KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN) e.V.
Hans-Werner Janz
AUS MEINEM LEBEN UND ERLEBEN
Professor Dr. med. Hans-Werner Janz (1906 - 2003) war zuletzt ärztlicher Direktor am Klinikum Wahrendorff in Ilten bei Hannover. Seine Frau Antonia lebt in der Nähe von Hannover.
Wir schätzen uns glücklich, daß wir die Möglichkeit haben, seine Aufzeichnungen auf unserer Braunsbergseite den interessierten Landsleuten und Freunden zugänglich zu machen. Auf diese Weise wird der Verstorbene noch lange unter uns sein!
In den folgenden "Kapiteln" berichtet er zunächst vom "Anfang", dann über seine Zeit als Gymnasiast in Braunsberg 1917 – 1924, und schließlich über sein Studium u. a. in Königsberg.
Teil 1: Von Masuren bis nach Leipzig
Frühe Kindheit in Masuren "Einen Finger nehm' ich nicht", soll ich als Dreijähriger mit weggezogener Hand gesagt haben, als unser Gemeindevorsteher, ein großer, wuchtiger Mann, mir zur Begrüßung von oben herab seinen Zeigefinger hinstreckte - ein frühes Zeichen gesunden "Selbstwertgefühls", wie man heute sagen würde?"Wir träumten in der Johannesnacht und meinten, es wäre Schaum. Nun freuen wir uns, als wir erwacht, daß sich erfüllt der Traum: Euch blüht aus der Johannesnacht ein Röslein zart und fein, und wenn über ihm der Himmel lacht, so werden wir uns freu'n!" Mit diesem poetischen Bukett begrüßte das Pfarrer-Ehepaar W i s k i den Eintritt in mein Erdendasein am 24. Juni (Johannes der Täufer) 1906 in dem Marktflecken Widminnen, Kreis Lötzen (heute Wydminy und Gizycko). Meine Mutter vertraute die mit dem Bilde einer roten Rose geschmückte Glückwunschkarte der Titelseite eines - noch erhalten gebliebenen - PhotographieAlbums an und versah sie mit zwei in weißer Tinte handgeschriebenen Zitaten: "Das Mutterherz ist der schönste und unverlierbarste Platz des Sohnes, selbst wenn er schon graue Haare trägt - und Jeder hat im ganzen Weltall nur ein einziges solches Herz." (Adalbert Stifter) und: "Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten" (Jean Paul). Zwar sollte der Himmel über dem späteren Leben des "Röslein zart und fein" (Geburtsgewicht: 9 Pfund!) keineswegs immer lachen. Aber seine Kindheit stand unter dem Glücksstern einer festen Geborgenheit in der elterlichen Liebe. Dieses Glück mag zur Entfaltung eines kräftigen, weder zu Ober- noch zu Unterschätzung des eigenen Wertes neigenden Selbstbewußtseins beigetragen haben, soweit es nicht auf einem von beiden Elternseiten her bestimmten genetischen Code beruht. Etwas davon scheint sich auf Photographien widerzuspiegeln, die den knapp vierjährigen Sprößling hoch zu Roß und am Steuer des ersten väterlichen Automobils - eines der ersten in Masuren überhaupt! - zeigen, eines "Piccolo" genannten, mit Außenschalt- und Bremsgestänge, Anwerf-Kurbel, GummiHupe und Karbid-Scheinwerfer ausgestatteten Vehikels. Widminnen, inmitten der Wälder und Seen Masurens gelegen, war der erste Sitz der Arztpraxis meines Vaters, die er von einem Corpsbruder der Königsberger "Littuania", dem später zum Geheimen Sanitätsrat ernannten Dr. Joseph Sinnecker, übernommen hatte. Meine frühesten Erlebnisse verbinden sich mit den Elementen des Wassers und Feuers: Im Widminner See wäre ich einmal beinahe ertrunken, und ein anderes Mal drohte ich in ein Torfloch zu fallen. Eines Nachts brach im Laden des Kaufmanns Gustav MichaIowski..., in dessen Haus mein Vater seine Praxis ausübte, Feuer aus. Ich erinnere mich dunkel, in Decken gehüllt und fortgetragen worden zu sein. Den Brandgeruch glaube ich heute noch zu spüren. Er war es, der mir jäh in die Nase stieg, als ich nach dem ersten schweren Fliegerangriff auf Leipzig am 3. Dezember 1943 durch die noch raucherfüllten Straßen ging, um nach meinen Patienten in der Psychiatrischen Universitätsklinik zu sehen, die durch Brand- und Sprengbomben zerstört war. Wasser und Feuer haben seit jeher eine von Gefühlen der Zuneigung wie der Bedrohung gemischte Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Ich war und blieb einziges Kind, wurde aber vor dessen seelischen Gefährdungsmöglichkeiten bewahrt durch die pädagogisch kluge Erziehungsweise meiner Mutter und durch die Spielgemeinschaft mit den drei Kindern unseres Hausbesitzer MichaIowski. Er, selbst nicht Jude, hatte sich aus Liebe zu seiner jüdischen Frau mosaisch taufen lassen und galt damit im "Dritten Reich" als "Gesinnungs"- also "Voll-Jude". Mein Umgang mit seinen Kindern und der meiner Eltern mit dem Ehepaar M. war völlig unbefangen und ließ mich von früh an gefeit sein gegen jeden Anflug von Antisemitismus. Nach 1933 gelang es dem ältesten Sohn Alfred noch rechtzeitig in die USA zu entkommen, der jüngere, Walter, ein Apotheker, konnte sich bis zum Kriegsende in Berlin versteckt halten und entging so dem Tode. Die Tochter Dora, die kleine lockenköpfige Gespielin meiner Kindheit, nahm sich 1943 das Leben. Onkel Bruno, der von mir sehr geliebte Bruder meines Vaters, heiratete noch vor dem Ersten Weltkrieg Frieda MichaIowski, und so waren wir denn, wie es später unseligen Angedenkens hieß, "jüdisch versippt". Der Name MichaIowski begegnete mir dann wieder in einem russischen Arzt, in dessen Haus ich als Reserve-Sanitätsoffizier der Luftwaffe im August 1941 Quartier bezogen hatte. Seine Frau war Jüdin und bemutterte und bekochte mich rührend. Ich konnte sie vor Unheil bewahren: Als am frühen Morgen zwei ukrainische "Milizionäre", schwer bewaffnet, an die Haustür klopften und von mir verlangten, ich soll "die Frau" herausgeben, war sie mit ihrem Mann verschwunden! Er hatte mir ein Zettelchen hinterlassen, auf dem er sich in russischer Sprache (und kyrillischer Schrift) bei mir bedankte ("Arzt Janz guter Mann!") - nach 1945 einer der "Persilscheine", die mir beim "Entnazifizierungsverfahren" gute Dienste leisteten! Ich hoffe, seiner Frau dadurch das Leben gerettet zu haben, daß ich ukrainische Milizionäre, die sie nachts abholen wollten, nicht hereinließ. Meine frühkindliche Vorstellung von der Muttergestalt verschmolz offenbar mit dem Bilde einer unbekleidet bäuchlings auf einem Eisbärfell liegenden Frau, das in der Wohnung meiner Eltern hing, sinnenfreudig und keusch zugleich, dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend. Einem Besucher, der das Bild betrachtete, erklärte ich es zum Entsetzen meines guten "Mamchens" mit den Worten: "Das is de Mama!" Einem anderen Besucher, der mich fragte, wo mein Vater sein, antwortete ich: "Der Papa ist zu einer kleinen Entbindung!" Dieser Papa war als "Praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer", wie es auf dem Schild an der Haustür lautete, viel, auch nachts, unterwegs. Sein kleiner "Piccolo" blieb dabei nicht selten in den masurischen Sandwegen stecken und mußte dann dank hilfreicher Bauern "zweispännig" zurückbefördert werden. Sie kannten schon das Huptsignal, das mein Vater aus der Gummihupe ertönen ließ - es soll dem "Tatütata!" ("Für unser Geld!°) geähnelt haben, das die Annäherung des kronprinzlichen Automobils signalisierte! -, und wußten, es sei Zeit, anzuspannen und den Doktor mit seinem Auto aus dem Dreck zu ziehen! Alle diese sehr frühen kleinen Geschichtchen weiß ich nicht aus eigener Erinnerung, sondern aus Erzählungen des Onkels Bruno und eines Freundes meiner Eltern, Dr. Med. Erich StadIer. Aber an ein Erlebnis erinnere ich mich recht genau: Als ich eines Nachts wieder einmal alleine zu Hause bleiben mußte - "Mamchen" begleitete meinen Vater hin und wieder auf seinen Praxisfahrten -, erwachte ich, stellte fest, daß ich alleine war, erschrak, kroch aus dem Bettchen und vergrub mich in das warme, weiche Fell unseres riesigen Bernhardiners "Hatto". Hier fühlte ich mich geborgen und muß wohl eingeschlafen sein, bis meine Eltern zurückkehrten. Außer "Hatto", der mich auch in einem kleinen Wagen wie ein Pferdchen zog, besaßen meine Eltern noch einen Dackel, der nach den Afrikaerlebnissen unseres Gemeindevorstehers Kempe und eines Studienfreundes meines Vaters "Buschmann" genannt wurde. An dessen biologischen Lebensäußerungen muß ich lebhaften Anteil genommen haben: Als ich von meinen Eltern zusammen mit "Buschmann" zum erstenmal auf eines der masurischen Rittergüter mitgenommen wurde, hob ich trotz wiederholter Ermahnungen meiner Mutter beim Essen immer wieder das Tischtuch hoch und begründete dieses durchaus ungehörige Interesse mit dem entwaffnenden Ausspruch: "Der Buschmann sitzt unter dem Tisch und pischt!" Mein Debüt in dem vornehmen Hause war zwar mißlungen, wurde aber mit freundlicher Nachsicht belächelt. Die Liebe zu Hunden gehört als "frühe Prägung", wie Konrad Lorenz sagt, zu meinem Leben. Ohne sie wäre es ärmer. Zum Glück teile ich sie mit meiner Antonia. Mit einer "kynophobisch" - neurotischen Partnerin hätte ich nicht zusammenleben wollen und können. Mein Vater entschloß sich, angeregt und ermutigt durch den Lötzener Kreisarzt Dr. ZeIIe, trotz seiner Beanspruchung als vielbeschäftigter Landarzt, einen Lehrgang mit dem Ziel des Kreisarzt-Examens zu absolvieren, bestand dieses und wurde 1912 als "Kreisassistensarzt" nach Willenberg, Kreis Ortelsburg (heute: Wielbark und Szcutno), berufen. Dr. ZeIIe, sein freundschaftlicher Gönner und Förderer, war eine vielseitig begabte und gebildete Persönlichkeit. Er hatte als Amateur-Historiker ein Werk über die Befreiungskriege 1812 - 15 verfaßt, das ich in einer schon gebundenen, reich illustrierten und großformatigen Ausgabe später geradezu verschlungen habe. Zum Geburtstag meines Vaters am 6. September 1911 gratulierte Dr. ZeIIe ihm mit folgenden Zeilen: "... Nur wenige Ausgewählte umstehen heute Ihren Thron, die `Creme de la Crem' Widminnens und seiner Umgebung. Mit geistigem Auge sehe ich dioskurenartig erscheinen: Micha (lowski) und Heumann, Brandt und Reck, Burau und Lubowski, von Streng und Steputat, Saager und Pawlick pp. Eine unabsehbare Reihe, die alle der Wunsch treibt, ihrem lieben Doktor zum Geburtstag Glück zu wünschen. Sie alle wünschen, daß Sie auch in Zukunft der billi -denkende Arzt bleiben mögen, der Sie ihnen fünf Jahre gewesen sind. Die wenigen Jahre, mein lieber Herr Kollege, die uns trennen - es sind 38 weniger 35 gleich 3 Jahre (Reaumur gerechnet!) - berechtigen mich nicht zu väterlichen Wünschen, sondern zu freundschaftlichen und brüderlichen. Ich wünsche vor allem, daß Ihnen Ihre schöne harmonische Häuslichkeit erhalten bleibt; geleitet von einer Frau mit seltenen Herzensgaben, sind Sie glücklich und werden es bleiben! Nicht in rauschenden Festlichkeiten liegt das Glück, nur in der Familie. Credite experto! [Hier hatte Dr. Z. den Satz eingefügt: "Möge der Himmel Ihnen auch Kraft und Zeit geben, den Lieblingswunsch Ihres lieben kleinen Hans-Werner zu erfüllen ..." (Dieser Wunsch, ein Schwesterchen, ist leider unerfüllt geblieben, woran weder Mangel an "Kraft" noch an "Zeit" schuld gewesen sein mögen!)] Auch Ihre Versetzung und Ihre Ernennung zum Kreisassistensarzt wird ja im neuen Jahre kommen, möge diese Veränderung Ihrer Lebensbahn ein wahrer gradus ad Parnassum (Fortschritt) sein! Treue im Kleinen, Herzensgüte und der Wille zum Großen werden Ihnen in jeder Laufbahn eine angesehene Stellung erringen, auch in der Kreisarztkarriere, wo die Konkurrenz sehr scharf ist. Gestatten Sie mir den Wunsch und die Bitte, daß Sie auch in im neuen Jahre nicht aufhören, zu Ihren aufrichtigen Freunden zu zählen Ihren ergebensten Zelle ." Im Januar 1914 wurde mein Vater als Kreisarzt nach Neidenburg (heute Nidzica) versetzt. Am Eingang des Hauses, das die Regierung dem Kreisarzt er war damals noch so etwas wie ein "medizinischer Landrat" - als Ganzes, Amtssitz und Wohnung, zur Verfügung stellte, prangte ein Schild mit dem preußischen Schwarzen Adler und der stolzen Aufschrift "Königlicher Kreisarzt". Zu jener Zeit kursierte in Ostpreußen ein kleiner Vers, der den Stint, ein in den dortigen Seen und Flüssen heimisches, billiges und deshalb als Volksnahrung verbreitetes Fischchen, in Verbindung mit dem kreisärztlichen Amtsträger brachte. Es lautete: "Der Stint, der ist jeweeniglich - der Kreisarzt, der ist keeniglich!" Die Widminner und Willenberger Jahre waren die glücklichsten meiner frühen Jugend. Zu den schönsten Erinnerungen jeder Zeit gehört das Weihnachtsfest: Weihnachtsbaum, mit "Lametta und Engelshaar" geschmückt, Lichterglanz (natürlich noch mit Wachskerzen) und reichlich gedeckter Gabentisch bedeuteten mir herrliche Verzauberungen. Sie wurden auf erregende Weise gekrönt durch das Erscheinen des "Weihnachtsmannes", der mich emporhob, an sich drückte und mir einen Kuß aufdrückte, wobei sein großer, weißer Vollbart ein wunderschönes Kitzelgefühl hervorrief. Ich hatte nie Angst vor ihm, zumal ich später erfuhr, daß es mein geliebter, immer zu Späßchen aufgelegter Onkel Bruno (von mir wohl wegen des etwas schwierigen Vornamens "Onkel Bau" genannt) war, der sich hinter dem "Weihnachtsmann" verbarg. An mir selbst habe ich erfahren, wie wichtig die Erinnerung an den geheimnisvollen, immer neu mit Spannung erwarteten Zauber eines solchen Weihnachtserlebnisses für das spätere Leben, bleiben kann. Es war eingehüllt in die Gefühle der Wärme, der Geborgenheit und Liebe - und noch kein "sentimentaler Ausrutscher", wie ein heutiger Zeitgenosse das kommerzialisierte, seines Sinns beraubte Weihnachten einmal genannt hat. Mit der "Kindheit voll Liebe", die meine Mutter ("Mamchen") mir mitgab, habe ich nicht nur - mit Jean P a u I - ein "ein halbes", sondern ein ganzes Leben hausgehalten. Meinen Vater liebte ich nicht weniger, aber wohl anders. Auch er war warmherzig und dazu - ähnlich wie sein Bruder "Onkel Bau" - mit köstlichem Humor begabt, aber im Unterschied zu Mamchen ein "religiös gestimmter Freidenker", später Mitglied und "Meister" einer Freimaurerloge, während meine Mutter in den letzten Jahres ihres Lebens dem katholischen Glauben zuneigte. Besonders gerne erinnere ich mich an die Besuche der Schwester meines Vaters, Helene, aus unerfindlichen Gründen "Nauz" genannt, eine ungewöhnlich schöne Frau, die mich bis in meine späten Mannesjahre ihren "lieben Hansi" nannte und das Haus mit strahlender Munterkeit erfüllte. Bei ihrer Hochzeit mit einem aktiven Offizier, späteren Oberst, Heinz F r e y e r , auf dem Truppenübungsplatz Jüterbog bei Berlin durfte ich als 10jähriger Junge stolz ihre Schleppe tragen. Die anziehende Ausstrahlung ihrer Schönheit und ihres Wesens hätte zuvor fast einmal Anlaß zu einem Duell meines Vaters mit einem ihrer Verehrer gegeben! Hier am Ende meiner ersten Kindheitsjahre, will ich, falls spätere Generationen in diesem Lebensbericht hineinschauen sollten, einen Exkurs über die Geschichte Masurens anfügen. "Wohl keine andere Landschaft in Europa erweckt durch die bloße Erwähnung ihres Namens so viele Gefühle und Empfindungen wie Masuren. Ein Stück versunkener Geschichte, verlorener Heimat für die einen; wiedergewonnenes Land, Symbol des Neubeginns, Zeichen nationaler Hoffnung für die anderen ...", so beginnt Klaus Bednarz seinen Beitrag in dem von ihm herausgegebenen Buch "Masuren", 1984 im Hamburger Ellert und Richter Verlag erschienen. Ich folge damit weitgehend seiner Darstellung sowie der von Herbert Reinoß und Hans-Joachim Kütz in: "Das Land der tausend Seen - Erzählungen aus Masuren =', Edition Erdmann in K. Thienemanns Vertag, Stuttgart, 1984. "Masuren" ist kein politischer Begriff, sondern eine - wenn auch etwas unbestimmte - Landschaftsbezeichnung. Sie umfaßt den südlichen und südöstlichen Teil Ostpreußens etwa zwischen Neidenburg (Nidzica) und Goldap (das auch heute noch so heißt). Das "Land der tausend Seen" - Statistiker haben genau 3312 gezählt, der größte von ihnen, der Spirdingsee (Spiardwy) war nach dem Bodensee Deutschlands größtes Binnengewässer - bildet geologisch eine Hinterlassenschaft der jüngsten Eiszeit: Die nach Norden abgezogenen Gletscher ließen Stau- und Endmoränen zurück, Ausläufer des uralisch-baltischen Höhenzuges, der in der Kernsdorfer Höhe (Gora Dylewska) immerhin stolze 313 Meter erreicht. In den tiefen Furchen zwischen diesen "Buckeln" sammelten sich die Schmelzwässer der Gletscher und in den "glazialen Staubecken" bildeten sich die großen "masurischen Meere". Die Geschichte Masurens beginnt mit dem Deutschen Ritterorden, der unter seinem Hochmeister Hermann von SaIza von Herzog Konrad von Masovien, einer seit langem zum Christentum bekehrten polnischen Provinz, im Jahre 1226 gegen die noch heidnischen Pruzzen zu Hilfe gerufen wurde, jenem Volksstamm, aus dem sich später der Name "Preußen" herleiten sollte. Ein Teil der Pruzzen wurde ausgerottet, ein anderer vertrieben. Wer überlebt hatte und nicht vertrieben wurde, mußte den katholischen Glauben annehmen. Die heidnische GötterTrias Perkunos, Potrimpos und Pikollos, die unter der Heiligen Linde von Romove, auf der Teufelsinsel im Spirdingsee, verehrt wurde, verschwand im Dunkel der Geschichte. Reste dieser vorchristlichen Glaubenswelt haben sich allerdings in Masuren länger als bei anderen Volksgruppen in Deutschland erhalten! Die Urwälder Masurens, die Seen und Sümpfe bedeuteten für den Deutschen Orden einen natürlichen Schutz, Wälder durften nicht gerodet, Siedlungen nicht errichtet werden. "Die Polen ihrerseits sahen im Deutschen Orden ihren Staatsfeind Nummer eins, nicht zuletzt, weil ihnen durch die Besetzung Ostpreußens der Weg zum Meer abgeschnitten war." "Nachdem das Land durch den Orden entvölkert", "leer und wüst" geworden war, wie es einer seiner eigenen Chronisten vermerkt hatte, holte man polnische Siedler heran, Bauern aus der Nachbarprovinz Masovien, die zusammen mit den verbliebenen Pruzzen und den zuwandernden deutschen Siedlern die "Urväter der Masuren" bildeten. Die ständigen Auseinandersetzungen des Ordens mit Polen und der zunehmende Widerstand der eigenen Untertanen gegen seine immer rücksichtslosere Machtpolitik führten mit der verlorenen Schlacht von Tannenberg (1410) und dem Zweiten Thorner Frieden (1466) zum unaufhaltsamen Niedergang. 