BRAUNSBERGER GESCHICHTEN

Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt

war ich eine Schwertlilie.

Meine Wurzeln

saugten sich

in einen Stern.

Auf seinen dunklen Wassern

schwamm

meine blaue Riesenblüte.

 

Da so in Hinterindien rum

muß ich schon mal irgendwie gelebt haben.

 

Das schrieb 1899 Arno Holz, der Apothekersohn aus Rastenburg.

 

    Es mag 20 Jahre her sein, da las ich die Geschichte eines damals 12-jährigen Jungen, die mich bis heute nicht losgelassen hat. Die Geschichte eines Jungen in Hinterindien,der mit seinen Eltern von Thung Song im Süden Thailands weit in den Norden des Landes nach Chiang Mai fuhr. Die Endstation der Bahnlinie befand sich etwa 150 km vor Chiang Mai.

 

    Die Weiterfahrt mit dem Bus war erst am nächsten Tag möglich. Fremd in der Stadt, weder Eltern noch Sohn hatten je vorher den Ortsnamen gehört, geschweige denn irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen zu seinen Bewohnern, galt es nun, eine Unterkunft zu finden.

 

    Nachdem sie die Bahnstation verlassen hatten, in die erste Straße eingebogen waren, erhellten sich die Augen des Sohnes. Er behauptete, er kenne sich in der Stadt aus. – Das Unglaubliche geschieht: er findet sich in dem Ort tatsächlich zurecht, weiß, was ihn  an der nächsten Ecke erwartet. Er benennt und findet ohne fremde Hilfe eine Pension. Er fiebert in schlafloser Nacht dem nächsten Tag entgegen, der ihn zu einer Straßenkreuzung, an den Ort seines vormaligen Todes führt, wo er einen Unfall erlitten hatte. Auf der Polizeistation erfährt er nach der Schilderung des Unfallherganges aus den Polizeiakten unter dem Datum seiner Geburt seinen früheren Namen und danach seine Vergangenheit.

    Und das alles in einem Ort, dessen Namen er vorher nie gehört hatte.

    Im Jahre 1983 reiste auch ich, einem inneren Drange folgend, in eine Stadt, deren Namen ich in meiner Jugend nie gehört und nie gelesen hatte.

    Und doch waren mir nach dem Passieren der Stadtgrenze die Wege, die Plätze, der Fluß, die Brücken, die alten Gebäude vertraut.

    Ich parke mein Auto vor einer Kirchenruine und betrete den Mittelteil eines Gebäudekomplexes, der eine Art Schulhof von drei Seiten umschließt. Das war meine ehemalige Schule gewesen. – Das obere Geschoß erreicht, stehe ich zunächst vor einer häßlichen dunkelgrauen Stahlwand. Der Blick geht zurück. Gab es nicht hier einmal, knapp unterhalb der Treppenhaus-Decke, drei Masken? – Nicht Masken! – Es waren drei Nachbildungen der „Sterbenden Krieger“ von Andreas Schlüter, dem Schöpfer des Standbildes des „Großen Kurfürsten“ vor dem Charlottenburger Schloß in Berlin. Ich sehe ihre gequälten Gesichter – ihre Schreie höre ich noch heute.

    Doch weiter!    Die Tür in der grauen Stahlwand läßt sich öffnen. Putzfrauen sind im Flur beschäftigt, machen, als sie mich sehen, eifrig weiter. Die erste Tür rechts, – ich stehe im Zeichensaal, setze mich in eine der mittleren Reihen. ---- Ganz allmählich wird der Besenstiel der Putzfrau zum Zeigestock. Und langsam hebt sich der Schleier. Da sitzen sie: der Spillus, der Negus, der Blank, der   Orczekowski, Behlau, Lambeck, Conny Schulz, Ruhnau, Krieger, Bernotat, Franz Wiewiorra, Blumental, Richter, Dannowski, Hasselberg, Herbert Tolksdorf, Leo Kelch, Paulchen Werner, Georg Weißgerber, Ernst Walter, Hutzel  Arendt, Horst Schlobinski und, alle überragend an Gewicht, Erwin Widder – und so weiter, und so weiter, um nur einige zu nennen.

    Aber Paulchen Grunau kommt nie mehr, sein freundliches Gesicht, darunter, breit lächelnd, die Fliege. Er hat doch müssen – zum Militär. Heute soll der Neue kommen aus Königsberg, ein Kunstmaler. Und da erscheint er schon, stellt sich vor die Klasse und beginnt: „Ich hoffe, daß wir alle gut miteinander auskommen werden. Und zuallererst, die Anrede mit Herr Studienrat fällt weg. Dafür sagt ihr: „Kamerad Biechert.“ Einige Wochen später, als das Wort Sturmboote immer häufiger in den Wehrmachtsberichten auftaucht, kommt folgender Spruch über „Kamerad Biecherts“ Lippen: „Ja, früher war alles anders. Im ersten Weltkrieg hatten wir keine Sturmboote, da nahmen wir ein einfaches Ruderboot, bemannten es, vorne kam ein MG drauf und schon war das Sturmboot fertig.“ – Allmählich hatte sich das Verhältnis zwischen dem „Kamerad  Biechert“ (Büchert) und den Kameradchens weiter entwickelt, und der „Kamerad“ wußte faßt immer zu jeder Unterrichtsstunde eine humorige und, wie er wohl glaubte, eine belehrende Geschichte aus seinem Leben zu erzählen, wobei die von seiner Beförderung zum Zahlmeister für uns wohl am einprägsamsten war. – „Ja, ja, Jungchen“, so begannen meistens seine Geschichten, – „Ja, ja, Jungchen, ich war auch eìnmal jung, ich hatte auch einmal ein Mädchen gern. Aber zum Schluß, was war – zahlen mußt’ ich.“

    Die Putzfrau tippt mir auf die Schulter, zeigt mir ihre Schlüssel, sie muß abschließen. Ich verlasse den Zeichensaal, trete auf den Flur hinaus, die Sonne strahlt durch die Rundbogenfenster, die Wirklichkeit hat mich wieder.

Ich gehe durch die graue Stahlwand zum Treppenhaus, verweile am Geländer, starre gegen die kahle gegenüberliegende Wand. Schemenhaft erkenne ich Masken, Larven mit offenen Mäulern -----

    Aber das sind doch die Schlüterschen schmerzverzerrten Köpfe der „Sterbenden Krieger“. Darunter flimmern die Buchstaben in fein ziselierter   Antiqua: „Dulce et decorum est pro patria mori!“ Ich wiederhole die Worte des Horaz und werde beim lauterwerdenden Wiederholen im Versmaß durch die Veränderungen in den Gesichtern der sterbenden Krieger auf gespenstische Weise gebremst . – Der vermeintlich kaum steigerbare Schmerzausdruck der gequälten Antlitze gerät in Bewegung. Rhythmisches Keuchen dringt in meine Ohren und mit gleichzeitigem Auf- und Zuklappen der Augenlider rinnen stoßweise Tränen- und Schweißströme über die steinernen Gesichter. Wie eine Leuchtreklame laufen die Worte über die gepeinigten Lippen der drei Sterbenden: „Dulce et decorum est pro patria mori“, lauter und schneller werdend, geschleudert gegen meine Person: “pro patria --- mori, patria mori, patria mori!“ hämmert es in meinen Ohren: “patria mori --- mori!“ – und dann wie das     Bersten eines überhitzten Kupferkessels in die Schmerzensschreie --- die qualvolle     Geburt des Lachens, des Auslachens, des Hohngelächters: „mori – Ha,Ha,Ha, --- pro patria --- Ha,Ha,Ha!“ Meine Arme rütteln und schütteln das Geländer, – gefangen. Ich kann mich nicht lösen, klebe wie mit der Zunge am frostklirrenden Stahlgeländer des Fischmarktes und warte auf Befreiung. – Die kommt schlagartig durch die ins Schloß fallende graue Stahltür hinter mir und mit den scheppernden Zinkeimern der Putzkolonne.

    Ich stürze die Treppe hinunter, rutsche durch blutige Schweißpfützen auf dem Treppenpodest unterhalb der Kriegerköpfe. Hinaus  !   ---  hinaus  !

„Patria –mori, --- mori!” schallt das Gelächter nach und wiederholt sich echoartig. – Beim Zurückblicken sehe ich, wie die Putzfrauen kopfschüttelnd, immer wieder zur Decke schauend, das Treppenpodest reinigen. Ich verlasse Gebäude und Schulhof, gehe benommen über die Langgasse zur Ruine der Pfarrkirche. Der Wiederaufbau hat begonnen. Das Kirchenschiff ist bereits eingedeckt. Ein schlanker Rest des Turms ragt in den Himmel wie der Zeigefinger Gottes, nicht drohend, sondern mahnend zum Frieden und zur Versöhnung. Die Kreatur hat das versöhnliche Zeichen verstanden und ganz oben auf der Kuppe des Zeigefingers ein Nest gebaut, ein Storchennest, das schließlich mit dem Baufortschritt durch ein Balkenzelt abgedeckt wurde, um nicht im kommenden Jahr ein Storchenpaar vertreiben zu müssen.

    Wie human waren inzwischen die polnischen Menschen geworden! !

    Doch nun brauchte ich die Gewißheit, daß die übrige Welt noch existierte. Konnte ich sie hier erhalten? Daß neben der strahlenden Sonne auch noch die Sterne am Firmament standen. Hier, d.h. Königsberger Straße, Hausnummer 44 auf blauweißem Emaille–Quadrat. Ich öffnete die Gartenpforte, Frau Hohmann, die Witwe eines Postbeamten, saß am Stubenfenster, schob die Gardine etwas zur Seite und nickte freundlich. Es war wie immer. Ich durfte die Weltordnung kontrollieren. Ich betrat das Haus, und durch eine Art Stalltür ging’s direkt in den Schornstein. Hier hingen winters die Schinken, Speckseiten und Würste. Da stand man mitten im Schornstein, schaute nach oben und musterte die Delikatessen, die an allen Seiten des Schornsteins hingen und vom Holzrauch aus den  Öfen der dahinter liegenden Stuben beräuchert wurden. – Das war gewissermaßen eine heilige Handlung für die Hausbesitzerin, die von ihrem Fach etwas verstand und immer eine stattliche Liste von Räucherinteressenten in ihrer Vertiko-Schublade hatte. Denn perfekt geräucherte Ware war einiges wert während des ganzen Jahres. Und wie gut das Geräucherte war, konnte man an den in der Erbsensuppe oder im Sauerkohl mitgekochten Speckschwarten beurteilen. Wurden die schön weich, war der Rauch gut. Diese Gedanken machten Appetit, und der führte zurück in die Wirklichkeit, aber nur für kurze Zeit. Hier war ein märchenhaftes Phänomen zu bestaunen, das mir bis heute ein Rätsel geblieben ist und auch bleiben soll.

