gerichtet. Von
Chateaubriand stammen die Worte: Mit den
wirklichen Dingen brechen bedeutet nichts. Aber mit den
Erinnerungen brechen, bedeutet alles! Das Herz
bricht, wenn es sich von den Träumen trennen muß.
Diese Träume können nicht vertrieben werden. Sie wabern weiter. Wie
jene Bilder, die in der Königsberger Straße entstanden, wenn die Sonne auf die
Südfassaden der Häuser knallte und die Thermik alles wie eine Fata Morgana ein
ein wenig über den Juli – Bürgersteig abhob und Entgegenkommendes unwirklich
zittern und schemenhaft flimmern ließ. Heute, jedoch, entschwindet alles, was
wir auf der Erinnerungs – Einbahnstraße noch erahnen können. Es hat keinen
Sinn, unsere Schritte zu beschleunigen, den Bildern nachzujagen, auch wenn die
Barfußsohlen auf den heißen Gehwegplatten noch so sehr brennen. Die Bilder werden kleiner und kleiner. Und auch die Stimmen verblassen – werden undeutlicher, als wenn die Instrumente, auf denen wir unsere Lebensmelodie blasen, wurmstichig geworden sind und Nebenluft bekommen hätten. Sie schnarren oder lispeln unverständlich und werden so leise, als wenn man ihnen mit einem verkehrt herumgehaltenen Fernglas nachspürte. Das Band zwischen Geschichte und Gegenwart wird immer dünner und schwächer. Schon zittert es überspannt. Wie bald werden aus den Geschichten schimmernde Märchen werden!
Vielleicht hat Hermann Sudermann recht: „Das ganze Leben ist wie ein Märchen,
nur, wir Menschen merken nichts davon.“ Taumeln
wir durch die Welt wie die Wanderraupen im Sand der Nehrung?
Kopf – und Schwanzraupe, von uns Kindern zusammengeführt, immer im
Kreise, zielstrebig in die unendliche Leere! ? Und
unser Herrgott bläst seine Melodie dazu, auf dem Fa- Gott. Der Herrgott bläst
Fagott mit sonorer Stimme, manchmal gicksend, als lachte er sich eins. –
Manchmal so überschwenglich lachend über unsere Dummheit, als wären wir
Menschen seine größte Lachnummer.
Und unsere Zeit verrinnt und verweht wie der Nehrungssand von Narmeln und
Kahlberg. -- Zeit und Nehrungssand
kann man nicht festhalten. Sicher hilft da nicht das Vergessen. Oder hatte meine
Mutter recht, wenn sie eines ihrer Operettenlieder
sang? „Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.“
Im Frühjahr 1973, ein halbes Jahr bevor er starb, besuchte ich in Ürzig
an der Mosel, meinen Onkel Paul (Laws). Nach dem Besuchskaffee fragte er mich:
„Sag’ mal Helmut, eins verstehe ich nicht, der Weltkrieg war doch von 1914
bis 1918, aber warum sind wir erst 1945 von Braunsberg weggegangen?“ – Er
war einer der vergeßlichen Glücklichen! --
„Tatsachen sind Feinde der Wahrheit“, sagte Cervantes, der seinen Don
Quijote gegen spanische Windmühlenflügel kämpfen ließ. Was drückt
eindringlicher die Wahrheit aus als ein Dokument? Ich habe ein Dokument: meinen
Reisepaß, ausgestellt von der Bundesrepublik Deutschland am 7.2.1989, auf den
Namen: Helmut Stange, geboren am: 23.3.1926, geboren in Braniewo! Darauf
kann ich wiederum nur mit einem Zitat antworten:
„Wer uns unsere Namen nimmt, nimmt uns unsere Vergangenheit!“ Meine
Schulwege
Es war die Zeit, als die Laibkuchen 5 Pfennige kosteten, 4 Brötchen- 1
Dittchen, das Haarschneiden – 1 Mark, Rasieren – 25 Pfennige, 1 l Vollmilch
– 12 Pfg. und der Salzhering beim Fischhändler Lange in der Poststraße 37
– 4 Pfg. das Stück, frisch aus dem Holzfaß.
– Und was wurde verdient?
Der Handwerker im dritten Gesellenjahr bekam 60 – 70 Pfg. je Stunde; der
Lehrling im ersten Lehrjahr – 3,20 RM pro Woche, im 2. Jahr – 5 Mark und im
3. Lehrjahr mußte er sich mit 6,50 RM begnügen. Dafür bekam er keine „Mutzköppe“
mehr. Für mich gab es in Braunsberg nie solche Lehrjahre, aber immer weite
Schulwege. Zuerst von der Lederfabrik Berger in der Bahnhofstraße zur
Hindenburgschule zwischen Landgericht und Zigarrenfabrik Loeser & Wolf. Dann
von der Seeligerstraße und schließlich von der Ritterstraße zum Gymnasium.
– Der direkte Weg zur Hindenburgschule, die Poststraße hoch, wurde öfters
durch akustische Eindrücke umgeleitet, besonders dann, wenn vorher die Bohlen
der Holzbrücke durch darüberrollende Autos in polternde Schwingungen versetzt,
das Kontrastprogramm geliefert hatten . Dann lockte ein stetiger Klingklang in
ein enges Seitengäßchen direkt hinter der Holzbrücke, in die Werftgasse. Die
lieblichen Geräusche, weihnachtsglockengleich, kamen aus einem Raum, der das
Elend der Geburtsstätte in Bethlehem übertraf. – Hier stand der Nagelschmied
in einer rußgeschwärzten Kammer zwischen Grudefeuer und blinder
Fensterscheibe, stumm hämmernd mit schiefsitzender Nickelbrille. Für mich das
Urbild des armen, geschundenen, ausgezehrten Arbeiters. Ihm konnte man wirklich
das „Vaterunser durch die Backen blasen“. Er sah aus wie der „Dood von
Kiewke“, der sich die Töne seiner Totenglocken mit großer Inbrunst selbst
schmiedete. Lieblicher sollten sie klingen, lieblicher als sein gehabtes Leben.
– Das ließ sich wohl anhören! – Jedoch was sahen die Augen? Mein junges
Leben beeindruckte das Bild. Jene gespensterhafte Figur, die die Töne mit
gleichbleibender Frequenz, wie mechanisch, in jahrelang geübtem Bewegungsablauf
erzeugte. Die Augen starr auf den glühenden Draht gerichtet, wohl in seiner
transzendenten Gefühlswelt gefangen, die auf Erden nicht mehr wahrnehmbar ist.
Wie beiläufig entstanden seine Erzeugnisse: Spezialnägel, Ziernägel für
Polsterer und Sargtischler. So
stand ich denn da, unbeachtet. – Mich hatten die Klänge gelockt!
Der morgendliche Schulweg ließ wenig Zeit zum Verweilen, und auch die
dunkle Werftgasse gab nicht viel Erhellendes her. – Aber wenn der Klingklang
allmählich leiser wurde, hatte man zur linken Hand eine Stahltür, die ich all
die Jahre meiner Schulzeit nie verschlossen gefunden hatte. Sie führte zu einem
kleinen Hof vor Bäcker Samlands Backstube. Der Bäcker Samland war jener
Meister, der am äußersten Ende des Anlegers an der Passarge, unterhalb von
Paul Rückwardts Haus, dem Schiffseigner von „Braunsberg I
und II“, seine
vielbestaunte Motoryacht liegen hatte. –
Doch zurück zur Hoftür vor der Backstube. Wenn man die vorsichtig öffnete,
hörte man zunächst surrende Geräusche wie von Großmutters Spinnrad, dann sah
man seitlich unter einem Vordach, vor Regen geschützt, zwei alte ca. 40 cm große
runde Mehlsiebe, die durch ein Holzkreuz verstärkt und mit einer Achse an der
Wand so angebracht, daß jeweils ein Eichhörnchen, auf den Innenseiten der
runden Spanholzwände laufend, das Mehlsieb rotieren ließ. Ein lustiges Bild für
uns Kinder, und die zwei buschigen Eichhörnchenschwänze vermittelten
Lebensfreude.