1525 wurde der Ordensstaat aufgelöst und seine östliche Hälfte mit Masuren in ein preußisches Herzogtum unter polnischer Lehnshoheit umgewandelt. Zugleich führte der neue Landesherr, Herzog Albrecht von Brandenburg, die Reformation ein. Als Freund und Förderer der Künste und Wissenschaften gründete er 1544 die Universtität Königsberg, die nach ihm benannte "Albertina" . Das angrenzende Ermland blieb katholisch. In der Folgezeit wurde Masuren von Kriegen, Vertreibungen, Pest-Epidemien, Hungersnöten heimgesucht. Mal brachen die Schweden ins Land ein, mal die Polen - am schlimmsten aber war der Tataren-Einfall 1656 - 57.1806 wälzte sich Napoleons Armee auf dem Weg nach Moskau durch Masuren, 1812 fluteten die geschlagenen Reste dieser Armee auf dem gleichen Wege zurück. Und im August 1914 verwüsteten russische Armeen weite Teile Masurens - Alexander SoIschenizyn hat es eindrucksvoll beschrieben: "10 000 Zivilisten verloren damals ihr Leben oder wurden nach Sibirien deportiert, 400 000 Menschen wurden zu Flüchtlingen" (Bednarz). (Diese Schätzzahlen beziehen sich offenbar auf ganz Ostpreußen). Unter den Flüchtlingen waren meine Mutter und ich. 1945 wurde zum dunkelsten Jahr in der Geschichte Ostpreußens und Masurens: "Ostpreußen war das erste deutsche Gebiet, auf das die sowjetischen Truppen stießen - nach einem Marsch tausende Kilometer durch zuvor von deutschen Truppen verwüstetes Land. Zehntausende deutscher Zivilisten Männer, Frauen und Kinder - kamen bei der Flucht aus Ostpreußen ums Leben, starben an Hunger, Erfrierungen, Erschöpfung oder durch Tieffliegerangriffe, unzählige Frauen fielen Ausschreitungen sowjetischer Soldaten Zum Opfer, viele ertranken beim Marsch über das zugefrorene Frische Haff oder gingen mit Flüchtlingsschiffen unter, die von sowjetischen U-Booten torpediert wurden. Tausende von anderen verschwanden - häufig für immer - in den Weiten Sibiriens oder an der Küste des Nördlichen Eismeeres. Ostpreußens Städte und Dörfer versanken in Schutt und Asche. Von den rund 2,6 Millionen Ostpreußen sind etwa 500 000 nicht mehr lebend ermittelt worden. Ostpreußen hörte auf, als deutsche Provinz zu existieren. Ja, - und dann kam das über Ostpreußen und Masuren, was zu erwarten war: Haß und Vergeltung für "die schrecklichen Verfehlungen und Terrorakte des Hitlerregimes" (Rudolf HageIstange). Es kam zur Vertreibung der Menschen aus Masuren, sie wurden "davon gejagt wie Gesindel" (Herbert Reinoß). "Das polnische Verhalten bei Kriegsende den Masuren gegenüber gehört zum Unverstehbarsten in jeder wölfischen Zeit", und dies nachdem die Polen Jahrzehnte hindurch die Masuren als nahe Verwandte bezeichnet hatten, deren "polnische" Sprache man erhalten wollte, die nicht "germanisiert", sondern "repolonisiert" werden sollten! Im Jahre 1920 hatten sich bei der letzten Volksabstimmung fast 100 % der Masuren zum Deutschen Reich bekannt. Heute gibt es in Masuren so gut wie keine Deutschen mehr. An ihre Stelle traten polnische Siedler, die zumeist aus den Ostgebieten kamen, die Polen nach 1945 an die Sowjetunion abtreten mußte. Nach der Vertreibung der Deutschen gingen die Polen eilends daran, "alle Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit radikal zu tilgen - bis hin zu den Grabsteinen" (Hans Joachim Kürtz). In polnischen Verlautbarungen ist dies als "endgültige Befreiung Masurens" bezeichnet worden! Mit Recht ist zu fragen: "Wer wünschte denn dort ,befreit' zu werden" und zweitens: "Die Befreiung der Menschen erfolgte zu dem Zweck, sie aus dem Land zu treiben" ( Herbert Reinoß). Inzwischen ist es Zeit geworden, an die Stelle der Vergeltung die Versöhnung zu setzen! Max Töppen hat in seinem 1870 erschienenen Werk über die Geschichte und die Menschen Masurens gesagt: "Masuren breitet sich auf der Grenze deutschen und slawischen Volkslebens aus. Früh unter deutsche Herrschaft gestellt und früh von Polen bevölkert, weist es in seiner ganzen Geschichte den Gegensatz und die Versöhnung beider Nationen aus." Ohne daß der Gegensatz zwischen der geschichtlichen Tradition oder dem wirtschaftlichen Gefälle von West zu Ost verwischt werden kann, wächst heute die Bereitschaft zu Ausgleich und Versöhnung bei Polen und Deutschen. Sie äußert sich in der Freundlichkeit und Gastfreundschaft, mit der deutsche, namentlich auch westdeutsche Besucher, von polnischen Familien in Masuren empfangen werden, sie wird deutlich in der Würdigung, die man einem großen Deutschen, Johann Gottfried Herder, in Mohrungen (Morag), an der Grenze von Ermland und Masuren, erwiesen hat, wenn die Straße, in der er wohnte, statt Koscielna, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg hieß, in "Herderstraße" umbenannt wurde, sie zeigt sich darin, daß die Bücher des mitten zwischen den masurischen Wäldern und Seen, im Forsthaus Kleinort Kreis Sensburg geborenen bedeutenden Erzählers Ernst Wiechert jetzt in polnischer Sprache erscheinen! Dies alles läßt hoffen! Hoffen läßt auch die von den Schrecknissen der Vergangenheit unberührt gebliebene Schönheit der Landschaft Masurens! "Masuren - das ist Natur, das ist bäuerlicher Friede (mit dem Dorfbild von einst), das ist stilles Wasser und rauschender Wald ..." (Gerhard Eckert). Obwohl ich als Flieger die Tempelstädte Kambodschas, die Urwälder Brasiliens, die Buschsteppen Afrikas kennengelernt habe, zieht es mich immer wieder nach Masuren zurück, zu diesem letzten Flecken europäischer Erde, wo die Natur noch einigermaßen heil und in Ordnung ist." (Rudolf Braunburg). "Eine heile Landschaft - eine der letzten in Europa. Dazu gehören auch die endlosen Wälder, die Reste der einstigen ,Wildnisse' Masurens ... (Hans Joachim Kürtz). "Masuren ist tatsächlich unvergleichlich, heute mehr denn je". ".. die von Menschen nicht entstellten Landschaftsbilder (Masurens) ... sind von einer nirgendwo überhöhten, sich in den Mittelpunkt drängenden, sondern einer ganz ungekünstelten, geradezu etwas schüchtern wirkenden Schönheit ... . Diese Landschaft hat einen ganz eigenen, kaum beschreibbaren Zauber ... . Doch das ist nicht alles. Die Landschaft Masurens befindet sich ökologisch gesehen tatsächlich fast noch im Idealzustand ... . Noch brüten dort Schwäne und Haubentaucher und Graureiher und Kormorane in geradezu paradiesischer Ungestörtheit - nicht zu vergessen die zahllosen Störche. Den Storch hat man ja das Wappentier Masurens genannt." (Herbert Reinoß). Die Menschen, die aus den "zivilisierteren" Gegenden westlich der Elbe nach Masuren kommen, sollten sich daran zu erinnern versuchen, daß die Bewohner Masurens von alters her ein inniges Verhältnis zur Natur hatten, das "in vielen Bräuchen bis hin zu allerhand bitterernstem Aberglauben, Ausdruck fand." Der Chronist Masurens, Max Töppen, hat dies indirekt mit der Feststellung bestätigt, "daß in Masuren die Mächte der Natur länger das Obergewicht über die Kultur behauptet haben als anderwärts. Masuren war jahrhundertelang nicht nur der abgelegenste, sondern wie beiseitegelegte, wohl ärmste Landstrich Preußens und Deutschlands." "Noch der 1858 in einem Forsthaus bei Goldap geborene masurische Schriftsteller Fritz Skowronnek erwähnt, daß das Land in seiner Jugendzeit mehr als ein volles Jahrhundert hinter der wirtschaftlichen Entwicklung des übrigen Deutschland zurückgeblieben sei. Es habe damals durch ganz Masuren keine Eisenbahn und keine einzige befestigte Straße gegeben!" Daher stammt das in Ostpreußen einst viel zitierte Wort: "Wo sich aufhört das Kultur, da sich anfängt der Masur!" Doch erlebte Fritz Skowronnek dann beglückt, daß in nur drei Jahrzehnten so gut wie jeder Rückstand aufgeholt wurde, in kultureller wie in wirtschaftlicher Hinsicht. Die Masuren ergriffen "alle Errungenschaften der Neuzeit". Meine Mutter hat Skowronnek, den von der Literaturgeschichte viel zu wenig beachteten, seit 1889 als freier Schriftsteller in Berlin lebenden Schilderer Masurens und seiner Menschen, während des Ersten Weltkrieges besucht, als wir, Flüchtlinge aus dem masurischen Neidenburg (Nidzica), in Berlin-Friedenau lebten. Sie kannte und schätzte seine und seines Bruders Werke, die ihr, die aus dem Norden Ostpreußens, Tilsit, stammte, das Leben und Wesen der Masuren nahebrachten. Ich selbst bin nur einmal in meine masurische Geburtsheimat zurückgekehrt: Bei unserer Hochzeitsreise nach Rudzanny am stillen, von Wäldern umstandenen Niedersee! "Mein Herz, o sage, was webst du für Erinnerung in goldengrüner Zweige Dämmerung? Alte unnennbare Tage." (Eduard Mörike). Als Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg Vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges am z. August 1914 ist mir nur in Erinnerung geblieben, daß ich in Neidenburg auf dem Heimweg von der Schule in eine größere, erregte Menschengruppe geriet, in der "Hurra"! gerufen wurde. Mein Vater wurde schon am ersten Mobilmachungstage als Sanitätsoffizier der Reserve zum Heer eingezogen, hat dann die "Schlacht bei Tannenberg" als Bataillonsarzt mitgemacht, ist knapp der Gefangenschaft entgangen, als sein 59. Infanterieregiment bei dem Dorfe Waplitz in undurchdringlichem Nebel zum Angriff ansetzte und schwere Verluste erlitt, und ist - ich weiß nicht aus welchen Gründen - mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet worden. Er selbst sprach kaum über seine Kriegserlebnisse. Sie müssen ihn wohl tief getroffen haben. Nachdem er auch an der darauffolgenden "Winterschlacht in Masuren" teilgenommen hatte, wurde er Ende 1914 krankheitshalber beurlaubt, um sich im Privatsanatorium "Haus Schönow" des Psychiaters Prof. Laehr in Berlin-Zehlendorf zu erholen. Anscheinend hatte er auf die Konfrontation mit den Toten und Verwundeten in beiden Schlachten mit einem depressiven Verstimmungs- oder Erschöpfungszustand reagiert. (Auf eine gewisse Disposition zur erlebnis- oder konfliktreaktiven Depression weist das Schicksal seiner anderen Schwester Gertrud hin, die sich nach der Auflösung ihres Verlöbnisses mit einem Apotheker im Park des elterlichen Gutes Wenzischken bei Tilsit erschossen hat!). Laehr, der Sohn eines der Pioniere der frühen Anstaltspsychiatrie, war der erste Psychiater, dem ich, acht Jahre alt, begegnet bin. Er war sehr freundlich zu mir und schenkte mir ein Buch über "Die Heerführer des Weltkrieges". Seine Oberin oder Hausdame war eine Frau von Ardenne, deren Schicksal Theodor Fontane zu der Titelgestalt der "Effi Briest" angeregt haben soll. (Für die Richtigkeit dieses Hinweises kann ich mich freilich nicht verbürgen. Ich habe auch nicht erfahren können, in welchem Verwandtschaftsverhältnis der geniale Physiker und Erfinder Manfred von Ardenne zu ihr steht). Die gütige Gestalt des Professor Laehr, der noch zur Generation der "Bart-Psychiater" gehörte, hat sich meinem kindlichen Bewußtsein als ein wohltuend vertrauenerweckendes Erlebnis ähnlich eingeprägt wie mich einige Jahre zuvor der Ausbruch einer offenbar schizophrenen Psychose unseres Widminner Kutschers erschreckt hatte. Ich konnte nicht ahnen, daß die Psychiatrie einmal von mir und ich von ihr professionellen Besitz ergreifen würde, und dies seltsamer Weise auch in meiner Tätigkeit als Leiter einer privaten Nervenklinik, deren Besonderheit zum Teil dem Laehrschen "Haus Schönow" vergleichbar war! Meine Mutter hatte mit mir kurz nach der Mobilmachung mit dem letzten noch fahrplanmäßig verkehrenden Zuge Neidenburg, das wegen seiner Nähe zur Grenze unmittelbar gefährdet war, verlassen. Es wurde am 12. August 1914 von russischen Truppen eingenommen. "Von schwerem Brandgeruch umweht, tauchte vor ihnen Neidenburg auf` schreibt Alexander SoIschenizyns in seinem großartigen Werk "August Vierzehn". Zu diesem Brandgeruch hatte auch das Feuer beigetragen, dem unser Haus zum Opfer fiel. Wir fanden es nach der Wiedereinnahme Neidenburgs ausgebrannt und ausgeplündert vor. Am 13. August hatte der General der Kavallerie Samsonow, Oberbefehlshaber der Zweiten russischen Armee, seinen Stab nach Neidenburg vorverlegt und einen Trinkspruch auf "die Besetzung Berlin" (!) ausbringen lassen. In einem dokumentarischen Abschnitt seines "Romans", dem ich alles Nähere, was ich über den Russeneinfall in Ostpreußen weiß, verdanke, läßt SoIschenizyn die Geschichte und ihre Deutung sprechen: ".. Und auch der Schatten der Vorsehung fiel auf die gleiche Befestigungslinie bei Mühlen (einem Dorf unweit Tannenberg, nordwestlich von Neidenburg), auf dieselben Felsen am See und fünfhundertjährigen Tannen der schützenden und beschützten Heimaterde, wo jetzt närrisch und nackt die russische Zweite Armee vorrückte: genau an dieser Stelle sammelten sich im Jahr 1410 die vereinten slawischen Kräfte und schlugen in der Nähe des Dörfchens Tannenberg, zwischen Hohenstein und Usdau, den Deutschritterorden aufs Haupt. Nach einem halben Jahrtausend fügte es sich schicksalhaft, daß Deutschland das Strafgericht vollstreckte." Als die Katastrophe der russischen Zweiten Armee und damit des russischen Heeres nicht mehr aufzuhalten war, hat Samsonow sich am 30. August erschossen! (SoIschenizyns hat die Worte "Vorsehung" und "das Strafgericht" im Originaltext in deutscher Sprache geschrieben!) Wenn der deutsche Sieg bei Tannenberg 1914 ein Akt der "Vorsehung" und ein "Strafgericht" gewesen sein sollte, so könnten diese beiden "metahistorischen" Begriffe mit gleichem Recht, wenn auch mit weit schrecklicheren Folgen auf die Einnahme Ostpreußens durch die sowjetische Armee 1945 angewandt werden! Inzwischen war meine Mutter mit mir zunächst nach Pritzwalk in der Preignitz, nördlich von Berlin, geflüchtet. Wir wurden dort wenig freundlich aufgenommen und, weil wir aus Ostpreußen kamen, als "Polacken" verspottet! Wegen ihres schwarzen Haares und brünetten Teints geriet "Mamchen" sogar in den Verdacht, eine russische Spionin zu sein! Ich selbst hatte bei Schlägereien unter den dortigen Schülern das Nachsehen, weil ich gezwungen wurde, als "Russe" zu kämpfen! Ein besonders kräftiger Schlag auf mein Haupt - die Kämpfe wurden mit Holzlanzen und -schwertern ausgetragen! - hinterließ zum mütterlichen Schrecken ein blutende Platzwunde und Schwindelgefühle, also eine leichte Gehirnerschütterung. (Im späteren Leben habe ich noch mehrfach "eins auf den Kopf bekommen", teils beim Hinfallen oder durch Anstoßen an ein unbeachtetes Hindernis, teils durch wohldosierte Schicksalsschläge. Ich mußte erst lernen, nicht nur "zu den Sternen aufzublicken", sondern auch "acht auf die Gassen zu haben"!) Der Abschied von Pritzwalk fiel uns nicht allzu schwer, als wir im Dezember 1914 nach Berlin-Friedenau, Peter-Vischer-Str. 19, übersiedelten. Dort haben wir bis 1917 die schwere Kriegszeit mit Lebensmittel- und Kohlenknappheit erlebt. Jahre, die für mich Einzelkind eine strenge Erziehung zur Genügsamkeit und Hilfsbereitschaft bedeuteten. Ich erwarb mir dabei zwar eine heut noch nicht überwundene Abneigung gegen Weißkohl und "Wruken" (Steckrüben), .aber auch die Fähigkeit zum Verzicht. "Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen." Die Wahrheit dieses Wortes in Heideggers "Feldweg" habe ich damals schon erfahren. Nach den satten Vorkriegsjahren hieß es, sich in allem einzuschränken. Ich mußte - und wollte - meiner gesundheitlich zarten Mutter die Mühe abnehmen, bei winterlicher Kälte stundenlang in Menschenschlangen anzustehen, um Butter, Fleisch, Briketts auf Karten einzukaufen. Ich lernte auch so etwas wie "Ritterlichkeit" der Mutter als schützenswerter Frau gegenüber. Als ich einmal von unserem Fenster aus hörte, wie Berliner "Bowkes" sich auf der Straße anzügliche Bemerkungen über mein schönes und geliebtes "Mamchen" erlaubten, schrie ich sie wütend an und verbat mir derartige Unverschämtheiten. Zu den helleren Seiten der Kriegs- und Flüchtlingszeit gehörten die seltenen Besuche meines Vaters - er war inzwischen nacheinander als Garnisonsarzt in Mitau, Libau und Riga tätig und hatte "Kurland" so in sein Herz geschlossen, daß er, wenn der Kriegsverlauf es zugelassen haben würde, dort gerne einen Arztsitz, ein "Doktorat", wie man es nannte, gegründet hätte. Mit den Deutschbalten verbinden uns Ostpreußen einige Gemeinsamkeiten, namentlich die Großzügigkeit im mitmenschlichen Umgang nach der Devise "Leben und leben lassen!" und die Gastfreundschaft. Ein deutschbaltischer Freund nannte unser Haus, in dem die Gäste ein- und ausgingen, das "baltische Hochzeitshaus", weil die Hochzeitsfeiern im Baltikum mehrere Tage zu dauern pflegen, an denen man jederzeit kommen und auch wieder gehen kann. In den Berliner Jahren - ich fühle mich seitdem ein wenig als "halber Berliner" - besuchte meine literarisch lebhaft interessierte Mutter, wenn ich mich recht erinnere, die damals hochberühmten, heute nahezu vergessenen Ostpreußen Hermann Sudermann und Fritz Skowronnek. Sudermann, der vom Vater her, einem Brauereimeister in Matzicken bei Heydekrug in der Memelniederung, - wie auch meine väterlichen Vorfahren einer holländischen Mennonitenfamilie entstammte, hatte nach den Riesenerfolgen seiner Erstlingsdramen "Die Ehre" und "Heimat" außer einer Villa in Berlin-Grunewald das Schloßgut Blankensee bei Trebbin erworben. Paul Fechter, bedeutender, aus Elbing gebürtiger Publizist, Kunst-, Literatur- und Theaterkritiker, Biograph und Erzähler, hat ihn dort noch um 1900 sehen können, wie er "im weißen, leichten Anzug, den Panama auf dem vollen, dunklen Haupthaar, um das Gesicht den berühmten großen, schwarzen `Sudermann-Vollbart', der "bis auf die Brust fiel", im Park, auf den Feldern und am Ufer des Sees einherschritt - nach freudloser, entbehrungs- und enttäuschungsreicher Jugendzeit endlich am - freilich kurzlebigen - Ziel seines jungen Lebens angelangt. Als Max Slevogt ihn 1927 malte - das berühmte Porträt hängt in der Nationalgalerie der Staatlichen Museen in Berlin-Ost - hatte er sich seit langem von seinem schwarzen "Fußsack", dem Ausdruck eines übersteigerten Selbstwertgefühls, getrennt, und in dem Antlitz des nun Siebzigjährigen spiegelt sich die Bitterkeit über die Abkanzelung und Verhöhnung seiner Bühnendichtungen wider. (Alfred Kerr: "Herr Sudermann, der D... D... Dichter!") - Jürgen Fehling, "der letzte große Regisseur der großen Zeit des Berliner Theaters, schreibt Fechter, habe in S Sudermann den "großen, noch unentdeckten Dramatiker des kommenden Menschenalters" gesehen, den "dramatischen Balzac des deutschen Ostens, dessen Wirklichkeit nicht die bloße äußere Realität, sondern die geträumte Wirklichkeit seiner eigenen Seelenspiegelungen vor dieser heute so fernen, versunkenen Welt des preußischen, des deutschen Ostens war." Fehlings Verdienst bleibt es, mit einer wunderbaren Neuinszenierung von Sudermanns "Johannisfeuer`, seiner "letzten großen Berliner Regietat", den verkannten, den wirklichen Sudermann gezeigt zu haben. Es ist die Geschichte von dem Mädchen, das sich einmal im Jahr, zur Johannisnacht, sein Recht auf Liebe und auf den Geliebten nimmt. Mein Braunsberger Schulfreund und langjähriger, immer anregender Briefpartner, der ermländische Historiker und Publizist Dr. Hans Preuschoff, hat diese denkwürdige Aufführung im Jahre 1943 erlebt und eindrucksvoll im "Ostpreußenblatt" vom 8. Mai 1982 geschildert. Sie fand in dem von Bomben schwer getroffenen Schinkelbau des Berliner Staatlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt statt. "Die Liste der Mitwirkenden wurde von Paul Wegener, Marianne Hoppe , Maria Koppenhöfer angeführt, drei der besten Kräfte des Hauses, gewiß des deutschen Theaters schlechthin." Die Rolle der "Trude", eines "trautsten Schafchens, um es auf ostpreußisch zu sagen", spielte die soeben erst von Fehling für die deutsche Bühne entdeckte blutjunge Rumänin Joana Maria Gorvin. "Gutsbesitzer Vogelreuter" war der großartige Paul Wegener, selber Sohn eines Rittergutsbesitzers aus Bischdorf im ermländischen Kreise Rössel. Er spricht die ersten Worte des Stückes: "Aeh! Heut früh is wieder der Deiwel los!" und gibt mit ihnen die Grundstimmung des Dramas an: In der Nacht, zwischen den beiden Tagen, an denen es spielt, der Johannisnacht, ist wahrhaftig "der Deibel los". In ihr lodern die Feuer, die Johannisfeuer, und Vogelreuters Neffe Georg, der dessen Tochter Trude am nächsten Tage heiraten wird, aber Manikke, die Tochter des "versoffenen Litauerweibes" Weßkalnene (Maria Koppenhöfer ) liebt - Georg hält, von festlicher Bowle beschwingt, eine Ansprache: "Einmal im Jahr ist Freinacht, und was dort lodert, wißt ihr, was das ist? Das sind die Gespenster unserer ertöteten Wünsche, das ist das rote Gefieder der Paradiesvögel, die wir hätten hegen dürfen vielleicht ein Leben lang, und die uns weggeflogen sind - das ist das alte Chaos, das ist das Heidentum in uns. Und mögen wir noch so glücklich sein im Sonnenschein und Gesetz, heut ist Johannisnacht. Ihren alten Heidenfeuern gehört mein Glas, heute sollen sie flammen hoch und abermals hoch und abermals - hoch ... Stößt keiner mit mir an?" Was bewegt mich so an dem Sudermannschen "Johannisfeuer" und seiner denkwürdigen Berliner Aufführung? "Die Gespenster ertöteter Wünsche" sind es sicherlich nicht. Eher könnte es das "Heidnische" in mir sein, das Archaische der Johannisnacht, in der ich beim Schein der alten Heidenfeuer, die auch in Masuren brannten, zur Welt gekommen bin. Vielleicht ist es auch die Erinnerung an Paul Wegener, den ich in den Zwanziger Jahren in der Hauptrolle einer Bühnenfassung der Novelle "Krasny smeck", "Das rote Lachen" , des russischen Dramatikers und Erzählers Leonic Nikolaevic Andreew gesehen habe, einer Schilderung der Schrecken des Krieges, die den Menschen an die Grenzen des Wahnsinns treiben können. Unvergeßlich sind mir die Worte geblieben, die Wegener mit unverkennbar ostpreußischem Akzent, allein auf der Bühne, sprach: "Ich simuliere oder ich bin wirklich verrückt!" Als junger Student wußte ich noch nicht, daß damit ein Problem berührt wurde, das in den sogegenannten Kriegsneurosen und -psychosen psychiatrische Bedeutung erlangen würde. Paul Wegener war es auch, der einmal geschrieben hat: "Das, was ich geworden bin, hängt aufs allerengste, mit meinem heimatlichen Empfinden zusammen. Ich glaube, daß das des Ostpreußen Bestes ist, daß er sich nicht auf- und nicht des Scheines wegen nachgibt, sondern den Mut und die Kraft