    Ich schloß die Tür und stand in völliger Dunkelheit auf dem 2m x 2m großen Backsteinboden. Ich sah nach oben in den quadratischen Ausschnitt des Himmels. Ich war wieder Sterngucker am helllichten Tage. Da funkelten sie, die Sterne, vom wolkenlosen Himmel, trotz strahlender Mittagssonne. Die Welt war doch in Ordnung!

 

    Arno Holz beschreibt diese Erscheinung so:

In uns’rer alten Apotheke

mit den vielen Treppen und Dachböden

waren lauter Schornsteine.

Unter den einen konnte man sich mitten  drunter stellen

und sah dann am helllichten Tage die Sterne.

Manchmal war alles dunkel.

Dann sah man gar nichts und fühlte nur,

wie einem die dicken, schweren Regentropfen

eiskalt auf die Backen platschten.

 

Aber das Schönste war doch, wenn man kurz vor Weihnachten,

frühmorgens,

wenn das ganze Haus nach Marzipanherzen roch,

grad’ unter dem kleinen, viereckigen Kuckloch oben,

unten auf der Erde einen weißen, spitzen Schneehaufen entdeckte.

Der glitzerte dann wie eine Konditormütze !

 

    Eine Konditormütze sehe ich jetzt nicht. Ich stehe im Freien. Viel Leere um mich herum. Nur noch 3 Häuser auf der Sonnenseite der Königsberger Straße.

 

    Jetzt  ist  1 9 8 3  !

Die Schule ist aus!    Es zieht mich wie immer von der Schule ins Elternhaus. Es müßte noch am anderen Ende der Stadt zu finden sein, eingeschlossen von beiden evangelischen Friedhöfen am Ende der Ritterstraße. 77 war die Hausnummer. Aber die stimmt heute nicht mehr. Die Haustür ist geschlossen. Mit Hilfe eines alten Photos, das uns drei erstgeborene Jungens, schön versteckt hinter den Latten des Staketenzauns, zeigt, während Vater und Mutter als stolze Hausbesitzer aus dem Fenster sehen, mit diesem Photo, das ich auf Scheckkartengröße zusammengefaltet und stabilisiert habe, öffne ich die Haustür, indem ich ganz vorsichtig den Schnäpper zurückdrücke.

    Vier Türen sind im Erdgeschoß, sie öffnen die kreisförmig um den Schornstein angeordneten Räume: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Flur.     Hei! – Jetzt kann der Reigen beginnen, immer im Kreise, linksherum, die Zeit zurückgedreht. Aber aufgepaßt, nicht stolpern über die Türschwellen. Schnell hat man sich wieder daran gewöhnt, und dann geht es, mit jedem Kreislauf jünger werdend, mit Schwung die Treppe in drei, vier Sätzen hinauf auf die Lucht, und dann bin ich im Kinderzimmer. Mittendrin der übergroße Tisch, an dem wir unsere Schularbeiten machten. An einer Wand zwei Betten, an der gegenüberliegenden Seite Kleiderschränke mit Bücherfach. Zwischen beiden Fenstern eine schwere Kommode mit 3 Schubfächern und einer Marmorplatte, darauf stehen Waschschüssel und Wasserkrug aus Tolkemiter Majolika. Neben der Eingangstür der transportable Kachelofen, dessen Heizleistung jedoch nicht ausreichte, während des Winters den Wasserkrug eisfrei zu halten.

    Es ist die Zeit, da das 4 ½ – Pfundbrot 45 Pfennige kostete und beim Bäcker Alshut in der Seeligerstraße nur auf Marken zu bekommen war: 1 9 4 1 ! Verdunkelungszeit, und auch die Sraßenlaterne vor dem Haus war ausgepustet. Ich kann nicht einschlafen.

    Da höre ich jemanden die knarrende Holztreppe heraufkommen. Zwei kräftige Fäuste trommeln gegen die Tür: bumm, bumm    bumm, bumm    bumm, bumm.    Die Tür wird geöffnet, schlurfende Gehgeräusche wie auf Filzschlorren bewegen sich um den Tisch, ganz dicht an meinem Bett vorbei. Ich halte die Luft an, die Bettdecke mit beiden Händen über die Nase gezogen, nur die Augen freilassend und dem Geräusch folgend. – Ich kann nichts erkennen. Und noch einmal der Gang um den Tisch    an meinem Bett vorbei    wieder nichts zu sehen.    Dann wird die Tür kräftig zugeschlagen. Mörtelstaub rieselt hinter der Türbekleidung. Das Hinuntergehen über die Holztreppe kann ich nicht           vernehmen. So warte ich denn, ob sich der Rundgang um den Tisch wiederholt. Aber es geschieht    nichts.

Der nächste Morgen. Ob mir meine Mutter Angst machen wollte? Das ist nicht ihre Art. Sie verneint, es gewesen zu sein.

    Aber jetzt ist  1 9 8 3 !

Während ich den damaligen Ereignissen nachsinne, höre ich auf der Treppe wieder Schritte, fremde Schritte. Höre sie mit ähnlicher Aufregung.– Zwei Frauen betreten die Stube, eine jüngere mit Kind und Frau Dudzinska von der Ritterstraße 9, wie sich später herausstellte. Sie ist Deutsche. Keine Vorwürfe, daß ich das Haus ohne Erlaubnis betreten habe. Mein Auto vor der Tür habe mich angemeldet. Frau Dudzinska kann meinen Bericht über das damals Erlebte übersetzen. Aber ich komme über den Anfang nicht hinaus. Die junge Polin erzählt mein Erlebnis von 1941, das viele Jahre später auch ihr Erlebnis wurde, mit ihren Worten ganz genauso, wie ich es zitternd im Bett erfahren hatte noch einmal und setzt am Schluß nach einer längeren Pause hinzu: „Wir haben geglaubt, es wäre die Seele irgendeines gefallenen deutschen Soldaten.“ Ihre Mutter, mit dem deutschen Namen Erdt, die unbemerkt dazugekommen war, ergänzte     später: „Als wir 1945 das Haus bezogen, lagen hier drei tote deutsche Soldaten drin, die haben wir gegenüber auf dem Friedhof beerdigt.“ Und beim Hinausgehen an der Stubentür: „Bald 40 Jahre habe ich nun das Haus von oben bis unten saubergehalten, aber soviel Mörtelstaub wie an jenem Morgen habe ich an der Tür nie wieder gefunden.

  

Was ist ein „Ermländer“?

    Waren alle Ermländer Katholiken? Gewiß nicht. Etwa 10 % der Ermländer waren Protestanten. Aber es gab auch kirchenfreie Ermländer. Die begaben sich sonntags zwar auch auf den Kirchweg, brachten es aber in der Neustadt nur bis zu „Angrick“ und in der Altstadt bis zur 1. Kirchenstraße zu „Fittkau“. --- Da war Schluß. ------  Dort bekamen sie einen Hafersack umgebunden und warteten das Ende des Gottesdienstes ab: unsere gutmütigen, zugkräftigen Ermländer, ohne die die Entwicklung unserer Heimat nicht möglich gewesen wäre.

    Doch zurück zu den Zweibeinern und zum Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten. Schon durch die Trennung von katholischen und evangelischen Kindern in den Volksschulen war ein differenziertes Denken über die andere Konfession gegeben. Auf dem Schulhof in der Seeligerstraße gab es einen imaginären Kreidestrich, der in den Pausen von den Kindern der jeweils anderen Konfession nicht überschritten werden durfte. – Ehen zwischen Katholiken und Protestanten galten als Mischehen. Ich habe ein Gebet meiner Mutter im Ohr, das sie immer an den Schluß des mit uns Kindern gebeteten Rosenkranzes    setzte: „Lieber Gott, mach’, daß die Evangelischen wieder zum rechten Glauben zurückfinden“.

Es führen viele Wege nach Braunsberg! Diesmal ist es die Stadt Viersen im Rheinland – etwa 1 9 6 5 .

In Viersen gibt es einen gut geführten Farben –, Glas– und Tapetengroßhandel: Peters senior. – Der Besitzer war der zu jener Zeit etwa 80- jährige Dr. Hülser, gleichzeitig Oberbürgermeister der Stadt Viersen.

    Eines Tages betrat ich die Eingangshalle der Farbengroßhandlung. Dr. Hülser kam auf mich zu und fragte nach meinen Wünschen. Als ich die vortrug, erkannte ich in seinen Augen eine Veränderung, die jedoch nicht von dem geschäftlichen Gespräch herrühren konnte. – Ich sah mich veranlaßt, innezuhalten, was erkennbar dankbar aufgenommen wurde.– Dr. Hülser fragte mich: „Was sind sie für ein Landsmann?“ – „Ostpreuße“, sagte ich. „Ja, ja, das habe ich wohl gehört, aber woher?“ – „Aus Braunsberg.“ –

Und damit, glaubte ich, wäre die Ostpreußenreise wohl beendet.Was konnte ein Rheinländer schon von Braunsberg wissen? – Aber es kam ganz anders.–        Dr. Hülser: „Es war wohl so    1919,  1920. Ich war junger Kommandeur der Nachrichtentruppe in Königsberg. Eine politisch unruhige Zeit, Nachkriegs – Wehen mit Unruhen, demonstrierenden Parteien, bewaffnete Anschläge und ähnliche Aktionen des Spartakus, Kapp-Putsch usw. Zur Bekämpfung dieser Revolten wurde sogar Artillerie eingesetzt. Und so war es passiert, daß ein  Geschoß in ein Eckhaus ein großes Loch gerissen hatte. Nachdem sich die Lage beruhigt hatte, ging ich in das Haus, um den Bewohnern meine Hilfe anzubieten. Das war anscheinend nicht erwünscht. – Eine Frau, die dabei war, die Glassplitter aufzufegen, sagte zu mir (und jetzt sprach der Rheinländer Dr. Hülser waschechtes Ostpreußisch): „Ach, wissen se, Herr Leitnant, das is alles halb so schlimm, aber ich hab’ 10 Jahre lang in Braunsberg gewohnt, mang lauter Katholiken, das war viel schlimmer!“  -- Das war 1920. --

    Unser lieber Grönke, ( Papiergeschäft an der Steinbrücke) äußerte einmal zum Thema Katholiken – Protestanten: „Wir waren doch tolerant.“ Liegt darin nicht eine gewisse Überheblichkeit, ein Herabschauen auf etwas Geduldetes?

 

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs,

wurde auch kein Chopin gespielt.

Vater und Mutter waren schon mal im Theater gewesen,

im Stadtwald, vor der Freilichtbühne.-- Operette? – Ja !

Und einmal „Ein Sommernachtstraum“, so 1936/37.

Davon zehrten wir alle!

(nach Gottfried Benn)

 

Von Mutters Gesang zehrten wir alle. Von morgens bis abends sang sie, dann war sie gesund, das hielt gesund. Aber sonst zehrten wir nicht von Reichtümern. Zu einem wesentlichen Teil sind wir von Glums, Krischel und Klunkermus groß geworden. Und, wenn die Zeit gekommen war, Gänsebraten, sonntags, aus eigener Schlachtung. Dann wurden die Fenster geöffnet und mit kräftigen Stimmen gesungen: „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage.“ Damit die Nachbarn von dem ohrenbetäubenden Duft auch etwas mitbekamen. Freude wurde gern weitergegeben.