Hier arbeitete unser Onkel Hans. Hier hatte er sein Bäckerhandwerk beim
alten Samland kurz nach der Wende ins 20. Jahrhundert erlernt. Hier knetete er
die unterschiedlichsten Teige. – Und Hände hatte der Onkel Hans, kräftig und
breit, wie die Schaufeln des Maulwurfs. Und auch die Finger hatten von der
jahrelangen Kneterei die normale Form verändert. Sie waren äußerst gerade, im
ovalen Querschnitt etwa doppelt so breit wie hoch und schlossen im Bereich der
Finger so fugenlos dicht, daß aus seinen Händen kein Nehrungssandkörnchen
entweichen konnte.
Es gibt mindestens zwei Dinge auf der Welt, die man nicht festhalten
kann: die Zeit und den rieselnden Nehrungssand. Beides zusammen, Sand und Zeit,
ergeben die Sandzeiten, wie sie in den alten Eieruhren verwendet wurden. Da ein
jeder Mensch seine ureigensten Sandzeiten hat, konnte der Onkel Hans mittels
seiner ausgeprägten Hände seine Sandzeiten recht gut beieinanderhalten. Und er
war wegen dieser seiner Handeigenschaften im Herzen immer jung geblieben,
solange, bis ihm 1945 ein russischer Soldat auf dem Wege nach Heiligenbeil, so
bei Einsiedel, mit einem Gewehrkolben die sorgfältig aufbewahrten Sandzeiten
aus der Hand schlug und seine Zeit schlagartig verlorenging und abgelaufen war.
Ja, der Russe war noch nicht bis zur Nehrung vorgedrungen und kannte die
Bedeutung der Sandzeiten nicht.
Doch nun zurück zu meinen Schulwegen. Später
in der Gymnasium–Schulzeit unterblieben die Schlenker nach rechts oder links
in die Nebengassen der Poststraße, da ging’s geradeaus weiter. Meist, so kurz
vor dem steileren Teil der Poststraße, überholte mich unser „Waldi“
Zimmermann – viele Jahre später mein Klassenlehrer in Rotenburg. Oft genug
habe ich ihn gesehen, wie er in Knickerbockern mit strammen Waden auf seinem
Ballon – Fahrrad mit der hohen Lenkstange kurz vor der Wasserstraße tüchtig
aufdrehte, mit kräftigen Stößen Schwung aufnahm, kerzengerade im Sattel sitzend, die Poststraße hinaufstrampelte, das letzte
Stück bis zur Post etwas mühsam, aber dann wieder recht gelöst und
zufriedenen Auges an Steinhaus und Akademie vorbei bis zur Steintreppe ausrollen
ließ, mit geübtem Griff ins Gestänge des Rades packte und schwungvoll das
breite Tor unter der vergoldeten Frakturschrift „Alles für Deutschland“
durchschritt. Die Zeitung steckte immer wohlgefaltet in der rechten
Jackentasche, so daß man unschwer erkennen konnte, um welches Blatt es sich
handelte.
Bei besonderen politischen Anlässen, wenn in der ersten Stunde Deutsch
oder Geschichte gelehrt wurde, dann ließ „Waldi“ es sich nicht nehmen,
einen besonderen Artikel aus dem „Völkischen Beobachter“ vorzulesen. Bevor
so etwas geschah, war es unerläßlich, seine überaus starke Brille von minus
14 Dioptrien zu putzen. Dabei betonte er während des ausgiebigen Putzvorgangs,
daß man für das Reinigen der Gläser bei einer solchen Lektüre unbedingt
Toilettenpapier benutzen sollte, wie er es tat, denn dann erst bekäme man den
richtigen politischen Durchblick.– Das Zuhören war nicht anstrengend und hat,
soweit es mich betrifft, keine thematischen Erinnerungen hinterlassen.
Einen Vorfall, jedoch, es muß um den 20. April gewesen sein, möchte ich
nicht verschweigen. Es ist möglich und auch wahrscheinlich, daß „Waldi“
das uns Vorgelesene bereits in seiner Wohnung überflogen hatte. Jedenfalls
dauerte der Lesevorgang nur bis zu seinem Aufschrei: „Ich kann das nicht mehr
lesen!“ Sein mächtiger Kopf schlug vorn auf das Katheder und gurgelnde, immer
schwächer werdende Laute rieselten über seine Lippen: „unser --- geliebter
--- Führer.“ Aber auch diejenigen, die in den hinteren Reihen erst durch den
Aufschrei: „Ich kann das nicht mehr lesen,“ geweckt wurden, erkannten bald
die Ursache von „Waldis“ Übelkeit . Aus seinem weitgeöffneten Mund quollen
die Wörter in langen Reihen, gut sortiert: „Führer – geliebter –
unser.“
Was war zu tun?
Die Beweise der wahren Haltung unseres „Waldi“ mußten beseitigt
werden. In der vordersten Reihe hatte einer von uns, der einen Tag vorher
Geburtstag hatte, die Situation schnell erfaßt. Er leerte seine Schultasche und
sammelte die verunstalteten Wörter schnell ein und vergaß auch nicht, einige
schamvolle Ausreißer unter dem Katheder mit dem Stechzirkel hervorzupicken. Er
verließ schnell den Klassenraum, um das Beweismaterial aus der Schule zu
schaffen. Der erwachende „Waldi“ faltete die Zeitung bedächtig zusammen,
verweilte kopfschüttelnd über dem soeben vorgelesenen Text, warf die Zeitung
in den Papierkorb und setzte den Unterricht fort mit den Worten: „Wir machen
weiter mit Snorri Sturluson.“
Nachdem die Stunde beendet war, stürzte natürlich alles zum Papierkorb.
Der bewußte Artikel wurde zwar gefunden, jedoch die verlorengegangenen Wörter
fehlten --- an 17 Stellen. Am Nachmittag sah man unseren Mitschüler, versteckt
unter den Erlen des Regittergrabens, die Wortfetzen reinigen, wobei ihn hin und
wieder die zwischen den Erlenwurzeln hausenden Flußkrebse zwickten. Aber das störte
ihn nicht sonderlich. – Geheimhaltung war alles! Dann trug er die Ware in die
nahegelegene elterliche Wohnung, stieg auf die Lucht und hängte sie fein säuberlich
zum Trocknen auf die Leine. Was er am nächsten Tag in die Schule brachte waren
17 Wörter „geliebter “ und 17 Wörter „unser“. Die
Rechnung stimmte zwar, ging aber nicht auf! Den Rest hätten, wie er sagte, die
Ratten gefressen.
Wie sollte es nun weitergehen? Das sollte nach Schulschluß besprochen
werden. Bis dahin war noch einige Zeit zum Überlegen. Das taten zwar alle, aber
in der nächsten Pause auf der Philosophierstufe war die Lösung gefunden worden
und allgemein akzeptiert.
Es dauerte 14 Tage bis das Ergebnis zu bestaunen war. Besonders erfreut
war unser „Waldi,“ dem auf diese Weise ein nie mehr enträtselbares Dokument
übergeben wurde, nie mehr enträtselbar, solange jeder Stillschweigen bewahrte.
Und alle bewahrten Stillschweigen.
Was war während der 14 Tage mit den 34 Wörtern geschehen? Sie wurden
nochmals eingeweicht, gezogen, gestreckt, gebügelt, ausgerichtet bis lange Bänder
auf kräftiger Unterlagspappe fixiert waren. Dabei erwieß sich die schwarze
Farbe als äußerst widerstandsfähig. Nun wurden mit der Schneidefeder
linienfeine Streifen geschnitten und gleich auf weißen Pappkarton übertragen.
Es ging nichts verloren. Abschnittsreste wurden zu Haaren, Punkte zu Augen, und
ein eleganter Kreis aus mehreren Linien hielt alles zusammen. Die
Verwandlung war perfekt.
So präsentierte Bernd Reichert seinen berühmt gewordenen „Kreislauf
der Gehirne“, der die Köpfe unserer Lehrerschaft darstellte. Dabei ahnte
keiner der Abgebildeten, was sie zusammenhielt, auch „Waldi“ nicht, der nie
gefragt hat, was damals in jener Deutschstunde mit ihm geschehen war. Vielleicht,
jedoch, war jene Deutschstunde der Anlaß dafür, daß er mit uns
Luftwaffenhelfern nach Rotenburg an der Wümme mußte. Organist
Sommer und die Kraft der Musik.
