Das Vereinshaus

Von HANS PREUSCHOFF

Quelle: Ermlandbuch

Schön war es nicht und gemütlich auch nicht, unser altes, braves Braunsberger Vereinshaus in der Königsberger Straße. Aber was tat's? Es hatte alles, was von einem solchen Hause billigerweise zu verlangen war. Mittendrin die Theke, Kommandoturm und Tankstelle zugleich. An den Thekenraum anschließend die Stuben, in denen die Vereine tagten und sonntags die Bürger ihren Whist oder Skat spielten, ohne daß ihnen eine Schenkin immerfort ins Glas guckte: Darf's noch eins sein? Der kleine Saal und endlich der große zum Redenhalten und -hören, Tanzen und Theaterspielen. Als Zugabe für die sommerlichen Freuden endlich draußen der Garten.

Das genügte doch. Wir haben jedenfalls die Möglichkeiten, die unser Vereinshaus bot, genutzt, so gut wir konnten. Wir haben in seinen Mauern beraten und beschlossen, gepichelt und gepratert, gescherbelt und geschmust. Was gerade an der Reihe war. Wir erinnern uns an viele Vorträge, lange und laute, leise und weise, an prächtige und mittelprächtige Aufführungen. Und nicht zuletzt an manch nettes Festehen, bei dem wir uns auch ganz nett die Schlipse bekietert und die Schlorren verscheppt haben. Noch heute wird uns etwas seltsam in der Magengegend zumute, wenn wir daran denken. Und in die Nase zieht der Geruch von kaltem Rauch und altem Bier, der sich hartnäckig zwischen den düsteren Wänden hielt. Und noch ein anderer Duft will sich, ich kann es nicht verschweigen, beim Gedanken an das liebe Vereinshaus mit Gewalt aufdrängen. Sein Haupteingang hieß so, weil er hauptsächlich nicht benutzt wurde. Und der Nebeneingang, durch den wir in der Regel eingeschleust wurden, führte an Räumlichkeiten vorbei, die einstens nicht eben zu den gepflegtesten solcher Unternehmen gehörten. Genug davon, Sie wissen Bescheid. Doch das soll unsere Erinnerungen an das Haus nicht trüben. Das Katholische Vereinshaus, um es einmal mit seinem vollen Namen zu nennen, gehörte - im gemessenen Abstande natürlich - zu unserem Braunsberger Leben wie das Elternhaus in der Malzstraße und Schulstraße, die Wohnung in der Auenstraße, die Schulen und die Kirchen. So war zum Beispiel auch die Wahl des Hausvaters, Ökonom genannt, der unter dem Oberbefehl des Vorstandes des Katholischen Volksvereins das Haus regierte, jedesmal ein kleines Ereignis für die ganze Stadt und zu Hause Gegenstand wochenlanger Tischgespräche. Gönnen wir dem Vereinshause darum ein paar Worte freundlichen Gedenkens. Setzen Sie sich, lieber Leser, in den nunmehr freilich auch schon etwas angeschabten Wirtschaftswundersessel, stecken Sie sich eine Zigarre an, möglichst von unserer alten Braunsberger Firma Loeser und Wolff (womit ich natürlich keine Schleichwerbung machen will), oder gießen Sie sich eine Tasse Kaffee ein, wenn Ihnen der Herr Doktor diese Genüsse noch nicht verboten hat, und hören Sie ein bißchen zu.

Gartenkonzert


Die frühesten Erinnerungen verbinden sich eigentlich nicht mit dem Vereinshaus selbst, sondern seinem Garten, der freilich zunächst seinen Namen kaum verdiente. Er war eigentlich mehr ein Hinterhof mit ein paar Bäumen und Sträuchern und Kieswegen dazwischen und vielen Ecken. und Winkeln und Rumpelkammern. Ein wirklicher Garten wurde erst daraus, als ein Nachbargrundstück dazugekauft wurde mit einem für unsere Breiten selten großen Magnolienbaum. Jedenfalls wurden wir schon als Kinder in den Vereinshausgarten mitgenommen, wenn dort am Nachmittage des Fronleichnamstages die Kapelle Lenhart konzertierte. Damals, ehe sie den österreichischen Thronfolger erschossen und die Glocken der Stadt zur Mobilmachung läuteten. Also noch in der Zeit vor dem ersten Kriege. Das war ein richtiges Gartenkonzert mit vollem Orchester und Kaffee und Kuchen. Denkt nicht, ihr jungen Bälger von heute, daß wir da auch schon pausenlos Eis zu lutschen und Cola zu schlabbern kriegten wie ihr heute. Mit der Hand über den Alexanderplatz. Wir waren selig, daß wir überhaupt mitdurften, und die festliche Erregung, von der wir ,erfüllt waren, spüren wir jetzt in unseren alten Tagen nach. Wir krochen in die bewußten Ecken, nur bedacht, daß wir uns nicht die Schmandblusen dreckig machten. Dann wehe uns. Aber wenn der Herr Erzpriester Reichelt, der so fein und würdig war, wie man sich nur einen Erzpriester vorstellen kann, bei seiner Runde an den Tisch kam, an dem die Eltern mit Huhns und Hennings, und wer noch dazugehörte, saßen, bauten auch wir uns vor ihm auf und hielten Maulaffen feil. Kein Wort des bewunderten Herrn entging uns. Kaum setzte das Orchester ein, wußte er schon, was es spielte. Wie war das nur möglich? Ich lief zum Baum, an dem das Programm angeschlagen war. Es stimmte: Ouvertüre zu den lustigen Weibern von Windsor, oder was es gab. Beim nächsten Stück das gleiche. Ich paßte nun wie ein Schießhund auf, ob der Herr Erzpriester nicht doch zwischendurch schnell an den Baum ging, um sich zu informieren. Er tat es nicht und wußte trotzdem auf Anhieb auch das dritte Stück, Potpourri aus der Dollarprinzessin oder so. Ich war sprach- und fassungslos. Der Herr Erzpriester schmunzelte, die Mutter genierte sich offensichtlich für ihren sonst so altklugen Ältesten, der Vater machte das Gesicht, das alle Väter in solchen Fällen machen, nämlich gar keines, und tat das Beste, was er hier tun konnte, er nahm einen großen Schluck aus seinem Glase. Ich aber schlug mich, als sich der Herr Erzpriester, immer noch lächelnd, erhob, um an den nächsten Tisch zu gehen, in die Büsche, um mit meinem unglaublichen Erlebnis allein fertig zu werden. Etwas beruhigt war ich erst, als man mir versicherte, der Herr Erzpriester sei eben unerhört musikalisch. Was das bedeutete, verstand ich allerdings noch nicht so recht; auch als man mir sagte, ich selbst sei es nicht im geringsten. Als man dies aber auch von dem Nachfolger des Herrn Erzpriester Reichelt behauptete, fühlte ich mich einigermaßen getröstet.

Bald drangen wir auch in das Innere des Vereinshauses vor, in den großen Saal. Mit seinem verschlissenen Bühnenvorhang, der seltsamen Deckenornamentik, dem von Holzpfeilern gestützten Balkon, allgemein Bullerloge genannt, weil sich auf ihrem Holzbelag so wunderbar trampeln ließ, mag der Saal wirklich besonders häßlich gewesen sein. Wir empfanden dies keineswegs, genausowenig wie wir etwa damals die Schönheiten unserer Landschaft wahrnahmen. Schön und häßlich waren für uns noch keine Begriffe, wenigstens nicht für die Dinge, mit denen wir zusammen aufgewachsen waren. Der Saal war eben da, und da er da war, war er auch gut und richtig . und meinetwegen auch schön. Und wir wären in tiefster Seele erschüttert gewesen, wenn ihn uns jemand hätte vermiesen wollen, wo wir doch so viele kinderglückliche Stunden in ihm verlebten.

Womit soll ich bei diesen Erlebnissen anfangen? Gern schickten uns die Eltern ins Vereinshaus, wenn dort bildsame Lichtbildervorträge gezeigt wurden. Wir selbst wären, ehrlich gesagt, noch lieber ins Kino gegangen, das um die Zeit, da wir flügge wurden, am Neuen Markt seine Pforten öffnete. Aber das Kino galt damals noch oder schon als Kintopp; man war in unseren Kreisen einfach nicht dafür, so sehr sich auch alles wieder an Prachtschinken wie „Quo vadis" und „Die letzten Tage von Pompeji" berauschte, schon weil die Lektüre der Romane zum notwendigsten Bildungsgut jener Zeit gehörte. Wenn die Eltern am Sonntagnachmittag ihre Ruhe haben wollten, sahen sie uns weit lieber in die Vesper ziehen als in die Jugendvorstellung. So blieb es also auf diesem Sektor noch vorwiegend bei den Lichtbildervorträgen im Vereinshaus über die Lahn oder Lappland. Zum Schluß wurde dabei manchmal zu unserem größten Vergnügen auch schon ein kleiner Film gezeigt, freilich ein gegenstandsloser, in dem sich alle möglichen phantastischen Figuren in ständigem Wechsel auf der Leinwand zusammenzogen und wiederauflösten. Eben dieses Filmehen erscheint mir noch heute in meiner Erinnerung besonders reizvoll, vielleicht weil es absolut filmisch war.