Es sind die Erinnerungen, die uns geblieben sind, Erinnerungen, die allmählich zu Träumen werden, zu Träumen nach rückwärts gerichtet.

Von Chateaubriand stammen die Worte:

Mit den wirklichen Dingen brechen bedeutet nichts.

Aber mit den Erinnerungen brechen, bedeutet alles!

Das Herz bricht, wenn es sich von den Träumen trennen muß.

 

    Diese Träume können nicht vertrieben werden. Sie wabern weiter. Wie jene Bilder, die in der Königsberger Straße entstanden, wenn die Sonne auf die Südfassaden der Häuser knallte und die Thermik alles wie eine Fata Morgana ein ein wenig über den Juli – Bürgersteig abhob und Entgegenkommendes unwirklich zittern und schemenhaft flimmern ließ. Heute, jedoch, entschwindet alles, was wir auf der Erinnerungs – Einbahnstraße noch erahnen können. Es hat keinen Sinn, unsere Schritte zu beschleunigen, den Bildern nachzujagen, auch wenn die Barfußsohlen auf den heißen Gehwegplatten noch so sehr brennen.

    Die Bilder werden kleiner und kleiner. Und auch die Stimmen verblassen – werden undeutlicher, als wenn die Instrumente, auf denen wir unsere Lebensmelodie blasen, wurmstichig geworden sind und Nebenluft bekommen hätten. Sie schnarren oder lispeln unverständlich und werden so leise, als wenn man ihnen mit einem verkehrt herumgehaltenen Fernglas nachspürte. Das Band zwischen Geschichte und Gegenwart wird immer dünner und schwächer. Schon zittert es überspannt. Wie bald werden aus den Geschichten schimmernde Märchen werden!

    Vielleicht hat Hermann Sudermann recht: „Das ganze Leben ist wie ein Märchen, nur, wir Menschen merken nichts davon.“

Taumeln wir durch die Welt wie die Wanderraupen im Sand der Nehrung?  Kopf – und Schwanzraupe, von uns Kindern zusammengeführt, immer im Kreise, zielstrebig in die unendliche Leere! ?

Und unser Herrgott bläst seine Melodie dazu, auf dem Fa- Gott. Der Herrgott bläst Fagott mit sonorer Stimme, manchmal gicksend, als lachte er sich eins. – Manchmal so überschwenglich lachend über unsere Dummheit, als wären wir Menschen seine größte Lachnummer.

    Und unsere Zeit verrinnt und verweht wie der Nehrungssand von Narmeln und Kahlberg. --  Zeit und Nehrungssand kann man nicht festhalten. Sicher hilft da nicht das Vergessen. Oder hatte meine Mutter recht, wenn sie eines ihrer   Operettenlieder sang? „Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.“

    Im Frühjahr 1973, ein halbes Jahr bevor er starb, besuchte ich in Ürzig an der Mosel, meinen Onkel Paul (Laws). Nach dem Besuchskaffee fragte er mich: „Sag’ mal Helmut, eins verstehe ich nicht, der Weltkrieg war doch von 1914 bis 1918, aber warum sind wir erst 1945 von Braunsberg weggegangen?“ – Er war einer der vergeßlichen Glücklichen! --

    „Tatsachen sind Feinde der Wahrheit“, sagte Cervantes, der seinen Don    Quijote gegen spanische Windmühlenflügel kämpfen ließ. Was drückt eindringlicher die Wahrheit aus als ein Dokument? Ich habe ein Dokument: meinen Reisepaß, ausgestellt von der Bundesrepublik Deutschland am 7.2.1989, auf den Namen: Helmut Stange, geboren am: 23.3.1926, geboren in Braniewo! Darauf kann ich wiederum nur mit einem Zitat antworten:

    „Wer uns unsere Namen nimmt, nimmt uns unsere Vergangenheit!“

 

Meine Schulwege

   Es war die Zeit, als die Laibkuchen 5 Pfennige kosteten, 4 Brötchen- 1 Dittchen, das Haarschneiden – 1 Mark, Rasieren – 25 Pfennige, 1 l Vollmilch – 12 Pfg. und der Salzhering beim Fischhändler Lange in der Poststraße 37 – 4 Pfg. das Stück, frisch aus dem Holzfaß.    Und was wurde verdient? Der Handwerker im dritten Gesellenjahr bekam 60 – 70 Pfg. je Stunde; der Lehrling im ersten Lehrjahr – 3,20 RM pro Woche, im 2. Jahr – 5 Mark und im 3. Lehrjahr mußte er sich mit 6,50 RM begnügen. Dafür bekam er keine „Mutzköppe“ mehr. Für mich gab es in Braunsberg nie solche Lehrjahre, aber immer weite Schulwege. Zuerst von der Lederfabrik Berger in der Bahnhofstraße zur Hindenburgschule zwischen Landgericht und Zigarrenfabrik Loeser & Wolf. Dann von der Seeligerstraße und schließlich von der Ritterstraße zum Gymnasium. – Der direkte Weg zur Hindenburgschule, die Poststraße hoch, wurde öfters durch akustische Eindrücke umgeleitet, besonders dann, wenn vorher die Bohlen der Holzbrücke durch darüberrollende Autos in polternde Schwingungen versetzt, das Kontrastprogramm geliefert hatten . Dann lockte ein stetiger Klingklang in ein enges Seitengäßchen direkt hinter der Holzbrücke, in die Werftgasse. Die lieblichen Geräusche, weihnachtsglockengleich, kamen aus einem Raum, der das Elend der Geburtsstätte in Bethlehem übertraf. – Hier stand der Nagelschmied in einer rußgeschwärzten Kammer zwischen Grudefeuer und blinder Fensterscheibe, stumm hämmernd mit schiefsitzender Nickelbrille. Für mich das Urbild des armen, geschundenen, ausgezehrten Arbeiters. Ihm konnte man wirklich das „Vaterunser durch die Backen blasen“. Er sah aus wie der „Dood von Kiewke“, der sich die Töne seiner Totenglocken mit großer Inbrunst selbst schmiedete. Lieblicher sollten sie klingen, lieblicher als sein gehabtes Leben. – Das ließ sich wohl anhören! – Jedoch was sahen die Augen? Mein junges Leben beeindruckte das Bild. Jene gespensterhafte Figur, die die Töne mit gleichbleibender Frequenz, wie mechanisch, in jahrelang geübtem Bewegungsablauf erzeugte. Die Augen starr auf den glühenden Draht gerichtet, wohl in seiner transzendenten Gefühlswelt gefangen, die auf Erden nicht mehr wahrnehmbar ist. Wie beiläufig entstanden seine Erzeugnisse: Spezialnägel, Ziernägel für Polsterer und Sargtischler.

So stand ich denn da, unbeachtet. – Mich hatten die Klänge gelockt!

    Der morgendliche Schulweg ließ wenig Zeit zum Verweilen, und auch die dunkle Werftgasse gab nicht viel Erhellendes her. – Aber wenn der Klingklang allmählich leiser wurde, hatte man zur linken Hand eine Stahltür, die ich all die Jahre meiner Schulzeit nie verschlossen gefunden hatte. Sie führte zu einem kleinen Hof vor Bäcker Samlands Backstube. Der Bäcker Samland war jener Meister, der am äußersten Ende des Anlegers an der Passarge, unterhalb von Paul Rückwardts Haus, dem Schiffseigner von „Braunsberg I  und  II“, seine vielbestaunte Motoryacht liegen hatte.    Doch zurück zur Hoftür vor der Backstube. Wenn man die vorsichtig öffnete, hörte man zunächst surrende Geräusche wie von Großmutters Spinnrad, dann sah man seitlich unter einem Vordach, vor Regen geschützt, zwei alte ca. 40 cm große runde Mehlsiebe, die durch ein Holzkreuz verstärkt und mit einer Achse an der Wand so angebracht, daß jeweils ein Eichhörnchen, auf den Innenseiten der runden Spanholzwände laufend, das Mehlsieb rotieren ließ. Ein lustiges Bild für uns Kinder, und die zwei buschigen Eichhörnchenschwänze vermittelten Lebensfreude.

    Hier arbeitete unser Onkel Hans. Hier hatte er sein Bäckerhandwerk beim alten Samland kurz nach der Wende ins 20. Jahrhundert erlernt. Hier knetete er die unterschiedlichsten Teige. – Und Hände hatte der Onkel Hans, kräftig und breit, wie die Schaufeln des Maulwurfs. Und auch die Finger hatten von der jahrelangen Kneterei die normale Form verändert. Sie waren äußerst gerade, im ovalen Querschnitt etwa doppelt so breit wie hoch und schlossen im Bereich der Finger so fugenlos dicht, daß aus seinen Händen kein Nehrungssandkörnchen entweichen konnte.

    Es gibt mindestens zwei Dinge auf der Welt, die man nicht festhalten kann: die Zeit und den rieselnden Nehrungssand. Beides zusammen, Sand und Zeit, ergeben die Sandzeiten, wie sie in den alten Eieruhren verwendet wurden. Da ein jeder Mensch seine ureigensten Sandzeiten hat, konnte der Onkel Hans mittels seiner ausgeprägten Hände seine Sandzeiten recht gut beieinanderhalten. Und er war wegen dieser seiner Handeigenschaften im Herzen immer jung geblieben, solange, bis ihm 1945 ein russischer Soldat auf dem Wege nach Heiligenbeil, so bei Einsiedel, mit einem Gewehrkolben die sorgfältig aufbewahrten Sandzeiten aus der Hand schlug und seine Zeit schlagartig verlorenging und abgelaufen war. Ja, der Russe war noch nicht bis zur Nehrung vorgedrungen und kannte die Bedeutung der Sandzeiten nicht.

    Doch nun zurück zu meinen Schulwegen.

Später in der Gymnasium–Schulzeit unterblieben die Schlenker nach rechts oder links in die Nebengassen der Poststraße, da ging’s geradeaus weiter. Meist, so kurz vor dem steileren Teil der Poststraße, überholte mich unser „Waldi“ Zimmermann – viele Jahre später mein Klassenlehrer in Rotenburg. Oft genug habe ich ihn gesehen, wie er in Knickerbockern mit strammen Waden auf seinem Ballon – Fahrrad mit der hohen Lenkstange kurz vor der Wasserstraße tüchtig aufdrehte, mit kräftigen Stößen Schwung aufnahm, kerzengerade im  Sattel sitzend, die Poststraße hinaufstrampelte, das letzte Stück bis zur Post etwas mühsam, aber dann wieder recht gelöst und zufriedenen Auges an Steinhaus und Akademie vorbei bis zur Steintreppe ausrollen ließ, mit geübtem Griff ins Gestänge des Rades packte und schwungvoll das breite Tor unter der vergoldeten Frakturschrift „Alles für Deutschland“ durchschritt. Die Zeitung steckte immer wohlgefaltet in der rechten Jackentasche, so daß man unschwer erkennen konnte, um welches Blatt es sich handelte.