Es führen viele Wege nach Braunsberg, wenn es auch manchmal weite Umwege
werden. – 1988, während unseres 14-tägigen Aufenthaltes in der Toscana kamen
wir auch nach Pisa und zum berühmten Platz der Wunder, „Piazza di Miracoli”,
vielleicht besser übersetzt mit “Platz des Wunderbaren.“ Kathedrale,
Schiefer Turm, Campo Santo mit den Grabmalen berühmter Leute und das
Baptisterium, die Taufkapelle, eher ein Taufturm. –
Während wir in letzterem das Mosaikgewölbe im kühlen Dämmer zu
entziffern suchten, schloß sich die Eingangspforte, und der in Graublau
gekleidete Aufsichtsbeamte brachte seine sonore Stimme in Schwung. Hin – und
zurück – rollend von einer Oktave in die andere, verstärkte sich durch den
Echozuschlag der Klang, die Intensität immer weiter und lauter, so daß schließlich
der hohe Turm beängstigend mitvibrierte. Dann brach der „Sänger“ seinen
Nachschub an Tönen ganz plötzlich ab, und man hatte den Eindruck, daß das
Spiel nicht hätte viel weiter gehen dürfen, sonst wäre wohl auf dem weichen
moorigen Untergrund, auf dem auch der Schiefe Turm steht, für das Baptisterium
kein Halt mehr gewesen.
Um den „Sänger“ hatten sich inzwischen viele Leute versammelt, die
ihn schweigend bestaunten wegen der Kraft seiner Stimme. Als die Pforte wieder
geöffnet wurde, standen wir in der Nähe eines deutschen Ehepaares. Der Mann
unterhielt sich in flottem Italienisch mit dem „Sänger“ und übersetzte das
Gehörte seiner Frau. Daraus entnahmen wir, daß die kraftvolle Wirkung des
Gesanges nur von einer bestimmten, auf dem Fußboden markierten Stelle möglich
sei und tatsächlich bei einer bestimmten Frequenz und Intensität der Gesang
abgebrochen werden müsse, um Schäden am Gebäude zu verhindern. – Diese
Anordnung bestünde seit 1 9 5 4, nachdem ein Besucher von einem eingestürzten
Kirchturm irgendwo in Deutschland, verursacht durch Orgelspiel, berichtet habe.
Er, der Besucher, habe damals eine Niederschrift verfaßt, die gleich nebenan im
Archiv einzusehen sei. – „Das interessiert mich,“ sagte der
Deutschsprechende, der sich aber später als Österreicher vorstellte. Ich war
natürlich auch neugierig.
Wir schlossen uns ihm an, zumal ich glaubte, daß die Niederschrift in Deutsch
abgefaßt worden wäre. – Wir erhielten Einsicht.
Das Archivpersonal hatte Fotokopien von allen möglichen Dokumenten, die,
wahrscheinlich zur Aufbesserung der eigenen Schatulle, gegen Bezahlung gern
abgegeben wurden. – Die Niederschrift war in Italienisch abgefaßt und nur
noch in einfacher Ausfertigung vorhanden, so daß ich den Österreicher bat, mit
mir in einen nahen Fotoladen zu gehen, um dort eine Fotokopie der Fotokopie zu
erhalten. – So kam ich in den Besitz des Textes. Irgendwie war ich jetzt
beruhigt, denn eine dunkle Ahnung hatte mich gedrängt, hartnäckig die
Erlangung der Niederschrift zu verfolgen. Um so überraschender war die später
in Deutschland erhaltene Übersetzung mit folgendem Inhalt:
Ich komme mit meiner Mutter aus Arrezo und bin das erste Mal in Pisa. Wir
haben die Piazza di Miracoli bewundert. Ganz besonders bin ich von der Akustik
im Baptisterium beeindruckt. Ich befürchte aber, daß durch die Schallwellen am
Gebäude Schäden entstehen oder Mosaiksteine auf die Besucher fallen können.
Deshalb haben wir uns in der Nähe des Ausgangs aufgehalten. – Ich habe vor
genau 9 Jahren, am 13.3.1945 (es ist der Geburtstag meiner Mutter) erlebt, wie
Schallwellen einer Orgel einen Kirchturm zum Einsturz brachten. – Es waren die
letzten Tage des Krieges. Ich hatte im italienischen Korps gegen den Kommunismus
gekämpft, war in Ostpreußen verwundet worden und lag im Lazarett in
Braunsberg. Die Front war nahe, und es war höchste Zeit, den Ort zu verlassen.
Ich war soweit hergestellt, daß ich gehen konnte und wollte in der Kirche ein
Dankgebet für meine Genesung sprechen und um sichere Heimkehr bitten. Ich
betrat die Kirche. Darin herrschte große Aufregung. Ich versteckte mich hinter
einer Säule und begann mein Gebet, als eine Detonation die Kirche erschütterte.
Teile des Turms stürzten ein, und aus dem Staub erklang die Orgel mit schrillen
Tönen. Niemand saß an der Orgel. Es war gespenstisch.
Der ganze Turm erzitterte wie im Todeskampf, und die Orgel schrie dazu
ihre Klagelaute, ließ den Turm schwanken und schließlich ganz einstürzen. Ich
habe bis auf die erste Detonation keine weitere Explosion gehört.
– Darum meine
Warnung an die singenden Wachmänner im Baptisterium, vorsichtig zu sein. ---- Pisa,
den 19. 3. 1954 --- gez. Paolo Lamamonte.
Vielleicht bedurfte es dieses Erlebnisses in Pisa, um spontan an unsere
Kirche St. Katharina, die mächtige Orgel und den Meister daran, Organist
Sommer, erinnert zu werden. – Schon in der Neustädtischen Kirche schlich ich,
wenn es irgend möglich war, die steile knarrende Holztreppe zur Orgel empor,
deren Rückseite man ja nie zu Gesicht bekam. Hier oben waren es meist derbe
Handwerksburschen mit viel Kraft in den Beinen, die der Orgel über den
Blasebalg den erforderlichen Musik–Atem einpreßten. Denn hier oben wurde die
Orgelluft nicht elektrisch erzeugt, sondern mit zwei Trittbrettern, die über
zwei Holzstangen mit einem waagerechten Bügel verbunden waren, mußte durch
Gewichtsverlagerung des den Blasebalg tretenden Gesellen der notwendige Druck
erzeugt werden, der den Orgelpfeifen zum Leben und Musizieren verhalf. Wurden
wenige Pfeifen vom Organisten über das Manual angeschlagen, sank der Luftdruck
im Blasebalg nur wenig. Wenn zum Ende der Messe die Orgel zum Schlußakkord
ansetzte, dann waren alle schnellen Kräfte auf den Trittbrettern gefordert, so
daß dann oft zwei Mann sich mühten, die Orgel bei Puste zu halten. In der
Pfarrkirche St. Katharina wurde alles elektrisch betrieben. Man kann sich auch
gar nicht vorstellen, wie der großen Orgel anders die nötige Luft hätte
eingeblasen werden können, wenn bei der kleinen ein solcher Aufwand aus Männerbeinen
erforderlich war. Aber irgendwie muß es wohl doch gegangen sein, denn bis 1927
verrichtete diese Arbeit der Kalkant, eine Berufsbezeichnung, die heute nur noch
im Musiklexikon zu finden ist. Auf der Orgelempore, möglichst nahe beim
Organisten Sommer, gab es allemal viel mehr zu sehen und zu hören. Hier wurde
Schwerstarbeit geleistet mit Händen und Füßen und vor allem mit dem Kopf und
mit dem Herzen. Oder
sollte man Seele sagen?
Wie ist es möglich, daß ein Mensch das gewaltige Instrument zu einem
solchen Leben erweckt? Ich war damals überzeugt, daß andere Kräfte
dahinterstecken als die eines normalen Menschen, der auf die Noten schaut, das
Erlesene in Bewegung der Finger, Hände und Füße umsetzt und damit Töne
erzeugt, die aufwühlen, beschwichtigen, Stimmungen hervorrufen, –
Registerstimmungen. Und
das alles heißt Musik. –
Was ist Musik ? – Man kann es nicht erklären!