Durchaus geeignet für uns hielt man auch die Vorführungen des Männerturnvereins mit Armeschwenken und Keulenschwingen wie zu den Zeiten des Turnvaters Jahn. Den Knalleffekt bildete jeweils die am Schluß von den Mannen aufgebaute Pyramide, die vom Publikum denn auch gebührend bestaunt wurde. Eine Art lebendes Bild. Diese lebenden Bilder waren auch sonst auf der Bühne noch recht beliebt wie schon zu den Zeiten Goethes und Eichendorffs. Eigentlich stimmt die Bezeichnung nicht ganz, denn nicht die Bilder, die irgendeine Begebenheit darstellten, lebten, sondern sie wurden von lebendigen Menschen gebildet, die aber ganz steif und starr dastanden. Es war für uns als Kinder immer ein Heidenspaß, wenn die eine oder andere dieser Figuren die Minuten, die das Bild den bewundernden Blicken der Zuschauer standhalten mußte, nicht ganz durchhielt und zu wackeln anfing, also nun doch lebendig wurde. Wir warteten förmlich auf solche Mißgeschicke, die für uns der eigentliche Witz bei den sonst als herzlich langweilig empfundenen „lebenden Bildern" waren. Die Redensart „Macht keine lebenden Bilder!", von der Mutter gern gebraucht, wenn wir uns irgendwie zu produzieren anfingen, erinnerte uns noch lange an diese inzwischen vergessene Art szenischer Darbietungen.

Keinen guten Nachgeschmack haben mir bis heute die Vorführungen der Liliputanertruppe hinterlassen. Ich tue den armen Menschlein gewiß unrecht, aber die Zurschaustellung körperlicher Mängel, um damit Geld zu verdienen, löste in mir ein Gefühl des Unbehagens aus. Allerdings waren die Liliputaner gar nicht so gebrechlich, wie sie schienen. Als wir beim Einlaß drängelten, schlugen sie fröhlich mit Stöcken in uns hinein. Auch ein Publikumsdienst. Da gefielen mir schon wesentlich besser die Radballkämpfe unseres Braunsberger Klubs. Wie die Herren Ruddies und Genossen mit ihren blitzblanken Spezialrädern elegant durch den Saal kurvten, um den Ball im feindlichen Tor unterzubringen, das imponierte uns gewaltig.

Theater, Theater

Am liebsten aber gingen wir doch ins Vereinshaus, wenn dort richtige Theaterstücke gegeben wurden. Die Vereine, die hier ihre Heimstatt hatten, sahen es als Ehrensache an, sich jeden Winter ihrem Publikum mit einer eigenen Aufführung zu präsentieren. Das Kino steckte damals, wir sagten es schon, noch in den Kinderschuhen; ans Radio und Fernsehen dachten höchstens Phantasten oder solche, die wir dafür hielten. Die Schaulust und das Unterhaltungsbedürfnis des Volkes wurden noch fast ausschließlich vom Theater befriedigt. Doch spielte man nicht nur, um die Leute zu amüsieren, sondern ebenso gern zum eigenen Vergnügen. Bellgardts Liesbeth, die daheim tagaus, tagein den Schrubber umarmen mußte, wollte auf der Bühne endlich einmal als Komteß Edelmut den Prinzen ihrer Träume ans Herz drücken, auch wenn es in Wirklichkeit nur der Franz Kuhn aus der Ritterstraße war. Und Stobbes Ton wollte wenigstens hier den Schwerenöter markieren, den draußen ihm keiner abnahm, am wenigsten zu Hause sein Trudchen. Der künstlerische Wert dieser Stücke war gewiß nicht überwältigend. Es gab da in Thüringen einen Verlag, der solche Vereinsdramen am laufenden Bande produzierte, und sie wurden bei uns auch eifrig nachgespielt. Um original-ermländische oder besser wohl -ostpreußische Stücke bemühte sich unser Pfarrer Leo Reinfeld. Gesehen habe ich leider keines von ihnen, auch nicht das berühmte „Bloß nuscht vom Finanzamt". Die Stücke religiösen Charakters mögen sich auf dem Stand der damaligen Stadt-Gottes-Geschichten bewegt haben. Eins von ihnen ist mir doch unvergeßlich geblieben. Es hieß das „Glöckchen von Inesfer". Ich schreibe den Ort, wie er damals auf unserer Bühne gesprochen wurde. Vielleicht handelte es sich um Innesfree in Irland, dem ich zufällig in einem Roman des katholischen englischen Dichters Evelyn Waugh begegnet bin. In Irland konnte das Stück schon spielen; es war so todtraurig, wie man sich bei uns nur Irland vorstellt. Einsam und verlassen irrte ein eltern- und großelternloses Mädchen klagend durch die kalte Welt, eine Stunde, zwei Stunden. Längst rutschten wir auf den harten Stühlen hin und her. Diese Vereinshausstühle erforderten in meinem Bericht eigentlich ein besonderes Kapitel. Wenn mir von dem Inventar des Hauses noch etwas ganz deutlich vor Augen steht, sind es eben diese griesen, mickrigen, natürlich unbespannten Stühle, deren einziger Vorzug darin bestand, daß sie relativ leicht waren und daher vom Personal jederzeit ohne große Mühe auf- und abgebaut werden konnten. Was haben wir aber von ihnen aus nicht alles gesehen und erlebt. Doch wehe dem Hause, das heute noch eine solche Bestuhlung, wie der technische Ausdruck heißt, seinen Besuchern anzubieten wagte in unserer feinen und gepolsterten Welt. Aber an dem Abend fühlten selbst wir Kinder uns erlöst, als das Glöckchen von Inesfer erklang, aus einem Kloster oder dergleichen, und das arme Kind aus seiner Not erlöste. Doch wir hatten zu früh gejubelt. Nun begann sich das Mädchen erst noch einmal ausführlich darüber zu freuen, daß das Glöckchen geklingelt hatte. Mindestens eine Stunde, wenn nicht länger. Jetzt wußten wir gar nicht mehr, wie wir sitzen sollten. Die Anna, die uns hingeführt hatte schlug uns fortwährend ins Kreuz: „Wollt ihr Kreten endlich stillsitzen!` Der liebe Agnesverein (es kann auch der Marienverein gewesen sein) hatte es wieder mal außerordentlich gut gemeint. Es fehlte nicht viel an Mitternacht, als wir ins Bett kamen. Nie wieder Agnesverein, schworen wir, und bei der nächsten Aufführung bettelten wir die Eltern so lange, bis sie uns ziehen ließen. Trotz des „Glöckchens von Inesfer". Oder vielleicht gerade deswegen.

Sehr gern gingen wir in die Aufführungen des Katholischen Lehrervereins und des Cäcilienvereins mit. Für die ersteren zeichnete Lehrer Georg Funk verantwortlich, der nicht nur den Rohrstock meisterlich zu handhaben wußte - manchem Braunsberger Hintern wird es noch heute bei dem Gedanken daran kribbeln -, sondern auch ein literarisch interessierter Mann war, der seine Stücke mit viel Sorgfalt einstudierte. Im Cäcilienverein war zeitweilig ein munteres junges Völkchen versammelt, das sein Publikum in sehr vergnüglicher Weise durch selbstgedichtete Stückchen und Coupletchen unterhielt.

Im ersten Weltkriege fanden besonderen Anklang die Aufführungen, die der Vaterländische Frauenverein veranlaßte, zu Wohltätigkeitszwecken, wie der Ausdruck lautete. Spielleiter und Hauptdarsteller war hier der Zeichenlehrer unseres Gymnasiums, Herr Georg Heider. Der gebürtige Schlesier war von Hause mit den Musen wesentlich stärker befreundet als wir prosaischen Ermländer. Otto Miller ist da kein Gegenbeweis, seine poetische Ader hat er sicher von seinen österreichischen Vorfahren mitgekriegt. Dafür stellten wir Ostpreußen aber die besseren Buchhalter, wie uns Richard Süßmuth, der bekannte Glasbläser, einmal zugestanden hat. Herr Heider also hatte eine ausgesprochene Begabung für das sogenannte komische Fach, das er gewiß auch im Berufstheater vortrefflich vertreten hätte. Im Unterricht fanden wir ihn freilich meist gar nicht sehr lustig. Doch das soll wohl oft so sein, daß Menschen unten im Leben ganz anders sind als oben auf den Brettern. Wir konnten ihn jedenfalls gar nicht genug bewundern, wie er mit seinem Temperament die Bühne beherrschte. Die Einfälle, von denen er nur so übersprudelte, kamen ihm, wie seine Mitspieler uns einmal später erzählten, oft im letzten Moment, so daß sie davon völlig überrascht und ganz aus dem Text gebracht wurden. Noch sehe ich Herrn Heider in dem damals vielgespielten Schwank „Pension Schöller" von Laufs über die Bühne fegen und als Theodor Körners „Nachtwächter" verzweifelt auf der Mauer stehen, nachdem ihm die beiden Studenten, die ihn erst zum Fensterln verführten, die Leiter weggezogen hatten. Diese Studenten waren auch von unserer Schule, Lehramtskandidaten, wie die Studienassessoren damals noch hießen, Herr Tilsner, der von der Jugendwehr, und Dr. Herbert Meyer, unser Lateinlehrer, der sich unter innigster Anteilnahme der ganzen Penne von Sexta bis Prima der zarten Marlies Hühnke anverlobte. Was meinen Sie, liebe Leser, was wir Jungens für einen Spaß hatten, wenn wir unsere Lehrer, in solchen Rollen verkleidet, auf der Bühne agieren sahen. Die Wände des Vereinshauses zitterten von unserem Beifallsgebrüll.