hat, er selbst zu sein. Ich bin der Heimat dankbar, daß sie mir diese Kraft gegeben hat." Mit Maria Koppenhöfer, deren "phänomenale künstlerische Leistung" als "Weßkalnene" von Hans Preuschoff gerühmt wurde, verbindet uns eine persönliche Erinnerung: Sie war mit der Skaisgirrer Pfarrerstochter Ulla WessoIIek befreundet, der Schwester Susannes, Antonias liebster Jugendfreundin; sie besuchte uns 1938 zum Frühstück in Königsberg, im Nachtzug aus Berlin gekommen, nach einer Aufführung im Staatstheater noch im Bühnengewande, einem langen, schwarzen Abendkleide mit goldenem Hals- und Armschmuck angetan, menschlich schlicht und sympathisch wirkend. Viel zu früh - mit 47 Jahren - ist diese große Schauspielerin gestorben. Zurück zu Sudermann. Prof. Erhard Riemann, aus Königsberg stammender Volkskundler und Mundartenforscher hat ihm im "Ostpreußenblatt 1991" endlich eine Sudermann-Renaissance vorausgesagt! Sie läßt auf sich warten und wird vielleicht nicht mehr zustande kommen. Aber: In einem Gedenkbuch "Zum hundertsten Geburtstag des Dichters Hermann Sudermann" (1957 bei Cotta erschienen) hat Paul Fechter seinen Glauben an dessen Sendung noch bekräftigt: "Es ist in der Literatur ein ganz seltenes Ereignis, daß die Werke eines Dichters noch an seinem hundertsten Geburtstag in Saft und Kraft - und im Herzen seines Volkes stehen!" Dr. Ludwig GoIdstein, Feuilletonredakteur der Königsberger "Hartungschen Zeitung", die schon Kants Lektüre war, und Begründer des dortigen Goethe-Bundes, geistvoller Mittelpunkt des Kulturlebens der ehemaligen ostpreußischen Hauptstadt, schildert in seinem Erinnerungsbuch, wie er Sudermann 1917 zu einer Vorlesung im Goethe-Bund eingeladen hatte, die mit der "Reise nach Tilsit" aus den "Litauischen Geschichten" von nahezu 1800 Hörern "mit rauschender Begeisterung" aufgenommen wurde. Sudermann war sein denkbar bester Vorleser, bevor ein Kehlkopfleiden ihn mit plötzlicher Stimmlosigkeit bedrohte. Der Ertrag aus der Vorlesung wurde einem wohltätigen Zweck, den Hinterbliebenen der Gefallenen des Ersten Armeecorps, zugeführt, da es "in dieser Zeit soviel Not zu lindern gab, daß eine Kraft, die nur literarischen Zwecken dient, verschwendet erschien". Ich habe aus zwei Weltkriegen ein Exemplar der 1917 bereits in 26. - 40. Auflage, ebenfalls bei Cotta, erschienenen "Litauischen Geschichten" retten können. Es trägt die von meiner Mutter geschriebene Widmung: "Mammchen ihrem geliebten Pappchen. Weihnachten 1917", und ich vermute, daß sie es unter dem Eindruck ihres Besuches bei dem Dichter erworben hat. In denn Litauischen Geschichten" (Die Reise nach Tilsit, Miks Bumbullis, Jons und Erdme und Die Magd) zeichnet Sudermann meisterhaft, in knappen Strichen und gerade deshalb so lebendig Eigenarten und Schicksale der litauischen Menschen rings um Heydekrug und in der Memeiniederung am Kurischen Haff. Noch heute kann ich mich eines leisen Gerührtseins nicht erwehren, wenn ich die Geschichte von Ansas und Indre, die Geschichte von Schuld, Liebe und Tod in der "Reise nach Tilsit" lese. Das hat nichts mit Sentimentalität zu tun. Es ist auch die Erinnerung an Tilsit, die Stadt, in der meine Mutter ihre Kindheit und Jungmädchenzeit verbrachte und in der sie wie auch Antonia die Luisenschule besucht hat. "Tilschen, mein Tilschen, wie schön bist du doch! Ich liebe dich heute wie einst! Die Sonne wär' nichts wie ein finsteres Loch, wenn du sie nicht manchmal bescheinst." So singen Ansas und Erdme auf dem Karussell in "Jakobsruh", dem Park, den meine Großmutter in ihrem Alter so liebte. Sie singen es, lachend und selig, nachdem Erdure sich "all die ausgestandene Angst von der Seele geweint" hat, weil sie nun weiß, daß Ansas das nicht tun wird, um das sie in Todesangst gebangt. "Mein Ansuttis, mein Ansaschen, bitte, bitte tu mir nichts, tu mir nichts." Auf der Heimfahrt auf dem Memelstrom mit ihrem Kahn hören sie auf einmal Musik. Das sind die Dzimken, die ihre Triften während der Nacht am Ternpfahl festbinden müssen. Es sind die litauischen Flößer, von denen mir meine Mutter erzählt hat. Sie singen das hübsche Liedchen "Meine Tochter Symonene", das jeder kennt, in Preußen wie im Russischen drüben. Sie singen ihre "Dainas": "Unterm Ahorn rinnt die Quelle, Wo die Gottessöhne tanzen nächtlich in der Mondenhelle mit den Gottestöchtern". Dies alles läßt Sudermann uns nacherleben, die wir im Innern mit dem nördlichen Teil unserer ostpreußischen Heimat verbunden bleiben, auch wenn wir sie niemals mehr sehen werden! Indes gebührt der Verdienst, das Wesen und Leben der litauischen Bevölkerung dieser Gegend als Erster der deutschen Literatur erschlossen zu haben, dem Richter und Dichter "Ernst Wichert (ohne "e"), der schon 1881 "Litauische Geschichten" - Ansas und Grita, die Schwestern, Ewe und »Der Schacktarp" - veröffentlicht hat. Schwächer als Sudermann in der dichterischen Gestaltung, aber nicht weniger lebensnah schildert er »das Völkchen der Litauer im preußischen Staat" allerdings vornehmlich in seinen weniger anziehenden Eigenschaften, wie er sie als Kreisrichter in Prökuls erleben konnte: Ihre Dickköpfigkeit, ihre Neigung zu Prozessen zwischen Landwirten und Altsitzern, ihre Unbedenklichkeit in der Bereitschaft zum Meineid (hinter dem Rücken wird mit der nach unten gestreckten Hand der Eid mit der "Schwurhand" "abgeschworen!"), ja, auch zum Giftmord (das "Altsitzerpulver" enthielt Arsen in Kuchen oder Brot hineingebacken!), ihren sittlichen Verfall, der mit dem in der Agrarwirtschaft einherging, den Grenzschmuggel, die leichte Sinnesweise im Verkehr der beiden Geschlechter miteinander", die Vergnügungssucht, Arbeitsscheu und Neigung zum Trunke bei den litauischen Frauen. Aber Wichert erwähnt auch die "Dainos" (oder "Dainas"), "Gesänge voll eines innigen und zarten. Naturgefühls", die beweisen, "in wie hohem Grade die litauische Sprache des dichterischen Ausdrucks fähig ist". "Die Litauer waren dem Namen nach Christen, evangelische Christen geworden". Aber die Kirche hatte noch Jahrhunderte lang gegen den heidnischen Glauben zu kämpfen, und Reste davon haben sich bis heute erhalten". Dies galt auch für die Masuren, deren halbchristliche, halbheidnische Frömmigkeit Paul Fechter in seiner unvergänglichen "Komödie" "Der Zauberer Gottes'`, der dichterisch umgestalteten Geschichte des masurischen Landpfarrers Michael PogorzeIski, der Nachwelt überliefert hat. Ihre Uraufführung wurde nach einer erfolgreichen Generalprobe im Januar 1941 von der SS verboten wegen "Verherrlichung eines eigenständigen masurischen Volkstums"! Die Inszenierung hatte der Königsberger Dramaturg Dr. Karl PempeIfort, den ich noch persönlich gekannt habe, übernommen. Zur Strafe für den "Skandal, ein solches Werk überhaupt gefördert zu haben," wurde er an die Front versetzt, etwa 2 1/2 Jahre später kam es zur Anklage gegen Fechter. Der damalige Preußische Finanzminister Johannes Popitz, der Fechter in der "Mittwochs-Gesellschaft" nahestand, hat dann eine Verbindung zu Rechtsanwalt Langbehn hergestellt, der schließlich die Einstellung des Verfahrens erreichen konnte. Zu der Mittwochs-Gesellschaft" gehörten Männer wie Pinder, Spranger, Heisenberg, Sauerbruch, der Kirchenhistoriker Lietzmann, der Geograph Penck, Generaloberst Beck. Beck und Popitz wurden nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 ermordet. Fechter hatte im Anfang der NS-Jahre durch sein "Danziger Tageblatt" Herrmann Rauschning - den Verfasser der "Gespräche mit Hitler" - gegen das Regime schützen wollen. Hans Knudsen hielt es - mit Recht - für angebracht, für Fechter, u. a. 1933 bis 1940 Mitbegründer und -herausgeber der Wochenzeitung "Deutsche Zukunft", gegen politische "Anschwärzungen und Anbräunungen" einzutreten (in einer Neuausgabe des "Zauberer Gottes", 1987 im Gerhard Rautenberg Verlag, Leer). Erst am 23. Oktober 1948 fand die Uraufführung des "Zauberer Gottes" im Deutschen Schauspielhaus im Hamburg statt, der in rascher Folge weitere Inszenierungen auf westdeutschen Bühnen folgten, häufig mit dem Schauspieler Vasa Hochmann, der die Hauptrolle mehr als 1.300 mal gespielt hat! Ich erliege hier der Versuchung, einige Antworten des Schulrektors PogorzeIski wiederzugeben, die Fechter ihm bei der Prüfung des Konsistoriums auf seine Eignung zum Amt des Geistlichen in herrlich - masurisch - deutschem Kauderwelsch in den Mund legt! Sie bedürfen keines Kommentars: Auf die Frage des Pfarrers Naujoks, eines verknöcherten, humorlosen Theologen, nach dem heiligen Abendmahl: "Schwierig, sehr schwierig, schwieriger wie Heilige Dreieinigkeit. Einen sagt so, einen sagt anders - Kalvin und Luther und den Papst ... viel zu wenig Zauber in Lutherkirche ... Menschlicher Lebben lebt von Zauber; wo keinen ist, ist keinen Lebben ... Geht nicht ohne Zauber. Pfarrer haben Zaubermantel an auf Kanzel, König haben Zauberstab in Hand -geht nicht ohne!" Von DrygaIskii , dem PogorzeIski wohlgesonnener Geheimer Oberkonsistorialrat, Vorsitzender der Prüfungkommission: "Preuße, alter Heide, Götzenanbeter!" PogorzeIski: "Binnen ich nicht, Herr Rat, binnen ich nicht. Preußen können hexen, klix, klax, brack. Können nicht zaubern. Zaubern sehr schwer, können nicht lernen, gibt lieber Gott und gibt nicht. Helfen keine voluntas, keine Willen, nur gratia, nur Gnade". DrygaIski: "Was Sie zaubern nennen, ist etwas ganz Natürliches." PogorzeIski: "Allen Zauber natürlich, allen Natur Zauber. Frühling Zauber, Sommer Zauber, alles Zauber. Müssen nur wissen. Heiliger Augustinus wußte." Naujoks: "Doktor Martin Luther hat all dieses Unwesen mit Feuer und Schwert verfolgt und vertilgt." PogorzeIski: "Luther auch alter Hexenmeister". DrygaIski: "Kein Zauberer?" PogorzeIski (nach einer Pause): "Zu dick!" Auf Naujoks Frage nach der Definition der Nächstenliebe: "Definieren? Aber Herr Rat. - Lassen sich Liebe definieren? Ist sich nicht Bestes an Liebe, daß bloß zu leben, nicht zu sagen? Ist sich Mensch glücklichster, wenn können lieben ... Ist Herr Christus gekommen, hat gesagt, liebe deinen Nächsten, ist sich schönstes Gebote, viel schöner als zehn Gebote, machen viel mehr Spaß, viel mehr Glück. Finden kleinen frierenden Katz - Herr Rat, helfen kleines Tier, geben Futter, geben Wärme, bis schnurrt wie kleinen dicken Brummstopf. Finden Kind, krankes, weint, - Herr Pfarrer gehen hin und helfen, bis wieder lacht, nicht weil befohlen, weil Freude macht. Gut sein zu wem nicht geht gut, beinah so schön wie Lieben, Herr Rat. Nicht ganz so, aber beinah. Ist sich so schön, weil sich ist bloß tun, nicht reden . ... Nächstenliebe nicht immer leicht. Ist nicht bloß geben und helfen, ist auch richtiges Tachtel an richtiges Fleck . ... Wer nicht hat der Liebe oder wenigstens der Nächstenliebe, bleiben sehr armes Hund, Herr Rat. Ist sich keine Definition von Nächstenliebe, ist sich aber vielleicht kleines Wirklichkeit von ihr". Darauf DrygaIski: "Herr Rat, ich glaube, die Predigt war der beste Befähigungsnachweis des Kandidaten." Naujoks: "Richtiges falsch gesagt." DrygaIski: "Ihnen ist nicht zu helfen. Meine Herren, Ihre Stimme?" Alle: "Bestanden, bestanden!" Michael PogorzeIski hat tatsächlich gelebt, geboren am 4.9.1737 in Lepacken, Kreis Lyck. Es gab viele Pogorzelskis in Masuren. Michael wuchs als Bauernjunge auf, hütete die Gänse und verrichtete auch schwere Landarbeit. Er wurde Schüler des Altstädtischen Gymnasiums in Königsberg, studierte Theologie an der dortigen Universität und erhielt die Stelle eines Rektors" in Kutten, jetzt Kuty, etwa 20 Kilometer von meinem Geburtsort Widminnen entfernt. Mit 43 Jahren ist er zum Pfarrer in Kallinowen (Dreimühlen), einem "Grenzdorf zum damaligen polnischen Großherzogtum Litauen", berufen worden. Er erkrankte schwer, nachdem er im Winter 1787/88 unter Lebensgefahr Menschen und Pferde vor dem sicheren Tode auf dem brüchigen Eis des Skomant-Sees gerettet hatte, und starb am 29. April 1798, "Beispiel und Vorbild bis in den Tod". "Michael PogorzeIski ist einer von vieltausend ostpreußischen Dorflehrern und Dorfpfarrern, die zumeist auch so dachten, lebten und zupackten, Originale, Zauberer in vielen Künsten", schreibt H. WaIsdorff in seiner Biographie des Pfarrers von Kallinowen ("Der Kreis Lyck, ein ostpreußisches Heimatbuch", Leer 1981). Nun bin ich doch wieder in meine Geburtsheimat Masuren zurückgekehrt! Gehörte vielleicht der Widminner Pfarrer Wiski, der mich getauft hat, auch zu jenen "PogorzeIskis"? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht mehr, was meine Mutter über ihren Besuch bei dem masurischen Försterssohn Fritz Skowronnek berichtet hat. Er ist im "Lexikon der Weltliteratur" als "Erzähler von Jagdgeschichten und Unterhaltungsromanen, auch Dramatiker, seit 1898 freier Schriftsteller in Berlin", etwas unzureichend deklariert. Dafür erinnere ich mich, daß sie einmal zusammen mit dem Widminner Ehepaar MichaIowski an einer Berliner Aufführung des kurz zuvor, 1914, entstandenen Trauerspiels "Armut" von Anton WiIdgans teilnahm. Als Gustav MichaIowski, ostpreußischer Flüchtling wie wir, vor Beginn des Stückes, neben ihm seine pelz- und perlengeschmückte Ehefrau Ida, den Titel im Programmheft las, rief er in breitestem Ostpreußisch aus: "Hab' ich nötig, zu sehen ausgerechnet Armut! Armut hab' ich genug zu Hause!" Mamchen drohte vor den erschrocken aufhorchenden Umsitzenden zu versinken! Harzreise mit Heinrich Heine Im Herbst 1916 durfte ich mit ihr eine Reise in den Harz erleben. Sie hatte die Heinesche "Harzreise" mitgenommen und las mir daraus vor. "Schwarz Röcke, seidene Strümpfe, weiße, höfliche Manschetten, Sanfte Reden, Embrassieren - Ach, wenn sie nur Herzen hätten ... !", so klingt es noch in meinem Ohr. Vieles an dieser unvergänglich gebliebenen, geist-, ironie- und witzsprühenden Prosa-Poesie-Dichtung Heinrich Heines habe ich als 10jähriger Junge natürlich noch nicht recht verstanden. Verwundert und amüsiert war ich über die ersten Sätze: "Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Kanzler, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier gut ist...". Heute, da ich dies niederschreibe, habe ich dien Harzreise" wieder gelesen - voller Entzücken! Meine Eindrücke von dem frühesten Landschaftserlebnis meines Lebens, dem Harz, wurden erneut lebendig und gegenwärtig: Goslar, Schierke, "Elend", die "Roßtrappe", der "Brocken" - wie erhoben und erhaben fühlte ich mich damals, als unter mir die Wolken dahinzogen! Am stärksten ergriff mich die Wanderung an der lieblichen "Ilse" entlang, dem Bächlein, das in unzähligen Wasserfällen und wunderlichen Windungen das Bergtal hinabrauscht." In der Sage erscheint sie als "lachende und blühende Prinzessin", und ich verfiel selbst ein wenig diesem Zauber, als meine Mutter mir ihr liebstes Gedicht aus der "Harzreise" vorlas: "Ich bin die Prinzessin Ilse und wohne in Ilsenstein; komm' mit nach meinem Schlosse, Wir wollen selig sein .... Dein Haupt will ich benetzen Mit meiner klaren Well, Du sollst deine Schmerzen vergessen, du sorgenkranker Gesell." Ein solcher war ich damals zwar nicht, aber ich habe es meiner Mutter zu verdanken, daß sie mir den Zugang zu Heinrich Heine erschlossen hat. Ihm fühlte ich mich innerlich verwandt in meiner knabenhaft verschwommenen, schwärmerisch-wehmütigen Sehnsucht nach dichterischer Verzauberung der Wirklichkeit und in ersten Ansätzen in meiner späteren Verachtung eng-bürgerlichen Spießertums. "Unendlich selig ist das Gefühl, wenn die Erscheinungswelt mit unserer Gemütswelt zusammenrinnt und grüne Bäume, Gedanken, Vogelgesang, Wehmut, Himmelsbläue, Erinnerung und Kräuterduft sich in süßen Arabesken verschlingen." Dies war die eine, die dichterisch verklärende Seite, die mich ebenso anzog, wie die andere, die entromantisierende, ironische: "im allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind. Der Viehstand ist der bedeutendste...", heißt es über die Stadt, die "einem am besten gefällt, wenn man sie mit dem Rücken ansieht". Herrlich frech auch der Schlußsatz der "Harzreise": "Es ist der erste Mai, der lumpigste Ladenschwengel hat heute das Recht, sentimental zu werden, und dem Dichter wolltest du es verwehren?" Als Geleit gab Heine der "Harzreise" - sie ist Fragment geblieben - die schönen Worte Ludwig Börnes mit, den er noch nach dessen Tode mit einer haßerfüllten Schmähschrift bedacht hat: "Nichts ist dauernd, als der Wechsel; nichts ist beständig , als der Tod. Jeder Schlag des Herzens schlägt uns eine Wunde, und das Leben wäre ein ewiges Verbluten, wenn nicht die Dichtkunst wäre. Sie gewährt uns, was uns die Natur versagt: eine goldene Zeit, die nicht rostet, einen Frühling, der nicht abblüht, wolkenloses Glück und ewige Jugend." Würden Börne und Heine Ähnliches auch von der heutigen Dichtung sagen können? Sollen wir Verlorenem nachtrauern, wenn wir lesen, daß Heines Herz "in der Frühe eines Tages schon so stark duftete, daß es ihm betäubend zu Kopfe steigt" und er "nicht mehr weiß, wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt?" Diesen Widerspruch zwischen "Ironie" und "Himmel" hat er in seinem letzten (dritten) Testament aufzuheben versucht in dem "Glauben an einen einzigen Gott, den ewigen Schöpfer der Welt, dessen Erbarmen ich anflehe für meine unsterbliche Seele." Leider hat Paul Fechter einer "Anbräunung" seines Urteils über Heinrich Heine nicht widerstanden. Er war zwar kein chauvinistischer "Heinefresser" - und ich bin kein romantischer" "Heineschwärmer" mehr -, aber er schreibt in seiner "Geschichte der deutschen Literatur", 1941 (!) bei Knaur erschienen, über den Dichter, "den ersten, für den Literatur Beruf im heutigen Sinne wird, der den Übergang zum Journalismus auf allen Gebieten vollzieht" : "Ein sehr geschicktes jüdisches Worttalent ohne Hemmungen bemächtigt sich schon in jungen Jahren der Formeln der Echtheit, benutzt sie, aber vermag nicht, neue aus sich zu schaffen." Woher nimmt Fechter sich das Recht, über Echtes und Unechtes in der Dichtung Heines zu urteilen, wenn nicht aus seinem Vorurteil über das Jüdische in ihm? Erst jetzt, da ich dieses niederschreibe, entdecke ich in Fechters "Deutscher Literaturgeschichte" einen Abschnitt über Adolf HitIers "großes Bekenntnisbuch" "Mein Kampf` ! (In einem schlimmen Geschwafel über die "große allgemeine Volksseele", von der dieses Buch redet, kommt er, ohne ein Wort über den Inhalt zu verlieren, zu dem allerdings richtigen, wenn auch von ihm so nicht erwarteten Schluß: "Hitler liest man, und das Eigentliche beginnt erst !" Obwohl - oder weil ! - die meisten Deutschen "Mein Kampf' nicht gelesen haben, hatte "das Eigentliche" schon längst begonnen, als Fechter diesen literarischen Hymnus auf den Diktator verfaßte! Schrecklich ist auch das, was er anschließend zu Alfred Rosenbergs "Mythos des 20. Jahrhunderts" sagt: Er habe Houston Stewart ChamberIains "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" aufgenommen und zu einer "neuen Weltgeschichte" vollendet! Das Germanische, das nordische Blut sei für Rosenberg das "entscheidende Element aller Geschichte", es stelle "jenes Mysterium dar, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat: es ist überall das Letzte als Träger von Willen, Charakter, Dynamik, die formenden Elemente aller politischen und geistigen Geschichte!" Zurück zu uns beiden Flüchtlingen: Da ich durch die Berliner "Kohlrüben-Winter" abgemagert und geschwächt war, suchte meine gute Mutter mir wenigstens mit Hilfe eines "Medico-mechanischen Institutes" zu muskulärer Kräftigung zu verhelfen. Durch sinnreich erdachte Apparaturen wurden Bewegungs- und Widerstandübungen mit Armen und Beinen ermöglicht, und ich glaubte deren erfolgreiche Wirkung durch häufiges Betasten meines Musculus biceps und dessen vermeintliche oder tatsächliche Volumenzunahme nicht ohne Stolz feststellen zu können. Ein anderes knabenhaftes Erlebnis, das meinem Selbstbewußtsein guttat, erfuhr ich durch einen Eisennagel, den ich für die Opferung einer Goldmünze - "Gold gab ich für Eisen!" - in die gigantische Holzstatue des "Eisernen Hindenburg" an der Siegessäule im Berliner Tiergarten, auf einen hohen Podest geklettert, einhämmern durfte!