Der bekannte verstorbene rumänische Dirigent Sergiu Celibidache, gewiß
ein großartiger Musiker, auch er weiß es nicht, zu erklären. Seine
Behauptung: „Es
gibt keinen Menschen, der Musik wirklich erklären kann.“ – Aber er sagt
doch einmal: “Musik ist die Emanation des Universums“, und dann: „Gott ist
die Emanation der Musik!“
Anders unser Braunsberger Organist Sommer. Er konnte von seinem
Instrument nicht genug hören. Auch nach der letzten sonntäglichen Messe saß
er oft auf seiner Orgelbank und improvisierte. Natürlich war er dabei meist
nicht allein. Denn sobald einige Orgeltöne nach draußen drangen, schlichen
immer einige Leute vorsichtig die leicht knarrende Holztreppe zur Empore hoch,
um in geziemendem Abstand den sicheren Bewegungen der Finger und Füße zu
lauschen. Und wenn er schon mal freundlich herüberblickte und fragte:
„Na?“, kam meist die Antwort: „Toccata !“ – Gemeint war damit die
Bach’sche Toccata und Fuge d-moll, BWV 565. Dann schaute er über sich in den
großen Spiegel – oder schaute er hindurch?, – nahm gleichsam Verbindung auf
zu den himmlischen Mächten, und dann plötzlich platzten die Töne hinaus wie
Blitze.
„Me tocca a mi,“ sagt der Spanier, d.h. er hat mich berührt, er hat
mir auf die Schulter getippt, - ich bin an der Reihe, mich zu äußern. Organist
Sommer gab wie abwesend seine Antwort auf diese Aufforderung, die wir
Dabeistehende nicht verstanden, vielleicht der eine oder andere ahnte. Zum Ende
schaute er uns an, als wollte er hören: „Ja, so ist es!“ Zustimmung hat er
immer erhalten, lauten Beifall wohl nie. Einmal winkte er mich 11-jährigen, der
ihm wohl als der Aufgeregteste vorkam zu sich, rutschte ganz nah auf seiner
Orgelbank heran und sprach zu mir: „Musik“, sagte er, „Musik ist die
Sprache Gottes!“ Seit
der Zeit gehört bei mir zum Höhepunkt jedes Orgelkonzertes diese
Bach – Toccata und Fuge. Ich habe davon Aufnahmen von der Stellwagen
Orgel in Stralsund, der Orgel des Wormditter Orgelbauers in Danzig – Oliva und
von der Orgel des Frauenburger Doms.
„Musik ist die Sprache Gottes.“
-- Diese Erklärung hat für
mich bis heute Bestand und wird gerade in jüngster Zeit durch die allgemeine
babylonische Sprachverwirrung, was heute alles als Musik bezeichnet wird, bestätigt.
Das sind keine Sphärenklänge, eher verschlüsseltes unverständliches
Kauderwelsch, bei dem offensichtlich Gottes Zunge verstummt, als wollte er
andeuten: „So könnt ihr mit mir nicht reden!“ Es fehlt das Göttliche,
es ist nicht seine Sprache, die wohl auch immer weniger vermißt wird.
Leider ist es nicht mehr möglich, Herrn Celibidache die Sommersche
Auslegung des Begriffs „Musik“ mitzuteilen. So
müssen wir dieses Geheimnis für uns behalten! Die
Philosophier – Stufe
Die Geschichte der Philosophier–Stufe wird zeigen, daß auch während
des Krieges 1939 – 1945 intensive Debatten der Jugendlichen geführt wurden.
Und die Jugendlichen waren kaum älter als 18 Jahre. – Verzweifelte Gedanken
– Konstruktionen zu diesem Thema sollten helfen, das Gewissen zu beruhigen und
über die Seelennöte der Wehrpflichtigen hinwegzuhelfen.
Die Philosophier–Stufe ist kein zeitlicher Abschnitt eines oder
mehrerer Semester eines Philosophie–Studiums oder die Bezeichnung für einen
Reifegrad eines dem Streben nach Weisheit bemühten Menschen. Nein, die
Philosophierstufe ist ganz profan jene Stufe aus Naturstein, die den etwa 25 cm
großen Höhenunterschied zwischen dem Schulhofgelände und dem Boden des
Arkadenganges unseres Braunsberger Gymnasiums überbrückte. Aber nicht
die ganze durchgehende Stufe vor dem Arkadengang ist gemeint, sondern nur jene
Teile, die von den Kanten der 9 Pfeiler begrenzt wurden. Denn nur hier konnte
man, gestützt und, besonders im Frühling und Herbst, unterstützt durch die
abstrahlende Wärme an der Südseite der mächtigen Pfeilerquader behaglich
sitzen, während der übrige Teil der Stufe in den Arkadendurchgängen zur Zeit
der Unterrichtspausen lärmend überrollt wurde. Vor den Pfeilern wurden solch
rohe Kräfte gestoppt und in höhere Regionen umgeleitet. Saß man jedoch an
einem dieser begehrten Plätze, war es mit der Profanität vorbei. Nicht nur der
Rücken nahm die wohlige Frühjahrs– oder Herbstwärme genießerisch auf, der
Rückenkontakt mit der archaischen Vergangenheit, der Tradition, mit dem
Gedankengut all jener, die hinter diesen Mauern gelernt und gelehrt hatten,
wurde spürbar. So saßen alle, die während der Pausen einen Sitzplatz
ergattert hatten, schweigend, sinnend, den eigenen Gedanken hingegeben da,
obwohl der Lärm auf dem Schulhof und die Enge der Sitzplätze das Abschweifen
aus der Wirklichkeit verhindern müßten. Auch die, wegen der geringen Höhendifferenz
der Stufe, hochgestellten Knie gestatteten nicht gerade eine bequeme Haltung, förderten
jedoch einen offenen Geist, der zum intensiven Nachdenken Voraussetzung ist.
Diese Wackelstellung zwischen der wärmenden Bequemlichkeit und dem Wachseinmüssen,
wollte man nicht seine positiven Gedanken aus dem herabfallenden Schädel
zwischen die offenen Knie verlieren, war immer nutzbringend und hilfreich,
schwierige Probleme zu lösen, seien sie entstanden auf mathematischen,
physikalischen, fremdsprachlichen oder auch zwischenmenschlichen Gebieten. –
So fand man stets fundierte Lösungen, als wäre hier die Quelle oder jene
osmotische Brücke zwischen gewesenem und aktuellem Gedankengut gefunden. Diese
positive Wirkung der Philosophier–Stufe hatte Bestand auch nach den
Unterrichtsstunden. Nicht nur Fahrschüler, deren späterer Zugabfahrts–Termin
ein Verweilen erlaubte, auch Ortsansässige nutzten diese Sitz– und
Denkgelegenheit, den durch die Pausenglocke unterbrochenen Gedankengang zum
Abschluß zu bringen.
Doch jetzt, im Jahre 1 9 8 3 , ist mein erster, aufregender Schulbesuch
nach 40 Jahren Abwesenheit beendet. Ich erreiche am anderen Ende des
Arkadenganges die Stufen zum Bibliothekenturm und beginne erst dort, gelehnt an
die Innenseite des Arkadenganges, wieder bewußt zu atmen. Ein Kleiber sucht mir
gegenüber kopfunter nach Insekten in den Quaderfugen wie vor 40 Jahren.
Und – ich höre wie damals Stimmen von der Philosophierstufe:„Ich
hatte noch keine Gelegenheit.“ „Gelegenheit?