Höheren Ehrgeiz entwickelte später auch mit ganz anderen Zielsetzungen Kaplan Lettaus Spielschar. Sie begnügte sich nicht mit Hans Sachsens "Kälberbrüten", sondern stieß bis zu Calderons „Abendmahl des Balthasar" vor. Doch da will ich nicht meinem Bruder Franz ins Gehege kommen; er war bei diesem Unternehmen sozusagen erster Held und Spielleiter, er soll euch lieber selber einmal davon erzählen.

Selbstverständlich waren wir in Braunsberg nicht nur auf Liebhaberaufführungen angewiesen. Mehr oder weniger regelmäßig fanden auch Berufstheater zu uns, zumeist wohl aus Königsberg. Das Vereinshaus übernahm, indem es diesen Wanderbühnen Gastrecht gewährte, die Aufgabe des alten Stadttheaters im Neustädter Rathaus. Im Jahre 1900 war dieses abgerissen worden und hatte der Konditorei Tolksdorf Platz gemacht. Zuletzt hauste hier die Bank der Ostpreußischen Landschaft. Mein Vater hatte als Lehrerseminarist noch das alte Stadttheater erlebt. Nun spielten die verschiedenen Theatergruppen im Vereinshaus, und ihre Darbietungen waren auch von einem durchaus verschiedenen Niveau. Ich erinnere mich an wildbewegte Schüleraufführungen von "Emilia Galotti" und „Kabale und Liebe". Diese waren vom guten alten Schmierentheater gewiß nicht weit entfernt. Jedenfalls war der Gegensatz zwischen den Vorstellungen, die wir uns nach der Lektüre dieser Dramen in der Schule von Aufführungen der Stücke machten, und dem, was wir hier zu sehen bekamen, einigermaßen verwirrend. Vielleicht wußten wir auch die -wirkliche Qualität mancher Theaterabende noch nicht ganz zu würdigen. Immerhin haben sich mir zwei Aufführungen aus der Schülerzeit fest eingeprägt, nicht zuletzt wohl deshalb, weil hier prominente Schauspieler mitwirkten. Die Sensation in dem zu jener Zeit noch gern gegebenen Lustspiel „Flachsmann als Erzieher" von Otto Ernst, einem Lehrerstück, bestand darin, daß die Titelrolle vom Sohn des Königsberger Generalarztes Bobrik verkörpert wurde. Ein Generalssohn als Schauspieler, das bewegte damals die Gemüter noch heftig. Am stärksten hat sich mir 16jährigen der „Baumeister Solneß" von Ibsen auf die Seele gelegt. Worum es in dem Stück ging, habe ich damals gewiß nicht ganz begriffen. Doch ist mir von der Aufführung bis heute ein besonderes Gefühl für die Welt des nordischen Dichters geblieben. Der Hauptdarsteller war, so wurde uns gesagt, ein sehr berühmter Schauspieler, der in dem Stück in Königsberg gastierte und sich mit dem dortigen Ensemble zu einem Ausflug nach Braunsberg bereit fand. Wer kann dieser große Mime nur gewesen sein? Nach seiner hohen, schlanken Gestalt, dem tiefernsten, zergrübelten Gesicht, das ich immer noch vor mir sehe, ist beinahe auf Friedrich Kayßler zu, schließen, den manchen aus der älteren Generation gewiß noch bekannten bedeutenden Charakterdarsteller, der bei der Katastrophe von 1945 in Berlin elend ums Leben gekommen ist. Warum eigentlich sollte er nicht Braunsberg aufgesucht haben? Heute gehen ja die Stars mit dem Grünen Wagen auch auf die Dörfer. (Hier müßte ein Abschnitt über die großen Oratorienaufführungen des Cäcilienvereins („Jahreszeiten", „Elias" u. a.) unter der meisterlichen Stabführung Paul Sommers folgen, bei denen sich der Vereinshaussaal in eine wahrhaft festliche Konzerthalle verwandelte. Leider hat sich Fräulein Hedwig Jagdt, die unermüdliche Mithelferin bei der Einstudierung der Oratorien, zur Zeit aus gesundheitlichen Gründen außerstande gesehen, meinen unvollständigen Erinnerungen an diese großen Abende des Vereinshauses nachzuhelfen. Und meinen guten Vater, der als getreuer Bassist des Cäcilienvereins bei allen Aufführungen begeistert mitgewirkt hat, kann ich auch nicht mehr befragen. So muß eine Darstellung dieser bedeutsamen künstlerischen Ereignisse, die weit über Braunsberg hinaus beachtet wurden, einem späteren Bericht vorbehalten bleiben.)

Tanzstunden

Nachdem wir so manchen Abend auf die Bühne hinaufgestarrt hatten zu einer Welt, die uns in unerreichbarer Höhe verschlossen schien, hatte eine Aufführung von Sophokles' „Antigone" durch das Gymnasium auch uns eines Tages von ihr Besitz ergreifen lassen. Wir wußten jetzt auch droben auf den Brettern Bescheid. Drunten im Saal fühlten wir uns bereits durchaus sicher. Herr Boy hatte uns inzwischen mit seinem Tanz- und Anstandsunterricht zu vollendeten Kavalieren auf dem Parkett gemacht. Sie ziehen Ihr Gesicht in Zweifel, lieber Leser? Das ist aber schade. Sie hätten nur sehen sollen, welch elegante Kratzfüße wir vor den Damen machten, wenn wir sie aufforderten. Nicht so wie die Mähnenjünglinge heute: Na, Putzi, wollen wir mal? Oder so ähnlich. Wie artig und höflich damals noch alles zuging. Und natürlich auch sittsam. Darum war vor allem schon Frau Direktorin Schröter äußerst besorgt. Sie ließ uns überhaupt erst vom Mittelkränzchen an ihre Schülerinnen zum Tanze führen. Bis dahin galoppierten wir Pennäler miteinander durch unsere Aula, und die Mädchen hopsten gleichfalls für sich allein in ihrer Turnhalle herum. Dabei hatten wir noch unwahrscheinliches Glück. Beim Kursus vorher durften die Männlein und Mägdelein lediglich bei der großen Tanzstunde zusammenkommen, zum ersten und letzten Male. Das war noch Braunsberg.

Wegen des Arrangements des Mittelkränzchens gab es gleich viel Spektakel, an dem sich auf das lebhafteste auch die Mütter beider Geschlechter beteiligten, welche in rauhen Mengen den Podest an der Längswand bevölkerten. Auf dieser Brüstung, von Spottmäulern Drachenfels genannt, saßen dereinst bei gewöhnlichen Tanzabenden die Mädchen aufgereiht, während die Herren sich in den Pausen nach der Theke zu verflüchtigten, wo sie verständlicherweise nicht untätig verharrten. Die Mädchen hatten beim nächsten Tanz dann die reizende Gelegenheit, festzustellen, um wieviel Zentimeter inzwischen die Fahne der Herren gewachsen war. Als dann die Fensterwand aufgerissen und die Veranda überdacht und in den Saal einbezogen wurde, konnten die Tanzpartner dort an Tischen Platz nehmen und die Herren unter wohltuender Kontrolle gehalten werden.

Während der Tanzstunde nun hielten Mütter auf dem Drachenfels hartnäckig und getreulich Wacht; sie fühlten sich für ihren reibungslosen Ablauf in jeder Hinsicht verantwortlich. Der ruhende Pol in dem ganzen Getriebe aber war Meister Boy, ein zierliches Herrchen mit einem ungemein gepflegten weißen Spitzbart. Jeder Zoll ein Gentleman der alten Schule. Dazu sprach er ein klassisches Elbingisch: „Vor, zurück und eens, zwee, dree!" Wir lernten von ihm sogar noch die Quadrille ä la cour und ließen uns bei der großen Tanzstunde, dem aufregenden Abschluß des ganzen Unternehmens, von unseren Damen mit Cotillonorden behängen, daß wir aussahen wie der Kaiser bei der Parade. Ich lese eben im Duden nach: Die Quadrille, ein munterer, von je vier Paaren im Karree getanzter Kontertanz im Dreiachtel- oder Zweivierteltakt. Wie schön! Munter war der Tanz in der Tat schon deshalb, weil die vier Paare meist hoffnungslos durcheinandergerieten. Ob's mit dem Takt immer stimmte? Wer von euch, liebe Leser, wird sich heute wohl noch die Führung einer Quadrille zutrauen? Mit all ihren Touren und Figuren? Und über Cotillon lese ich im Lexikon: Unterrock; Kotillon! Hu! Also unter „K": Da steht's: Gesellschaftsspiel in Tanzform. Und der Große Herder fügt hinzu: mit „Ordensverleihung". Wo wir es haben, wie bei Kaisers. Die Damen, die wir nicht hintansetzen wollen, wurden von uns für die Orden, die sie an unsere Männerbrust hefteten, mit zierlichen Sträußchen beehrt. So sagte man sich es eben damals.