    Bei besonderen politischen Anlässen, wenn in der ersten Stunde Deutsch oder Geschichte gelehrt wurde, dann ließ „Waldi“ es sich nicht nehmen, einen besonderen Artikel aus dem „Völkischen Beobachter“ vorzulesen. Bevor so etwas geschah, war es unerläßlich, seine überaus starke Brille von minus 14 Dioptrien zu putzen. Dabei betonte er während des ausgiebigen Putzvorgangs, daß man für das Reinigen der Gläser bei einer solchen Lektüre unbedingt Toilettenpapier benutzen sollte, wie er es tat, denn dann erst bekäme man den richtigen politischen Durchblick.– Das Zuhören war nicht anstrengend und hat, soweit es mich betrifft, keine thematischen Erinnerungen hinterlassen.

    Einen Vorfall, jedoch, es muß um den 20. April gewesen sein, möchte ich nicht verschweigen. Es ist möglich und auch wahrscheinlich, daß „Waldi“ das uns Vorgelesene bereits in seiner Wohnung überflogen hatte. Jedenfalls dauerte der Lesevorgang nur bis zu seinem Aufschrei: „Ich kann das nicht mehr lesen!“ Sein mächtiger Kopf schlug vorn auf das Katheder und gurgelnde, immer schwächer werdende Laute rieselten über seine Lippen: „unser --- geliebter --- Führer.“ Aber auch diejenigen, die in den hinteren Reihen erst durch den Aufschrei: „Ich kann das nicht mehr lesen,“ geweckt wurden, erkannten bald die Ursache von „Waldis“ Übelkeit . Aus seinem weitgeöffneten Mund quollen die Wörter in langen Reihen, gut sortiert: „Führer – geliebter – unser.“

    Was war zu tun?

    Die Beweise der wahren Haltung unseres „Waldi“ mußten beseitigt werden. In der vordersten Reihe hatte einer von uns, der einen Tag vorher Geburtstag hatte, die Situation schnell erfaßt. Er leerte seine Schultasche und sammelte die verunstalteten Wörter schnell ein und vergaß auch nicht, einige schamvolle Ausreißer unter dem Katheder mit dem Stechzirkel hervorzupicken. Er verließ schnell den Klassenraum, um das Beweismaterial aus der Schule zu schaffen. Der erwachende „Waldi“ faltete die Zeitung bedächtig zusammen, verweilte kopfschüttelnd über dem soeben vorgelesenen Text, warf die Zeitung in den Papierkorb und setzte den Unterricht fort mit den Worten: „Wir machen weiter mit Snorri Sturluson.“

    Nachdem die Stunde beendet war, stürzte natürlich alles zum Papierkorb. Der bewußte Artikel wurde zwar gefunden, jedoch die verlorengegangenen Wörter fehlten --- an 17 Stellen. Am Nachmittag sah man unseren Mitschüler, versteckt unter den Erlen des Regittergrabens, die Wortfetzen reinigen, wobei ihn hin und wieder die zwischen den Erlenwurzeln hausenden Flußkrebse zwickten. Aber das störte ihn nicht sonderlich. – Geheimhaltung war alles! Dann trug er die Ware in die nahegelegene elterliche Wohnung, stieg auf die Lucht und hängte sie fein säuberlich zum Trocknen auf die Leine. Was er am nächsten Tag in die Schule brachte waren 17 Wörter „geliebter “ und 17 Wörter „unser“.

Die Rechnung stimmte zwar, ging aber nicht auf! Den Rest hätten, wie er sagte, die Ratten gefressen.

    Wie sollte es nun weitergehen? Das sollte nach Schulschluß besprochen werden. Bis dahin war noch einige Zeit zum Überlegen. Das taten zwar alle, aber in der nächsten Pause auf der Philosophierstufe war die Lösung gefunden worden und allgemein akzeptiert.

    Es dauerte 14 Tage bis das Ergebnis zu bestaunen war. Besonders erfreut war unser „Waldi,“ dem auf diese Weise ein nie mehr enträtselbares Dokument übergeben wurde, nie mehr enträtselbar, solange jeder Stillschweigen bewahrte. Und alle bewahrten Stillschweigen.

    Was war während der 14 Tage mit den 34 Wörtern geschehen? Sie wurden nochmals eingeweicht, gezogen, gestreckt, gebügelt, ausgerichtet bis lange Bänder auf kräftiger Unterlagspappe fixiert waren. Dabei erwieß sich die schwarze Farbe als äußerst widerstandsfähig. Nun wurden mit der Schneidefeder linienfeine Streifen geschnitten und gleich auf weißen Pappkarton übertragen. Es ging nichts verloren. Abschnittsreste wurden zu Haaren, Punkte zu Augen, und ein eleganter Kreis aus mehreren Linien hielt alles zusammen.

Die Verwandlung war perfekt.

    So präsentierte Bernd Reichert seinen berühmt gewordenen „Kreislauf der Gehirne“, der die Köpfe unserer Lehrerschaft darstellte. Dabei ahnte keiner der Abgebildeten, was sie zusammenhielt, auch „Waldi“ nicht, der nie gefragt hat, was damals in jener Deutschstunde mit ihm geschehen war.

Vielleicht, jedoch, war jene Deutschstunde der Anlaß dafür, daß er mit uns Luftwaffenhelfern nach Rotenburg an der Wümme mußte.

  

Organist Sommer und die Kraft der Musik.

    Es führen viele Wege nach Braunsberg, wenn es auch manchmal weite Umwege werden. – 1988, während unseres 14-tägigen Aufenthaltes in der Toscana kamen wir auch nach Pisa und zum berühmten Platz der Wunder, „Piazza di Miracoli”, vielleicht besser übersetzt mit “Platz des Wunderbaren.“ Kathedrale, Schiefer Turm, Campo Santo mit den Grabmalen berühmter Leute und das Baptisterium, die Taufkapelle, eher ein Taufturm. –

    Während wir in letzterem das Mosaikgewölbe im kühlen Dämmer zu entziffern suchten, schloß sich die Eingangspforte, und der in Graublau gekleidete Aufsichtsbeamte brachte seine sonore Stimme in Schwung. Hin – und zurück – rollend von einer Oktave in die andere, verstärkte sich durch den Echozuschlag der Klang, die Intensität immer weiter und lauter, so daß schließlich der hohe Turm beängstigend mitvibrierte. Dann brach der „Sänger“ seinen Nachschub an Tönen ganz plötzlich ab, und man hatte den Eindruck, daß das Spiel nicht hätte viel weiter gehen dürfen, sonst wäre wohl auf dem weichen moorigen Untergrund, auf dem auch der Schiefe Turm steht, für das Baptisterium kein Halt mehr gewesen.

    Um den „Sänger“ hatten sich inzwischen viele Leute versammelt, die ihn schweigend bestaunten wegen der Kraft seiner Stimme. Als die Pforte wieder geöffnet wurde, standen wir in der Nähe eines deutschen Ehepaares. Der Mann unterhielt sich in flottem Italienisch mit dem „Sänger“ und übersetzte das Gehörte seiner Frau. Daraus entnahmen wir, daß die kraftvolle Wirkung des Gesanges nur von einer bestimmten, auf dem Fußboden markierten Stelle möglich sei und tatsächlich bei einer bestimmten Frequenz und Intensität der Gesang abgebrochen werden müsse, um Schäden am Gebäude zu verhindern. – Diese Anordnung bestünde seit 1 9 5 4, nachdem ein Besucher von einem eingestürzten Kirchturm irgendwo in Deutschland, verursacht durch Orgelspiel, berichtet habe. Er, der Besucher, habe damals eine Niederschrift verfaßt, die gleich nebenan im Archiv einzusehen sei. – „Das interessiert mich,“ sagte der Deutschsprechende, der sich aber später als Österreicher vorstellte. Ich war natürlich auch      neugierig. Wir schlossen uns ihm an, zumal ich glaubte, daß die Niederschrift in Deutsch abgefaßt worden wäre. – Wir erhielten Einsicht.

    Das Archivpersonal hatte Fotokopien von allen möglichen Dokumenten, die, wahrscheinlich zur Aufbesserung der eigenen Schatulle, gegen Bezahlung gern abgegeben wurden. – Die Niederschrift war in Italienisch abgefaßt und nur noch in einfacher Ausfertigung vorhanden, so daß ich den Österreicher bat, mit mir in einen nahen Fotoladen zu gehen, um dort eine Fotokopie der Fotokopie zu erhalten. – So kam ich in den Besitz des Textes. Irgendwie war ich jetzt beruhigt, denn eine dunkle Ahnung hatte mich gedrängt, hartnäckig die Erlangung der Niederschrift zu verfolgen. Um so überraschender war die später in Deutschland erhaltene Übersetzung mit folgendem Inhalt:

    Ich komme mit meiner Mutter aus Arrezo und bin das erste Mal in Pisa. Wir haben die Piazza di Miracoli bewundert. Ganz besonders bin ich von der Akustik im Baptisterium beeindruckt. Ich befürchte aber, daß durch die Schallwellen am Gebäude Schäden entstehen oder Mosaiksteine auf die Besucher fallen können. Deshalb haben wir uns in der Nähe des Ausgangs aufgehalten. – Ich habe vor genau 9 Jahren, am 13.3.1945 (es ist der Geburtstag meiner Mutter) erlebt, wie Schallwellen einer Orgel einen Kirchturm zum Einsturz brachten. – Es waren die letzten Tage des Krieges. Ich hatte im italienischen Korps gegen den Kommunismus gekämpft, war in Ostpreußen verwundet worden und lag im Lazarett in Braunsberg. Die Front war nahe, und es war höchste Zeit, den Ort zu verlassen. Ich war soweit hergestellt, daß ich gehen konnte und wollte in der Kirche ein Dankgebet für meine Genesung sprechen und um sichere Heimkehr bitten. Ich betrat die Kirche. Darin herrschte große Aufregung. Ich versteckte mich hinter einer Säule und begann mein Gebet, als eine Detonation die Kirche erschütterte. Teile des Turms stürzten ein, und aus dem Staub erklang die Orgel mit schrillen Tönen. Niemand saß an der Orgel. Es war gespenstisch.

    Der ganze Turm erzitterte wie im Todeskampf, und die Orgel schrie dazu ihre Klagelaute, ließ den Turm schwanken und schließlich ganz einstürzen. Ich habe bis auf die erste Detonation keine weitere Explosion gehört.      Darum meine Warnung an die singenden Wachmänner im Baptisterium, vorsichtig zu sein. ----

Pisa, den 19. 3. 1954 --- gez. Paolo Lamamonte.