Wozu?“ „An
den Tod zu denken.“ „Hast
du ihn noch nie gesehen in der Verwandtschaft, im Bekanntenkreis?“ „Das
schon, aber es ist etwas ganz anderes, wenn es um die eigene Haut geht.“ „Wie kommst du jetzt
darauf?“ „Ich
habe gestern den Stellungsbefehl für den 17. erhalten.“ „Wie
so viele andere auch, – also in 14 Tagen.“ „Du
weißt, ich will Theologie studieren!“ „Ich
weiß, es fällt kein Spatz vom Dach ohne den Willen Gottes. Wie einfach du
es hast, Bruno! Und was bekümmert dich?“ „Nicht
so sehr der eigene Tod, sondern der von mir verursachte Tod. Ich kann
auf niemanden schießen!“ „Im
Krieg heißt es, entweder du oder ich.“ „Aber
nicht für mich!“ „Bruno,
denk doch mal nach über Leben und Tod.“ „Meinst
du, das habe ich nicht getan?“ „Gewiß,
schon, – aber auf deine eigene Weise.“ „Was
soll das heißen?“ „Bruno,
das soll heißen, nach deinem und unserem Glaubensbekenntnis. Aber
Tatsache ist doch ....“ „Tatsachen
sind Feinde der Wahrheit.“ „Wo
hast du denn das her?“ „Nicht
aus dem Religionsunterricht, ein Wort von Cervantes’ Don Quijote.“ „Alle
Achtung, aber so kommen wir nicht weiter, Bruno.“ „Ich
will dir helfen, habe jedoch wenig Hoffnung mit meiner Logik, aber ich
sehe deine Probleme ganz einfach.“ „Was
ist daran einfach? Seit Jahrhunderten denken die Philosophen über dieses
komplexe Thema nach, ergebnislos.– Und du sagst: EINFACH!“ „Bruno,
ich weiß Mathematik ist nicht deine Stärke, aber du mußt zugeben, daß
die Philosophie auf der Grundlage der Logik vorangekommen ist.“ „Einverstanden.“ „Du
brauchst nur meinen folgenden Sätzen nachzudenken, wörtlich: nachzuden-
ken.“ „Einverstanden.“ „Tod
ist nur möglich für Lebendes, ohne Leben kein Tod.“ „Einverstanden.“ „Für
das Leben verantwortlich sind auch beim Menschen die Eltern. Da der Tod
vom Leben abhängt (ohne Leben kein Tod), sind die Eltern auch die Verur-
sacher des Todes.“ „Spielt
in deinen Gedanken Gott überhaupt keine Rolle?“ „Bruno,
bitte, hör zu! Darüber können wir nachher reden. – Zurück zum Leben,
zum Geborenwerden. Jeder Mensch erhält gewissermaßen neben der Geburts-
urkunde auch den Totenschein, unterschrieben
– und das ist ja die
eigentliche
Tragik der Eltern – ,
unterschrieben von Vater und Mutter. Nur das Datum
muß noch eingetragen werden. Und DAS
macht ein anderer.“ „Und
was willst du mit deiner verrückten These sagen?“ „Das
bedeutet, daß du selber niemals zum Töten im eigentlichen Sinne kommen
kannst. Außerdem gelten im Krieg andere Gesetze.“ „Gesetze,
Gesetze – vom Menschen für seine Ziele erdachte Gesetze.
NEIN ,
Moral und Recht und Gewissen sind für mich unabänderlich und durch
keine
Gesetze tilgbar.“ „Bruno,
ich bin noch nicht zuende. Das bedeutet, wenn du während der Kampf-
handlungen einen Feind erschießt, daß
DU quasi in den bereits von
den Eltern
des Feindes ausgestellten Totenschein nur das Datum einträgst.“ „NUR,
sagst du. So einfach ist das für Dich?“ „Einfach
oder nicht, aber du mußt doch zugeben, es ist eine praktische Hilfe zur
Beruhigung des Gewissens in diesen verdammten Zeiten, wenn man sich daran
halten kann. Ich sage: KANN
!“ „Ich
bin sprachlos über deine Gedankengänge. Und was bedeutet für dich das
Leben?“ „Wieder
einfach gesagt: Leben ist Warten auf den Tod.“ „Heinrich,
mir graut’s vor dir.“ „Bruno,
außerdem kannst du als künftiger Priester doppelt dankbar sein.“ „Was
hat die Kirche noch in deinem Kopf zu tun?“ „Mehr
in deinem, lieber Bruno, mehr in deinem. Die katholische Kirche verhin-
dert bei dir, daß du jemals zu einem Tötungsdelikt in meinem
aufgezeichneten
Sinne kommen kannst.“ „Das
verhindert nicht die Kirche, sondern die Befolgung der
10 Gebote .“ „Aus
deiner Sicht, gewiß, aber nicht in meinem Sinne. Der Zölibat gebietet die
Ehelosigkeit und damit unterstützt die Kirche die Vaterschaftslosigkeit
ihrer
Priester.“ „Aber
der Zölibat hat doch andere Gründe.“ „Für
dich vielleicht – noch . Erkennst du nicht die bewußte Fürsorge der katholi-
schen Kirche für ihre Priester, zu verhindern, daß sie jemals Väter
werden und
damit Leben UND
Tod in die Welt setzen?“ „Hör
auf mit deiner Logik, hör auf!
Und was sagen deine Eltern dazu?“ „Bruno,
du bist der erste, dem ich meine Gedanken ....“ „Behalte
deine Gedanken, um Gottes Willen, für dich!“ „Ich
wollte dir doch nur helfen, Bruno.“ „Nein,
nein, da bleibe ich lieber bei meiner Version: Es geschieht nichts ohne
den Willen Gottes.“
Der Schulhof–Pausenlärm war verweht, das Gespräch war verstummt. Der
Kleiber sucht noch immer nach Insekten, kopfunter, weiter abwärts. Vorsichtig
sehe ich um die Ecke in das Schweigen. Der Schulhof träumt leer in der
Nachmittagsruhe. Die einzige Bewegung war Bruno. Er rannte davon durch das
kleine Hoftor, Richtung Langgasse. – Wohl zur Pfarrkirche.
Wir haben nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört. Seine
Schultasche, seine Schulbücher erhielt Hausmeister Waide zur Aufbewahrung. Das
war im Frühjahr 1 9 4 3 . Noch
bevor wir als Luftwaffenhelfer nach Rotenburg an der Wümme zogen, kam die
Nachricht: – Gefallen in Rußland.--- Der
ziegelrote Dittchenfleck
Einer meiner Antriebe, die mich zu meinem ersten Braunsberg–Besuch nach
dem Kriege veranlaßten, war eine ziegelrote dittchengroße Fehlfarbe an der
Fassade des katholischen Vereinshauses. Dieser Fleck hatte mir in den letzten
Jahren des Heimatlebens beim Vorübergehen jedesmal den Kopf verdreht und die
Augen wie mit einem Magneten festgehalten und den Blick erst nach einer
wirkungsfreien Entfernung wieder entlassen zur störungsfreien Geradeaussicht.
Auf dem Wege vom Gymnasium nach Hause traf man ab „Kutschkows Eck“
kaum einen Menschen auf der Straße. Der Unterricht endeten gewöhnlich um
½ 2. Dann war die allgemeine Mittagspause vorüber, die Handwerker waren
wieder am Arbeitsplatz, die Geschäfte aber noch nicht geöffnet. Es war also
nichts Besonderes, wenn die Königsberger Straße menschenleer war. Und in
dieser schnurgeraden Straße war meist vom Anfang bis zum Ende alles gut
übersehbar. Denn die ehemaligen Schattenspender, Baumreihen auf beiden
Straßenseiten, hatten in den 30-er Jahren Radwegen weichen müssen.
Eines Tages, es muß wohl während des Krieges gewesen sein, kamen mir
ein Mann
in Zivil und dahinter zwei weitere Zivilisten entgegengelaufen. Der Vorläufer
verschwand im katholischen Vereinshaus.
Als die beiden Nachläufer hinterhereilten, öffnete sich bereits das
erste Fenster neben dem Hauseingang. Der erste Mann sprang heraus, zog eine
Pistole, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.
Die Kugel durchschlug seine Schädeldecke, biß ein Stück Ziegel aus dem
Mauervorsprung und zog singend mit Doppler-Effekt in irgendeine Richtung davon.
Während ich dem wundersamen, später in Kurland hundertfach vernommenen Ton mit
der entsprechenden Kopfbewegung nachspürte, brach der Mann kurz vor mir
zusammen und lag sogleich ruhig da.
Er war elegant gekleidet, trug einen grau-grünen Glenchek–Anzug, rote
Krawatte, dunkelbraune Halbschuhe. Er hatte dunkles Haar, das sich allmählich
rot färbte.
Die beiden anderen Männer hatten inzwischen eine Decke besorgt und
deckten den Toten zu. – Sie hatten offensichtlich nach einem Fahrzeug
telefoniert, denn bald hielt ein Auto. Nachdem der Tote eingeladen war, kam
einer der beiden Nachläufer
mit dem Gastwirt heraus und erklärte ihm etwas. Der Wirt lief wieder ins Gebäude,
man hörte rufen. Kurz darauf erschien eine Putzfrau mit Wassereimer und
Schrubber. Sie reinigte den Bürgersteig mit reichlich Wasser. Nach etwa
10 Minuten war der ganze Spuk vorüber . Ich wurde nicht
beachtet. Während
der ganzen Zeit blieb die Straße leer. Kein Fuhrwerk, kein Auto, kein
Pferdegetrappel, kein Mensch kam hinzu, keine Tür schlug, kein Fenster wurde geöffnet,
kein Jammern, kein Klagen, kein Ausruf des Schreckens. –– Nichts! Aber
ein Pistolenschuß ist doch kein Peitschenknall.–Was war das für eine Zeit? Keine
Fragen: Was war passiert? Welches waren die Hintergründe?--- Politische?