Wie lange ist das schon alles her? Fünfundvierzig Jahre. Eben, eben. Kurz nach dem ersten Weltkrieg. Mit dem einen Bein tanzten wir noch die guten alten Sachen, mit dem andern schoben wir schon den blöden Bummelpetrus. Insgesamt sind wir durch die Tanzstunden vielleicht ein bißchen an-, aber nicht aufgerührt worden. Was heißt freilich: wir? Noch kurz vor der großen Tanzstunde tauschten unter allgemeiner Anteilnahme der Natscha und der Emil ihre Damen der Emil blieb der seinigen treu für Zeit und Ewigkeit.

Wir, also die durch die Tanzstunde weniger Betroffenen, woran gewiß auch das liebe Elternhaus Anteil hatte, das zwar die Tanzstunde für notwendig hielt, nicht aber die möglichen Folgerungen - wir wechselten bald nach den Tanzstunden vom Vereinshaus zur Konkurrenz über, die ihm in der Altstadt entstanden war, ohne freilich seine Existenz auch nur im geringsten zu gefährden. Ich meine das niedliche, verwunschene Kreuzbündnishaus, in dem sich die Vereine und Gruppen einfanden, denen es im Vereinshaus zu sehr nach Bier roch. Auch lag es sicher günstiger als das an die Peripherie der Stadt gesetzte große Vereinshaus. Um eine wirkliche Konkurrenz zu werden, fehlte dem Häuschen vis-à-vis dem Rathaus nicht nur das Bier, sondern auch der Saal. Was es zu bieten hatte, war nur ein winziges Räumchen, aber es genügte uns vollauf. Der Schülerbund Neudeutschland, dem wir uns alsbald anschlossen, hatte seine Gründungsversammlung zwar noch ins Gesellenzimmer des Vereinshauses einberufen, aber diese ging daneben. Die Königsberger Primaner, die, fixer und heller als wir, wie die Diasporaermländer immer sind, bereits eine Gruppe gebildet hatten und uns zeigen wollten, wie man so etwas macht, erschienen nicht, und so platzte der groß angekündigte Gründungsakt im Vereinshaus. Still und unauffällig stiftete dann im Kreuzbündnishaus unser geistlicher Beirat, Pfarrer Arthur Kather, den Bund, den er mit seinem Geiste erfüllte. Es waren schöne und gute Jahre, die wir hier in dieser Gemeinschaft verlebten, geführt von seiner behutsamen und doch starken Hand. Sie haben durch alle Stürme der Zeiten und des Lebens nachgewirkt. Erinnern wir auch an die netten Schabberstunden in der Küche der Hausmutter, die zufällig Frau Hausmann hieß. Daß sie mir einmal statt Limonade Weihwasser zu trinken gab, ist ihr längst verziehen. Es hat mir nichts geschadet, leider auch nicht viel geholfen.

Ferienkommers

Dann aber sind wir aus dem kleinen Vereinshaus wieder zum großen Bruder in der Königsberger Straße zurückgekehrt. Nach dem Abitur schlossen wir uns dem KV an, dem Verbande der katholischen Studentenvereine, und dessen Altherrenzirkel hatte, wie es sich gehörte, das Vereinshaus zu seinem Lokal erkoren, und er lud uns in den langen Semesterferien regelmäßig zu seinen Sitzungen und Stammtischen ein. Zum Dank dafür benahmen wir uns dabei so schlecht, wie sich nur Studenten zu allen Zeiten benehmen, unsere natürlich ausgenommen. Heute führen sich die Studenten vorbildlich auf. Sie können es ja jeden Tag in der Zeitung lesen und im Radio hören... Die Braunsberger Alten Herren waren jedoch von einer verständnisvollen Nachsicht, für die ich sie noch nachträglich immer nur bewundern kann. Höhepunkt unserer Wirksamkeit auf diesem Felde war ein Ferienkommers im Sommer 1926, zu dem sich die alten und jungen KVer aus dem ganzen Ermland mit ihren Damen im Braunsberger Vereinshaus zusammenfanden. Freunde, das war noch was. Wie die Chargierten in langer Reihe unter den Klängen des Triumphmarsches aus Aida (meinetwegen war es auch der Hohenfriedberger) in den Saal zogen, mit markigen Mienen und im festen, wenn auch, da wir krasse Zivilisten waren, nicht immer gleichen Schritt. Wie dann die Schläger auf die alten Vereinshaustafeln knallten, daß sie bedrohlich zu wackeln begannen, und die Salamander urkräftig zur Decke donnerten, daß der Kronleuchter nur so schwankte. Wie uns die Augen leuchteten und die Pulse schwollen - so hieß es im Bundeslied, das unser ermländischer Domherr Julius Pohl dem KV gedichtet hatte, und das, ich bleibe im Text, seine Feuerwellen zum Himmel emporrollte. Freunde, Freunde! Doch wo sind, die mit mir schwärmten, die in Braunsbergs Gassen lärmten? Ich weiß, ich weiß, ich habe die Verse dieses anderen Liedes ein bißchen verändert, aber so stimmen sie auch. Weit zerstreut in alle Winde hat sie jetzt des Lebens Not, müd sind, die ich wiederfinde gönne es mir, strenger Kalendermann, daß ich hier etwas gefühlvoll werde, und streiche mir die Zeilen nicht. Schließlich bist du selbst ja noch einer der wenigen, die übriggeblieben sind von denen, die vor 40 Jahren im Braunsberger Vereinshaus den Ferienkommers feierten. Du warst freilich viel braver als wir andern alle. Nur einmal . . . aber das gehört nicht hierher, weil's nicht im Braunsberger Vereinshaus war, sondern . . . Doch nicht weiter! Sonst bestätige ich nur noch unseren Professor Fleischer, der uns Sekundanern zu unserer ungemeinen Betrübnis eröffnete, die Ermländer erkenne man daran, daß sie ihre Priester schlechtmachten! Oh!

Darum will ich hier auch nur ganz vorsichtig andeuten, daß die ermländischen Geistlichen, zu einem beträchtlichen Teil wenigstens, in einem bestimmten Abschnitt ihres Lebens dem Vereinshaus eng verbunden worden sind. Das war in der Zeit, als sie sich im geistigen Zentrum des Ermlandes ihren schweren Studien widmeten. Den Armen war, wenigstens damals, als ich selbst noch im Steinhaus meine ermländischen Pflichtsemester (sozusagen) verbrachte, der Besuch eines jeden Lokales verboten mit Ausnahme des Vereinshauses, und selbst dieses durfte auch nur am Sonntagnachmittag betreten werden. Kein Wunder, daß man die Herren Theologen nach der Vesperandacht in der Pfarrkirche um die Ecke des Artushofes flitzen sah, daß der Scheske nur so flog, eben in Richtung Vereinshaus. Noch hurtiger kletterten sie freilich nachher den Postberg hinauf, um nicht das Abendbrot im Steinhaus zu verpassen. Einmal aber durften wir sogar abends im Vereinshaus einen sogenannten Bonifatiuskommers begehen, bei dem wir vor den Honoratioren Braunsbergs unter Alo Mohns Regie die ergreifende Tragödie vom Pfarrer von Ohnewitz aufführten, der leider nur eine Predigt im Besitz hatte. Im übrigen können es Ihnen die geistlichen Herren selber erzählen, welch fröhliche Stunden sie dereinst im Vereinshaus verlebt haben. War's Haus selbst nicht gemütlich, in ihrem Kreise war es es bestimmt.

Vergnügungspalast?

Eines Abends während der Studentenferien schleiften mich ein paar Freunde ins Vereinshaus zu einem Schwofchen mit, wie es dort von Zeit zu Zeit zur allgemeinen Unterhaltung und Annäherung angesagt wurde. Ich wollte hinter ihnen nicht zurückstehen und fing während eines Walzers an, mit dem Mädchen mächtig Süßholz zu raspeln. Das Fräulein hörte sich meinen Schmus eine ganze Weile schweigend an, dann jedoch öffnete es sein Mündchen: „Aber Herr Preuschoff, ich bin doch zu Ihrem Vater in die Schule gegangen!" Da blieb mir die Sprache weg. Der Walzer war kaum zu Ende, da hatte ich schon das Vereinshaus hinter mir und ward nie wieder bei einem solchen Festchen dort gesehen.

Noch ärger erging es mir beim Braunsberger Karneval. Sie lesen richtig: Das gab es auch einmal, einen Braunsberger Karneval, allerdings nur für einen Abend. Für einen richtigen Karneval oder Fasching wie im Westen oder Süden eigneten sich weder unser ermländisches Temperament noch unsere nördliche Temperatur. Das einzige, was wir vom Karneval als Kinder merkten, war, daß die Eltern uns hin und wieder Kappen von einem der üblichen Winterfeste mitbrachten, die aber einen ausgesprochen unbenutzten Eindruck machten, und daß es am Fastnachtsdienstag Pfannkuchen gab. Doch im Winter 1928 wollte es der Männergesangverein einmal wissen. Er war der vornehmste der drei Braunsberger Vereine, die sich dem deutschen Männerlied verschrieben hatten. Darum galten seine Feste auch als die langweiligsten. Um seinen Ruf in dieser Hinsicht aufzupolieren, lud er die ganze Stadt zu einem großen Karnevalsfest mit Kostümen und Masken und Prinz und Prinzessin ein. Wochenlang vorher redeten alle schon davon, nicht zuletzt von dem künstlerischen Rahmen, den der Zeichenlehrer des Gymnasiums, Paul Grunau, eigens dem Feste gab. Ich erledigte damals gerade mein einziges Semester an der Landesuniversität Königsberg und fuhr natürlich auch heim, um das große Ereignis ja nicht zu verpassen. Doch die Eltern meinten, ihr 23jähriger werde durch ein solches Treiben noch überfordert - und gingen selber hin. Immerhin durfte ich sie bis ans Vereinshaus begleiten, wo sie mich mit den üblichen guten Mahnungen nach meinem Studienort verabschiedeten.