    Vielleicht bedurfte es dieses Erlebnisses in Pisa, um spontan an unsere Kirche St. Katharina, die mächtige Orgel und den Meister daran, Organist Sommer, erinnert zu werden. – Schon in der Neustädtischen Kirche schlich ich, wenn es irgend möglich war, die steile knarrende Holztreppe zur Orgel empor, deren Rückseite man ja nie zu Gesicht bekam. Hier oben waren es meist derbe Handwerksburschen mit viel Kraft in den Beinen, die der Orgel über den Blasebalg den erforderlichen Musik–Atem einpreßten. Denn hier oben wurde die Orgelluft nicht elektrisch erzeugt, sondern mit zwei Trittbrettern, die über zwei Holzstangen mit einem waagerechten Bügel verbunden waren, mußte durch Gewichtsverlagerung des den Blasebalg tretenden Gesellen der notwendige Druck erzeugt werden, der den Orgelpfeifen zum Leben und Musizieren verhalf. Wurden wenige Pfeifen vom Organisten über das Manual angeschlagen, sank der Luftdruck im Blasebalg nur wenig. Wenn zum Ende der Messe die Orgel zum Schlußakkord ansetzte, dann waren alle schnellen Kräfte auf den Trittbrettern gefordert, so daß dann oft zwei Mann sich mühten, die Orgel bei Puste zu halten. In der Pfarrkirche St. Katharina wurde alles elektrisch betrieben. Man kann sich auch gar nicht vorstellen, wie der großen Orgel anders die nötige Luft hätte eingeblasen werden können, wenn bei der kleinen ein solcher Aufwand aus Männerbeinen erforderlich war. Aber irgendwie muß es wohl doch gegangen sein, denn bis 1927 verrichtete diese Arbeit der Kalkant, eine Berufsbezeichnung, die heute nur noch im Musiklexikon zu finden ist. Auf der Orgelempore, möglichst nahe beim Organisten Sommer, gab es allemal viel mehr zu sehen und zu hören. Hier wurde Schwerstarbeit geleistet mit Händen und Füßen und vor allem mit dem Kopf und mit dem Herzen.    Oder sollte man Seele sagen?

    Wie ist es möglich, daß ein Mensch das gewaltige Instrument zu einem solchen Leben erweckt? Ich war damals überzeugt, daß andere Kräfte dahinterstecken als die eines normalen Menschen, der auf die Noten schaut, das Erlesene in Bewegung der Finger, Hände und Füße umsetzt und damit Töne erzeugt, die aufwühlen, beschwichtigen, Stimmungen hervorrufen, – Registerstimmungen.

Und das alles heißt Musik.    Was ist Musik ? – Man kann es nicht erklären!

    Der bekannte verstorbene rumänische Dirigent Sergiu Celibidache, gewiß ein großartiger Musiker, auch er weiß es nicht, zu erklären. Seine Behauptung:

„Es gibt keinen Menschen, der Musik wirklich erklären kann.“ – Aber er sagt doch einmal: “Musik ist die Emanation des Universums“, und dann:

„Gott ist die Emanation der Musik!“

    Anders unser Braunsberger Organist Sommer. Er konnte von seinem Instrument nicht genug hören. Auch nach der letzten sonntäglichen Messe saß er oft auf seiner Orgelbank und improvisierte. Natürlich war er dabei meist nicht allein. Denn sobald einige Orgeltöne nach draußen drangen, schlichen immer einige Leute vorsichtig die leicht knarrende Holztreppe zur Empore hoch, um in geziemendem Abstand den sicheren Bewegungen der Finger und Füße zu lauschen. Und wenn er schon mal freundlich herüberblickte und fragte: „Na?“, kam meist die Antwort: „Toccata !“ – Gemeint war damit die Bach’sche Toccata und Fuge d-moll, BWV 565. Dann schaute er über sich in den großen Spiegel – oder schaute er hindurch?, – nahm gleichsam Verbindung auf zu den himmlischen Mächten, und dann plötzlich platzten die Töne hinaus wie Blitze.

    „Me tocca a mi,“ sagt der Spanier, d.h. er hat mich berührt, er hat mir auf die Schulter getippt, - ich bin an der Reihe, mich zu äußern.

Organist Sommer gab wie abwesend seine Antwort auf diese Aufforderung, die wir Dabeistehende nicht verstanden, vielleicht der eine oder andere ahnte. Zum Ende schaute er uns an, als wollte er hören: „Ja, so ist es!“ Zustimmung hat er immer erhalten, lauten Beifall wohl nie. Einmal winkte er mich 11-jährigen, der ihm wohl als der Aufgeregteste vorkam zu sich, rutschte ganz nah auf seiner Orgelbank heran und sprach zu mir: „Musik“, sagte er, „Musik ist die Sprache Gottes!“

Seit der Zeit gehört bei mir zum Höhepunkt jedes Orgelkonzertes diese    Bach – Toccata und Fuge. Ich habe davon Aufnahmen von der Stellwagen Orgel in Stralsund, der Orgel des Wormditter Orgelbauers in Danzig – Oliva und von der Orgel des Frauenburger Doms.

    „Musik ist die Sprache Gottes.“  --  Diese Erklärung hat für mich bis heute Bestand und wird gerade in jüngster Zeit durch die allgemeine babylonische Sprachverwirrung, was heute alles als Musik bezeichnet wird, bestätigt. Das sind keine Sphärenklänge, eher verschlüsseltes unverständliches Kauderwelsch, bei dem offensichtlich Gottes Zunge verstummt, als wollte er andeuten:  „So könnt ihr mit mir nicht reden!“ Es fehlt das Göttliche, es ist nicht seine Sprache, die wohl auch immer weniger vermißt wird.

    Leider ist es nicht mehr möglich, Herrn Celibidache die Sommersche Auslegung des Begriffs „Musik“ mitzuteilen.

So müssen wir dieses Geheimnis für uns behalten!

 

Die Philosophier – Stufe

    Die Geschichte der Philosophier–Stufe wird zeigen, daß auch während des Krieges 1939 – 1945 intensive Debatten der Jugendlichen geführt wurden. Und die Jugendlichen waren kaum älter als 18 Jahre. – Verzweifelte Gedanken – Konstruktionen zu diesem Thema sollten helfen, das Gewissen zu beruhigen und über die Seelennöte der Wehrpflichtigen hinwegzuhelfen.

    Die Philosophier–Stufe ist kein zeitlicher Abschnitt eines oder mehrerer Semester eines Philosophie–Studiums oder die Bezeichnung für einen Reifegrad eines dem Streben nach Weisheit bemühten Menschen. Nein, die Philosophierstufe ist ganz profan jene Stufe aus Naturstein, die den etwa 25 cm großen Höhenunterschied zwischen dem Schulhofgelände und dem Boden des               Arkadenganges unseres Braunsberger Gymnasiums überbrückte. Aber nicht die ganze durchgehende Stufe vor dem Arkadengang ist gemeint, sondern nur jene Teile, die von den Kanten der 9 Pfeiler begrenzt wurden. Denn nur hier konnte man, gestützt und, besonders im Frühling und Herbst, unterstützt durch die abstrahlende Wärme an der Südseite der mächtigen Pfeilerquader behaglich sitzen, während der übrige Teil der Stufe in den Arkadendurchgängen zur Zeit der Unterrichtspausen lärmend überrollt wurde. Vor den Pfeilern wurden solch rohe Kräfte gestoppt und in höhere Regionen umgeleitet. Saß man jedoch an einem dieser begehrten Plätze, war es mit der Profanität vorbei. Nicht nur der Rücken nahm die wohlige Frühjahrs– oder Herbstwärme genießerisch auf, der Rückenkontakt mit der archaischen Vergangenheit, der Tradition, mit dem Gedankengut all jener, die hinter diesen Mauern gelernt und gelehrt hatten, wurde spürbar. So saßen alle, die während der Pausen einen Sitzplatz ergattert hatten, schweigend, sinnend, den eigenen Gedanken hingegeben da, obwohl der Lärm auf dem Schulhof und die Enge der Sitzplätze das Abschweifen aus der Wirklichkeit verhindern müßten. Auch die, wegen der geringen Höhendifferenz der Stufe, hochgestellten Knie gestatteten nicht gerade eine bequeme Haltung, förderten jedoch einen offenen Geist, der zum intensiven Nachdenken Voraussetzung ist. Diese Wackelstellung zwischen der wärmenden Bequemlichkeit und dem Wachseinmüssen, wollte man nicht seine positiven Gedanken aus dem herabfallenden Schädel zwischen die offenen Knie verlieren, war immer nutzbringend und hilfreich, schwierige Probleme zu lösen, seien sie entstanden auf mathematischen, physikalischen, fremdsprachlichen oder auch zwischenmenschlichen Gebieten. – So fand man stets fundierte Lösungen, als wäre hier die Quelle oder jene osmotische Brücke zwischen gewesenem und aktuellem Gedankengut gefunden. Diese positive Wirkung der Philosophier–Stufe hatte Bestand auch nach den Unterrichtsstunden. Nicht nur Fahrschüler, deren späterer Zugabfahrts–Termin ein Verweilen erlaubte, auch Ortsansässige nutzten diese Sitz– und Denkgelegenheit, den durch die Pausenglocke unterbrochenen Gedankengang zum Abschluß zu bringen.

    Doch jetzt, im Jahre 1 9 8 3 , ist mein erster, aufregender Schulbesuch nach 40 Jahren Abwesenheit beendet. Ich erreiche am anderen Ende des Arkadenganges die Stufen zum Bibliothekenturm und beginne erst dort, gelehnt an die Innenseite des Arkadenganges, wieder bewußt zu atmen. Ein Kleiber sucht mir gegenüber kopfunter nach Insekten in den Quaderfugen wie vor 40 Jahren.    Und – ich höre wie damals Stimmen von der Philosophierstufe:„Ich hatte noch keine Gelegenheit.“

„Gelegenheit? Wozu?“

„An den Tod zu denken.“

„Hast du ihn noch nie gesehen in der Verwandtschaft, im Bekanntenkreis?“

„Das schon, aber es ist etwas ganz anderes, wenn es um die eigene Haut geht.“

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Ich habe gestern den Stellungsbefehl für den 17. erhalten.“