-- Spionage? Und alle Zeitungen schwiegen! –Kein Bericht! Keine
Notiz! – Wiederum – nichts!
Ich hatte mich langsam, immer wieder zurückblickend, bis zum Hause der
Witwe Hohmann begeben. An den Staketenzaun gelehnt, beobachtete ich, wie der
Tote abgefahren wurde. Ein Leben weniger, wie so viele andere während des
Krieges ausgelöscht. Nichts Besonderes zu dieser Zeit! Ausgelöscht,
weggeschruppt, ausgelaufen in die Halbrohre der Dachentwässerung über den Bürgersteig,
in den Rinnstein.--- Verschluckt
vom nächsten Straßengully.
Aus, vorüber – vorbei! – ENDE – ENDE – ENDE
! !
Der Tod ist offenbar auch nur eine Anekdote, die wir erleben! ? (Menasse) Ein
Ziegelstück lag scheinbar unbeteiligt vor dem Gebäude und hinterließ an der
Hauswand einen Fleck, der sich leuchtend rot von der altersbedingt verschmutzten
Fassade abhob. Dieser dittchengroße rote Fleck zwang, sooft ich hier noch vorübergehen
durfte, meinen Blick immer wieder auf die Stelle, wo die Pistolenkugel den
ersten Kriegsschaden, ein Menetekel, an dieses Traditionsgebäude gelegt hatte. Den
gesuchten ziegelroten Dittchenfleck an der Fassade fand ich 1983 nicht. Das
katholische Vereinshaus gibt es nicht mehr. Es war ausgebrannt, die Reste der
auf der Innenseite des Saales sichtbar gewesenen hölzernen bemalten
Dachkonstruktion waren zu Ofenholz geworden, die Ziegel des Sichtmauerwerks
wurden nach Warschau transportiert. Sie waren damals eine wertvolle Ware. Jener,
durch die Selbstmörderkugel beschädigte Ziegelstein mit dem leuchtend roten
Dittchenfleck, war gewiß auch dabei. Wahrscheinlich wurde er wegen seiner
Fehlfarbe so vermauert, daß sein aussagekräftiger Schaden nicht mehr sichtbar
war. – Ein absolut stummer Zeuge. Aber wie könnte er fremden Leuten in einer
fremden Sprache etwas sagen? So
zeigt er heute wohl seiner Umgebung die Rückseite. Der Beschädigungsschmerz
ist nun durch Kalkmörtel wie mit Höllenstein ausgebeizt.
Erst viele Jahrzehnte später erfuhr ich, daß der Selbstmörder Geschäftsführer
des Hotels Krüger (Flußterrasse) in der Bahnhofstraße gewesen war. Er soll in
erheblichem Maße Gelder unterschlagen haben Der
„Vaterselber“
Wenn man von „Kutschkows Eck“, da, wo einem alten Photo zufolge,
immer ein uniformierter Polizist mit Schleppsäbel mitten auf dem Pflaster stand
und in die Marktstraße, die spätere Hindenburgstraße, lauernd auf den
Verkehr, der da kommen sollte, wartete ---. Wenn man also dort in die Königsberger
Straße einbog, ging man etwa 30 bis 40 m auf einem leidlich breiten Bürgersteig,
vorbei an einer Konditorei, an Photo–Schubert, dem passionierten
Privat-Rennfahrer, bis man gedankenverloren plötzlich vor der dunklen
Giebelwand eines vorspringenden Hauses stand. Erschreckt über die Beweglichkeit
eines Hauses, war man genötigt, sich vorsichtig um die Hausecke tastend, –
wer weiß, was das Haus noch fertigbringt – den Bürgersteig zu verlassen und
über die Katzenköpfe der Straßenrandpflasterung den Weg fortzusetzen. Es war
also bequemer, auf der anderen Straßenseite an Singers-Nähmaschinen, Friseur
Martens, der Haushaltungsschule, am Gitterzaun der ev. Kirche vorbei seinen Wag
zu nehmen, wenn man nicht gerade von den Klängen, die hinter dem vorspringenden
Haus seinen Ursprung hatten, angelockt und durch ein plötzliches Bild der Geschäftigkeit
überrascht werden wollte. Hier befand sich das Arbeitsfeld des Schmiedemeisters
Oltersdorf.
Eines morgens, es muß wohl sonntags gewesen sein, gingen mein Vater und
ich auf der Kirchenseite der Königsberger Straße. Auf dem erstgenannten Bürgersteig
auf der anderen Seite ging ein zwergenhaftes Männchen mit schlohweißem
Haupthaar und Vollbart mit kurzen schlurfenden Schritten, so, als wenn seine
Galoschen zu groß wären. Keine Sorge! Verlieren konnte er sie nicht. Sie
wurden von grauen wärmenden Gamaschen und deren breiten Gummizügen, die vor
den Absätzen um die Schuhe gelegt waren, gehalten. Er trug ein Chemisettchen
ohne Schlips und Kragen, aber mit funkelndem güldenen Kragenknopf. Der Blick
war stur geradeaus gerichtet, seine Augen aber sahen, wie ich bei späteren
Begegnungen feststellen konnte, durchaus karsch und kiebig in die Welt und
hatten etwas Schalkhaftes. „Wie
alt mag der sein?“ fragte ich. Nach kurzem Überlegen antwortete mein Vater:
„So zwei -- dreiundsechzig ,
-- und das ist der
Vaterselber.“ Die Geschichte kannten wir in der Familie alle, und der eigentümliche Name stammte von ihm selbst.--- Und das kam so:
Auch um die Jahrhundertwende (zum 20. Jahrhundert), so anno Kruck, kam es
durchaus vor, daß, durch widrige, süße Umstände bedingt, früh geheiratet
werden mußte. Es waren kiebige männliche Augen auf luchterne weibliche Augen
getroffen, sie hatten sich zugeplinkert, hatten ihre Blicke und anderes gekreuzt
und ach, oh Wunder (sie
war 17 , er
19), es mußte eine kleine Hochzeitsfeier abgehalten werden.
Als ihre Zeit gekommen war, wurde das Jungchen, das nun Vater werden
sollte, immer unruhiger. Denn nach altem Brauch war es seine Aufgabe, den neuen
Erdenbürger beim Magistrat anzumelden. Was er auch versuchte, es fand sich
keiner, der ihm diesen Weg zum Standesamt abnehmen wollte. Die Behördenangst
war allgemein verbreitet und jeder war froh, wenn er nicht die Stufen der
Rathaustreppe erklimmen mußte, auch wenn man sich am schmiedeeisernen Geländer
hochziehen konnte.
Nun war es soweit, und unser junger Vater hätte die Treppe hochstürmen
können, aber, wie gesagt, die allgemeine Behördenangst. -- Und die steigerte
sich noch vor der Standesamtstür. Vor 6
Monaten, bei der Hochzeit war das noch anders gewesen. Heute fehlte der
Druck der Trauzeugen. – Er
sah verbiestert aus. –
Solange der Rathauskorridor leer war, ging es ja, aber allmählich kamen
Leute und als einer der Beamten ihn fragte: „Na, Kleiner, kann ich dir
helfen?“, blieb ihm nach seinem: „Nei, aber neiche“ gar nichts
anderes übrig, als zaghaft an die Eichentür zu klopfen. Ein kräftiges
„Herein!“ sog ihn förmlich durch den leicht geöffneten Türschlitz, und
nun stand er vor dem Schreibtisch, drehte die Mütze zwischen den Fingern und
wartete -- bis der bärtige Herr Beamte von seiner schriftlichen Arbeit ließ,
ihn freundlich wie ein Vater ansah und fragte: „Na, was willst, Jungchen?“
Wegen der freundlichen Anrede faßte er Mut und brachte den gedanklich oft genug
eingeübten Satz ohne Stottern über die Lippen: „Ich möchte ein Kind
anmelden.“ – Nun wurde aus dem freundlichen Beamten ein erstaunter Beamter,
ein dermaßen erstaunter, daß er über den Brillenrand hinweg die Worte hinausbölkte:
„Da soll man der Vater selber kommen!!“
Unser junger Freund, hilflos gegenüber solchem Behördendonnerwetter,
peeste zur Tür, öffnete sie, trat bedammelt auf den Korridor und sah einige
wartende Leute. Da begann sein Gehirn wieder zu arbeiten. Und als er erkannt
hatte, daß der Herr Beamte gar keine Uniform angehabt hatte, betrat er, ohne
die Hand vorher vom Innentürdrücker genommen zu haben, forschen Schrittes
wieder das Standesamt, begab sich an den Schreibtisch und, ohne auf das
Hochblicken des Beamten zu warten, sagte er mit sicherer Stimme: „Ich
bin doch der Vater selber!“ So
kam es, daß neben dem neuen Erdenbürger ein neues Braunsberger Original
geboren wurde: der „Vaterselber.“ Ein
Original, das sich selbst bis ins hohe Alter mit freundlichem, belustigtem
Geraune umgab. Ob sich dabei die Brust unter dem weißen Chemisettchen stolz hob
oder ob er den Kopf verschämt einzog, war damals schon nicht mehr zu erkennen.