Ich schaue mir an der Sperre neben der Theke noch ein Weilchen tieftraurig den Trubel von außen an und widme mich der Entzifferung der anrückenden Masken. Und siehe, wer erscheint in der Tür? Sie! Blond, schlank, natürlich auch maskiert, wie aus einem Film von Venedig. Ich stürze auf sie zu. „Wie, haben Sie mich gleich erkannt?" flötet es leise unter der Maske, enttäuscht, aber auch - doch das bilde ich mir wohl nur ein. „Sie kommen doch auch?" „N . . . ein!" „Wieso denn nicht?" „Es geht nicht!" „Ach!" Und schon ist sie durch die Sperre im Gewühle entschwunden. Mich aber faßt jetzt nicht etwa das namenlose Sehnen wie Schillers berühmten Jüngling aus der „Glocke", sondern eine namenlose Wut, selbstverständlich nicht auf meine guten Eltern, deren Sorge um das Seelenheil ihres Ältesten mir auch noch in diesem kritischen Moment nur den höchsten Respekt abnötigt, sondern auf die Unzulänglichkeit der Welt im allgemeinen. Ich stürme zum Vereinshaus hinaus nach dem Bahnhof, vorbei an den immer noch strömenden Masken, die mir verwundert nachblicken. Mit dem nächsten Zug nach Königsberg, wo ich meinen Budengenossen Werner, der ausgerechnet an diesem Abend zum ersten und einzigen Male im Semester vor Mitternacht schlafen gegangen ist, aus dem Bette werfe und mit ihm zu Kückens Bierstuben sause, um noch vor der Polizeistunde meinen Schmerz über die entgangenen Braunsberger Karnevalswonnen mit Ponarther zu lindern. Was mir auch mit Werners Freundeshilfe bemerkenswert rasch und glücklich gelungen ist. - Nachher hörte ich, es sei im Braunsberger Vereinshaus auch recht hübsch gewesen, vor allem sei bei der „Rheinischen Redoute" der Prinz eifrig am Werk gewesen wie ein richtiger Kölner Bützchenmann. Doch wurde der Versuch mit dem Braunsberger Karneval nicht wiederholt. Es blieb bei den Pfannkuchen.

Mancher Leser wird schon lange denken, das Vereinshaus habe eigentlich Tivoli oder Eden heißen müssen. Bei all den Festen und Feiereien. Aber ganz so schlimm war es nun auch wieder nicht. Ich habe mich schließlich bisher mehr an die außergewöhnlichen Ereignisse gehalten. Seinem gewöhnlichen Berufe, Heimstatt für die katholischen Vereine zu sein, ist das Vereinshaus gerecht geworden, solange es nur ging. An ihm hat es nicht gelegen, wenn dann keine katholischen Vereine mehr zu ihm kamen. Auch die Emigranten, die zum Kreuzbündnishaus übergewechselt waren, kehrten bei größeren Anlässen gern dorthin zurück. Alle übrigen katholischen Vereine aber hatten hier ihr Standquartier. So hielt hier der Cäcilienverein seine regelmäßigen Proben ab. Die Vinzenzbrüder teilten freitags ihre Marken aus und spielten anschließend ihren Whist, der ihnen wohl zu gönnen war. Der Gesellenverein hatte im ersten Stock sogar sein eigenes Zimmer und, irre ich mich nicht sehr, auch ein paar Fremdenzimmer für wandernde Kolpingsbrüder, so daß das Vereinshaus auch die Aufgabe eines Gesellen- oder Kolpinghauses übernommen hatte. Hier trafen sich noch regelmäßig der Arbeiterverein, die Bruderschaften, der KKV und wie sie alle hießen, natürlich auch der Frauenbund, während der Mütterverein, sein Rivale oder auch nicht, wie man's nehmen will - die beiden bewegten sich schließlich in verschiedenen gesellschaftlichen Regionen! -, seine Konferenzen im Kreuzbündnis hielt. Es gab einen unter uns, der uns noch viel mehr von diesem inneren Leben des Vereinshauses hätte erzählen können. Er war überall dabei und wußte überall Bescheid und sagte auch jedem Bescheid, und wenn es der mächtige Herr Erzpriester und Prälat selber war. Der mündige Laie, der den Mund auftat, wie ihn sich das Konzil nun gewünscht hat. Die alten Braunsberger wissen längst, wen ich meine: unseren lieben Meister Johannes Bracki, der uns leider schon vor einigen Jahren verlassen hat. Ich hatte ihn noch kurz zuvor besucht, da schien er noch so rüstig, und da dachte ich, es wird schon noch einmal passen, da wird er uns noch mehr vom alten Braunsberg erzählen, und dann kam auf einmal die Todesnachricht, und so hat er so vieles, was er noch wußte, mit hinübergenommen. Nur ein paar herzhafte Erinnerungen an seine „Kirchenkämpfe" mit den Mächtigen der Gemeinde hat er uns schriftlich hinterlassen. Wir werden sie unseren Lesern bei Gelegenheit vorsetzen, müssen ihnen zuvor aber doch wohl die schärfsten Zähne ziehen. Natürlich den Erinnerungen! Was meinen Sie denn? Ihnen, liebe ermländische Leser, sind die scharfen Zähne, vor allem die berühmten ostpreußischen Speilzähne, ja längst gezogen. Oder?

Heute ist man wohl eifrig dabei, das kirchliche Vereinsleben in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir kennen die abfälligen Reden über den sogenannten Verbandskatholizismus. Sicher, es war viel Vereinsmeierei dabei und so mancher Leerlauf. Auch unser Pfarrer Kather hielt schon damals nicht allzuviel von der Vereinsbetriebsamkeit. Doch sollte uns gerade die Tatsache, daß dann der Nationalsozialismus sehr rasch daranging, den kirchlichen Vereinen das Lebenslicht auszublasen, beweisen, daß auch sie einmal ihre große Bedeutung hatten und vielleicht auch heute noch haben.

Und die Politik

Ich bin nicht mit dem Zollstock durchs Ermland gezogen und habe die Säle in den einzelnen Krügen nachgemessen. Vielleicht hatte das Vereinshaus tatsächlich die meisten Plätze aufzuweisen. Trotzdem war es nicht das ermländische Tagungszentrum, wie überhaupt Braunsberg nicht Mittelpunkt und Inbegriff des Ermlandes war in der Weise, wie es etwa Münster für Westfalen ist. Das muß ich selbst als alter Braunsberger zugeben, so gern wir uns Hauptstadt des Ermlandes nennen hören und stolz sind auf seine hohen und alten Schulen. Aber der Bischof regierte mit seinem Domkapitel nebenan in Frauenburg. Die ermländischen Bauern hatten sich mit ihren Verbänden in Wormditt niedergelassen, wo überhaupt wegen seiner günstigen Verkehrslage die großen Sachen aufgezogen wurden, die das ganze Ermland angingen, z. B. die Auswahl der Zentrumskandidaten für Reichs- und Landtag. Im Frühjahr 1933 fanden sich hier noch mehrmals die ermländischen Bauern zusammen, um in eindrucksvollen Kundgebungen für die Wahrung der ermländischen Tradition zu demonstrieren. Die ermländische Jugend blickte immer mehr nach Heilsberg, wo im Herzen des Ermlandes schon die bischöflichen Landesherren ihre Residenz gehalten hatten. Braunsberg lag eben zu sehr im äußersten Winkel unseres Ländchens, mit dem es zu allem Unglück die Preußen schnöderweise nur durch eine kümmerliche Nebenbahn verbunden hatten. Wenn unter Westfalen die Rede auf Münster kommt, machen sie gleich verklärte Augen. So verzückt schauen die Ermländer nach Braunsberg gewiß nicht. Sie regen sich höchstens über den angeborenen Dünkel der Braunsberger auf und daß im Kalender immer viel zu viel von ihnen steht. Was auch dieses Geschreibsel beweist. Oder habe ich nicht recht? Dann gebe ich gleich eine ermländische Stubenlage aus, wenn wir wieder im Braunsberger Vereinshaus versammelt sind. Aber die Stube braucht nicht gleich der große Saal zu sein.

So mußte denn, um auf unser Thema zurückzukommen, das Braunsberger Vereinshaus seine Stellung im Ermland weitgehend mit dem Goldenen Stern in Wormditt teilen. Das besagt nicht, daß hier nicht auch Tagungen und Versammlungen von überörtlicher Bedeutung stattfanden, etwa auf Diözesanebene, wie man sich heute ausdrückt. Wir haben es jetzt ja immer mit den Ebenen und Räumen. In der Hauptsache war aber das Vereinshaus für die Braunsberger selbst da, und sie bevölkerten es auch schon allein ganz schön, so daß manche im großen Saal erst gar nicht mehr unter der Bullerloge hervorkamen. Aber das taten sie vielleicht nicht nur wegen der Überfüllung, sondern aus angeborener Bescheidenheit. Die Ermländer haben ja sich immer lieber hinter dem Zaune aufgehalten. Besonders bei politischen Versammlungen erwies sich der Platz unter der Bullerloge als besonders günstig. Man wurde selber nicht gesehen, konnte aber alles hübsch beobachten und bereden.