Gymnasialzeit in Braunsberg
Am 1. Februar 1917 wurde mein Vater in den Zivilstand zurück- und als Kreisarzt nach Braunsberg versetzt. Die Geschichte dieser "Hauptstadt des Ermlandes" ist interessant als wichtiger Teil der Geschichte der Kolonisation Ostpreußens, der Reformation und Gegenreformation, der preußisch-polnischen Beziehungen wie der politischen, Kultur- und Bildungsgeschichte des Ostens. Ich will sie daher in Daten und Stichworten zu skizzieren versuchen: 1240 oder 1241 erste Deutschordensburg "Brunsberg" an der Passarge, einem in das Frische Haff mündenden Flüßchen, an dessen Ufer ein preußischer (altpreußischer) Ort "Brusebergue" bestanden hatte. 1242: Ordensburg durch Preußenaufstand zerstört. 1243: Päpstlicher Legat Wilhelm von Modena teilt Deutschordensland in vier Diözesen. Eine von ihnen ist das Ermland. 1250: Neben einer neuen Ordensburg werden Deutsche angesiedelt. 1260: Burg und Siedlung bei neuem Preußenaufstand vernichtet. 1274: Neue Stadtgründung. 1. April 1284: Eigentlicher Gründungstag (Handfeste nach Lübischem Recht durch Bischof Heinrich den Ersten Fleming erteilt) 1358: Braunsberg Hansestadt! 1410: Polen erbeuten in der für sie siegreichen Schlacht bei Tannenberg das Braunsberger Stadtbanner und hängen es in der Schloßkirche in Krakau auf. 1454 - 1466: Städtekrieg zwischen dem Deutschen Ritterorden und dem von Polen unterstützten "Preußischen Bund", dem Braunsberg angehörte. Schreckensregiment des tschechischen Söldnerführers John SchaIski über die Stadt. 1466: Der Deutsche Orden muß im 2. Thorner Frieden Westpreußen an Polen abtreten. Ermland mit Braunsberg unterwirft sich der polnischen Krone. 1520: Im "Reiterkrieg" zwischen dem Deutschen Orden und Polen wird Braunsberg vom Hochmeister Albrecht von Brandenburg besetzt, der es 1525, nach dem Krakauer Frieden, wieder räumt. 1523: Die Reformation beginnt in Braunsberg Fuß zu fassen. Sie wird zwar vom Bischof Mauritius Ferber, unterstützt durch König Sigismund von Polen, mit drakonischen Maßnahmen eingedämmt, ergreift aber weitere Kreise, vor allem in der gehobenen Schicht. 1551: Ein von deutschen Eltern gebürtiger, später zum Kardinal ernannter Geistlicher aus Krakau wird Bischof von Ermland und erfolgreichster Vorkämpfer der Gegenreformation im Osten: Stanislaus Hosius. Die von Hosius gerufenen Jesuiten gründen im leerstehenden Franziskaner-Kloster ein Gymnasium mit fünf Klassen und zusätzlicher Ausbildung in den theologischen und philosophischen Disziplinen. 1567: Gründung eines Priesterseminars zur praktischen Ausbildung der Alumnen. 1579: Gründung eines päpstlichen Seminars in Braunsberg zur Ausbildung von Missionaren mit dem Ziel der Wiedergewinnung der nordischen Länder für den katholischen Glauben. 1583: Die Regeln der von der Braunsberger Bürgertochter Regina Prothmann gegründeten, nach der Patronin der Pfarrkirche benannten Kongregation, den Katharinerinnen, werden von Bischof Kremer bestätigt. (Meine Mutter ist von einer Nonne des Katharinenklosters - sie wurden "Kathaschinchen" (mit weichem "sch"! genannt) - der guten Schwester Gonsalva, in rührend-liebevoller Weise bis zu ihrem Tode gepflegt worden!) 1624: Eine Pest-Epidemie fordert zahlreiche Opfer. 1626: König Gustav Adolf von Schweden zieht in Braunsberg ein. Für die katholische Stadt folgen neun Jahre schwerster Heimsuchungen. 1635: Braunsberg wird seinem bischöflichen Landesherrn zurückgegeben. 1637 – 1657: In der Altstadt von Braunsberg werden Frauen und ein Mann als angebliche Hexen verbrannt, in der Neustadt 23 Personen als Hexen hingerichtet. 1655 - 1663: Im 2. Schwedisch-Polnischen Krieg erneut schwere Schäden. Verlegung der theologischen Fakultät nach Wilna. 1656: Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der große Kurfürst, erhält vom Schwedenkönig das Ermland als Lehen, räumt es aber nach einem Jahr wieder. 1703: Im Nordischen Krieg besetzt König Karl der Zwölfte von Schweden Braunsberg. Kurz zuvor war Zar Peter der Große hier Gast des Jesuitenkollegs gewesen. Hunger, Pest und Kalte wüten in der Stadt 1743 – 1771. Die Jesuiten erbauen das Gymnasium (aus dieser Zeit stammt der Bau des "Gymnasium Regium Varmiense Brunsbergae", der auf einem Stich über meinem Schreibschrank aus dem Jahre 1830 abgebildet ist!). 1772: Erste Teilung Polens. Braunsberg wird mit dem übrigen Ermland dem preußischen Staate einverleibt! 1773: Papst Clemens XIV hebt den Jesuitenorden unter dem Druck katholischer Mächte auf! Friedrich der Große beläßt aber den Jesuiten auch weiterhin die von ihnen geführten Anstalten! Doch es fehlt ihnen an Nachwuchs. 1811: Das Bildungswesen der ermländischen Hauptstadt wird unter der Ägide des Bischofs Joseph von Hohenzollern neu aufgebaut. Das im Geiste Wilhelm von Humboldts reorganisierte humanistische Königliche Gymnasium wird am 29. Dezember feierlich eröffnet. Kurator ist der "Königliche Kommerzienrat" Johannes Östreich, der sich um die Gründung des Gymnasiums hoch verdient gemacht hat. Zu seiner Zeit erlebte die Stadt eine wirtschaftliche Blüte, von der die schönen Speicher am Passargefluß zeugen. Erster Direktor des Gymnasiums: Der Münsteraner Heinrich Schmülling. Die bildungsgeschichtlichen Beziehungen zwischen Braunsberg und Münster, im besonderen der gemeinsame katholische Glaube und nicht zuletzt auch die Wesensverwandtschaft zwischen ostpreußischen und westfälischen Menschen, führten im Jahre 1954 zur Patenschaft Münster-Braunsberg. Das "Paulinum" in Münster wurde die Patenschule unseres Gymnasium Hosianum. 1812: Napoleon kommt durch Braunsberg. Er will die große Glocke der Pfarrkirche St. Katharina nach Paris schaffen. Sie hängt heute im Glockenturm der ehemaligen Benediktiner-Abtei Kornelimünster bei Aachen. 1813: Die Schüler der Oberstufe des Gymnasiums werden mit einer "flammenden Rede" des Oberlehrers Gerlach in den Befreiungskrieg entlassen. 1821: Das "Königliche Lyceum Hosianum" wird als eine mit ihrer theologischen und philosophischen Fakultät den Universitäten gleichgestellte Hochschule eröffnet und dient vor allem der Ausbildung des ermländischen Priesternachwuchses, seit 1912 "königlich", seit 1918 "Staatliche Akademie". Das Attribut "Hosianum" wird nach dem ersten Weltkrieg vom Gymnasium übernommen. 1837: Eröffnung der nach den Plänen der Schinkelschen Schule erbauten Evangelischen Kirche. 1842: Eröffnung des Bischöflichen Konvikts. 1848: Bürgerwehr schlägt revolutionäre Erhebungen nieder. 1852: Eröffnung der Teilstrecke Marienburg-Braunsberg als ältester Eisenbahnlinie Ostpreußens in Anwesenheit des Königs Friedrich Wilhelm IV - damit Ende der Braunsberger Handelsschiffahrt! 1854: Einweihung der Synagoge, die 1939 in der sogenannter "Kristallnacht" niedergebrannt wurde. 1871: Einstellung der Unterrichtstätigkeit der Katharinenschwestern an der Katholischen Mädchenschule auf Grund der Kulturkampfgesetze. Ende des Kulturkampfes durch Papst Leo III und das Einlenken Bismarcks! 1879: Braunsberg wird Sitz eines Amts- und Landgerichtes, 1890 - 91 eines Landgestütes. 1887: Errichtung einer Landwirtschaftsschule als einer der ersten in Ostpreußen. 1914: Bei Kriegsausbruch werden 100 der 347 Gymnasiasten "zu den Fahnen gerufen". Bis Kriegsende sind 400 Braunsberger Bürger gefallen. 1922: Vereinigung der Braunsberger Höheren Mädchenschulen zur "Elisabethschule" (unter ihrer bedeutenden, von uns Gymnasiasten wegen ihrer strengen Observanz über die Schülerinnen ungern respektierten, Leiterin Elisabett Schroeter). 1922: Das Lehrerseminar wird durch die zum Abitur führende "Aufbauschule" ("Schloßschule") abgelöst. 1933: Die städtische Selbstverwaltung wird durch eine Verwaltung nach dem "Führerprinzip" ersetzt! Ortsgruppen-, Kreisleiter und andere Parteiinstanzen treten als maßgebliche Faktoren neben die alten Behörden. 1935: Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wird Braunsberg wieder Garnisonsstadt. 1937: Das Gymnasium Hosianum wird in eine "Deutsche Oberschule" mit dem Namen "Hermann-von-Salza-Schule" umgewandelt. Februar - März 1945: Bei den Kämpfen um Ostpreußen wird Braunsberg (mit der herrlichen Pfarrkirche St Katharina, einem der schönsten backsteingotischen Kirchenbauten des Ostens, und dem Rathaus mit figurengeschmückten Barockgiebel) weitgehend zerstört, von der Sowjet-Armee erobert und im Oktober mit dem südlichen Ostpreußen einschließlich des Ermlandes den Polen überlassen. Braunsberg heißt jetzt Branjewo.
Die Geschichte des Braunsberger humanistischen Gymnasiums, in dessen Quinta ich 1917 vom Helmholtz-Realgymnasium in Schöneberg überwechselte - mein vierter Schulwechsel -, ist eng verbunden mit der Geschichte der Beziehungen zwischen dem katholischen, noch unter der polnischen Krone stehenden Fürstbistum Ermland und dem evangelischen Herzogtum und späteren Königtum Preußen. Auf der einen Seite hatten die Jesuiten in Königsberg und Tilsit Niederlassungen gegründet, auf der anderen kehrten die preußischen Herrscher, Regenten und Adligen auf dem Wege von Königsberg und Berlin wiederholt im gastlichen Jesuitenkolleg Braunsbergs ein. Auch sonst gab es damals ständige Berührungen mit dem geistigen Leben der Zeit, z B. dadurch, daß die Braunsberger Jesuiten im 17. Jahrhundert mit den Dichterkreisen um Martin 0pitz und Simon Dach in Verbindung standen und "Wettgedichte" verfassten. Der Geist des abendländischen christlichen Erbes war noch lebendig geblieben, und es hatte sich schon das entwickelt, was wir heute wieder mühsam suchen und anstreben: Eine deutsch-polnische Schicksalsgemeinschaft. Dies hat die Diözesan-Archivarin Frau Dr. phil. Anneliese Triller, Tochter des früheren Ordinarius für Ophtalmologie in Königsberg, Prof. Birch-Hirschfeld (von dem ich 1930 im Staatsexamen geprüft wurde), in ihrem Beitrag "Das Jesuitenkolleg in Braunsberg 1565-1772" im Jahre 1965 geschrieben. Ich kam also in eine Schule mit bedeutender humanistischer Tradition, in der "christlicher Geist und neuhumanistische Ideale in glücklicher Vereinigung der ermländischen studierenden Jugend die Grundlagen für eine spätere akademische Ausbildung vermittelten", wie ein anderer Chronist unseres Gymnasiums, Bernhard-Maria Rosenberg, feststellen konnte. Obwohl ich kein gebürtiger Ermländer und nicht katholisch war, habe ich mich in Braunsberg nicht als "Zugewanderter" oder konfessioneller Außenseiter gefühlt. Es herrschte vielmehr ein Geist gegenseitiger Toleranz, der auch meinem Vater als dem - nach meiner Erinnerung - einzigen höheren Beamten evangelischen Glaubens in Braunsberg, vielleicht sogar im Ermland, die Umstellung erleichterte. Allerdings war auch er selbst frei von Vorurteilen und wußte durch seine verbindliche und humorvolle Art die Zuneigung und Wertschätzung der Menschen in Stadt und Kreis Braunsberg zu gewinnen. Meine Mutter neigte mehr und mehr, namentlich auf ihrem jahrelangen Krankenlager, im Innersten berührt von der tiefen Frömmigkeit ihrer Freundin Hedwig Jagdt, zum katholischen Glauben. Sie würde sich sogar zur Konversion entschlossen haben, wenn sie nicht Rücksicht auf die "freigeistige" Haltung meines Vaters genommen hätte, die ihm mit einer konfessionellen Bindung nur schwer vereinbar erschien. Auch seine Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge mag dabei mitgesprochen haben. Die Herzens- und Geistesfreundschaft, die meine Mutter mit der weit jüngeren, menschlich vorbildlichen Oberschullehrerin, einer begnadeten Pianistin, Musikpädagogin und Chorleiterin, verband, hat in und nach dem zweiten Weltkriege als enge freundschaftliche Verbundenheit zwischen unserem "Hedchen" und Antonia und mir weitergelebt und unser Leben bereichert. In einem Nachruf, der in den "Braunsberger Schulheften" veröffentlicht wurde - sie starb 1968 mit 72 Jahren in Andernach am Rhein - habe ich versucht, ihr Wesen und Wirken, ihr an Erfolgen und Anerkennung, aber auch an Opfern und Verzichten reiches Leben nachzuzeichnen. Ihr verdanke ich es, dass sie mir bei allem Verständnis für meine überkonfessionelle Haltung als "Weltkind in der Mitten" zu einer Annäherung an das katholische Glaubensdenken verholfen hat, die durch den "Genius loci Brunsbergensis" vorgeprägt war. Es schmerzte sie immer ein wenig, wenn ich versuchte, die kritische Sonde der Kantischen Ratio an das dogmatische Gefüge christliche-mythologischer Überlieferungen zu legen und mich eine Zeitlang für "linke", "humanistische" Richtungen zu interessieren. Aber sie glaubte mir nicht recht, daß ich mich zum intellektuellen advocatus diaboli eigne, und sie wußte, daß mir das Mythische nicht weniger bedeutet als das Logische. Sie kannte die "naive", in der Kindheit und mütterlichen Frömmigkeit verwurzelte Seite meines Wesens. Sonst hätte sie mir nicht die "Gebete großer Seelen" aus dem "Ars sacra"-Verlag mit ihrem Namenszug geschenkt, die heute noch auf meinem Nachttisch liegen. Sie hat mir den Zugang zu Thomas von Aquin eröffnet, dessen "Studiengebet" sie mir aufschrieb, und die innere Begegnung mit dem großen Beter Kardinal John Henry Newman mit Gertrud von le Fort, mit Theodor Haecker, Reinhold Schneider, Josef Pieper vermittelt. Nach einem schweren Bombenangriff auf Leipzig im Dezember 1943 schickte sie uns Werner Bergengruens Gedicht "Himmlische Rechenkunst", das mich durch Zeiten der Not und Gefahr, im Rußlandkriege, in der Sorge und Entbehrung der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre, in der Emigration aus der DDR, im schweren Neuanfang getreulich begleitet hat: "Was dem Herzen sich verwehrte, laß es schwinden, unbewegt, allenthalben das Entbehrte wird dir mystisch zugelegt. Liebt doch Gott die leeren Hände, und der Mangel wird Gewinn, immerdar enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn!" und "Jeder Schmerz entläßt dich reicher Preise die geweihte Not! Und aus nie geleertem Speicher nährt dich das geheime Brot." Hedwig Jagdt hat den geheimen Segen der - nicht aller! - Not an sich selbst erfahren, als sie im Februar 1945 ihre todkranke Mutter im sterbenden Braunsberg zurücklassen mußte und wie durch ein Wunder auf der Flucht über das Eis des Haffs errettet wurde: Ein Hund hatte sich – zufällig? - des Nachts auf sie gelegt und sie mit seinem dichten Fell vor dem Erfrieren bewahrt. Zu ihrem Geburtstag am 22. Oktober 1962 konnte ich ihr für Antonia und mich schreiben: "Ohne Dich wäre unser Leben um etwas Unersetzbares ärmer!"