--- Letzteres ist eher anzunehmen. Der ausgeprägte Buckel, der sogenannte
Verdrußkasten, deutete zumindest etwas Ähnliches an. Die
Sauerampfer–Suppe
In unserem Garten in Lüttelforst, ganz unten zum Flüßchen Schwalm hin,
wo der saure Waldboden beginnt, haben wir vor Jahren direkt am Zaun Sauerampfer
gesät. Dort gedeiht er prachtvoll und kommt in jedem Frühjahr als erstes Grün
wieder und begrüßt die zarten Blättchen der Brennesseln, die jenseits des
Zaunes in der Freiheit des Waldes sprießen. Von den letzteren kann man einen köstlichen
Salat bereiten, der die Müdigkeit des Winters vertreibt und alljährlich neue
Lebenslust und Tatkraft verleiht. Nicht
minder tut das der Sauerampfer, besonders wenn er nach ostpreußischer, gewiß
aber nach Braunsberger Art zubereitet wird. Meine Frau, eine gebürtige Düsseldorferin,
hat sich nach meiner wenig kochrezeptüblichen Beschreibung des Geschmacks an
den wirklichen Wohlklang dieser Komposition herangetastet, so daß sich ihre
Sauerampfersuppe durch nichts von der Urform unterscheidet und von den
kritischen Braunsberger Zungen als echt ostpreußisch bezeichnet werden kann und
das, obwohl die Braunsberger Zutaten auf den Wiesen in der Au gesammelt wurden.
Jene kleinblättrigen, pfeilkrautähnlichen, sattgrünen Formen, die, frisch
zerkaut, alle Mundwinkel zusammenzogen, ähnlich in der Wirkung wie Rhabarber.
Eine Zutat in Lüttelforst sind, wie seinerzeit in Braunsberg,
hartgekochte, klein-gehackte Eier, etwa so zerkleinert, wie sie den Hühnerküken
nach dem Schlüpfen als erstes Futter vorgesetzt wurden, übrigens untermischt
mit zarten feingehackten Brennesselblättchen. Ein wirksamer Schmaus, der die
Kleinen zur Fröhlichkeit beflügelte.
So werde ich denn bis heute jedes Frühjahr mit der Lüttelforster
Sauerampfersuppe an jene Sauerampfersuppe in Braunsberg erinnert, die wir Kinder
essen sollten, jedoch davon keinen Löffel abbekommen haben. Die hat nämlich
eine bettelnde Zigeunerin mit großer Gier und überquellenden Augen in ihren
ausgehungerten Leib hineingelöffelt. Für mich 12-jährigen ein Bild, das man
später in schlechten Zeiten manchmal wohl selber abgegeben hat.
Nun, die Zigeunerin wollte nicht undankbar sein und erbot sich, meiner
Mutter aus der Hand zu lesen. Widerwillig zuerst, ließ meine Mutter diese
Prozedur doch über sich ergehen. – Das Ergebnis war nicht erfreulich. Sie
ist dann auch bald nach der Flucht in einer fremden Stadt gestorben.
Bei mir wurde eine lange Lebenslinie gefunden. 86
Jahre alt soll ich werden. – Ich glaube daran! – Ich
hoffe nur, der Herrgott hat nichts anderes mit mir vor, und er benutzt das
gleiche Handlese-Alphabet wie jene Zigeunerin in Braunsberg. Die
ostpreußísche Mundart
Laßt mich einige Worte zu unser wunderschönen ostpreußischen Mundart
sagen, die die Landsleute früher, besonders, wenn sie mit anderen aus dem
„Reich“ zusammentrafen oder wenn sie als fein gelten wollten, zu unterdrücken
versuchten, – was natürlich nicht gelang.–– Vielleicht geht es anderen
Volksgruppen ähnlich, denn auch den Sachsen wird man überall erkennen.
Zuerst möchte ich eine Geschichte aus den Lebenserinnerungen von Hermann
Sudermann erzählen, die er in seinem Werk „Bilderbuch meiner Jugend“
beschreibt und aus seinen Berliner Tagen zur Zeit Bismarcks stammt, ehe er ein
erfolgreicher Bühnenautor wurde. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durchs
Leben. Es war ein Glücksfall, als an einer Kleinbühne ein Jugendlicher
Liebhaber gesucht wurde, der den Ferdinand von Bruck in dem Stück
„Jugendliebe“ von Wilbrandt spielen sollte. Er meldete sich und bekam die
Rolle. Als er die Bühne betrat, wurde er wegen seiner stattlichen Figur von den
Zuschauern mit Zustimmung empfangen. Als er jedoch zu sprechen begann, wurde es
im Saal unruhig. Und das Gelächter war groß, als jemand sagte: „Der
kommt wohl frisch mit der Schnallpost aus Albing?“ Nun
stürmte der Direktor auf die Bühne und redete in barschem Ton auf die
Zuschauer ein. Er sei ein anständiger junger Mann, der keine Schuld habe, daß
er dahinten in Ostpreußen und nicht in Berlin geboren sei. Man könne Gott
danken, daß er nicht aus Sachsen käme, denn dann wäre es noch schlimmer! Leider werden solch heitere Erlebnisse in unserer Zeit immer unwahrscheinlicher, weil das Ostpreußische mit uns Resten, die diese Mundart noch kennen, ebenfalls ausstirbt.
Von Wilhelm von Humboldt stammt der Satz : „Unsere
eigentliche Heimat ist doch unsere Sprache“
So ähnlich klingen die Worte von Joseph Roth. Er, der
k.-u.-k.-monarchistische Dichter, geboren in Galizien, nach dem Zerfall Österreich-Ungarns
ständig auf der Flucht und Suche nach einer neuen Heimat, sagte in Paris,
seinem letzten Aufenthaltsort, wo er 1939
starb: “Ich bin jetzt im Staate ‚Staatenlos’ zuhause. ---- Jetzt
habe ich nur noch eine Heimat, nämlich die deutsche Sprache!“---- Das
ist ein ganz neuer Aspekt zum Heimatbegriff. Denn natürlich ist damit auch die
jeweilige Mundart gemeint.
Was haben wir zurückgelassen? --- Was haben wir mitgenommen?
Geo Grimme antwortete darauf folgendermaßen: „Viele von euch haben ihr
Mundwerk mitgenommen, die Art und Weise zu sprechen, die unverkennbar bleibt.“
Er schildert einen Restaurantbesuch im südlichen Chile, dessen Chef Heribert
Meier hieß und ein komisches Spanisch sprach. Geo ging auf ihn zu und redete
ihn so an: „Nach ihrer Aussprache könnten sie aus Königsberg sein, von der
Lomse?“ – „Aber neiche“, sagte Heribert Meier, „vom Haberberg.“ Er
wurde als Landsmann erkannt, denn er sprach ein ostpreußisches Spanisch.
Wer aber ist dabei, uns unsere Mundart zu nehmen? Haben wir die nicht
selbst aufgegeben? --- Gewiß, verstreut in alle Welt, verlieren sich die
Fertigkeit der Zunge und der ehemals gewohnte Klang im Ohr. – Ich, jedenfalls,
bin immer hocherfreut, wenn ich von Fremden an meinem Marjellchen-Sound als
Ostpreuße erkannt werde.