Damit sind wir bei einem neuen Kapitel in der Geschichte unseres Vereinshauses angelangt, das ihm dann geradezu zum Schicksal geworden ist: der Politik. Die Partei, die in ihm in seinen guten Zeiten Hausrecht hatte, war natürlich das Zentrum. Man wählte einst im Ermland gar nicht Zentrum, insofern nicht, als wählen von Wahl kommt und mehrere Möglichkeiten einschließt - man war einfach Zentrum. Wenigstens anfangs, womit ich den Anfang nach 1918 meine, als die Demokratie auch über die Ermländer hereinbrach, die von Hause, seien wir einmal ganz ehrlich zueinander, eigentlich gar nicht so scharf darauf gewesen waren. Der Kaiser und seine Regierung hatten sich gewiß oft gar nicht nett zu ihnen benommen, aber die blühenden Verse unseres Heimatdichters: „Der Ruf, zum Himmel roll' er: Vivat unser Hohenzoller!" waren gewiß ihnen allen aus dem Herzen gesprochen. Nun waren sie wie alle Deutsche über Nacht Demokraten geworden,

ohne ihr Zutun, leider, muß man aus der Sicht von heute wohl sagen, und das Zentrum eine demokratische Partei. Und die Eltern gingen, als die Wogen des allgemeinen politischen Interesses nach dem Zusammenbruch von 1918 auch unser Ländchen überschwemmten, eifrig zu den Zentrumsversammlungen ins Vereinshaus, und wir Jungens schnappten gierig auf, was sie bei Tisch davon berichteten. Als wir größer wurden, freilich noch längst nicht wahlreif, liefen auch wir hin. Seine Asse schickte das Zentrum allerdings nicht zu uns, ich erinnere mich jedenfalls nicht, von Wirth bis Brüning einen großen Zentrumspolitiker im Braunsberger Vereinshaus gehört zu haben. Der weite Weg nach dem Ermland lohnte sich für die politische Prominenz tatsächlich kaum. Wegen der paar tausend Stimmen, die ohnehin sicher waren? Im großen und ganzen wenigstens. Der politische Vereinshausredner, der mich in jungen Jahren eigentlich noch am stärksten beeindruckt hat, war der Chefredakteur der „Ermländischen Zeitung", Heinrich Kempf. Ein wortgewandter Hesse, den man dann aber wegschicken zu müssen meinte, weil sein streitbares Draufgängertum der gemächlicheren ermländischen Gangart nicht entsprach.

Von den anderen Parteien durften die Sozialdemokraten nicht ins Vereinshaus hinein. Auch nicht, als nach den ersten Wahlen das Zentrum in Preußen wie im Reich mit den Sozialdemokraten die Regierung bildete. Dieses Bündnis konnte uns übrigens zunächst gar nicht genug verwundern, hatte das Zentrum doch vorher den Wahlkampf ganz eindeutig gegen die Sozialdemokratie als die politische Vertretung des gottlosen Marxismus geführt. Gerade uns jugendlichen Gemütern erschien darum das Zusammengehen mit den Sozialdemokraten unfaßbar, und die Erklärung, es handle sich nur um ein politisches Zweckbündnis, wollte uns partout nicht einleuchten, auch wenn es uns im Ermland die katholischen Landräte bescherte, die uns die Monarchie hartnäckig verweigert hatte. „Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser!" verkündete auch weiterhin mit unvermindert starker Stimme der Herr Erzpriester von der Kanzel der Pfarrkirche. Und so hielt man es auch draußen, und wehe dem Ökonomen, wenn er es gewagt hätte, die Sozialdemokraten ins Vereinshaus zu lassen. Links von unserem Braunsberger Erzpriester Aloys Schulz, der ein eingefleischter Zentrumsmann war, aber ebenso glühend die Sozialdemokratie befehdete, stand im Ermland Marienburgs Propst Franz Pingel, Mitglied des Preußischen Landtages. „Der Braun und der Severing, das waren Männer!" pflegte er noch in seinen letzten Lebensjahren mit leuchtenden Augen zu verkünden. Auf der rechten Seite, bei den Deutschnationalen, hatte Rößels Erzpriester Dr. Georg Matern Stellung bezogen. Als sie gemeinsam zu einer Tagung ins Vereinshaus gingen, sind die Herren Erzpriester Schulz und Matern einmal in einen derartig heftigen Wortwechsel über die Politik geraten, daß die ganze Königsberger Straße von dem homerischen Streitgespräch der beiden priesterlichen Recken widerhallte.

Aber die Deutschnationalen als bürgerliche Partei durften ihre Versammlungen im Vereinshaus halten, auch wenn sie mit dem Zentrum bald in bitterster Feindschaft lebten und gerade auch im Ermland die Einheit im politischen Raume (um das eben zitierte Modewort zu gebrauchen) zu sprengen suchten. Denken wir nur an die leidigen Streitereien zwischen der „Ermländischen Zeitung" in Braunsberg und der dank des Versagens der maßgeblichen Stellen den Deutschnationalen ausgelieferten „Warmia" in Heilsberg. Er nahm erst ein Ende, als die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung beide Blätter als konfessionell und reaktionär in einen Topf warfen und ihre Redakteure sich bei den Pressekonferenzen in Königsberg friedlich am Katzentisch wiederfanden.

Ich erinnere mich noch sehr genau einer turbulenten Versammlung des deutschnationalen Katholikenausschusses im Frühjahr 1924, schon deshalb, weil an den heftigen Auseinandersetzungen auf beiden Seiten vorwiegend Studienräte unserer Penne beteiligt waren. Hauptredner war der Professor Martin Spahn. Sein Vater Peter, ein Rheinländer, in jungen Jahren bei uns im Osten beruflich und politisch tätig gewesen, später erster Vorsitzender der Zentrumspartei, war auch schon stark nach rechts orientiert. Sein Sohn, mit 26 Jahren vom Kaiser zum Professor in Straßburg ernannt, schwenkte dann vollends in diese Richtung ab und blieb noch bei den Deutschnationalen Hugenbergs, als sich Graf Westarp, Treviranus und andere aus Sympathie für Brüning von diesen lossagten. Martin Spahn schien damals jedenfalls den Deutschnationalen der richtige Mann zu sein, für sie gerade in die Zentrumshochburg Braunsberg eine Bresche zu schlagen. Unser Studienrat Dr. Hohmann, der berühmte Tithemi, gleich nach dem Kriege ein gewaltiger Zentrumskämpfer, der sich inzwischen aber wegen seiner geschwächten Gesundheit zurückgezogen hatte, trat hier noch einmal auf den Plan, allerdings bemerkenswerterweise jetzt auch nur unter der Bullerloge als Zwischenrufer. Um ihn hatte sich ein Grüppchen Sozialdemokraten geschart, das das politische Gezänk zwischen den katholischen Brüdern mit verständlichem Vergnügen verfolgte. Regie führte dabei Otto Ziegler, Telegraphenarbeiter, Instmannssohn aus Tiedmannsdorf, ein sehr aufgeweckter Mann von einer ausgesprochenen politischen Begabung, der sich nachher eifrig in der Braunsberger Kommunalpolitik betätigt hat und nach dem Kriege als stellvertretender Vorsitzender der Postgewerkschaft der Bundesrepublik und Mitglied des Bundestages gestorben ist. Ich höre das sozialdemokratische Fähnlein immer noch sticheln, wenn der Tithemi einen Zwischenruf losließ: „Hohmann hat's Wort! Hohmann hat's Wort!"

In der lebhaften Aussprache wurde sogar einem Zentrumsmann, der besonders heftig gegen Spahn antrat, das Wort entzogen, ein für die damaligen Verhältnisse bei uns unerhörter Vorgang. Ausreden ließ man dagegen einen anderen Diskussionsredner, der aus Mülhausen kam und offenkundig schon vorher eine beachtliche Menge von Schlabberwasser zu sich genommen hatte. „Den Rathenau habt ihr totgeschossen, den Erzberger auch, ihr Prickels!" warf er ungeniert den deutschnationalen Herren an den Kopf. Das war fürwahr starker Tobak, aber man ging mit dem Mülhäuser sehr vorsichtig um, um ihn nicht zu noch kräftigeren Offenbarungen seiner politischen Gesinnung zu reizen. Die Wogen der Erregung glätteten sich erst, als unser Studienrat Franz Buchholz in seiner ruhigen, überlegenen Art den ermländischen Zentrumsstandpunkt darlegte.

Gesellschaftshaus

Auch nicht ins Vereinshaus kamen natürlich die Nationalsozialisten. Wie es in Braunsberg in der sogenannten Kampfzeit zugegangen ist, kann ich allerdings nicht sagen, da ich sie nicht hier erlebte. Jedenfalls zeigte sich aber der clevere Wirt des evangelischen Gemeindehauses ihnen gegenüber weit entgegenkommender, so daß dieses Haus, auch evangelisches Vereinshaus genannt, zu irgendeinem Termin zum offiziellen Parteilokal erklärt wurde. Was die Gemeinde selbst dazu gesagt hat, sei dahingestellt. Nach dem Sieg des Nationalsozialismus brach für unser Vereinshaus der schwerste und letzte Abschnitt seiner Geschichte an. Wohl blieb der Katholische Volksverein - nicht zu verwechseln mit dem Volksverein für das katholische Deutschland, der in Braunsberg zeitweilig auch recht rührig war - noch im Besitz des Hauses, aber die katholischen Vereine, auf die es doch vor allem angewiesen war, erloschen einer nach dem andern, so daß das Vereinshaus langsam, aber sicher verödete. Da half auch die Wahl des neutralen Namens „Gesellschaftshaus" nicht mehr viel.