„Wie so viele andere auch, – also in 14 Tagen.“

„Du weißt, ich will Theologie studieren!“

„Ich weiß, es fällt kein Spatz vom Dach ohne den Willen Gottes. Wie einfach du

  es hast, Bruno! Und was bekümmert dich?“

„Nicht so sehr der eigene Tod, sondern der von mir verursachte Tod. Ich kann

  auf niemanden schießen!“

„Im Krieg heißt es, entweder du oder ich.“

„Aber nicht für mich!“

„Bruno, denk doch mal nach über Leben und Tod.“

„Meinst du, das habe ich nicht getan?“

„Gewiß, schon, – aber auf deine eigene Weise.“

„Was soll das heißen?“

„Bruno, das soll heißen, nach deinem und unserem Glaubensbekenntnis. Aber

  Tatsache ist doch ....“

„Tatsachen sind Feinde der Wahrheit.“

„Wo hast du denn das her?“

„Nicht aus dem Religionsunterricht, ein Wort von Cervantes’ Don Quijote.“

„Alle Achtung, aber so kommen wir nicht weiter, Bruno.“

„Ich will dir helfen, habe jedoch wenig Hoffnung mit meiner Logik, aber ich

  sehe deine Probleme ganz einfach.“

„Was ist daran einfach? Seit Jahrhunderten denken die Philosophen über dieses

  komplexe Thema nach, ergebnislos.– Und du sagst: EINFACH!“

„Bruno, ich weiß Mathematik ist nicht deine Stärke, aber du mußt zugeben, daß

  die Philosophie auf der Grundlage der Logik vorangekommen ist.“

„Einverstanden.“

„Du brauchst nur meinen folgenden Sätzen nachzudenken, wörtlich: nachzuden-

  ken.“

„Einverstanden.“

„Tod ist nur möglich für Lebendes, ohne Leben kein Tod.“

„Einverstanden.“

„Für das Leben verantwortlich sind auch beim Menschen die Eltern. Da der Tod

  vom Leben abhängt (ohne Leben kein Tod), sind die Eltern auch die Verur-

  sacher des Todes.“

„Spielt in deinen Gedanken Gott überhaupt keine Rolle?“

„Bruno, bitte, hör zu! Darüber können wir nachher reden. – Zurück zum Leben,

  zum Geborenwerden. Jeder Mensch erhält gewissermaßen neben der Geburts-

  urkunde auch den Totenschein, unterschrieben    und das ist ja die eigentliche

  Tragik der Eltern    , unterschrieben von Vater und Mutter. Nur das Datum

  muß noch eingetragen werden. Und  DAS  macht ein anderer.“

„Und was willst du mit deiner verrückten These sagen?“

„Das bedeutet, daß du selber niemals zum Töten im eigentlichen Sinne kommen

  kannst. Außerdem gelten im Krieg andere Gesetze.“

„Gesetze, Gesetze – vom Menschen für seine Ziele erdachte Gesetze.  NEIN  ,

  Moral und Recht und Gewissen sind für mich unabänderlich und durch keine

   Gesetze tilgbar.“

„Bruno, ich bin noch nicht zuende. Das bedeutet, wenn du während der Kampf-

  handlungen einen Feind erschießt, daß  DU  quasi in den bereits von den Eltern

  des Feindes ausgestellten Totenschein nur das Datum einträgst.“

„NUR, sagst du. So einfach ist das für Dich?“

„Einfach oder nicht, aber du mußt doch zugeben, es ist eine praktische Hilfe zur

  Beruhigung des Gewissens in diesen verdammten Zeiten, wenn man sich daran

  halten kann. Ich sage:  KANN  !“

„Ich bin sprachlos über deine Gedankengänge. Und was bedeutet für dich das

  Leben?“

„Wieder einfach gesagt: Leben ist Warten auf den Tod.“

„Heinrich, mir graut’s vor dir.“

„Bruno, außerdem kannst du als künftiger Priester doppelt dankbar sein.“

„Was hat die Kirche noch in deinem Kopf zu tun?“

„Mehr in deinem, lieber Bruno, mehr in deinem. Die katholische Kirche verhin-

  dert bei dir, daß du jemals zu einem Tötungsdelikt in meinem aufgezeichneten

  Sinne kommen kannst.“

„Das verhindert nicht die Kirche, sondern die Befolgung der  10  Gebote .“

„Aus deiner Sicht, gewiß, aber nicht in meinem Sinne. Der Zölibat gebietet die

  Ehelosigkeit und damit unterstützt die Kirche die Vaterschaftslosigkeit ihrer

  Priester.“

„Aber der Zölibat hat doch andere Gründe.“

„Für dich vielleicht – noch . Erkennst du nicht die bewußte Fürsorge der katholi-

  schen Kirche für ihre Priester, zu verhindern, daß sie jemals Väter werden und

  damit Leben  UND  Tod in die Welt setzen?“

„Hör auf mit deiner Logik, hör auf!    Und was sagen deine Eltern dazu?“

„Bruno, du bist der erste, dem ich meine Gedanken ....“

„Behalte deine Gedanken, um Gottes Willen, für dich!“

„Ich wollte dir doch nur helfen, Bruno.“

„Nein, nein, da bleibe ich lieber bei meiner Version: Es geschieht nichts ohne

  den Willen Gottes.“

     Der Schulhof–Pausenlärm war verweht, das Gespräch war verstummt. Der Kleiber sucht noch immer nach Insekten, kopfunter, weiter abwärts. Vorsichtig sehe ich um die Ecke in das Schweigen. Der Schulhof träumt leer in der Nachmittagsruhe. Die einzige Bewegung war Bruno. Er rannte davon durch das kleine Hoftor, Richtung Langgasse. – Wohl zur Pfarrkirche.

    Wir haben nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört. Seine Schultasche, seine Schulbücher erhielt Hausmeister Waide zur Aufbewahrung. Das war im Frühjahr  1 9 4 3 . Noch bevor wir als Luftwaffenhelfer nach Rotenburg an der Wümme zogen, kam die Nachricht: – Gefallen in Rußland.---

  

Der ziegelrote Dittchenfleck

    Einer meiner Antriebe, die mich zu meinem ersten Braunsberg–Besuch nach dem Kriege veranlaßten, war eine ziegelrote dittchengroße Fehlfarbe an der Fassade des katholischen Vereinshauses. Dieser Fleck hatte mir in den letzten Jahren des Heimatlebens beim Vorübergehen jedesmal den Kopf verdreht und die Augen wie mit einem Magneten festgehalten und den Blick erst nach einer wirkungsfreien Entfernung wieder entlassen zur störungsfreien Geradeaussicht.

    Auf dem Wege vom Gymnasium nach Hause traf man ab „Kutschkows Eck“ kaum einen Menschen auf der Straße. Der Unterricht endeten gewöhnlich um    ½ 2. Dann war die allgemeine Mittagspause vorüber, die Handwerker waren wieder am Arbeitsplatz, die Geschäfte aber noch nicht geöffnet. Es war also nichts Besonderes, wenn die Königsberger Straße menschenleer war. Und in dieser schnurgeraden Straße war meist vom Anfang bis zum Ende alles gut    übersehbar. Denn die ehemaligen Schattenspender, Baumreihen auf beiden  Straßenseiten, hatten in den 30-er Jahren Radwegen weichen müssen.

    Eines Tages, es muß wohl während des Krieges gewesen sein, kamen mir ein

Mann in Zivil und dahinter zwei weitere Zivilisten entgegengelaufen. Der Vorläufer verschwand im katholischen Vereinshaus.

    Als die beiden Nachläufer hinterhereilten, öffnete sich bereits das erste Fenster neben dem Hauseingang. Der erste Mann sprang heraus, zog eine Pistole, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.

    Die Kugel durchschlug seine Schädeldecke, biß ein Stück Ziegel aus dem Mauervorsprung und zog singend mit Doppler-Effekt in irgendeine Richtung davon. Während ich dem wundersamen, später in Kurland hundertfach vernommenen Ton mit der entsprechenden Kopfbewegung nachspürte, brach der Mann kurz vor mir zusammen und lag sogleich ruhig da.

    Er war elegant gekleidet, trug einen grau-grünen Glenchek–Anzug, rote Krawatte, dunkelbraune Halbschuhe. Er hatte dunkles Haar, das sich allmählich rot färbte.

    Die beiden anderen Männer hatten inzwischen eine Decke besorgt und deckten den Toten zu. – Sie hatten offensichtlich nach einem Fahrzeug telefoniert, denn bald hielt ein Auto. Nachdem der Tote eingeladen war, kam einer der    beiden Nachläufer mit dem Gastwirt heraus und erklärte ihm etwas. Der Wirt lief wieder ins Gebäude, man hörte rufen. Kurz darauf erschien eine Putzfrau mit Wassereimer und Schrubber. Sie reinigte den Bürgersteig mit reichlich Wasser. Nach etwa  10  Minuten war der ganze Spuk vorüber . Ich wurde nicht beachtet.

Während der ganzen Zeit blieb die Straße leer. Kein Fuhrwerk, kein Auto, kein Pferdegetrappel, kein Mensch kam hinzu, keine Tür schlug, kein Fenster wurde geöffnet, kein Jammern, kein Klagen, kein Ausruf des Schreckens. –– Nichts!

Aber ein Pistolenschuß ist doch kein Peitschenknall.–Was war das für eine Zeit?

Keine Fragen: Was war passiert? Welches waren die Hintergründe?---

Politische?  -- Spionage? Und alle Zeitungen schwiegen! –Kein Bericht!

Keine Notiz! – Wiederum – nichts!

    Ich hatte mich langsam, immer wieder zurückblickend, bis zum Hause der Witwe Hohmann begeben. An den Staketenzaun gelehnt, beobachtete ich, wie der Tote abgefahren wurde. Ein Leben weniger, wie so viele andere während des Krieges ausgelöscht. Nichts Besonderes zu dieser Zeit!

Ausgelöscht, weggeschruppt, ausgelaufen in die Halbrohre der Dachentwässerung über den Bürgersteig, in den Rinnstein.---

Verschluckt vom nächsten Straßengully.

    Aus, vorüber – vorbei! – ENDE – ENDE – ENDE  ! !

    Der Tod ist offenbar auch nur eine Anekdote, die wir erleben! ? (Menasse)

Ein Ziegelstück lag scheinbar unbeteiligt vor dem Gebäude und hinterließ an der Hauswand einen Fleck, der sich leuchtend rot von der altersbedingt verschmutzten Fassade abhob. Dieser dittchengroße rote Fleck zwang, sooft ich hier noch vorübergehen durfte, meinen Blick immer wieder auf die Stelle, wo die Pistolenkugel den ersten Kriegsschaden, ein Menetekel, an dieses Traditionsgebäude gelegt hatte.

Den gesuchten ziegelroten Dittchenfleck an der Fassade fand ich 1983 nicht. Das katholische Vereinshaus gibt es nicht mehr. Es war ausgebrannt, die Reste der auf der Innenseite des Saales sichtbar gewesenen hölzernen bemalten Dachkonstruktion waren zu Ofenholz geworden, die Ziegel des Sichtmauerwerks wurden nach Warschau transportiert. Sie waren damals eine wertvolle Ware. Jener, durch die Selbstmörderkugel beschädigte Ziegelstein mit dem leuchtend roten Dittchenfleck, war gewiß auch dabei. Wahrscheinlich wurde er wegen seiner Fehlfarbe so vermauert, daß sein aussagekräftiger Schaden nicht mehr sichtbar war. – Ein absolut stummer Zeuge. Aber wie könnte er fremden Leuten in einer fremden Sprache etwas sagen?   So zeigt er heute wohl seiner Umgebung die Rückseite. Der Beschädigungsschmerz ist nun durch Kalkmörtel wie mit Höllenstein ausgebeizt.