Nun, unser Ostpreußisch zeichnet sich im Sprachgebrauch dadurch aus, daß
es die Umlaute – Äu ,- Ü und
Ö nicht kennt. Statt dessen
wird dem –Ei , dem –I und dem –E zu
größerer Verbreitung verholfen, was sich auch in der Verbreiterung der
Mundstellung auswirkt. Die wissenschaftlichen Forschungen über dieses Phänomen
sind zwar immer noch nicht abgeschlossen, fest steht jedoch, daß eine
wesentliche Ursache dafür darin besteht, daß der Ostpreuße eher ein
heimlicher Liebhaber ist. Er geht nicht auf die Straße, um sein Bedürfnis zu küssen,
in die Öffentlichkeit zu tragen, wie es z.B. der Rheinländer in der
Karnevalszeit tut. Der Ostpreuße äußert sich dazu, seinem Charakter
entsprechend, im Verborgenen, – heimlich. Beim
Küssen wird, das war auch in Ostpreußen nicht anders, zunächst der Mund
gespitzt. Und jeder, der versucht, die Buchstaben – Äu,- Ü – oder
Ö zu formen wird feststellen, daß er dafür – wie beim Küssen –
unbedingt ein spitzes Mündchen machen muß. -- Es war also ein ungeschriebenes
Gesetz, das spitze Mündchen zu verheimlichen und nicht in der Öffentlichkeit
zu zeigen, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, so ein --- „Dingslamdei“
zu sein.
Eine andere ostpreußische Besonderheit war der ausgiebige Gebrauch der
Verkleinerungssilbe:-„chen“.– Es gab sogar grammatikalisch
vollkommen unbegründete Auswüchse wie –„leinchen“, obwohl die
Verkleinerungssilbe –„lein“, wie bei Knäblein, in Ostpreußen überhaupt
nicht üblich war. Einmal, zu Weihnachten, in der Pfarrkirche beobachtete ich
vor der Krippe, wie eine Mutter ihr Marjellchen hochhob, auf das Jesuskind
zeigte und fragte: „Na,
siehst du das Knäbleinchen?“
Welch wunderbare Wortschöpfungen ergaben sich aus diesem zusätzlichen
Gebrauch der Endsilbe -„chen?“ – Da wurde aus dem Mann ein Neutrum, das
–Mannche, aus dem Hund das – Hundche. Es entstanden: Hiehnerchens,
Pferdchens, die Hietscherchens usw. – usw. Wer konnte solchen Tierchens gram
sein? So angesprochen, waren sie in die Familie fest integriert und liebevoll
versorgt. Und die Menschen unter sich? Das Mannche hatten wir schon,– das
Muttche, mein Trautsterchen, die Kinderchens, die Jungchens, die Marjellchens.
– Welche Empfindungen schwingen da mit? ! – Aber die lieblichste aller
dieser verbalen Liebkosungen ist das Wort DU mit angehängtem CHEN:
„DU–CHEN!“ Wer das hört, dem läuft es wohlig über den Rücken,
durch Herz und Seele, durch Leib und alle Glieder. Da kannst du dich nicht
wehren und, wenn die entsprechenden Berührungspunkte mitspielen, schmilzt jeder
Widerstand dahin. Zur praktischen Übung wiederentdeckt und empfohlen. Tief in
die Augen gucken und dann: DU–CHEN
; DU–CHEN ! Also, üben, üben,
üben! Na,
denn: „TACH–CHEN!“
Noch
eine Geschichte
Braunsberger Geschichten entstehen auch heute noch. Sei es in der Toscana
oder in Südtirol, wo es südlich von Meran in Lana das Schloß Braunsberg gibt,
das jedoch durch ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Zutritt verboten!“
auch jedem Braunsberger den Besuch untersagt. Vom gegenüberliegenden „Braunsberger
Hof“ hat man einen vorzüglichen Blick auf die Schloßruine, die in vieler
Hinsicht dem Erscheinungsbild des heutigen Braniewo ähnelt.
Aber sogar in Afrika können Erinnerungen an das alte Braunsberg wachgerüttelt
werden, wie es uns während eines Urlaubs im Februar 1996 in Tunesien geschehen
ist. Um dem Karnevalsrummel zu entgehen, was auch viele Rheinländer tun, hatten
wir 14 Tage in Hammamet verbracht, zum einen, um auch im Winter etwas Sonne zu
tanken, zum anderen, um die Kultstätten aus großer Vergangenheit zu
besichtigen: Karthago, El Jem Dougga, Kairouan, Sidi Bou Said und natürlich in
Tunis das Bardo-Museum. Es zog uns auch weiter in den Süden: der Salzsee Chot
el Jerid, die Oase Tozeur und gleich hinter Douz: die Sahara. Als Berber
verkleidet zogen wir Europäer auf Kamelen in einer Karawane in die Wüste.
„Festhalten!“ hieß es hoch oben auf den Wüstenschiffen. Es gab viel zu
lachen wegen manch unglücklicher Figur. Es war kein Pferderitt.
Am nächsten Tag ging es in die Oase Tozeur. 200 000 Dattelpalmen,
Bananen, viel Obst und Gemüse, – paradiesisch. Wir fuhren in gummibereiften
zweispännigen Pferdekutschen, jeweils vier Personen. Uns gegenüber ein etwa
gleichaltriges Ehepaar. Es wird über Dialekte gesprochen. Viele Mitreisende
waren aus der ehemaligen DDR. „Und
wo kommen sie her?“, werden wir gefragt. „Aus der Nähe von Mönchengladbach“,
war unsere Antwort. – „ Aber rheinisch sprechen sie nicht.“ „Na,
nei, ich bin Ostpreuße,“ antwortete ich mit eingefärbtem Dialekt. „Und
woher?“ – (In Gedanken: na, sag’s ihm, kennt er ja doch nicht!) „Woher?
Na, aus Braunsberg!“ sage ich vorsichtig und breit. Jetzt
hat er wohl genug, denke ich. --- Aber denkste! „Ich
doch auch, von der Langgasse. Mein Name ist Hans Gehrmann. Vater war Fleischer
Gehrmann. Und hier neben mir, meine Frau ist auch Braunsbergerin, Tochter von
Studienrat Schwarze, Ritterstraße 4.
Soweit diese „Braunsberger Geschichte“ oder „Heimattreffen in der
Sahara!!“ Ein
Wort von Jakob Wassermann
Gemächlich schwebt die Zeit dahin. Die Zeit schwebt über die Länder
und über die Geschlechter. Und wenn sie auch Städte zertritt und Wälder
zerstampft und neue Städte und neue Wälder hinwirft mit gleichgültiger Gebärde,
so vermag sie doch nicht dem heimatlichen Boden seine Lieblichkeit zu rauben
oder seine Rauheit, womit die Heimat ihren Sohn erfüllt, indem sie ihn
gleichsam als ihr Eigentum in Anspruch nimmt und ihm auf dem Weg seines Lebens
nur diese Worte als Mitgift wählt: „Aus meinem Ton bist du gemacht!“ Ein
Wort an die Bürger in Braniewo
Heimat, das ist für uns noch lebende Braunsberger 10
bis 12 Jahre bewußten
Lebens in Ostpreußen. Wenn man bedenkt, daß man wohl mit dem Schulanfang als
6-jähriger beginnt zu denken und bewußt zu leben und, wie in meinem Falle,
schon als 17-jähriger zunächst als Luftwaffenhelfer und später als
Infanterist die Heimatstadt verlassen mußte, bleiben im allgemeinen nur 10 –
12 Jahre „bewußten Lebens“ in Braunsberg übrig. Vor diesem Hintergrund
kann man sich nur wundern über die ungeheuren Kräfte, die dahinter stecken müssen,
daß sich jährlich die Braunsberger zusammenfinden im Gedenken an die verlorene
Heimat.
Wer sonst als wir heimatvertriebenen Braunsberger hätten mehr Verständnis
und Achtung vor den Heimatgefühlen der nach
1945 geborenen jetzigen
Bürger
Braniewos? Aber, wenn
ihr uns Deutsche nicht vertrieben hättet, ginge es Euch
wahrscheinlich besser. Ist das die
Strafe Gottes, der Euch doch so sehr liebt? „Wen Gott
liebt, den straft er!“ sagt ein Sprichwort. |