Wie man es damals trieb, sei an einigen Beispielen nachgewiesen. Braunsberg wurde zu jener Zeit mit Aufführungen vom Elbinger Stadttheater versorgt, das sich unter dem Intendanten Otto Kirchner sehr herausgemacht hatte. Kirchner ging später nach Aachen, wohin er den noch weithin unbekannten blutjungen Herbert von Karajan als Operndirigenten holte. Die Theatervorstellungen, die zunächst wegen des wesentlich größeren Saales wohl ausschließlich im Katholischen Vereinshaus gegeben worden waren, fanden bald abwechselnd in beiden Vereinshäusern statt, bis eines Tages unser Gesellschaftshaus ganz ausgelassen wurde und die Elbinger nur noch im anderen Haus spielen durften, trotz der viel ungünstigeren Bedingungen. Und so machte man es dann mit allen anderen Veranstaltungen mehr oder weniger offiziellen Charakters und übte auch sonst, wo man konnte, einen Druck in dieser Richtung aus, so daß fast schon ein gewisser Mut dazu gehörte, noch eine Veranstaltung ins Gesellschaftshaus zu legen. Nur wenn man es für zweckmäßig hielt, z. B. am Tag des deutschen Weines, als es galt, den Surius abzusetzen, den die weinverständigen Leute im Westen nicht mehr saufen wollten, wußte man noch, wo das Gesellschaftshaus stand.

Man ging aber noch mit viel übleren Mitteln als dem des Boykottes gegen das Gesellschaftshaus vor. Das beweist folgender Fall. Zu den Männern, die sich sehr energisch für die Erhaltung des Hauses einsetzten, gehörte Diplomkaufmann Aloys Schroeter aus Mertensdorf, Prokurist im Verlage der „Ermländischen Zeitung", der außer dem Vorstand des Volksvereins auch dem Kirchenvorstande angehörte sowie Vorsitzender des Katholisch-Kaufmännischen Vereins (KKV) war. Er fiel örtlichen Parteistellen offensichtlich vor allem dadurch besonders auf die Nerven, daß er sich bei seinen Bemühungen sehr geschickt der noch gegebenen Rechtsmittel zu bedienen wußte. Da wurden sie gemein: Sie petzten ihn möglicherweise unter Einschaltung der Gauleitung oder dergleichen bei der Berliner Stelle an, die für den inzwischen gleichgeschalteten Verlag zuständig war. Eines Tages kam von Berlin die Anweisung, Herrn Schroeter sofort zu entlassen. Gründe wurden keine angegeben, aber sie lagen auf der Hand. Der Verlagsdirektor Hermann Orth, ein alter Zentrumsjournalist (wie gerade er nach Braunsberg kam, darüber vielleicht ein andermal), hatte es aber gar nicht eilig damit, dem Berliner Erlaß zu entsprechen. Er behandelte die Sache so, wie Bismarck seine Affären zu erledigen pflegte, dilatorisch, d. h., er zögerte sie zunächst einmal hinaus. Briefe gingen zwischen Braunsberg und Berlin in der Angelegenheit hin und her. Inzwischen aber wußte Aloys Schroeter sein Amt im Vorstande des Volksvereins niederlegen und sich überhaupt zum Verzicht auf jede offene Tätigkeit im kirchlichen Bereiche entschließen. Er tat es schwersten Herzens, aber es blieb ihm keine andere Wahl, andernfalls hätte ihn auch Herr Orth trotz allem Wohlwollen nicht vor der Entlassung retten können. Er wäre mit seiner Familie auf die Straße gesetzt worden, wer hätte ihnen dann wohl geholfen? Nachdem Aloys Schroeter als lästiger Gegenspieler ausgeschaltet war, beruhigten sich die Stänkerer aus dem Braunsberger Parteilager, die natürlich selbst nie direkt in Erscheinung getreten waren, allmählich. Allerdings ließen sie ihn auch fortan nicht aus den Augen, was er bei Gelegenheiten immer wieder zu spüren bekam. So wurde er später einmal aus der Wohnung geholt und wußte ein eingehendes polizeiliches Verhör über sich ergehen lassen. Immerhin konnte er, zumal die Berliner Stelle von sich aus keineswegs scharf darauf war, ihn abzuschießen - sie verlangte zur eigenen Absicherung nur noch ein für ihn besonders schmerzliches Zugeständnis -, seinen Dienst weiter versehen, bis er den Einberufungsbefehl erhielt. In den letzten Kriegswochen ist Aloys Schroeter, der in seiner Glaubenstreue, seiner aufrechten Haltung und liebenswerten Bescheidenheit die besten Eigenschaften unseres Ermländertums verkörperte, vor den Toren Königsbergs gefallen. Seine Söhne wirken heute in seinem Geiste im Jungen Ermland.

Es erhebt sich noch die Frage, warum die Nationalsozialisten das Gesellschaftshaus nicht schon früher einkassiert haben. Sollten sie wirklich durch Bedenken rechtlicher Art daran gehindert worden sein?

Das ist schwer anzunehmen, irgendein Vorwand hätte sich schon gefunden. Eher sind Erwägungen wirtschaftlicher Art zu vermuten. Auch ein völlig gleichgeschaltetes Gesellschaftshaus hätte einigermaßen rentabel bleiben müssen. Doch es hätte dann mit Gewißheit die Gäste verloren, die ihm bisher noch aus alter Anhänglichkeit die Treue hielten. Und welche aus dem Parteilokal abzugeben und womöglich wieder Veranstaltungen ins Gesellschaftshaus zu verlegen, daran war „man" ganz bestimmt nicht im geringsten interessiert. So ließ man das Gesellschaftshaus eben dahinvegetieren und begnügte sich damit, es langsam auszubauern. Das sind natürlich Spekulationen, aber sie dürften, nach der Kenntnis der damaligen Verhältnisse, von der Wahrheit nicht weit entfernt sein.

Abschiedsfeste

Wir erinnern uns aus dieser sonst so tristen Zeit doch noch eines netten Festes, zu dem Fräulein Paula Schulz, Nachfolgerin von Tanzmeister Boy, die alte Braunsberger Gesellschaft, wenn man das einmal so sagen darf, geladen hatte. Da sah man noch manche Braunsberger Familien, die sonst aus guten Gründen lieber zu Hause blieben. Sogar zwei Professoren der Akademie gaben uns die Ehre. Der eine war stadtbekannt durch seine gewaltige schwarze Mähne: also der Philosoph unserer Hochschule. Der andere mit einem holzgeschnittenen schwäbischen Peter-Dörfler-Gesicht erwies sich als der besten Tänzer einer. Bei seiner baldigen Abberufung an eine süddeutsche Universitätsstadt dürfte ihm manch ermländisches Tränlein nachgeflossen sein.

Einmal im Jahre erwachte das Gesellschaftshaus aber noch aus seinem Dämmerzustande zum alten Glanze. Das war beim Winterschülerfest, genau gesagt beim Fest der landwirtschaftlichen Winterschule, zu dem auch die Angehörigen und die alten Schüler mit ihren Familien geladen waren. Da war noch etwas los, das kann ich euch sagen. Die von Jahr zu Jahr länger werdende Reihe Opelwagen, die an diesem Tage in der Königsberger Straße hielten, oder ich muß mich wohl moderner ausdrücken, parkten, zeigte wie ein Thermometer den Konjunkturanstieg in der Landwirtschaft an. Die Nationalsozialisten ließen, um sich vom Ausland ernährungsmäßig möglichst unabhängig zu machen, der Landwirtschaft jede nur denkbare Förderung zuteil werden, und da nahmen auch, wer wollte es ihnen verdenken, die ermländischen Bauern, was sie kriegten. Daß es nur eine Scheinkonjunktur war, der allzu rasch das heulende Elend folgen wußte, mögen manche schon damals geahnt haben. Aber weil gerade über unsere Bauern dann das furchtbarste Schicksal hereingebrochen ist, nicht zuletzt über ihre Söhne und Töchter, wollen wir ihnen die paar guten Jahre nicht bereden und auch nicht das Fest, das sie damals alljährlich noch in unserem Gesellschaftshaus feierten. Wenn wir daran denken, wie viele von den strammen Jungen und prächtigen Mädchen, die noch Anfang 1939 hier fröhlich und vergnügt ihr Fest begingen, auf den Schlachtfeldern des Krieges und nach dem Kriege in den Lagern Rußlands und Sibiriens zugrunde gegangen sind, kann uns nur todtraurig zumute werden. Ich brauche mich nur in meiner eigenen Verwandtschaft umzusehen.