Erste Bildungsquellen und politische Eindrücke
Das erste Tagebuch meines Lebens beginnt mit einer Eintragung vom 24. Juni 1920: "Heute mein vierzehnter Geburtstag, ich bekam viel geschenkt, vor allem `Theoderich´, `Unter den Fahnen Friedrichs des Großen´, `Der Ritter vom schlafenden Leoparden´, `Spitzwegs bürgerlicher Humor´, `Aus der Kinderstube der Tiere´, `Erdalter und Tierwelten´, `Die Zelle´, `Erinnerungen eines alten Mannes´(Kügelgen), außerdem ein Kästchen mit `Ex libris´ für meine Bücher, ein Notenheft: Mendelssohn, Lieder ohne Worte, Federhalter, Bleistifte, Federn, Radiergummi etc., zwei Quartettspiele und zu guter Letzt auch noch dieses Tagebuch." Mit der Aufzählung dieser Geschenke sind meine wesentlichen Interessen und Neigungen schon frühzeitig umrissen. Lesen, Schreiben, Musik. Die Freude am Schreiben bekundete sich dann gleich in der Eintragung zwei Tage später: "Heute bekamen wir unseren Klassenaufsatz zurück, ich habe ihn `sehr gut´, der beste Aufsatz, worüber ich mich natürlich mächtig freute". "Nicht so mächtig gefreut" habe ich mich in den oberen Klassen des Gymnasiums über die Zensuren in Mathematik, die sich zwischen "mangelhaft, teils besser", und "ungenügend" bewegten. Am Helmholtz-Realgymnasium Berlin-Schöneberg war "Rechnen (Algebra, Geometrie)", wie auch auf der Quarta und Quinta des Braunsberger Gymnasiums noch mit "gut" bewertet worden. Meiner Eltern und meine Freude über die sonst guten, in Deutsch meist sehr guten Noten wurde leicht gedämpft dadurch, daß ich seit der Obersekunda im "Betragen" von "Sehr gut" auf "Gut" absank und mir auf der Obertertia die Bemerkung einhandelte: "Er mußte wegen seiner unruhigen Haltung und seines vorlauten Wesens getadelt werden"!: Lümmeljahr! Vorpubertät!
Das Tagebuch berichtet weiter von meinen neuen Freunden Heinz Riege und Ottomar Janzen, Gutsbesitzersöhnen aus Auhof und Rosenort bei Braunsberg, und Otto Gramsch, Sohn des früheren Regierungspräsidenten von Königsberg, und Franz HiIdebrandt, genannt "Brutscher" = "Brüderchen", Jüngster einer großen Kinderschar des Braunsberger Pfarrhauses. Heinz Riege wurde Hals- Nasen- und Ohrenarzt und aktiver Sanitätsoffizier der Wehrmacht, Otto Gramsch war der Urenkel des Generals Albrecht von Stosch, der als Begründer der prußisch-deutschen Kriegsflotte und einer der Gegner Bismarcks eine wichtige politische Rolle spielte, wie der historisch interessante Briefwechsel mit seinem Freund, dem badischen Staatsmann Freiherr von Roggenbach, bekundet. Otto Gramsch, juristisch, diplomatisch und wirtschaftspolitisch hochbegabt, war im Dritten Reich als rechte Hand des Reichspräsidenten Schacht (seines "Stehkragen-Chefs") und während des Zweiten Weltkrieges als Beauftragter des "Hermann-Göring-Planes" in der rumänischen Erdöl-Industrie tätig. Franz HiIdebrandt hat sich nach dem Kriege als Kirchenpräsident in der DDR große Verdienste um die Abwehr des Kampfes der kommunistischen Regierung gegen die evangelische Kirche erworben. Ottomar Janzen ist im späteren Leben gescheitert. In der Ziegelei des Gutes RodeIshöfen, die Vater Gramsch - er hatte den ihm von Kaiser Wilhelm II. für seine Verdienste um den Aufbau der Provinz Posen-Thorn angebotenen Adelstitel aus Bürgerstolz abgelehnt! - von seiner Schwiegermutter Frau von Stosch übernommen hatte, brannten wir Jungens allerlei von uns aus Ton geformte Figuren, darunter eine Art von Venus von Milo, die aber eher der steinzeitlichen "Venus von Millendorf" glich, und gedachten sie in einem kleinen "Museum" (Eintritt eine Mark!) auszustellen. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Von der alten, ehrwürdigen Frau von Stosch Ottos Großmutter, die mich und die ich sehr gerne mochte - sie nannte mich mit meinem Kosenamen "Mofchen" - wurde folgende wahre Geschichte erzählt: Sie hatte sich einmal entkleidet, um in der an Rodelshöfen vorbeifließenden Passarge zu baden, wurde dabei von dem Gärtner des Gutes gesehen und reagierte erschrocken mit einem lauten "Huh!". Der Gärtner beruhigte sie mit den Worten: "Frau Barone war mi oock nuscht Nijet mehr wiese" ("Frau Baronin werden mir auch nichts Neues mehr zeigen'"). Zu meinen zaghaften Versuchen bildnerischer Betätigung gehörten Bleistift- und Federzeichnungen, später auch Aquarelle, meist Landschafts- und Städtebilder. "Das Bildchen ist ganz nett geworden", lautete ein Eintrag in meinem Tagebuch zum Geburtstag meines Vaters 1920, dem ich eine kleine Zeichnung schenkte. Anleitungen dazu hatte ich unserem vorzüglichen Zeichenlehrer Herrn Heider zu verdanken, der später, bei der Aufführung der Antigone des Sophokles durch uns Schüler eine geradezu geniale Inszenierung mit den einfachsten Mitteln zustande brachte. Mein Sinn für Malerei wurde auch durch die Braunsberger Volkshochschule angeregt. Ich erinnere mich an den Vortrag eines Berliner Kunsthistorikers Dr. Köppen mit einer Einführung in die Kunstgeschichte, in die ich mich mit Hilfe eines "Seinem lieben HansWerner vom alten Onkel Wollermann" zur Einsegnung geschenkten kunstgeschichtlichen Werkes vertiefte. (Der Geheime Medizinalrat Dr. Karl Wollermann war als früherer "Kreisphysikus" und Chefarzt des Johanniter-Krankenhauses in Heiligenbeil, der Nachbarkreisstadt Braunsbergs, ein verehrter und geliebter Freund meiner Eltern). So sehr ich den Impressionismus, namentlich auch den französischen, liebte, so "greulich" fand ich die "überkandidelten" Formen des Expressionismus, die mir als "Mißgeburt der Malerei" erschienen. Mein Verständnis für ihn erwachte erst viel später.
Der Übergang vom Kaiserreich zur Republik 1918 habe ich nur soweit erlebt, als ein Mitglied des "Arbeiter- und Soldatenrates" der Stadt meinem Vater Rache für ein seiner Meinung nach ungerechtes Gutachten angedroht hatte. Als ich das erfuhr, lief Ich ein paar Tage lang mit einem halb aufgeklappten Taschenmesser in der Hosentasche herum, um mein "Papchen" notfalls zu verteidigen. Mit den damaligen "Revolutionären" hatte ich nichts im Sinn. Ich empfand mehr Ekel als Schrecken vor dem primitiven Klassenhaß, der damals in dem Ruf "Licht aus, Messer raus, Bürgerblut muß fließen!" Ausdruck fand. Ich fühlte und dachte durchaus patriotisch-bürgerlich und war empört über die Schmach, die uns Deutschen durch den Vertrag von Versailles angetan worden war. Unter dem 2. September 1920 trug ich in mein Tagebuch ein: "So weit ist es schon gekommen, daß von der Interallierten Kommission verboten wurde, den Sieg bei Tannenberg am 2. September zu feiern, weil damit der Anschein einer Sedan-Feier erweckt worden wäre!" Auf der anderen Seite war ich zutiefst empört über die Ermordung des Reichsministers des Äußeren Dr. Walther Rathenau am 24. Juni 1922, meinem 16. Geburtstage: "Eine verabscheuungswürdige Tat", heißt es in meinem Tagebuch, "die allenfalls nur durch die jugendliche Unüberlegtheit der Täter entschuldbar ist"…"Die Mörder sind sich der Tragweite des Verbrechens sicher gar nicht bewußt geworden. Sie wollten eine linksgerichtete Empörung über den Mord, damit eine rechtsseitige Opposition und daraus folgend eine staatliche Umwälzung erreichen...Der Plan hat aber das Gegenteil bewirkt: Die Regierung erläßt die Ausnahmegesetze zum Schutze der Republik, die nun fester denn je dasteht[", so schrieb ich damals. Meine frühe Verehrung für Rathenau hat mich auch später nicht verlassen. Ich war und bleibe bis heute gefesselt von seiner spannungsreichen Persönlichkeit, seinem faszinierenden Geist, seiner reinen Gesinnung. Die Empörung über den Mord war übrigens keineswegs allgemein verbreitet. Der frühere Kaiser Wilhelm II hat gesagt: "Geschieht ihm recht!" Die moralisch eigentlich Schuldigen, unter ihnen die ultrakonservativen Ludendorff und HeIfferich, werden frohlockt haben. "Ein sehr beträchtlicher Teil der Nation war gar nicht empört, zuckte die Achseln, schmunzelte heimlich, jubelte laut", schreibt Golo Mann in seiner "Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts". Es gab Damen der Großbourgeosie, gute Christinnen, muß man annehmen, welche die Nachricht von Rathenaus Ermordung sehr lustig stimmte. War der Mann nicht Demokrat? "Erfüllungspolitiker"? Jude obendrein? Daß er nebenbei der heißeste Patriot war und einer der ganz wenigen geistig schöpferischen Staatsmänner dieser Epoche, daß seine große Planleistung die deutsche Industrie 1914 erst kriegsfähig gemacht hatte - es ging unter in der entmenschten Hetze gegen ihn, fand nicht Eingang in die verrohten, vergifteten Seelen" (Golo Mann). "Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!" war der Kehrreim eines Liedes, das die Mannschaften des "Oberschlesischen Selbstschutzes" sangen! Ernst von SaIomon, der wegen Beihilfe zu dem Mord - er hatte einen Chauffeur für das Mordauto besorgt - zu fünf Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt wurde, hat sich in seinem 1951 erschienenen "Fragebogen" zu seiner Mitschuld an dem "hundeelenden, gemeinen, hinterlistigen Mord" bekannt und ihn als "Pubertätserscheinung" eines Neunzehnjährigen zu erklären versucht, für die das Gefühl, sich für eine große Sache zu opfern, wie Karl Moor "die Erde an den Mond zu sprengen", viel wichtiger war als das Resultat.
Obwohl damals selbst in der Pubertät, war ich vor Gefühlen solcher Art bewahrt geblieben. Anlaß zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus-Problem gab ein Vorfall im Januar 1924, der die Bürger Braunsbergs höchst erregte und in zwei Lager spaltete: Zwei junge jüdische Männer, ein Jurastudent und ein Kaufmannssohn, wurden in der Silvesternacht mit dem Ruf "Judenpack raus!", "Nach Palästina mit Euch!" beschimpft, angerempelt und mit einem Silvester-Scherzdolch aus Holz bedroht. Der Student, Mitglied der jüdischen Akademikerschaft "Makkabäa", gibt nach einem Schreckschuß mit seinem Revolver vier gezielte Schüsse ab und töten einen der Provokateure. Gegen die Entscheidung des Staatsanwaltes, den Täter wegen "Putativnotwehr" und mangelndem Fluchtverdachts nicht zu verhaften, protestierte ein größerer Teil der Bürger. Man beruhigt sich erst wieder, als der Unglücksschütze in Untersuchungshaft genommen wurde. Leider ist mir der Ausgang des Strafprozesses nicht in Erinnerung geblieben.
Meine jugendlich-patriotische Gesinnung wurde tief verletzt von der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen Anfang März 1921. Ich begeisterte mich für den erfolgreichen Verteidigungskampf Gneisenaus um die Festung Kolberg 1807, mit dem er der Napoleonischen Armee den Nimbus der Unbesiegbarkeit genommen hatte. Wie bei dem Politiker Rathenau bewunderte ich bei dem Soldaten Gneisenau die geistige Haltung, die literarische Belesenheit, den musischen Sinn. Aber erst später erfuhr ich, daß Gneisenau nicht nur als junger Leutnant Verse auf Lessings Tod verfaßt, Theaterstücke geschrieben und gespielt, sondern auch seinen Kant gelesen hatte. Aus der belagerten Festung Kolberg schrieb er: "Was können wir glauben, was sollen wir hoffen, was müssen wir tun? Diese drei Kantischen Fragen lassen sich füglich auf uns anwenden." (Die vierte Frage Kants: Was ist der Mensch'" stand offenbar nicht zur Diskussion). Unser Deutschlehrer, Dr. Candidus Barzel, Vater des späteren CDU-Politikers, erteilte mir den Auftrag, einen Vortrag über die Stadt und Festung Kotberg zu halten und zur Einführung eine Skizze der Stadt an die Wandtafel zu zeichnen. Dieser erste Vortrag meines Lebens - mit 14 Jahren – "klappte gut", wie ich meinem Tagebuch anvertraute mit dem Zusatz: "…Einer (der Mitschüler) sagte sogar, Barzel selbst hätte es nicht so gut gemacht. Wollte mir wohl etwas schmeicheln!"
Bei allem pubertär glühenden Nationalgefühl konnte ich es nicht unterlassen, am 1. Mai 1923 aus reiner Neugier eine kommunistische Maifeier in der Königsberger Stadthalle gemeinsam mit meinem Freunde Otto Gramsch zu besuchen. Mit einer roten Blume im Knopfloch geschmückt, erlebten wir die Deklamation eines von einem sechsjährigen Knirps vorgetragenen Gedichtes mit dem Aufruf zur Weltrevolution, sodann musikalische Darbietungen des "Freien Arbeitergesangvereins" und ein "Festspiel in acht Bildern" mit dem Titel "Proletarier erwache!" Diesem martialischen Spektakel ging voraus die flammende Ansprache eines Genossen mit Aufforderungen zum "Niederhauen des Kapitals" und zur Verbrüderung mit der Sowjetunion. Das Feststück, so verkündete er, sei kein Werk bürgerlicher, sondern proletarischer Kunst. Denn jene könne wie die bürgerliche Wissenschaft vom Proletariat nicht anerkannt werden! Bild Eins: Im verdunkelten Saal werfen Scheinwerfer blaues Licht auf einen gelben Pfahl - "Das Kapital" -, an den eine Gestalt - "Der Prolet" - geschmiedet ist. Er wehrt sich in schauerlichen Krümmungen gegen die Versuche des "Demagogen", der "Presse", des "Staates" ihn zu befreien, bis eine Dirne in rotem Kleid - "Die Revolution" - mit ihm den Ehebund vereinbart. Dieser soll der glücklichste der Welt sein und ein Kind hervorbringen, das "Freiheit" heißen wird! Die weiteren sieben Bilder blieben uns erspart, da wir es vorzogen, anschließend eine meisterhafte Aufführung der Goetheschen "Iphigenie auf Tauris" im Schauspielhaus mit der gefeierten Maria Fein in der Titelrolle zu erleben - beglückende Erholung von den grausigen Darbietungen "proletarischer Kunst".
Die Begegnung mit der kommunistischen Massenveranstaltung erweckte in mir einen tiefen Abscheu von einer - nicht nur kommunistischen! - Ideologie, die den Anspruch erhebt, der Menschheit einen Glauben an alleingültige Wahrheiten als neue Heilslehre aufzuzwingen. Von bürgerlich-freiheitlich-preußischer Tradition geprägt, wehrte ich mich, wie es in einem Tagebucheintrag heißt, dagegen, daß "eine Herde von Menschen hinter gewissenlosen Führern her rennt", die "die heiligen Güter bekämpfen": Das Recht auf persönliches Eigentum, auf die eigene Scholle, auf die Liebe zum Vaterland, auf religiöse Freiheit! Ich konnte nicht ahnen, daß zehn Jahre später eine "Herde von Menschen hinter gewissenlosen Führern her rennen" würde, die den gleichen Absolutheitsanspruch im Namen der "heiligsten Güter" vertreten sollten. Sehr früh wurde in mir allerdings der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit wach, ohne daß er schon klar umrissene Formen angenommen hätte. Die Bekanntschaft mit einem vielseitig begabten, aber sozial gescheiterten Apotheker festigte den idealistischen Vorsatz des Sechzehnjährigen, sich "mit Tatkraft und Fleiß in den schönen, großen Dienst der Menschheit zu stellen." Von einer nationalsozialistischen Partei und ihrem Vorsitzenden Adolf Hitler erfuhr ich zum erstenmal im Jahre 1923 oder 24 von einem aus Württemberg stammenden Studienrat unseres Gymnasiums, der vor allem dessen mitreißende Redekunst zu preisen wußte. Das interessierte mich zwar, aber ich hielt mich fern von den "Niederungen der Politik". Um so mehr begeisterte mich alles, was zur Welt der Literatur, des Theaters und der bildenden Kunst gehört.
Um mit dem Theater fortzufahren: Nachdem ich mich bei Liebhaberaufführungen in einigen Rollen auf der Bühne des Katholischen und Evangelischen Vereinshauses in Braunsberg präsentiert hatte (als Lüttowscher Offizier, jugendlicher Liebhaber, als Kutscher und litauischer Fischer mit Südwester, Teerhosen, stinkender Seemannsjacke, breites Litauisch-Ostpreußisch sprechend) ereilte mich durch ein "Macht"-Wort unseres ansonsten milden Gymnasialdirektors Dr. Jüttner der Auftrag, in einer Schüleraufführung der "Antigone" des Sophokles die Rolle der Titelheldin zu übernehmen. Alle Darsteller außer mir waren Oberprimaner, unter ihnen Heinz Riege als Antigones Schwester Ismene, Otto Gramsch als Chorsprecher, Hans Preuschoff, mein späterer Geistes- und Herzensfreund, als Kreon, Antigones Onkel. der dem Regisseur, unserem Zeichenlehrer Heider, zunächst "nicht dämonisch genug" erschienen war. Ich mußte als Unterprimaner "ausgeborgt" werden, da unter den Älteren niemand als so recht geeignet für diese delikate Rolle befunden wurde. Wenn ich an die großartige Darstellung der "Iphigenie" Maria Feins dachte, war mir beklommen zumute. Welche Herausforderung, welches Wagnis für mich! Aber gerade deshalb vertiefte ich mich in die Gestalt der "Antigone", bewunderte ihre heldenhafte Haltung gegenüber dem "Tyrannen" Kreon und dem Sinn ihrer Sendung, mit dem ich mich zu identifizieren wußte: Es war "das Widerspiel zwischen dem Göttlichen und dem Politischen", wie Karl Reinhardt in einem 1956 gehaltenen Vortrag unser heutiges Verhältnis zur "Antigone" des Sophokles zu verstehen suchte. Namentlich das berühmte "Nicht mitzuhassen - mitzulieben bin ich da!" hatte es mir angetan. "Nirgends ruhet des Glückes Bau fester denn auf der Weisheit Grund. Darum vermesse kein Mensch sich je, zu sündigen wider die Gottheit. Des Übermütigen großes Wort büßet am Ende mit tiefem Fall. Da naht, wenn Alter ihn niederbeugt, auch ihm die Stunde der Weisheit." Diese Schlußworte des Chorführers stehen mir heute, da "Alter mich niederbeugt", näher als sie dem Unterprimaner gestanden haben. Die Aufführung der Tragödie wurde das, was man einen "vollen Erfolg" nennt, nicht zuletzt dank des geradezu genialen Einfallsreichtums unseres Amateur-Regisseurs Heider, der mit einfachsten Mitteln erstaunliche szenische Wirkungen erzielte. "Ganz Braunsberg war anwesend….Brausender Beifall des offensichtlich ergriffenen Hauses (des Katholischen Vereinshauses) war unser Lohn...", schrieb Hans Preuschoff.. 1977 im Mitteilungsblatt der Braunsberger Schulen. In einer Rezension der "Ermländischen Zeitung" vom 2. November 1923 hieß es: "...besonders die Frauengestalten Antigone und Ismene sahen sich vor eine recht schwierige Aufgabe gestellt, die sie aber so meisterlich lösten, daß man wirklich glaubte, das Phantasiebild antiker Frauengestalten verwirklicht zu sehen..." und weiter: "Namentlich Antigone verstand es, sich neben der Gestalt des Kreon im Mittelpunkt der Handlung zu behaupten..." Als der Beifall verrauscht war und die Spannung sich löste, fühlte ich mich den Tränen nahe vor Anstrengung und Ergriffenheit über mein eigenes Spiel. Die Ergriffenheit verging aber rasch, als ich mich - etwas mühsam - der weiblichen Unterkleidung entledigen mußte, mit der mein gutes Mamchen mich versehen hatte: Spitzenjupons, Untertaille, seidene Damenstrümpfe (deren einer verloren ging!). Das teils Heikle, teils Komische einer von Männern gespielten Frauenrolle ging mir gar nicht erst auf, da dies ja dem antiken Brauch entsprach. Indes heimsten meine Eltern die Lobsprüche und Gratulationen ein. Alle, Publikum und Darsteller, waren tief bewegt von dem Erlebnis dieser denkwürdigen Aufführung, die auf besondere Art einen Höhepunkt meiner Schülerjahre bedeutete. Viele hatten gedacht, in schwerer Zeit Gipfel der Inflation, drückende Last des Versailler Vertrages, Arbeitslosigkeit würde die Düsterheit einer antiken Tragödie die allgemeine Stimmung noch mehr dämpfen. Das Gegenteil geschah: Man fühlte sich in eine höhere Welt entrückt durch die Schönheit der Sprache und die Geister der herrlichen Dichtung des Sophokles. Erst viel später - 1947 - wurde mir aus eigenem Erleben im Kriege und in der Nachkriegszeit durch die schöne Schrift Wolfgang Schadewalds "Sophokles und das Leid" deutlich, daß in der Trauer sich eine "tief freudige Weisheit offenbart". Das Leid rückt den Menschen in das richtige Verhältnis zu sich selbst, es rückt ihn auch ins rechte Verhältnis zu seinem Gott. Es entrückt ihn der "Hybris" und hält ihm das "Erkenne dich selbst" des Gottes von Delphi entgegen, läßt seine Nichtigkeit in seiner Mächtigkeit erkennen. Der Mensch tauscht so für die Hybris, die ihn hinriß, die Nüchternheit der "Sophrosyne" ein, welche, als eine Art Zusich-kommen, der festeste Grund des Menschseins ist." Was sich in Sophokles zum Erstaunen herrlich darstelle, ist die griechische Harmonie des Freudigen und der Trauer, des Festlichen und des namenlosen Leids. "Harmonie" - ein heute abgegriffenes, seines ursprünglichen Gehaltes entkleidetes Wort – "ist der wundervolle Name für ein…aus widerstrebenden Kräften zusammengebändigtes Gefüge." Schadewaldt schließt seine Schrift mit dem "Sophokles" überschriebenen Epigramm Hölderlins ab, das alles, was er "hier auseinanderzulegen suchte, das Freudigste freudig zu sagen, Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus."