    Erst viele Jahrzehnte später erfuhr ich, daß der Selbstmörder Geschäftsführer des Hotels Krüger (Flußterrasse) in der Bahnhofstraße gewesen war. Er soll in erheblichem Maße Gelder unterschlagen haben

 

Der „Vaterselber“

    Wenn man von „Kutschkows Eck“, da, wo einem alten Photo zufolge, immer ein uniformierter Polizist mit Schleppsäbel mitten auf dem Pflaster stand und in die Marktstraße, die spätere Hindenburgstraße, lauernd auf den Verkehr, der da kommen sollte, wartete ---. Wenn man also dort in die Königsberger Straße einbog, ging man etwa 30 bis 40 m auf einem leidlich breiten Bürgersteig, vorbei an einer Konditorei, an Photo–Schubert, dem passionierten Privat-Rennfahrer, bis man gedankenverloren plötzlich vor der dunklen Giebelwand eines vorspringenden Hauses stand. Erschreckt über die Beweglichkeit eines Hauses, war man genötigt, sich vorsichtig um die Hausecke tastend, – wer weiß, was das Haus noch fertigbringt – den Bürgersteig zu verlassen und über die Katzenköpfe der Straßenrandpflasterung den Weg fortzusetzen. Es war also bequemer, auf der anderen Straßenseite an Singers-Nähmaschinen, Friseur Martens, der Haushaltungsschule, am Gitterzaun der ev. Kirche vorbei seinen Wag zu nehmen, wenn man nicht gerade von den Klängen, die hinter dem vorspringenden Haus seinen Ursprung hatten, angelockt und durch ein plötzliches Bild der Geschäftigkeit überrascht werden wollte. Hier befand sich das Arbeitsfeld des Schmiedemeisters Oltersdorf.

    Eines morgens, es muß wohl sonntags gewesen sein, gingen mein Vater und ich auf der Kirchenseite der Königsberger Straße. Auf dem erstgenannten Bürgersteig auf der anderen Seite ging ein zwergenhaftes Männchen mit schlohweißem Haupthaar und Vollbart mit kurzen schlurfenden Schritten, so, als wenn seine Galoschen zu groß wären. Keine Sorge! Verlieren konnte er sie nicht. Sie wurden von grauen wärmenden Gamaschen und deren breiten Gummizügen, die vor den Absätzen um die Schuhe gelegt waren, gehalten. Er trug ein Chemisettchen ohne Schlips und Kragen, aber mit funkelndem güldenen Kragenknopf. Der Blick war stur geradeaus gerichtet, seine Augen aber sahen, wie ich bei späteren Begegnungen feststellen konnte, durchaus karsch und kiebig in die Welt und hatten etwas Schalkhaftes.

„Wie alt mag der sein?“ fragte ich. Nach kurzem Überlegen antwortete mein Vater: „So zwei  -- dreiundsechzig ,  --  und das ist der Vaterselber.“

    Die Geschichte kannten wir in der Familie alle, und der eigentümliche Name stammte von ihm selbst.--- Und das kam so:

    Auch um die Jahrhundertwende (zum 20. Jahrhundert), so anno Kruck, kam es durchaus vor, daß, durch widrige, süße Umstände bedingt, früh geheiratet werden mußte. Es waren kiebige männliche Augen auf luchterne weibliche Augen getroffen, sie hatten sich zugeplinkert, hatten ihre Blicke und anderes gekreuzt und    ach, oh Wunder (sie war  17 , er  19), es mußte eine kleine Hochzeitsfeier abgehalten werden.

    Als ihre Zeit gekommen war, wurde das Jungchen, das nun Vater werden sollte, immer unruhiger. Denn nach altem Brauch war es seine Aufgabe, den neuen Erdenbürger beim Magistrat anzumelden. Was er auch versuchte, es fand sich keiner, der ihm diesen Weg zum Standesamt abnehmen wollte. Die Behördenangst war allgemein verbreitet und jeder war froh, wenn er nicht die Stufen der Rathaustreppe erklimmen mußte, auch wenn man sich am schmiedeeisernen Geländer hochziehen konnte.

    Nun war es soweit, und unser junger Vater hätte die Treppe hochstürmen können, aber, wie gesagt, die allgemeine Behördenangst. -- Und die steigerte sich noch vor der Standesamtstür. Vor  6  Monaten, bei der Hochzeit war das noch anders gewesen. Heute fehlte der Druck der Trauzeugen. –

Er sah verbiestert aus.    Solange der Rathauskorridor leer war, ging es ja, aber allmählich kamen Leute und als einer der Beamten ihn fragte: „Na, Kleiner, kann ich dir helfen?“, blieb ihm nach seinem: „Nei, aber neiche“ gar nichts    anderes übrig, als zaghaft an die Eichentür zu klopfen. Ein kräftiges „Herein!“ sog ihn förmlich durch den leicht geöffneten Türschlitz, und nun stand er vor dem Schreibtisch, drehte die Mütze zwischen den Fingern und wartete -- bis der bärtige Herr Beamte von seiner schriftlichen Arbeit ließ, ihn freundlich wie ein Vater ansah und fragte: „Na, was willst, Jungchen?“ Wegen der freundlichen Anrede faßte er Mut und brachte den gedanklich oft genug eingeübten Satz ohne Stottern über die Lippen: „Ich möchte ein Kind anmelden.“ – Nun wurde aus dem freundlichen Beamten ein erstaunter Beamter, ein dermaßen erstaunter, daß er über den Brillenrand hinweg die Worte hinausbölkte: „Da soll man der Vater selber kommen!!“

    Unser junger Freund, hilflos gegenüber solchem Behördendonnerwetter, peeste zur Tür, öffnete sie, trat bedammelt auf den Korridor und sah einige wartende Leute. Da begann sein Gehirn wieder zu arbeiten. Und als er erkannt hatte, daß der Herr Beamte gar keine Uniform angehabt hatte, betrat er, ohne die Hand vorher vom Innentürdrücker genommen zu haben, forschen Schrittes wieder das Standesamt, begab sich an den Schreibtisch und, ohne auf das Hochblicken des Beamten zu warten, sagte er mit sicherer Stimme:

„Ich bin doch der Vater selber!“

So kam es, daß neben dem neuen Erdenbürger ein neues Braunsberger Original geboren wurde: der „Vaterselber.“

Ein Original, das sich selbst bis ins hohe Alter mit freundlichem, belustigtem Geraune umgab. Ob sich dabei die Brust unter dem weißen Chemisettchen stolz hob oder ob er den Kopf verschämt einzog, war damals schon nicht mehr zu erkennen. --- Letzteres ist eher anzunehmen. Der ausgeprägte Buckel, der sogenannte Verdrußkasten, deutete zumindest etwas Ähnliches an.

 

Die Sauerampfer–Suppe

    In unserem Garten in Lüttelforst, ganz unten zum Flüßchen Schwalm hin, wo der saure Waldboden beginnt, haben wir vor Jahren direkt am Zaun Sauerampfer gesät. Dort gedeiht er prachtvoll und kommt in jedem Frühjahr als erstes Grün wieder und begrüßt die zarten Blättchen der Brennesseln, die jenseits des Zaunes in der Freiheit des Waldes sprießen. Von den letzteren kann man einen köstlichen Salat bereiten, der die Müdigkeit des Winters vertreibt und alljährlich neue Lebenslust und Tatkraft verleiht.

Nicht minder tut das der Sauerampfer, besonders wenn er nach ostpreußischer, gewiß aber nach Braunsberger Art zubereitet wird. Meine Frau, eine gebürtige Düsseldorferin, hat sich nach meiner wenig kochrezeptüblichen Beschreibung des Geschmacks an den wirklichen Wohlklang dieser Komposition herangetastet, so daß sich ihre Sauerampfersuppe durch nichts von der Urform unterscheidet und von den kritischen Braunsberger Zungen als echt ostpreußisch bezeichnet werden kann und das, obwohl die Braunsberger Zutaten auf den Wiesen in der Au gesammelt wurden. Jene kleinblättrigen, pfeilkrautähnlichen, sattgrünen Formen, die, frisch zerkaut, alle Mundwinkel zusammenzogen, ähnlich in der Wirkung wie Rhabarber.

    Eine Zutat in Lüttelforst sind, wie seinerzeit in Braunsberg, hartgekochte, klein-gehackte Eier, etwa so zerkleinert, wie sie den Hühnerküken nach dem Schlüpfen als erstes Futter vorgesetzt wurden, übrigens untermischt mit zarten feingehackten Brennesselblättchen. Ein wirksamer Schmaus, der die Kleinen zur Fröhlichkeit beflügelte.

    So werde ich denn bis heute jedes Frühjahr mit der Lüttelforster Sauerampfersuppe an jene Sauerampfersuppe in Braunsberg erinnert, die wir Kinder essen sollten, jedoch davon keinen Löffel abbekommen haben. Die hat nämlich eine bettelnde Zigeunerin mit großer Gier und überquellenden Augen in ihren ausgehungerten Leib hineingelöffelt. Für mich 12-jährigen ein Bild, das man später in schlechten Zeiten manchmal wohl selber abgegeben hat.

    Nun, die Zigeunerin wollte nicht undankbar sein und erbot sich, meiner Mutter aus der Hand zu lesen. Widerwillig zuerst, ließ meine Mutter diese Prozedur doch über sich ergehen. – Das Ergebnis war nicht erfreulich.

Sie ist dann auch bald nach der Flucht in einer fremden Stadt gestorben.

    Bei mir wurde eine lange Lebenslinie gefunden.

86 Jahre alt soll ich werden. – Ich glaube daran! –

Ich hoffe nur, der Herrgott hat nichts anderes mit mir vor, und er benutzt das gleiche Handlese-Alphabet wie jene Zigeunerin in Braunsberg.

 

Die ostpreußísche Mundart

    Laßt mich einige Worte zu unser wunderschönen ostpreußischen Mundart sagen, die die Landsleute früher, besonders, wenn sie mit anderen aus dem „Reich“ zusammentrafen oder wenn sie als fein gelten wollten, zu unterdrücken versuchten, – was natürlich nicht gelang.–– Vielleicht geht es anderen Volksgruppen ähnlich, denn auch den Sachsen wird man überall erkennen.