Sicher hätte man gern auch dieses Fest dem Gesellschaftshaus geraubt, aber das andere, bevorzugte Haus war dafür denn doch zu klein. Man hätte dann schon dort die Gäste einfleien müssen wie die Heringe in die Tonne. Doch man wußte Rat: Man ließ, um das Protektionskind auch seinen Reibach machen zu lassen, in beiden Häusern feiern, und so konnte der. aufmerksame Beobachter gnirrend feststellen, wer wo sein Ei hinlege oder wer ständig von einem Haus zum andern unterwegs war. Den Schmand schöpfte, das sei zur Ehre der Festteilnehmer gesagt, aber doch eindeutig das Gesellschaftshaus ab.

Übrigens war ausgerechnet dieses Fest Anlaß zu unserm ersten Ehekrach. Mein liebes junges Glück, frisch importiert aus einer Großstadt jenseits des Korridors, meinte, als ich mir, von Berufs wegen zur Teilnahme am Fest verpflichtet, das feinste Plätthemd aus dem Schrank holte und den Bratenrock anzog, das sei nun doch wohl nicht nötig. Und als ich sogar von ihr verlangte, sie selbst solle mich in ihrem schönsten Gewande begleiten, da war es ganz aus. Doch ich blieb hart, eisenhart, wenigstens dieses eine Mal. Denn ich wußte schon, warum. Und mein liebes Weib wußte es auch, kaum daß wir die Tür des Gesellschaftshauses hinter uns zugemacht hatten. „Dieser Staat, dieser Staat!" hörte ich sie nur immer hauchen. Und ich konnte sie nur noch triumphierend ansehen. Das war aber auch wirklich ein Staat, der bei diesem Fest entfaltet wurde. Schade, daß ich so etwas nicht behalte und mich gar nicht zum Ballreporter eigne. Sonst würde ich Ihnen ganz genau beschreiben, was die Mädchen alles angehabt haben. Diese kostbaren Klunkern kamen schon längst nicht mehr aus unseren ermländischen Modehäusern, man war nach Elbing oder Königsberg gefahren, um dort was Extrafeines zu finden. Und die Lockenprachten! Schon Tage vorher waren die Braunsberger Friseure belagert, und das größte Geschäft machte ausgerechnet der, dem wir es am wenigsten gönnten. Braunsberger, Ihr wißt schon, wen ich meine, den am Anfang der Straße, bei dem man nur mit angehaltener Luft vorbeiging. Angst vor einem Barbier, das war vielleicht eine Zeit. Womit ich wahrhaftig nichts gegen die ehrbare Zunft gesagt haben will, die Braunsberger Innungsgenossen werden mir selbst gern zustimmen. Aber lassen wir das und bleiben wir bei unserm herrlichen Fest. War das ein Gedränge und Geschubse und Gelache und Geschwitze in allen Räumen des Gesellschaftshauses oben und unten und vorne und hinten. Die Jungens fast alle im Smoking. Sprecht das o in dem Wort nur ja richtig auf ermländisch aus! Die Überpassarger zerrissen sich natürlich den Mund, weil die Bludauer selbst noch im Smoking plattdeutsch redeten. Wie konnten sie das auch nur. Wie wir doch alle schon so vornehm geworden waren, viel vornehmer als die Leute im Westen, wo, das haben wir bei der Flucht zu unserm Schrecken feststellen müssen, sogar noch der Pastor mit seinem Kirchenvorstand plattdütsch snakt. Aber daß die Bludauer dann noch ihre Smokings sonntags in die Kirche anzogen, ehe die wachsende Männerbrust das Frackchen auseinanderpremste, kann ihnen heute auch der feinste Überpassarger nicht mehr nachreden, wo, wir lasen es gerade in der Zeitung, der Präsident von Bremen persönlich seine Senatshosen im Kuhstall aufträgt.

Und wenn dann das Fest auf seinem Höhepunkt angelangt war, öffneten sich die Schleusen der Taschen, die das liebe Frauensvolk mitgebracht hatte (zu Hause hatten wir natürlich für Frauensvolk ein anderes Wort, aber das darf ich hier nicht gebrauchen, hast recht, Tantchen, das hört sich auch gar nicht mehr schön an). Schließlich war man nicht zum Fest gefahren, um dort zu hungern. Und sollte man sich in der Stadt etwas zum Essen kaufen, wo zu Hause der herrlichste Weizen auf dem Felde wuchs und die Sechszentnerschweine in der Koje schnarchten? Das hätte noch gefehlt. Im übrigen hätte man in der Nacht auch gar nichts Vernünftiges zu essen gekriegt, der Ökonom hätte aus der Kaserne Kessel und Köche kommen lassen müssen, um die vielen hundert Mägen, die schließlich was gewohnt waren, satt zu machen. So versorgte man sich selbst und die schnorrigen Städter wie uns noch dazu. Die Würste, Schinken, Klopse, Eier, Kuchen - ihr lieben Leute, wenn wir daran denken, was sich da alles auf den Tischen türmte, wird uns heute noch ganz damlich im Bauche. Da fanden sich dann auch die Mädchens ein und die Jungens, mit glänzenden Backen, weil's doch so heiß war und so schön und von wegen der Klaren und Prünellchen und Bierchen und so weiter, und die einst so steifen Smokinghemden und die eleganten Kleider machten schon einen recht angeknitterten Eindruck. Und bekleckert waren sie auch ganz schön. Aber um diese Zeit machte das gar nichts mehr aus. Man stärkte sich an Mutters Tisch und verschwand schnell wieder, um bloß nichts zu verpassen. Und die älteren Herren kamen auch von ihrem Skat oder Whist, oder was sie um die Zeit in dieser oder jener Ecke schon mauschelten. Und die Mariechens, wie man die lieben Fräulein Fieberg, die getreuen Geister des Hauses, liebevoll vertraulich nannte, sie hatten alle Hände voll zu tun, den dazugehörigen Kaffee heranzuschleppen, möglichst starken, daß der Löffel drin stehenblieb. Und dann wandten sich die Damen wieder ihren Themen zu, mit denen sie noch lange nicht durchwaren, und die Herren ihrer Schönen, selbstverständlich der beim Whist. Bis sie dann alle endlich genug hatten und mit den Augen zogen und schon immerfort hujohnen mußten und es wirklich Zeit zum Anspannen wurde - Verzeihung: zum Anlassen der Opelwagen, was bei der Kälte und auch aus anderen Gründen gar nicht so einfach war. Aber die Opels fanden dann auch fast von selbst den Weg heimwärts wie früher die Füchse und Braunen, und Promillekontrollen waren damals bei uns zulande noch nicht zu befürchten.

Ja, das war noch einmal ein Festchen, wie wir es zu Hause zu feiern verstanden, ich möchte fast sagen, ohne andere kränken zu wollen, nur zu Hause. Vielleicht war es manchmal sogar schon ein bißchen des Guten zuviel. Oder etwa nicht? Was meinen Sie, liebe ermländische Leser?

Das Ende

Während des Krieges mußte das Gesellschaftshaus dann doch aufgegeben und an einen Kinobesitzer verkauft werden. Durch die Umstände war verständlicherweise auch die finanzielle Lage immer schlechter geworden, eine große Schuldenlast drückte das Baus: Das war sozusagen das Ende vor dem Ende. Wie denn das alte Braunsberg überhaupt schon weitgehend versunken war, ehe seine Häuser zu Schutt und Asche wurden und seine Bewohner flohen oder verdarben oder noch in der alten Heimat ein klägliches Dasein fristen mußten. Auch das Vereinshaus - nennen wir das Haus noch einmal wieder bei seinem eigentlichen Namen - wurde zu einem Trümmerhaufen, wie es uns Pfarrer Aloys Bönigk erzählt hat, der dageblieben war, als das große Unheil über die Stadt hereinbrach. Im Kalender von 1959 schrieb gleichfalls Landsmann Dr. Fahl, der kurz zuvor unsere Stadt besucht hatte, das schöne katholische Vereinshaus sei nur eine Ruine. Das schöne Vereinshaus - da hat Dr. Fahl meine abfällige Feststellung am Anfang doch korrigiert? Ich widerspreche ihm keineswegs. Aus der Ruine kann vor unseren Augen nur das Bild eines schönen Vereinshauses entstehen.

Damit ist mein Bericht vom Braunsberger Vereinshaus zu Ende. Es war keine großartige Geschichte, so wenig großartig wie unser Braunsberg und unser Braunsberger Leben waren. Aber möglicherweise haben meine Erinnerungen Sie, lieber Leser, doch ein bißchen interessiert und eigene in Ihnen wachgerufen, schöne und traurige, lustige und wehmütige. Vielleicht haben Sie manches anders gesehen und erlebt, dann verzeihen Sie mir und verbessern Sie mich, bedenken Sie, es ist alles schon dreißig und vierzig und fünfzig Jahre her, da fängt es doch langsam zu verschwimmen an. Und wenn Sie noch bislang in Ihrem Sessel ausgehalten haben, erheben Sie sich bitte jetzt und gehen Sie zum Kühlschrank und holen Sie sich Ihr Fläschchen Dortmunder oder Münchener, oder welche Marke Sie jetzt bevorzugen, und tun Sie einen tiefen Schluck, als ob es unser Bergschlößchen wäre, mit dem wir uns an der Theke des Braunsberger Vereinshauses so manches liebe Mal gestärkt und vielleicht sogar einander zugetrunken haben: ein Prost auf die alte Heimat, der zuliebe auch dieses Artikelchen geschrieben worden ist, tausend Kilometer weit davon, während draußen auf der Straße der Lärm der westdeutschen Großstadt brauste.

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