Ich hätte es nicht zu träumen gewagt, daß ich viele Jahre später, 1959, eine Aufführung der Antigone des Sophokles im Athener Theater des Herodes Attikus in neugriechischer Sprache erleben würde! Es kam so: Der Neffe eines Chemikers aus Athen suchte mich auf Bitten seines Onkels in Ilten auf, um sich wegen einer schizophrenen Psychose beraten zu lassen, an der dessen Tochter erkrankt war. Ich sagte ihm, daß ich auf einer Urlaubsreise Mitte September nach Athen kommen und gerne bereit sein würde, die Patientin dann selbst zu untersuchen. Ich wußte allerdings nicht, daß sie bereits in ambulanter Behandlung des dortigen Psychiaters Prof. Stringaris stand, der an der Psychiatrischen Universitätsklinik in München bei Geheimrat Bumke gearbeitet hatte und durch seine Monographie über die Haschischpsychosen bekannt geworden war. Bei meinem Besuch im Hause des Athener Chemikers begrüßte Herr Stringaris mich mit höflicher Zurückhaltung – verständlich, da er als führender griechischer Psychiater nicht gerade begeistert darüber sein konnte, daß ein deutscher Fachkollege hinzugezogen wurde. Nach dem im beiderseitigen Einvernehmen vollzogenen Consilium baten die - wohlhabenden - Eltern der Patientin um meine Liquidation. Ich lehnte ab, da ich die Beratung ja in meine Urlaubsreise eingefügt hätte. Darauf wurde ich gefragt, ob man mir auf andere Weise eine Freude machen könnte. Nur zum Spaß antwortete ich: "Mit einer Aufführung der Antigone des Sophokles!" Die Frau des Hauses: "Ich werde sehen, was sich machen lässt!" Am Nachmittag wurden zwei Karten für Plätze in der ersten Reihe zur Aufführung der Tragödie im Theater des Herodes Attikus in unser Hotel gebracht! Es war die letzte in diesem Jahr!! Antonia wollte zunächst nicht mitkommen, weil sie den griechischen Text nicht verstehen würde. Sie folgte meiner Überredungskunst und war von dem Erlebnis des Abends im spätantiken Theater der Herodes Attikus nicht weniger ergriffen als ich. Ich hatte den Sophokleischen Originaltext auf die Reise mitgenommen und konnte die Handlung von der ersten Strophe an verfolgen, die ich auf der Bühne des Katholischen Vereinshauses in Braunsberg selbst gesprochen hatte (nach der Heider'schen Regieanweisung: Hervorhuschen, stehen bleiben, umschauen, Stufen hinabschreitend, etwas rechts vom Souffleurkasten!): Zur Schwester Ismene gewandt. "Du, meine Schwester, unauflöslich mir verknüpft durch Blutes Bande, sprich, Ismene: Weißt du ein einziges von all den Übeln, die unser Vater Oidipus gesät, ein einz'ges, das uns Zeus, solang' wir leben, nicht reifen ließ?" Würde die Übersetzung ins Neugriechische nicht eine Enttäuschung sein, fragte ich mich. Nein - sie war es nicht. Zwar büßt das Altgriechische mit dem Ersatz der Diphthonge durch Konsonanten an Musikalität ein. Aber die Chöre klangen auch im Neugriechischen wundervoll, und die Aufführung wurde für uns zum unerwarteten Höhepunkt der "klassischen Hellasreise". Einige Tage danach besuchten wir das Amphitheater von Epidauros, von der Athener Kunsthistorikerin Nena Pappakonstantinou geführt. Sie fragte, ob einer aus unserer Reisegruppe vielleicht von der "Orchestra", also von unten aus, etwas deklamieren wolle. Von dieser Stelle her sei dank der einzigartigen Akustik - ein Geheimnis der damaligen Architekten! - das leise Rascheln eines Blattes bis in die höchsten Sitzreihen - man zählt 10 bis 20 000 Sitze! - zu hören. Die deutschen Besucher pflegten dann etwa Verse von Wilhelm Busch zu zitieren oder auch "0 Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald . ." von Eichendorff. Ich erhob mich zum Erschrecken Antonias, stieg die Stufen hinunter und sprach den Hymnus an die Sonne aus der "Antigone", den ich heute noch auswendig hersagen kann.
"...aktis aeliu to kalliston heptapylo phanen qhbai ton proteron phaos ephantes pot o chryseos..."
"Strahl der Sonne. schönstes Licht. Das je Theben erschienen! Golden leuchtet dein Himmelsglanz. Dort, wo Dirkes Quellen rauschen…" Dieses Theater, das größte und schönste Griechenlands, ja der ganzen Welt, bildete mit dem Heiligtum des Asklepios von Epidauros eine Einheit von Religion und Gottesdienst, "so wie es überhaupt nichts in Griechenland gab, was sich über die Niederungen des Alltags erhob und nicht Götterdienst gewesen wäre", wie Erhart Kästner in seinem schönen Griechenlandbuch, einem "Buch aus dem Kriege" 1943, schrieb Mein "Auftritt" im Theater von Epidauros war für mich eine "Sternstunde", wenn sie auch nur eine halbe Minute gedauert hatte.
Meine frühe Liebe zum Theater erfuhr im Oktober 1923 eine nachhaltige Belebung durch die Gastspiele der Blachetta-Gruppe" in Braunsberg. Walter Blachetta, seine Frau, eine Schülerin der Choreographin Lise Abt, Fräulein Morgenbesser, die aus der Loheland-Schule kam, Herr Völker, ein junges, später sehr erfolgreiches Regietalent - er wurde danach Dramaturg und Spielleiter der Kölner Volksbühne -, und zwei weitere Schauspieler, Jeschke und Vogel, spielten an zwei Abenden Andersens Märchen "Die Geschichte einer Mutter" und Bechsteins "Gevatter Tod", schließlich zwei Hans-Sachs-Schwänke und "Die Zaubergeige" von Blachetta selbst. Das Ehepaar Blachetta und Herr Völker waren Gäste meiner Eltern, und es wurde höchst lebhaft und anregend über Kunst, Theater, Religion, Philosophie, im besonderen über die Zielsetzung der Gruppe diskutiert: Absage an das herkömmliche Theater, an alle stilistischen Experimente der Bühne, an Expressionismus, Naturalismus, Klassizismus, dafür Hin- oder Rückwendung zum darstellerischen Ausdruck des ursprünglichen "geistigen Lebens", das "in der Volksseele pulsiert!" In dem einen sollte das "Christus-Schicksal des geknechteten Deutschlands", in dem anderen das "frevelhafte Jagen nach dem Mammon" symbolisiert werden. Beide Stücke sind im bürgerlich-konservativen Königsberg ungnädig, im proletarisch-kommunistischen Sachsen begeistert aufgenommen worden. Ich selbst war als 17-Jähriger fasziniert und skeptisch zugleich: Fasziniert von der Idee, die Blachetta mit geradezu priesterlichem Sendungsbewußtsein ("Künstler sein heißt Priester sein!", sprach er weihevoll) verkündete, skeptisch in Hinblick auf die Zukunft dieser avantgardistischen Vorhaben, dessen Missionaren es gewiß nicht an Ideen und Idealismus, wohl aber an dichterischem Stoff zu fehlen schien. Ich weiß nicht, was aus den Blachettas geworden ist.
Die Neigung zum Theater ließ mich eine Aufführung des Dramas ,Stein unter Steinen' von Hermann Sudermann mit innerer Bewegung erleben. Es handelt von einem Mann, der wegen "Mordes" hart bestraft worden ist, obwohl er in Notwehr gehandelt hat. Nach seiner Freilassung wird er als vermeintlicher Mörder beargwöhnt und gemieden, bleibt ein "Stein unter Steinen", auf ein Leben unter "gesellschaftlich Ausgegrenzten', wie man heute sagen würde, angewiesen. Als der Darsteller der Hauptrolle, Oskar von Xylander vom Königsberger Stadttheater am Ende des dritten Aktes "einen seiner interessanten Schauspielertrümpfe ausspielte", wie ich in meinem Tagebuch vermerkt habe, brach die gesamte Besetzung der Stehplatzzuschauer auf der "Bullerloge" des Braunsberger Katholischen Vereinshauses in tosendes Gelächter aus - eine Ungeheuerlichkeit, die mich zutiefst empörte. Offenbar fehlte diesen Leuten das Gefühl für menschliche Solidarität mit einem moralisch zu Unrecht Verurteilten.
Zum inneren Erlebnis in gleichnishafter Bedeutung für mein eigenes Lebensbild wurde mir Ibsens "Peer Gynt". Mit meinen Freunden Heinz Riege und Otto Gramsch war ich im Oktober 1923 nach Königsberg gefahren - vierter Klasse für 56 Millionen Mark! -, um das Drama in einer vorzüglichen Aufführung des Schauspielhauses zu erleben. Schon die Inszenierung des Regisseurs Brandenburg faszinierte mich. Ich beschreibe sie in meinem Tagebuch in bilderreicher Anschaulichkeit: Norwegischer Bauernhof, die einsame Hütte der Ase, die Halle des Dovrealten, die arabische Küste, Abenddämmerung, dunkelbläuliches Licht, dann rosenfarbene Morgenhelle, weiße Birkenstämme mit zartem Grün, blauer Sonnenhimmel über dem alt gewordenen Peer Gynt, der, heimgekehrt, den Kopf im Schoße seiner greisen Solveig, ausruht von Kämpfen, Unrast und Enttäuschungen - ein Bild, das heute noch vor meinem inneren Auge steht. Ich fühlte mich selbst als Peer Gynt, als jugendlicher, nach Ruhm, Herrschaft, Sinnenlust stürmender Ich-Mensch, Träumer und Phantast, der am Ende seines Lebens heimfindet zur Überwindung der Welt, zur Selbstbesinnung und Menschenliebe - nur ein Adoleszententraum? Vielleicht ist es nicht überflüssig, die Namen der Künstler festzuhalten, die ihre Rollen meisterhaft spielten Hanns Peppler als Peer Gynt, Grete Christianus als Solveig, Tessa Wolter-Felder als Ase. Die Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg, namentlich "Solveigs Lied" und "Solveigs Wiegenlied" blieben lange Zeit meine Lieblingsstücke, die ich immer wieder den Tasten des Steinway-Flügels zu entlocken suchte, den meine Eltern mir geschenkt hatten.
Auch die Oper, namentlich Richard Wagner, erschien mir als Offenbarung aus einer höheren Welt: Mein Vater lud mich zu einer "Lohengrin"-Aufführung im Königsberger Stadttheater ein, und ich schwelgte in der "berauschend schönen" Gestaltung der Grals-Erzählung durch den damals berühmten Heldentenor Robert Hutt. Die "Elsa" der Lilien von Granfeldt begeisterte mich. "Ihrem kleinen Jungmädchenmündchen hätte ich eine solch gewaltige Stimme gar nicht zugetraut", "im Piano süß, weich und schmelzend" "im Fortissimo Chor und Orchester übertönend, allerdings mit leicht metallischem Klang", wie ich schwärmend und kritisch zugleich meinem Tagebuch anvertraute Der Beifall war so stark und andauernd, daß zuletzt die "Schupo" (Schutzpolizei) einschreiten mußte, um ihn zu beenden. Aber auch Mendelsohns Chorwerk "Elias" beglückte mich derart, daß ich es zweimal anhören mußte, Mozarts "Figaro", den ich in der Königsberger Oper zusammen mit meinem Freunde Otto Gramsch erlebte, bedeutete mir mit meinen 17 Jahren eine "von Leben sprühende, zum Leben geborene" und damit unvergängliche Entrückung des Menschen aus seiner Gebundenheit an das Jahrhundert der Technik! Für die ganze Tiefe und Fülle des Mozart'schen Werkes wurde ich erst viel später reif. Am Abend nach dieser "entzückenden Aufführung" tranken Otto und ich Blutsbrüderschaftl
Die Einführung in die Welt der Musik verdanke ich unserer Hedwig Jagdt, meiner Klavierlehrerin, der mein Vater mich mit der Empfehlung präsentierte: "Hier bringe ich Ihnen einen jungen Liszt!" Nun - es reichte zwar nicht ganz zum Liszt, aber wenigstens zum Einüben leichterer Beethoven-Sonaten, Chopin-Walzer. Schubert-Impromptus - eines von ihnen konnte ich sogar zu meiner Einsegnung auswendig vortragen - und zum Vierhändigspielen der "Slawischen Tänze" von Dvorak, der "Ungarischen Tänze von Brahms, der "Beliebten Stücke" von Johann Sebastian Bach und der beliebten Petersburger Schlittenfahrt". In meinem Elternhaus wurde noch Hausmusik gepflegt: Hedchen Jagdt, Werner Kreth, Domvikar und Domorganist in der Bischofsstadt Frauenburg, als Pianisten und die Lehrerin Maria Weiß als Sopranistin haben uns und unsere Gäste oft mit größtenteils konzertreifen Darbietungen erfreut. Werner Kreth pflegte dabei seine Zigarre nicht ausgehen zu lassen, die bei den Fortissimi der "Pathetique" oder der "Waldstein-Sonate" in bedenkliche Schwingungen geriet und ihre Aschenreste auf die Tasten fallen ließ!
Liebe zur Natur und Musik waren die Kräfte, die mich erfüllten und sich mit einem nicht konfessionsgebundenen Gottesglauben verbanden. Am 9. April 1922 wurde ich gemeinsam mit meinen Freunden Otto, Heinz und Franz eingesegnet. Mein Konfirmationsspruch lautete "Meine Lehre ist recht mein, sondern des der mich gesandt hat! "Zwei Jahre später versah ich dieses Christuswort in meinem Tagebuch mit der Randbemerkung: "Ich weiß nicht ganz, was dieser Spruch für mich zu bedeuten hätte!" Ich zweifelte an der Unanfechtbarkeit des Anspruchs Christi, im Namen Gottes, seines Vaters, die alleingültige Wahrheit zu verkünden.
Erst jetzt - 1990 - lese ich in Schalom Ben-Chorins Buch "Bruder Jesus - Der Nazarener in jüdischer Sicht", daß Jesus nach seiner und Bultmanns Ansicht sich selbst nicht als "Gottes Sohn", als Prophet" im alttestamentarischen Sinne, als "Messias" verstanden habe. Die Bezeichnung "Gottes Sohn" findet sich nur bei Matthäus. Jesus habe keinen "neuen Glauben" verkündet, sondern gelehrt, den Willen Gottes zu tun, der für ihn wie für die Juden im Gesetz und in den übrigen heiligen Schriften stand. Als der "Menschensohn" stehe er nicht als Prophet oder Messias vor uns, sondern als unser Bruder, der nach Lukas 9. 18 - 21 die Frage an seine Jünger, die Frage des Menschen schlechthin, stellt "Wer bin ich?" Als Petrus ihm antwortet: "Du bist der Christus Gottes", bedrohte er sie und gebot, daß sie das niemand sagten.
Meinem Versuch, ein "Christus-Epos" in Hexametern zu verfassen, bereitete ich zum Glück ein vorzeitiges Ende. Skepsis hatte sich in mir schon beim Abendmahl geregt, das der Einsegnung folgte Die Einverleibung des Leibes und Blutes Christi durch Oblate und Wein empfand ich als peinlich und unhygienisch. Sie erschien mir - oberflächlich genug - als ein Mittel, dessen sich Menschen bedienen, um ihre Frömmigkeit vor sich und den Anderen zu beweisen. Die symbolisch-mythologische Bedeutung der Eucharistiefeier ist mir erst viel später aufgegangen. Weit mehr bedeuteten die 35 Bücher, die mir zur Konfirmation geschenkt wurden, darunter der Gundolf´sche "Goethe", in den meine Eltern die anspruchsvolle Widmung hineinschrieben "Mache den Begriff des Guten und Schönen zum Leitstern Deines Denkens und Handelns und meistere Dein Leben im Goetheschen Geist" Gundolfs "Goethe" ist für mich heute noch eine nahezu unerschöpfliche Quelle neuer Einsichten in das Riesenwerk dieses ,.echten Göttersohnes" wie Gundolf ihn in seiner Rede zu dessen hundertstem Todestag genannt hat: "Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, Umfaß euch mit der Liebe holden Schranken, und was in schwankender Erscheinung schwebt, befestiget mit dauernden Gedanken", dieses Wort, mit dem Gundolf seine für die Pariser Universität niedergeschriebene, aber nicht gehaltene Rede - er starb zuvor - empfand und empfinde ich als gleichsam "religiöses" Vermächtnis unseres - pathetisch gesprochen - größten Genius. Die Goetheverehrung gehörte bei uns zur Familientradition. Meine Urgroßmutter väterlicherseits soll "den halben Faust" auswendig zitiert haben können. Mein Vater hatte seiner Verlobten, meiner Mutter, eine "Faust"-Ausgabe in höchst dekorativer Jugendstil-Gestaltung geschenkt, und am ersten Ostertage wurde alljährlich der "Osterspaziergang" vorgelesen. "Mein Gott ist die Natur!", dachte ich in Anlehnung an Goethe, ohne schon Spinoza gelesen zu haben, in pantheistischer Anbetung der Schönheit und Ordnung des Kosmos. Ich glaube an Gott und die Natur und an den Sieg des Edlen über das Schlechte, aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei Eins sei und Eins Drei, das aber widerstrebte dem Wahrheitsgehalt meiner Seele, auch sah ich nicht ein, daß mir damit auch nur im mindestens wäre geholfen gewesen. Diese Worte Goethes, die Eckermann unter dem 4. Januar 1824 notiert hatte, entsprachen genau meiner eigenen Einstellung. Sie entsprachen auch dem, was mein Vater unter Goethe´schem Geist" verstand. Dies hinderte ihn nicht, sich dem strengen Zeremoniell einer Freimaurer-Loge zu unterwerfen, deren Mitglied er, dem Einfluß und Rat seines jüdischen Freundes Walter Lichtenstein folgend, bis zur Würde eines "Meisters" wurde. Aber auch Goethe war Freimaurer gewesen!
Zu näherer Auseinandersetzung mit religiösen Fragen wurde ich angeregt durch einen Vortrag über "Dante und Dostojewski", den der Jesuitenpater Friedrich Muckermann 1922 im Braunsberger Katholischen Vereinshause hielt. Er war als Literaturkritiker und Herausgeber der Zeitschrift "Der Gral" bekannt geworden und wurde nach seiner Emigration 1933 einer der Hauptführer des Katholischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. M. hat ein gedanklich feines, erfreulich und sprachlich schönes, theologisch konzipiertes "Goethe"-Buch (nach dem Gundolf´schen mein liebstes) geschrieben, in dem er auch auf Goethe als religiösen Menschen eingeht und vorsichtig andeutet, daß dieser bei "hier und da protestantischen Sympathien" "mehr einer gewissen katholischen Grundhaltung" - nicht dem Katholizismus! - zuneigte. Friedrich Muckermanns Bruder Hermann, ebenfalls Jesuitenpater, war damals ein berühmter Vermittler sozialbiologischer und eugenischer Fragen und hat seine wissenschaftliche Arbeit später, seit 1948, als Professor an der freien Universität Berlin und Leiter des Instituts für natur- und geisteswissenschaftliche Anthropologie fortgesetzt. Friedrich M's Vortrag "formvollendet, feinsinnig, tiefschürfend", wie ich in meinem Tagebuch vermerkte - hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Dante... - so etwa ist er mir in Erinnerung - läßt das Heil und wahrhafte Glück in Beatrice suchen, der reinen, göttlichen Jungfrau, in deren Schoße sich Religion und Kultur vereint und versöhnt wiederfnden. Sie sei das Sinnbild der Katholischen Kirche.