    Zuerst möchte ich eine Geschichte aus den Lebenserinnerungen von Hermann Sudermann erzählen, die er in seinem Werk „Bilderbuch meiner Jugend“ beschreibt und aus seinen Berliner Tagen zur Zeit Bismarcks stammt, ehe er ein erfolgreicher Bühnenautor wurde. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben. Es war ein Glücksfall, als an einer Kleinbühne ein Jugendlicher Liebhaber gesucht wurde, der den Ferdinand von Bruck in dem Stück „Jugendliebe“ von Wilbrandt spielen sollte. Er meldete sich und bekam die Rolle. Als er die Bühne betrat, wurde er wegen seiner stattlichen Figur von den Zuschauern mit Zustimmung empfangen. Als er jedoch zu sprechen begann, wurde es im Saal unruhig. Und das Gelächter war groß, als jemand sagte:

„Der kommt wohl frisch mit der Schnallpost aus Albing?“

Nun stürmte der Direktor auf die Bühne und redete in barschem Ton auf die Zuschauer ein. Er sei ein anständiger junger Mann, der keine Schuld habe, daß er dahinten in Ostpreußen und nicht in Berlin geboren sei. Man könne Gott danken, daß er nicht aus Sachsen käme, denn dann wäre es noch schlimmer!

    Leider werden solch heitere Erlebnisse in unserer Zeit immer unwahrscheinlicher, weil das Ostpreußische mit uns Resten, die diese Mundart noch kennen, ebenfalls ausstirbt.

    Von Wilhelm von Humboldt stammt der Satz :

„Unsere eigentliche Heimat ist doch unsere Sprache“

    So ähnlich klingen die Worte von Joseph Roth. Er, der k.-u.-k.-monarchistische Dichter, geboren in Galizien, nach dem Zerfall Österreich-Ungarns ständig auf der Flucht und Suche nach einer neuen Heimat, sagte in Paris, seinem letzten Aufenthaltsort, wo er  1939  starb: “Ich bin jetzt im Staate ‚Staatenlos’ zuhause. ---- Jetzt habe ich nur noch eine Heimat, nämlich die deutsche Sprache!“----

Das ist ein ganz neuer Aspekt zum Heimatbegriff. Denn natürlich ist damit auch die jeweilige Mundart gemeint.

    Was haben wir zurückgelassen? --- Was haben wir mitgenommen?

    Geo Grimme antwortete darauf folgendermaßen: „Viele von euch haben ihr Mundwerk mitgenommen, die Art und Weise zu sprechen, die unverkennbar bleibt.“ Er schildert einen Restaurantbesuch im südlichen Chile, dessen Chef Heribert Meier hieß und ein komisches Spanisch sprach. Geo ging auf ihn zu und redete ihn so an: „Nach ihrer Aussprache könnten sie aus Königsberg sein, von der Lomse?“ – „Aber neiche“, sagte Heribert Meier, „vom Haberberg.“ Er wurde als Landsmann erkannt, denn er sprach ein ostpreußisches Spanisch.

    Wer aber ist dabei, uns unsere Mundart zu nehmen? Haben wir die nicht selbst aufgegeben? --- Gewiß, verstreut in alle Welt, verlieren sich die Fertigkeit der Zunge und der ehemals gewohnte Klang im Ohr. – Ich, jedenfalls, bin immer hocherfreut, wenn ich von Fremden an meinem Marjellchen-Sound als  Ostpreuße erkannt werde.

    Nun, unser Ostpreußisch zeichnet sich im Sprachgebrauch dadurch aus, daß es die Umlaute – Äu ,- Ü  und  Ö  nicht kennt. Statt dessen wird dem –Ei , dem –I und dem –E  zu größerer Verbreitung verholfen, was sich auch in der Verbreiterung der Mundstellung auswirkt. Die wissenschaftlichen Forschungen über dieses Phänomen sind zwar immer noch nicht abgeschlossen, fest steht jedoch, daß eine wesentliche Ursache dafür darin besteht, daß der Ostpreuße eher ein heimlicher Liebhaber ist. Er geht nicht auf die Straße, um sein Bedürfnis zu küssen, in die Öffentlichkeit zu tragen, wie es z.B. der Rheinländer in der Karnevalszeit tut. Der Ostpreuße äußert sich dazu, seinem Charakter entsprechend,   im Verborgenen, – heimlich.

Beim Küssen wird, das war auch in Ostpreußen nicht anders, zunächst der Mund gespitzt. Und jeder, der versucht, die Buchstaben – Äu,- Ü – oder  Ö zu formen wird feststellen, daß er dafür – wie beim Küssen – unbedingt ein spitzes Mündchen machen muß. -- Es war also ein ungeschriebenes Gesetz, das spitze Mündchen zu verheimlichen und nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, so ein --- „Dingslamdei“ zu sein.

    Eine andere ostpreußische Besonderheit war der ausgiebige Gebrauch der  Verkleinerungssilbe:-„chen“.– Es gab sogar grammatikalisch vollkommen unbegründete Auswüchse wie –„leinchen“, obwohl die Verkleinerungssilbe –„lein“, wie bei Knäblein, in Ostpreußen überhaupt nicht üblich war. Einmal, zu Weihnachten, in der Pfarrkirche beobachtete ich vor der Krippe, wie eine Mutter ihr Marjellchen hochhob, auf das Jesuskind zeigte und fragte:

„Na, siehst du das Knäbleinchen?“

    Welch wunderbare Wortschöpfungen ergaben sich aus diesem zusätzlichen Gebrauch der Endsilbe -„chen?“ – Da wurde aus dem Mann ein Neutrum, das –Mannche, aus dem Hund das – Hundche. Es entstanden: Hiehnerchens, Pferdchens, die Hietscherchens usw. – usw. Wer konnte solchen Tierchens gram sein? So angesprochen, waren sie in die Familie fest integriert und liebevoll versorgt. Und die Menschen unter sich? Das Mannche hatten wir schon,– das Muttche, mein Trautsterchen, die Kinderchens, die Jungchens, die Marjellchens. – Welche Empfindungen schwingen da mit? ! – Aber die lieblichste aller dieser verbalen Liebkosungen ist das Wort DU mit angehängtem CHEN:              „DU–CHEN!“ Wer das hört, dem läuft es wohlig über den Rücken, durch Herz und Seele, durch Leib und alle Glieder. Da kannst du dich nicht wehren und, wenn die entsprechenden Berührungspunkte mitspielen, schmilzt jeder Widerstand dahin. Zur praktischen Übung wiederentdeckt und empfohlen. Tief in die Augen gucken und dann:  DU–CHEN ; DU–CHEN !  Also, üben, üben, üben!

Na, denn: „TACH–CHEN!“

 

Noch eine Geschichte

    Braunsberger Geschichten entstehen auch heute noch. Sei es in der Toscana oder in Südtirol, wo es südlich von Meran in Lana das Schloß Braunsberg gibt, das jedoch durch ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Zutritt verboten!“ auch jedem Braunsberger den Besuch untersagt. Vom gegenüberliegenden „Braunsberger Hof“ hat man einen vorzüglichen Blick auf die Schloßruine, die in vieler Hinsicht dem Erscheinungsbild des heutigen Braniewo ähnelt.

    Aber sogar in Afrika können Erinnerungen an das alte Braunsberg wachgerüttelt werden, wie es uns während eines Urlaubs im Februar 1996 in Tunesien geschehen ist. Um dem Karnevalsrummel zu entgehen, was auch viele Rheinländer tun, hatten wir 14 Tage in Hammamet verbracht, zum einen, um auch im Winter etwas Sonne zu tanken, zum anderen, um die Kultstätten aus großer Vergangenheit zu besichtigen: Karthago, El Jem Dougga, Kairouan, Sidi Bou Said und natürlich in Tunis das Bardo-Museum. Es zog uns auch weiter in den Süden: der Salzsee Chot el Jerid, die Oase Tozeur und gleich hinter Douz: die Sahara. Als Berber verkleidet zogen wir Europäer auf Kamelen in einer Karawane in die Wüste. „Festhalten!“ hieß es hoch oben auf den Wüstenschiffen. Es gab viel zu lachen wegen manch unglücklicher Figur. Es war kein Pferderitt.

    Am nächsten Tag ging es in die Oase Tozeur. 200 000 Dattelpalmen, Bananen, viel Obst und Gemüse, – paradiesisch. Wir fuhren in gummibereiften zweispännigen Pferdekutschen, jeweils vier Personen. Uns gegenüber ein etwa gleichaltriges Ehepaar. Es wird über Dialekte gesprochen. Viele Mitreisende waren aus der ehemaligen DDR.

„Und wo kommen sie her?“, werden wir gefragt. „Aus der Nähe von Mönchengladbach“, war unsere Antwort. – „ Aber rheinisch sprechen sie nicht.“

„Na, nei, ich bin Ostpreuße,“ antwortete ich mit eingefärbtem Dialekt.

„Und woher?“ – (In Gedanken: na, sag’s ihm, kennt er ja doch nicht!)

„Woher? Na, aus Braunsberg!“ sage ich vorsichtig und breit.

Jetzt hat er wohl genug, denke ich. --- Aber denkste!

„Ich doch auch, von der Langgasse. Mein Name ist Hans Gehrmann. Vater war Fleischer Gehrmann. Und hier neben mir, meine Frau ist auch Braunsbergerin, Tochter von Studienrat Schwarze, Ritterstraße 4.

    Soweit diese „Braunsberger Geschichte“ oder „Heimattreffen in der Sahara!!“

 

Ein Wort von Jakob Wassermann

    Gemächlich schwebt die Zeit dahin. Die Zeit schwebt über die Länder und über die Geschlechter. Und wenn sie auch Städte zertritt und Wälder zerstampft und neue Städte und neue Wälder hinwirft mit gleichgültiger Gebärde, so vermag sie doch nicht dem heimatlichen Boden seine Lieblichkeit zu rauben oder seine Rauheit, womit die Heimat ihren Sohn erfüllt, indem sie ihn gleichsam als ihr Eigentum in Anspruch nimmt und ihm auf dem Weg seines Lebens nur diese Worte als Mitgift wählt: „Aus meinem Ton bist du gemacht!“ 

 

Ein Wort an die Bürger in Braniewo

    Heimat, das ist für uns noch lebende Braunsberger 10  bis  12 Jahre bewußten Lebens in Ostpreußen. Wenn man bedenkt, daß man wohl mit dem Schulanfang als 6-jähriger beginnt zu denken und bewußt zu leben und, wie in meinem Falle, schon als 17-jähriger zunächst als Luftwaffenhelfer und später als Infanterist die Heimatstadt verlassen mußte, bleiben im allgemeinen nur 10 – 12 Jahre „bewußten Lebens“ in Braunsberg übrig. Vor diesem Hintergrund kann man sich nur wundern über die ungeheuren Kräfte, die dahinter stecken müssen, daß sich jährlich die Braunsberger zusammenfinden im Gedenken an die verlorene Heimat.

    Wer sonst als wir heimatvertriebenen Braunsberger hätten mehr Verständnis und Achtung vor den Heimatgefühlen der nach  1945  geborenen jetzigen

 

Bürger Braniewos?

Aber, wenn ihr uns Deutsche nicht vertrieben hättet,

ginge es Euch wahrscheinlich besser.

Ist das die Strafe Gottes, der Euch doch so sehr liebt?

„Wen Gott liebt, den straft er!“ sagt ein Sprichwort.

www.braunsberg-ostpreussen.de