Dostojewski stellt im "Großinquisitor" der "Brüder Karamasoff" das Unheil dar, das den wiedergekehrten Christus und damit den Geist der "Großen Liebe" nicht anerkennt. Ich wußte nicht, daß Dostojewski in der Legende vom Großinquisitor das epochale Phänomen des Nihilismus gesehen hat, mit dem ich mich viel später in seinen psychopathologischen Aspekten auseinandersetzen sollte. Es ist jener "kluge Geist", der "furchtbare Geist der Zerstörung und des Todes", der die Menschen des Geheimnisses beraubt, sie belügt und betrügt, damit "diese armseligen Blinden nicht merken, wohin sie geführt werden und sich wenigstens auf dem Weg (ihres Lebens) für glücklich halten". Die beiden Welten, Dante als Repräsentant des römischen Abendlandes, Dostojewski als Vertreter des russischen "Morgenlandes", könnten nach Muckermann nur in einer Verschmelzung der Völker zu einem Ganzen, im katholischen Glauben, zueinander finden! Dann erst werde auch die Gesundung des zerrissenen Deutschlands möglich sein! (Muckermann hat übrigens in einem Abschnitt "Goethe, Dante und Dostojewski" seines 1931 erschienenen Goethe-Buches nicht mehr diesen missionarischen Gedanken vertreten, sondern die drei Großen der Weltliteratur bei aller Verschiedenheit ihrer Welten von der Gemeinsamkeit ihres Bildes vom Menschen her verstehen wollen!). Ich hatte damals schon meine Zweifel nicht nur an der Realisierbarkeit, sondern auch an der Wünschbarkeit jener Muckermann'schen Vision. Meine Bedenken erschienen - und erscheinen auch heute noch - begründet durch das Fehlen einer Bereitschaft beider Kirchen, bestimmte Grundpositionen - gemeinsame Eucharistiefeier, Priesterehe usw. - im Dienst einer konsequenten Ökumene aufzugeben. Im Grunde geht es dabei um einen stillen Machtkampf der Konfessionen, in dem der Protestantismus gegenüber der geistigen und geistlichen Macht des katholischen Glaubensgefüges und seiner Tradition der schwächere von beiden ist. Warum und gegen "was" sollte er noch protestieren? Womit will er seinen Anspruch auf eine eigene Konfession heute noch, mehr als 400 Jahre nach Luther rechtfertigen? Die geistige Unebenbürtigkeit der protestantischen Kirche schien mir damals schon allein bestätigt zu sein durch einen Bericht über den Muckermann´schen Vortrag im "Evangelischen Sonntagsblatt". Man hatte seinen Thesen nicht viel mehr entgegenzusetzen als die Berufung auf das Lutherlied "Ein feste Burg ist unser Gott .. das Reich muß uns doch bleiben!" Auf der anderen Seite vermochte ich dem alleinigen Wahrheits- und damit auch Machtanspruch der katholischen Kirche, des Christentums überhaupt, gegenüber den nichtchristlichen Religionen keine Überzeugungskraft abzugewinnen. Ich neigte immer schon zu einer überkonfessionellen Haltung und träumte von einer "neuen Welt-Religion", in der eine Synthese der Gemeinsamkeiten aller Religionen, auch der nicht-religiösen Lehrer wie der des Konfutse und des Laotse anzustreben, ja zu vollenden sein müssen. Nicht ahnen konnte ich, daß dieser utopische Gedanke viele Jahrzehnte danach in einem meiner Lieblingsbücher konkretere Gestalt annehmen würde: In dem Werk des großen indischen Religionshistorikers und -philosophen und späteren Staatspräsidenten Sarvepalli Radhakrishnan. "Die Gemeinschaft des Geistes - östliche Religionen und westliches Denken". Hier begründet eine der, wie ich denke, bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Zeit mit sorgfältig religionsgeschichtlich fundierten Argumenten, daß den verschiedenen Glaubensinhalten eine gemeinsame Wahrheit zugrunde liegt, die auf keine Kirche und keinen Tempel beschränkt werden kann! Keine, auch nicht die christliche Religion könne Anspruch auf die Gnade des Besitzes göttlicher Offenbarung erheben. "Wir dürfen nicht als unbeachtlich das Gefühl für die Erhabenheit Gottes und die daraus folgende Ehrfurcht in der Gottesverehrung übersehen, die für den Islam kennzeichnend sind, das tiefe Mitgefühl für das Leid der Welt und die selbstlose Suche nach einem Weg, ihr zu entgehen, im Buddhismus, das Verlangen nach der Berührung mit der höchsten Wirklichkeit im Hinduismus (dem Radhakrishnan selbst angehört) und den Glauben an eine geistige Ordnung im Universum und die konsequente Forderung nach einer moralischen Lebensführung bei Konfizius. Das Gleiche gelte für die jüdisch-christlichen und allerdings nur bedingt - auch für die griechisch-römischen Glaubensbekenntnisse. Die "Gemeinschaft des Geistes" bedeute aber keinen "Synkretismus", keinen Mischmasch der verschiedenen Religionen, sondern eine "Gemeinschaft der Glaubenden" unter Wahrnehmung der Eigenart ihrer Religionen, also gegenseitige Toleranz und Ablehnung von Absolutheitsansprüchen! Ich hatte auch noch nicht bei Arnold Toynbee gelesen: "Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob sich die in den Hochreligionen übermittelte Offenbarung als stark genug erweist, die Egozentrik ihrer kirchlichen Institutionen zu überwinden." Als 17-Jähriger lieh ich mir aus der Bibliothek der Staatlichen Akademie in Braunsberg - Bücher zu kaufen war wegen der Inflation unerschwinglich! - ein Büchlein des Japaners Chuichiro Gomyo, eines Konfutse-Anhängers und eines buddhistischen Studenten des Meji Gakuin' in Tokyo, mit dem verheißungsvollen Titel "Die Wesenseinheit der Menschheit", ein Appell an die männliche und weibliche Jugend der Welt. "Die Welt Ist ein einziges Sein", hieß es darin, zunächst geographisch, dann in Bezug auf das Wachstum der Menschheit, das derselben Regel folgt, die sich uns beim Entfalten einer Blüte offenbart, und schließlich auch in ihrer Beziehung auf die einzelnen Blätter dieser Blüte, die Religionen. Alle Religionen, jeder Glaube hätten bei noch so verschiedenartigen Interpretationen des Lebens ein und dasselbe Ziel: das Ideal der Menschheit zu erreichen, möge es das "Jihi' des Buddhismus, das "Jin" des Konfutse, die Liebe" des Christentums oder die "Ahimsa" des Hindu-Glaubens sein. Die Folgerung aus der Erkenntnis einer "Wesenseinheit der Menschheit" richte sich auf die große Verantwortung der Jugend. Jeder junge Mensch solle "als begnadeter Künstler" mit dem Meißel in der Hand den "großen Marmorstein der Zukunft" behauen und gestalten! So werde der ewige Frieden der Menschheit gesichert werden! Das war mir dann doch etwas zu verschwommen, und ich begnügte mich mit einem "0 weh!" in meinem Tagebuch.
Ein anderes Buch bewegte mich so, daß ich mit ihm geradezu eine "Weihestunde" erlebte, der ich eine innere Läuterung und geistige Klärung zu verdanken glaubte. Es war das Werk Wilhelm Liepmanns, eines jüdischen Professors der Gynäkologie und Geburtshilfe in Leipzig, mit dem Titel: "Nicht Wissen - Weisheit - Kosmisch - biologische Gedanken in schwerer Zeit". Ich war auf dieses Buch durch eine frühere Schrift Liepmanns "Weltschöpfung und Weltanschauung" aufmerksam geworden und mußte es mir aus der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin ausleihen. So verband sich für mich eine frühe, durch meinen Vater nahegelegte Neigung zur Medizin mit der Bewunderung eines Arztes, der wie Liepmann seine praktische Arbeit in einem großen, weltanschaulich, biologisch und kosmologisch geprägten Zusammenhang zu sehen versteht. Ich beschäftigte mich damals auch mit anthropologischen, paläoontologischen, prähistorischen Fragen, suchte mich mit Phylogenese, Ontogenese, Selektions-, Deszendenz-, Pithecoidentheorien vertraut zu machen, wollte einen Aufsatz oder Vortrag über die Kultur des Diluvialmenschen, der La Têhe- und Hallstattperiode ausarbeiten - was ich später auch getan habe - und begann natürlich die "Welträtsel" von Ernst Haeckel (1899 erschienen) zu lesen. Mit ihrer Hilfe gelang es mir, die christliche dualistische "Einseitigkeit", wie sie auch im Konfirmandenunterricht hervortrat, zu relativieren und mich in Haeckels Monismus-Lehre geistig zu "erholen". Aber mein Vater nahm mir den Haeckel, den er noch aus seiner Studentenzeit besaß, wieder weg - warum, weiß ich nicht recht. Vielleicht wollte er mich vor der anderen Einseitigkeit, einer materialistischen, im kirchlichen Sinne atheistischen Weltanschauung bewahren. Aber ich hatte bei Haeckel doch schon soviel "erschnuppert", daß ich meine pantheistische Ansicht "Gott gleich Natur" bestätigt zu sehen glaubte. Freilich konnte ich nicht wissen, daß Haeckels Monismus-Materialismus-Theorie für die ideologische Legitimierung des Marxismus in Anspruch genommen wurde. Bei seinem Tode am 9. August 1919 stand es im sozialdemokratischen "Vorwärts": "Was Voltaire für die Franzosen leistete, das soll auch zum Ruhme Haeckels gesagt sein. Er war der Vorbereiter der deutschen Revolution!" Dies allerdings hätte mir wenig gefallen, und es würde mich auch wenig überzeugt haben. Haeckel hat sich selbst als Vorkämpfer eines weltanschaulichen, nicht aber eines politischen Umsturzes verstanden.
Mit Begeisterung, wenn auch nicht ohne kritischen Vorbehalt, las ich als Oberprimaner Bücher von Raoul Heinrich Francé ("Die Wage des Lebens", "Bios", "Welt", "Erde und Menschheit") in denen eine "objektive Philosophie" auf biologischer Grundlage angeboten wurde. Ich hegte allerdings Zweifel an der Möglichkeit, aus den Entwicklungen und Erscheinungsformen in Natur und Kultur ein philosophisches System mit dem Anspruch auf "objektive" Wahrheit abzuleiten. Francé übte Kritik an der "überzivilisatorischen" Verfeinerung mit ihrer Entfremdung von der Natur und forderte die Rückkehr zu naturgemäßem Leben. Er erwies sich damit als Nachfahr Rousseaus und Vorläufer der heutigen "Grünen". Meine jugendliche Faszination von einer Idee der Gesundung der Menschheit durch die Hinwendung zum "Bios" wurde leicht gedämpft, als ich in der Wage des Lebens" Francés Kritik an meinem geliebten Goethe entdeckte: Er warf ihm vor, es habe ihm an dem höchsten menschlichen. dem "sozialen Trieb" gefehlt, und er hätte viel größer dastehen, der Menschheit und seiner Zeit weit mehr geben können, wenn er mehr Verständnis für das stille, tiefe Leiden eines alten, abgearbeiteten Mannes und die Not einer gebückten, zitternden Greisin gezeigt haben würde. Nun - die Geschichte der Philosophie, namentlich der Natur- und Lebensphilosophie - scheint inzwischen an dem gedanken- und umfangreichen Werk dieses in Wien geborenen, in Budapest 1943 gestorbenen Mannes vorübergegangen zu sein.
Meine biologischen Interessen waren zuvor, mit 15 Jahren, schon durch die "Sozialbiologischen Vorträge" des Jesuitenpaters Dr. Hermann Muckermann den Bruder Friedrichs, gefördert worden. In meinem Tagebuch notierte ich, daß M. als liebevoller, besorgter Volks- und Vaterlandsfreund", aus "warmem Herzen" über die Familie, "die einzige und wahre Grundlage eines gesunden, lebensfähigen Staates", gesprochen habe. Tief beeindruckt war ich von seinen - übrigens rhetorisch glänzenden - Ausführungen über das Leben vor der Ehe, die Entwicklung der Samen- und Eizelle, die Vererbung, die Volksseuchen, Alkoholismus. Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, über Gattenliebe, Gattenpflichten und über "das größte Glück der seligen Harmonie des Familienlebens". Daß er den eigenen zölibatären Verzicht auf ein solches durch diese Idealisierungen zu kompensieren suchte, störte mich nicht.
Wir jungen Menschen fühlten uns auf den oberen Gymnasialklassen natürlich bewegt, ja aufgewühlt durch Oswald SpengIers 1919 bereits in vierter Auflage erschienenes Werk mit dem herausfordernden Titel "Der Untergang des Abendlandes". Der verlorene Krieg, die Not der Arbeitslosigkeit und Inflation, der Niedergang des Nationalgefühls, die politische Zerrissenheit, die Zeichen kulturellen Verfalls, Geldgier, platter Materialismus, Vergnügungssucht - - alle diese "Zeichen der Zeit' versetzten damals Viele - nicht nur uns - in eine Untergangsstimmung SpengIers Buch kam daher wie gerufen.
Wir Gymnasiasten gründeten einen von uns anspruchsvoll "literarisch-philosophisch-wissenschaftlich" genannten Arbeitskreis, in dem SpengIers Thesen diskutiert werden sollten. So verführerisch seine biologische Fundierung der "vergleichenden Kulturmorphologie" auch zu sein schien - Jugendblüte (Frühling), Reife (Sommer), Spätzeit (Herbst) und Untergang (Winter) der Kulturen - in unserem jugendlichen Optimismus und Tatendrang wehrten wir uns gegen die Voraussage, das Ende der abendländischen, "faustischen" Kultur stehe bevor. Wir befänden uns bereits in der "zivilisatorischen Dämmerzone" zwischen Herbst und Winter! Zudem meldeten sich bei aller Bewunderung der gedanklicher Kühnheit des Buches und der Beherrschung des gewaltigen Stoffes erste Zweifel an der Theorie einer Übertragung der Altersstufen des Lebens auf geschichtliche Entwicklungen. Otto Gramsch referierte und kommentierte im Rodelshöfener Gutspark SpengIers Riesenwerk, kam aber nicht über den ersten Band (1615 Seiten!) hinaus. Wegen der Vorbereitungen zum Abitur kam unser "Arbeitskreis" vorzeitig zum Erliegen, und mein Entwurf eines Vortrages über die Kulturentstehung seit der vorgeschichtlichen Zeit blieb - wie vieles andere in meinem Leben - unabgeschlossen. Inzwischen war mir eine von dem Kieler Religions- und Kulturphilosophen Heinrich Scholz verfaßte Gegenschrift in die Hände gefallen, in der das SpengIer´sche Buch als ein "Ereignis und Verhängnis zugleich" bezeichnet wurde. Es "bereichere den Geist und zerstöre das Gemüt!" Für mich traf nur der erste Teil dieses Urteils zu. Aber dem "heroischen Pessimismus" SpengIers vermochte ich nicht zu folgen. Das ändert natürlich nichts an der Richtigkeit bestimmter Aus- und Voraussagen im "Untergang des Abendlandes". An der Diagnose und Prognose des Nord-Süd-Konfliktes, des Herrschaftsanspruches der farbigen Völker, der zwei Weltrevolutionen Klassenkampf und Rassenkampf, der Diktatur des Geldes, der Ausbreitung des akademischen Proletariats, der "Emma"-Emanzipation, des von Nietzsche angekündigten Nihilismus als der Grundbewegung unserer Epoche mit seinen vielfältigen Signaturen (Suchten, Sex, Sensation) und mancherlei Varianten zivilisatorischer Dekadenz.
Wenn damals schon Arnold Toynbees Monumentalwerk "A Study of History" (1934-54) erschienen wäre, hätte ich mich allerdings diesem großen Geschichts-Wissenschaftler (der SpengIer nicht war!) uneingeschränkt zugewandt: Er führte den fruchtbaren Doppelbegriff "Challenge and Response", "Herausforderung und Antwort" ein und meinte damit die Herausforderung, die aus geistiger und materieller Not erwächst und als Antwort neue kulturschöpferische Leistungen entstehen läßt Toynbee hat auch die mitprägende Bedeutung der Großen Religionen für die Weltgeschichte erkannt und betont. Heute denke ich, daß sowohl den weltgeschichtlichen Deutungen SpengIers wie auch denen Toynbees ein Wahrheitsgehalt innewohnt. Jener sieht die späten Kulturen, die Zivilisationen" als Fragmente, zerfallende Bruchstücke als Abgeschlossenes, dieser versteht sie als Torsi, Keime, Vorgestalten kommender Entwicklungen. Ich neige mehr zu Toynbees Grundgedanken: Geschichte im objektiven Sinne ist Wandlungsprozeß. Im subjektiven Sinne erforscht sie, wie und warum sich eine Situation in eine andere wandelt. Geschichte ist das "lebendige Kleid", das der Zeitgeist für die Menschheit "am sausenden Webstuhl der Zeit" ständig webt, wie Goethe im Ersten Teil des "Faust" sagt. Dies bedeutet, daß die schöpferische Kraft auch in einer zerfallenden Kultur nicht erloschen ist, sondern in Minoritäten (Philosophien, Universalstaaten, Universalkirchen) fortbesteht. Im Gegensatz zu SpengIers hartem Wahrheitsdogmatismus und seiner nationalistisch-konservativen Orientierung ("Jahre der Entscheidung", 1933! mit dem Motto Im Zwänge der Welt Weben die Nornen. Sie können nichts wenden noch wandeln" aus Richard Wagners "Siegfried"!) steht mir Toynbees geistige, menschliche, religiöse Haltung mit seinem Bekenntnis zu Demut und Ehrfurcht vor dem Geheimnis des menschlichen Lebens innerlich nahe. Die Herausforderung der Gegenwart sah er im atomaren Militarismus, die Antwort hierauf in der Gründung eines Weltstaates auf der Grundlage einer synkretistischen christlich-buddhistisch-islamischen Religion, einer utopischen Vision, die ihm bei seinen nüchternen englischen Landsleuten den Ruf eines "Pontifikalen" und "Propheten" eingebracht hat. China war für ihn die kommende Weltmacht. Die Pionierleistung seines Antipoden SpengIer hat er bewundert. Dessen Prophetentum erlitt allerdings eine beträchtliche Einbuße alleine dadurch, daß er Hitler als eine "Kreatur seiner Partei", die "mehr geschoben werde als daß sie selbst führe", völlig verkannt und dafür in MussoIini den "eiskalten und skeptischen Staatsmann", den "wirklich absoluten Herrscher" zu sehen glaubte. Dem sensationellen Erfolg des politisch-philosophischen Autors SpengIer folgte denn auch sein Scheitern als Politiker, der sich zugetraut und angemaßt hatte, dem Verhängnis des abendländischen Unterganges durch entschlossenes politisch-praktisches Handeln entgegenwirken zu können. GoebbeIs hatte ihn noch gebeten, anläßlich des "Tages von Potsdam", am 21. März 1933, als der Verfasser der Schrift "Preußentum und Sozialismus" eine Rundfunkansprache zu halten, um damit die Versöhnung von Preußentum und Nationalsozialismus, symbolisch ausgedrückt im Händedruck zwischen Hindenburg und HitIer, geschichtlich zu würdigen. Nach der Ermordung des Generals von Schleicher, des SA-Chefs Röhm und anderer "Verschwörer" am 30. Juni 1934 wandte SpengIer sich endgültig vom Nationalsozialismus ab und zog sich in die Position eines "resigniert Ohnmächtigen" zurück, wie es in einer SpengIer-Biographie von Detlef Felken (1988) bekundet wird (von Herfried MünkIer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Januar 1989 besprochen). Die Enttäuschung und Verbitterung des Untergangs-Propheten über dieses Mißlingen seiner "Sendung" hat sich in allmählich immer stärker hervortretenden physiognomischen Zügen erkennen lassen. Harry Graf Kessler, der Verfasser der großen "Rathenau"-Biographie, beschrieb sein Gesicht ziemlich lieblos als das "eines dicken Pfaffen mit einem fetten Kinn und brutalem Mund".
Der speziellen Vertiefung in kulturhistorische Fragen diente der ausgezeichnete Unterricht im Griechischen (Professor Reiter) und Lateinischen (Professor Radtke, von den Schülern wegen seines infolge einer schweren Wirbelsäulenverkrümmung unbeholfen langsamen Ganges höchst taktlos "Expreß" genannt), im besonderen auch die ungemein lebendige Bildungquelle, die wir unserem Deutsch-, Geschichts- und Klassenlehrer Dr. Arthur Motzki zu verdanken haben. Wenn ich mich heute der damaligen Aufsatzthemen erinnere, wundere ich mich, wie er es fertigbrachte, uns, namentlich auch mich, zu durchaus respektablen literarischen Leistungen zu befähigen. Die Themen lauteten etwa "Ein Besuch in einem altgermanischen Dorf" (als Novelle darzustellen, von mir nach eingehenden Vorstudien in einer Nacht hingeschrieben!), "Mögen Andere andres erstreben - ich will der Dichtkunst leben", "Klopstocks nationale Gesinnung", "Waren die alten Griechen glücklich?" (ein besonders heikles Thema mit schwierigen Versuchen, den Begriff "Glück" zu definieren!), "Iphigenie auf Tauris des Euripides" (als Vortrag!) Motzkis Unterricht sprühte geradezu vom Geiste des "Eros paidagogos" und von seinem persönlichen Temperament, und ich werde ihm immer dankbar bleiben für das, was er mir an Bildungselementen für mein ganzes Leben mitgegeben hat. Heute noch besitze ich ein Büchlein, das er mir zum Abitur am 26. Februar 1925 mit persönlicher Widmung geschenkt hat: "Der Deutsche Genius" (mit einem Geleitwort von Rudolf Eucken). Es enthält Beiträge meist professoraler Autoren als Erwiderungen auf eine antideutsche Schmähschrift, in der Frankreich als "das Licht in der Nacht" gepriesen wird - Dokument alter, seit 1870 (Sedan) aufgeflammter, nach Versailles von Poincaré und CIemenceau geschürter, inzwischen überwundener Feindschaft! Rathenau hat sie bei den Verhandlungen in Genf 1922 zu spüren bekommen und durch seine geschickte, auf gesamteuropäische Interessen gerichtete und vom Geist der Versöhnung bestimmte Außenpolitik zu mildern versucht!
Motzki war es auch, der mir riet, Grabbe zu lesen, um mir zu einem weniger umständlichen, dafür knapperen und kräftigeren Stil zu verhelfen. Sein Rat bewirkte, daß aus einem anfänglichen "Gut" und "Recht gut" ein glattes und ziemlich beständiges "Sehr gut" der Zensuren meiner Aufsätze wurde. "Not entwickelt Kraft!", zitierte ich Grabbe nach diesem Erfolg in meinem Tagebuch. In Christian Dietrich Grabbe lernte ich einen der, vielleicht den - seit Kleist - begabtesten deutschen Dramatiker kennen, zugleich aber einen innerlich zerrissenen, von dämonischen Triebkräften heimgesuchten Menschen, Detmolds "betrunkenen Shakespeare", wie Heinrich Heine ihn nannte, dessen zügellos wildes, durch den Alkohol zerrüttetes Leben mich mit seltsamer Faszination ergriffen hatte. Ich empfand bewundernde Achtung" und "leidvolle Sympathie" für diesen genialischen Dichter fühlte mich abgestoßen von dem schaurig-wilden Erstlingsdrama des Gymnasiasten und Studenten Grabbe "Herzog Theodor von Gothland" und zugleich angezogen von dem "Tumult des Innenlebens", dem "tollkühnen Ehrgeiz", den Gewissensqualen des Titelhelden wie von der kraftvollen Sprache des Dichters - emotionale Resonanz meiner pubertären Knabenseele, die sich der des jungen Dramatikers verwandt fühlen mochte. Ich notierte damals Ludwig Tiecks zwiespältige Antwort auf Grabbes Bitte um ein Urteil über seine Tragödie: "Ihr Werk hat mich angezogen, sehr interessiert, abgestoßen, erschreckt und meine große Teilnahme für den Autor gewonnen, von dem ich überzeugt bin, daß er etwas viel Besseres liefern kann…" "…Ich bin einigemale auf Stellen geraten, die ich groß nennen möchte, Verse, in denen wahre Dichterkraft hervorleuchtet…" Aber: "Eben dadurch, daß Ihr Werk so gräßlich ist, zerstört es allen Glauben an sich und hebt sich dadurch also auf…" "…Das Gräßliche ist nicht tragisch: wilder roher Zynismus ist keine Ironie: Krämpfe sind keine Kraft, sondern entstehen oft (bei Ihnen glaube ich nicht) aus der Schwäche..." Als "schönen Denkstein eines Schaffens" vertraute ich meinem Tagebuch die Verse an, die Ferdinand Freiligrath dem toten Dichter nachrief: "Du loderndes Gehirn, so sind nun Asche deine Brände, Wachfeuer du, an deren sprühender Glut der Hohenstaufen Heeresvolk geruht, des Korsen Volk und der Karthager - die Mitwelt geht Einsam mit flammender Stirne der Poet. Das Mal der Dichtung ist ein Kains-Stempel. Es flieht und richtet nüchtern ihn die Welt. Und ich entschlief zuletzt - In einem Zelt träumt´ ich von einem eingestürzten Tempel."
Das Problem "Alkohol" das den "Tempel" Grabbe schließlich "einstürzen" ließ, sollte mich dann nicht mehr Ioslassen: Ich hatte mich an den Saufereien in den "Buden", den Pensionszimmern der älteren Braunsberger Gymnasiasten, vergraut und empfand eine Betrunkenheitsszene im Katholischen Vereinshaus, die ich zufällig miterlebte, als höchst abstoßend: Ein ehemaliger Mitschüler, Spekulant und Lotteriegewinner, eröffnete dort eine "Sektbude", in der die geleerten Flaschen unter wildem Gebrüll zerschellt wurden. Mich empörte dabei, daß damals - 1923 - unzählige Menschen als Opfer von Arbeitslosigkeit und Inflation in bitterer Not leben mußten und kaum genügend Geld für das tägliche Brot besaßen. Der grelle Kontrast zwischen sozialem Notstand und zügellosem Prassertum ließ mich nicht ruhen, und ich beschloß, wenigstens im engen Bereich der Schülerschaft zur Abwehr der Alkoholgefahren als einer beunruhigenden Teilerscheinung der Krisis dieser Zeit beizutragen. Ich tat dies in der Form eines Vortragsmanuskriptes über die Alkoholfrage, das ich nach entsprechendem Literaturstudium, namentlich der Veröffentlichungen der psychiatrischen Alkoholgegner KräpeIin und ForeI, an einem Tag und in einer Nacht ausgearbeitet hatte und meinem Vater am 6. September 1923 auf den Geburtstagstisch legen konnte. Nachdem ich den Text im engeren Familien- und Freundeskreise vorgelesen und dessen Zustimmung erhalten hatte, trug ich ihn 18 Tage später in einer Schülerversammlung unseres Gymnasiums und vor der versammelten Lehrerschaft vor. Es war keine Ironie, sondern ehrlich gemeint, daß der stellvertretende Vorsitzende der Schülerschaft, selbst ein kräftiger Potator, sich mit meinen Ansichten "völlig einverstanden" erklärte, und ein Studienrat als Schüler-Berater, der ebenfalls einem ausgiebigen Trunke zugeneigt war, mir zum Dank für den "glänzenden Vortrag" die Hand schüttelte und "begeistert" versicherte, ich hätte ganz in seinem Sinne gesprochen. Um meinen Worten praktisches Handeln folgen zu lassen, gründete ich ein "Goldenes Buch der Schnapsgegner', in das sich jeder Schüler eintragen konnte, der sich ehrenwörtlich verpflichtete, den Genuß harter Alkoholika zu vermeiden. Ich wollte keine Abstinenz, sondern Temperenz. Asketischer Fanatismus lag mir fern. Aber ich verabscheute den enthemmenden, das geistige und moralische Niveau senkenden Schnapskonsum. Alkoholische Exzesse unter den Schülern wurden dann auch seltener, allerdings weniger als Erfolg meines Appells als vielmehr durch Geld-Inflation. "Der Valuta-Drache versperrt nicht nur den Zugang zu alkoholischen, sondern auch zu harmloseren Genüssen", notierte ich in meinem Tagebuch. Einige Beispiele Im Juli 1923 - ich befand mich mit meinen Eltern im Urlaub in Oberbayern - berechnete der Pächter eines Unterkunftshauses des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins am Herzogstand für ein Bett 32.000,-- Mark, der Ochsenbraten in einem Wirtshaus kostete 60.000,-, ein halber Liter Löwenbräu-Bier 12.000.-- Mark. Am 8. September 1923 forderte der Schneider für einen neuen Anzug, den ich dringend brauchte, bereits 155 Millionen Mark, ein Damenmantel für meine Mutter wurde mit einer Milliarde Mark berechnet, eine Bahnfahrt von Braunsberg nach Königsberg (etwa 60 km) in der vierten (!) Klasse kostete am 3. September 56 Millionen Mark, und am 12. November sollten meine Eltern für einen Platz im Königsberger Schauspielhaus 210 Milliarden Mark bezahlen, was ihnen denn doch zuviel erschien. "Man schaudert vor diesen arithmetischen Schreckgespenstern", schrieb ich ins Tagebuch. Ende 1923 wurde ihnen der Garaus gemacht durch die Einführung der Rentenmark gleich einer Billion (!) Papiergeld!
Der Höhepunkt der Inflation ging einher mit der Empörung über die Erniedrigung Deutschlands durch die Siegermächte des Weltkrieges. Ich erinnere mich, daß wir in dem bekannten Königsberger Weinrestaurant Kükken eine spontane Aufwallung "völkisch-nationaler Gefühle" erlebten, die am Nebentisch im donnernden Absingen des "Deutschland"-Liedes und des "Ehrhardtliedes" einer "Stahlhelm"-Runde kulminierten. Daß wir - meine Eltern und ich - uns nicht an diesem Gesang beteiligten, trug uns mißbilligende Blicke und Äußerungen der Tischnachbarn ein.
"Wer es nicht noch erlebt hat, macht sich heute kaum noch eine Vorstellung von der furchtbaren, nachhaltigen Schockwirkung, die der Friede von Versailles damals in Deutschland ausgelöst hatte. Versailles war für Deutschland, was Brest-Litowsk für Rußland gewesen war: zugleich eine schwere Verwundung und eine tödliche Beleidigung. Deutschland fühlte sich (zugleich) verkrüppelt und geohrfeigt. Es zitterte vor Schmach und ohnmächtiger Wut. Die wenigen Politiker…, die ihren Zorn hinunterschluckten und `Erfüllungspolitik´ trieben, spielten buchstäblich mit ihrem Leben." (Sebastian Haffner in: "Der Teufelspakt - Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg", Manesse Verlag Zürich, 1988).
Reisen ‑ Berge, Städte und die See
Wenn heute Kinder und Jugendliche nach Teneriffa reisen, so ist das nichts Besonderes. Für mich als 15‑Jähriger bedeutete eine Reise in den Schwarzwald ein ungewöhnliches, bis heute nachhaltig gebliebenes Erlebnis. Meine Mutter mußte sich wegen einer nicht sehr schweren, aber doch therapiebedürftigen Lungentuberkulose einer Klimakur in Bad Herrenalb unterziehen. Ich durfte sie, allerdings unter der Bedingung, daß ich „fleißig und artig" bin und „eifrig Klavier übe", in den Sommerferien dort besuchen. Nachdem diese Bedingungen einigermaßen erfüllt waren, fuhr ich zusammen mit „Onkel Golling", einem Freund meiner Eltern, pensioniertem Oberstabsarzt und Junggesellen ‑ er nannte mich liebevoll "Mofchen mit den weichen Ohrchen" ‑ zunächst bis Berlin. Unterwegs hatten wir, wie ich notierte, „sehr nette Reisegesellschaft" : Einen 2jährigen Jungen, der unentwegt schrie und hin und wieder Pipi machte, eine junge Katze und ein idiotisches Mädchen, das unaufhörlich weinte. Nach der Übernachtung bei dem Bruder Onkel Gollings, einem General der Infanterie a. D. ‑ was mir sehr imponierte ‑, reiste ich allein weiter bis Stuttgart, wo ein Onkel meiner Mutter, Max 0sterode, ein großes, von ihm gegründetes und zu Ansehen gebrachtes Musikalien‑ und Musikinstrumentengeschäft in der Hauptstättenstraße 55 besaß. Dort wurde ich von ihm und seiner Frau, Tante Dorle, einer ebenso herzenswarmen wie wohl beleibten und geschäftstüchtigen Schwäbin, freundlichst aufgenommen. In Onkel Max' Geschäft bewunderte ich die Ansammlung von Klavieren, Flügeln, Hausorgeln, Harmonien, Blas- und Streichinstrumenten, Grammophonen, Mund‑, Hand‑ und Ziehharmoniken (Bandonien), die umfangreiche Musikliteratur, die zahlreichen Notenhefte und ‑alben. Die Grammophone ‑ ihr Erfinder Edison hatte sie „Phonographen" genannt ‑ , hatten in den zwanziger Jahren schon nicht mehr die riesigen Schalltrichter, sondern waren zu trichterlosen hölzernen Kästen vereinfacht worden, die bereits ein von Onkel Max' technisch begabtem Schwager Walter Urban entwickeltes, patentiertes Albstellgerät, den „VVumo" ( = Walter Urban, Max Osterode) ‑ Motor enthielt. Onkel Max schenkte mir später zwei einfach zu bedienende Musikinstrumente, eine "Lotosflöte" und eine „Singende Säge", mit denen ich als Student Schlagermelodien zu begleiten pflegte. Die Großstadt Stuttgart mit dem schönen Schloß, dem Aussichtsberg „Bopser" und der „Merinken‑Tante", berühmt durch ihre schwäbisch so bezeichneten „Baisers", bildete den Auftakt zu einer Fußwanderung durch den Schwarzwald von Herrenalb bis Albbruck am Rhein. Die von einer Begeisterung zur anderen schreitende Schilderung seiner Schönheiten, der Berge, Täler, Tannenwälder Seen, Wasserfälle füllt einen 19 Seiten langen Teil meines Tagebuches. Sie schließt mit der auf einer Dampferfahrt von Konstanz nach Lindau angesichts des ersten Blickes auf die Schweizer Alpen niedergeschriebenen Worten: „Es ist alles ganz wundervoll!" Über die Bodenseetage habe ich danach in einem Hausaufsatz „Ein Tag aus meinen Sommerferien" in der Form eines Briefes an meinen Freund Otto Gramsch berichtet. Der Schwarzwald ist seitdem nicht nur meinem Herzen, sondern auch meinem Geiste nahegeblieben: 1952 „pilgerte" ich zu Martin Heideggers Hütte bei Todtnauberg und trank, da er nicht anwesend war, „faute de mieux", ein paar beziehungsreiche Schlucke vom eiskalten Wasser, das dem hölzernen Brunnen vor dem Häuschen entströmte. Etwas später konnte ich in seinem Arbeitszimmer am Rötebuckweg in Freiburg mit ihm allein ein Gespräch führen, das mir dazu verhalf, mich von der „Magie" seines Denkens zu losen und in das, was Denken heißt, zu gelangen, „wenn wir selber denken". So lautet der erste Satz seiner kleinen Schrift .,Was heißt Denken“, die er mir mit der Widmung „Zur Erinnerung an das erste Freiburger Gespräch", 7. Oktober 1952, mitgab. Leider ist es dann nur zu gelegentlichem kurzem Briefwechsel, nicht mehr zu weiteren Gesprächen gekommen.
Vielleicht ist es nicht ganz überflüssig, meinen Erinnerungen an die Schwarzwaldreise eine kleine Notiz zu der Situation Europas im Jahre 1921 hinzuzufügen: Auf unserer Fahrt von Albbruck nach Konstanz mußten wir im Schweizer Städtchen Erzingen aussteigen, unsere Pässe vorzeigen und 20 Centimes, in deutscher Valuta 2,50 Mark, für die Ausstellung eines „Transitscheines" entrichten! In Schaffhausen durfte man zur Besichtigung des Rheinfalles den Zug nicht verlassen! Unser Gepäck hatten wir auf Schweizer Gebiet abliefern müssen, um es erst wieder auf deutschem Boden in Empfang nehmen zu können!
Freundlichere Erinnerungen verbinden sich für mich mit Wanderungen, die ich von Herrenalb aus in Gesellschaft eines jungen Mädchens, Liesel Gerster unternahm. Liesel verbrachte dort mit ihren Eltern die Ferien. Sie war lieb, aber nicht hübsch, und ich hielt die Spaziergänge mit ihr für nicht bedeutsam genug, um mit einem Vermerk in meinem Tagebuch bedacht zu werden. Interessanter war die ‑ ebenfalls, allein wegen zu großen Altersunterschiedes, platonisch distanzierte ‑ Begegnung mit einer Französin, Mademoiselle ChoIIet, die den Tisch meiner Mutter im Herrenalber „Haus Mayenberg“ teilte und mich später in ihren originell‑drolligen Aussprüchen an die „kirgisenäugige Clawdia", Madame Chauchat, in Thomas Manns „Zauberberg" erinnerte. Es war mir nicht lieb, daß meine Versuche, mit ihr alleine ins Gespräch zu kommen, durch die Rufe eines ungebärdigen kleinen Jungen "Scholli, Scholli, komm doch her“ vereitelt wurden. Während von "Scholli", der soviel Älteren, kaum eine Resonanz auf meine still bewundernde Zuwendung zu erwarten war, konnte sich mein jungmännlich erwachendes Selbstwertgefühl an den Worten zweier Berlinerinnen erfreuen: Nach einem weinseligen Abend mit meinen beiden Wandergefährten, einem Vetter meiner Mutter und seinem Freunde, hörte ich, wie die jungen Damen auf mich hinweisend leise sagten: „Der Kleenste, aber der ScheensteI"
Auch die begeisternden, bis in alle Einzelheiten geschilderten Eindrücke einer Reise mit meinen Eltern nach München und Oberbayern im Juli 1923 nehmen einen ansehnlichen Platz in meinem Tagebuche ein. München ist seitdem mit Berlin und Hamburg meine liebste deutsche Großstadt geblieben. Neben dem ‑ später in Flammen aufgegangenen ‑ Glaspalast hatten es mir besonders die Münchener Kirchen angetan. Im Glaspalast entdeckten wir Radierungen unseres ostpreußischen Landsmannes Daniel Staschus und eine Bronzeskulptur des Münchener Bildhauers Parzinger, von dem eine ‑ im Zweiten Weltkriege verlorengegangene ‑ Gipsbüste meines Kopfes stammte. Die Michaelishofkirche, der niedrige Bürgerbetsaal, die Theatiner‑, die Bonifatius‑, die Frauenkirche ‑ sie alle haben wir, zum Teil schon am frühen Morgen, besucht und andächtig bewundert, um zugleich die künstlerische Ärmlichkeit und schmucklose Nüchternheit der evangelischen Kirchen zu beklagen. Zur Enttäuschung wurde nur die Bonifatiuskirche in der Karlstraße, einer römischen Basilika „mit acht, die Vorhalle tragenden Säulen und einem Dach, von vergoldetem Balkenwerk überwölbt", die mich anachronistisch in die Zeit der frühen Christenheit zurücktraumen ließ, bis ich aus dem Baedeker erfuhr, daß sie ‑ Imitatio horribilis! ‑ 1835 bis 50 von Ziebland erbaut sei. Auch in die pseudoromanische Synagoge hatten wir einen nachdenklichen Blick geworfen. Leider mußten wir eines Abends im Mathäserbräu lärmende Trunkenheitsszenen, bei denen meine immer noch schöne Mutter angepöbelt wurde, über uns ergehen lassen und die Flucht ergreifen. Seitdem gehe ich um den Mathäserbräukeller in großem Bogen herum. Eines Sonntags ganz früh ging es zum Kochel‑ und zum Walchensee, von Urfeld aus zu Fuß auf den Herzogstand. Vom Unterkunftshaus der Münchener Sektion des Deutsch‑Österreichischen Alpenvereins unterhalb des Gipfels aus ‑ verbilligter Preis für dessen Mitglieder „nur“ 9.500,‑‑ statt 32.000,‑ Mark „pro Bett und Nacht“ ‑ erlebte ich bei Sonnenaufgang zum ersten Mal den Anblick der schneebedeckten Gipfel der Alpen. Ein Eindruck der nach der ersten Überraschung in andächtiges Staunen und Schweigen überging und mich dem „grauen Alltag in dem dumpfen Tiefland" entrückte. Es folgten Wanderungen im Wetterstein‑ und Karwendelgebirge, durch das Isartal, die Partnachklamm, zum Badersee, durch Untergrainau, Garmisch‑Partenkirchen, Mittenwald und Krün, vielfältige, meist schöne Eindrücke. Weniger schön war die Unterkunft auf dem Heuboden eines Bauernhäuschens in geräuschvoller Nähe des Kuh‑, Schweine‑ und Hühnerstalls, wobei mein Vater sich eine gefährliche Heufeber-Allergie zuzog; nicht gerade angenehm war auch die Übernachtung auf “Tourist‑Matratzen" in der offenen Veranda des später als "Kultururlaubsstätte" so beliebt gewordenen „Schlosses Elmau", und bedenklich hätte auch ein Absturz meiner Mutter von einer ziemlich steilen Felsplatte werden können. Es herrschte Not durch Inflation: Die Bäckerläden waren ausverkauft, wir wurden von Dörfern nach Mittenwald oder Krün beschieden, wo die Einwohner aber schon in langen Schlangen vor den Lebensmittelläden anstehen mußten, der „Nepp" hatte sich auch kleiner Bergdörfer bemächtigt (einmal Ochsenbraten im Wirtshaus 60.000,‑ Mark ein halber Liter Löwenbräu 12 000,‑ Mark, ein Pfund Butter 60.000,‑ Mark, Erdbeeren 20 000,‑ Mark, während in München ein Hackbraten im Hofbräuhaus „nur" 12.000,‑ Mark, ein ganzer Liter Hofbräubier „nur“ 8.400,‑ Mark kostete). Zur „Rekonvaleszenz“ von der Heufebererkrankung meines Vaters genossen wir im Kloster Ettal den Vespergesang der Mönche und die Orgelmusik in der herrlichen barocken Klosterkirche, um anschließend festzustellen, daß eine Flasche Ettaler Abteilikör für eine halbe Million Mark feilgeboten wurde!
Der im wörtlichen Sinne „Höhe" ‑ Punkt unserer Bayernreise war mein Aufstieg zur 2.377 Meter hoch gelegenen Meilerhutte am Fuße der Dreitorspitze, ein alpinistisches Unternehmen, das von meinen Eltern erst nach längeren Diskussionen genehmigt wurde, wobei ich mich bemühen mußte, die „Gefährlichkeit" des Vorhabens herunterzuspielen. Auf dem Wege zum eigentlichen Aufstieg machte ich die Bekanntschaft mit einem älterem Mann aus Wehheim, der vom geliebten Bayernkönig Ludwig II. schwärmte, dem „Ideal eines Monarchen", nach dem sich „alle Bayern zurücksehnen“! Er berichtete vom Tode des Königs, der seinen Arzt, den Psychiater Dr. von Gudden ‑ für mich wieder ein etwas unheimlicher Hauch von Psychiatrie! ‑ mit sich selbst in die Fluten des Starnberger Sees hinabriß, und erzählte von dem großartigen Begräbnis und von der tiefen Trauer des ganzen Landes um den geliebten und verehrten Herrscher. Er wußte auch, daß der Hüttenwärter auf der Zugspitze, als ihm der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 telefonisch mitgeteilt wurde, nur kurz geantwortet habe: „I kimm glei!", „von der Spitz' hinuntergehatscht" sei und sich dem Vaterland zur Verfügung gestellt habe ‑ ein bayerischer Patriot!
Das Gelingen des Aufstiegs ‑ leichte und kurze Kletterei, Drahtseil an der Felswand, Überqueren eines Schneefeldes ‑ und der Höhenblick von der Hütte beflügelten mich zu andächtig‑stiller Begeisterung, im Tagebuch festgehalten mit den Worten: „Der Wolkenschleier zerreißt von unsichtbarer Hand und das schneeweiße Haupt der Zugspitze erhebt sich wie ein riesiger Zuckerhut, weiße Wölkchen wie Wattebäuschen umschieben ihn sanft, blau wölbt sich der Himmel über den Felsen und Tälern ‑ alles Erhabenheit, Majestät, Unendlichkeit! Ich bete, danke, breite die Hände aus und bin ganz still. Diese Natur ist mir heilig, ist mein Gott!"
Auf der Heimreise konnten wir in den Schönheiten der Kirchen Regensburgs - ich zählte dort sechzehn! ‑ schwelgen („Eine so fromme Stadt habe ich noch nie gesehen!") und unseren Freund Werner Kreth besuchen, den zum katholischen Glauben konvertierten späteren Geistlichen, Domvikar und Domorganisten in der Bischofsstadt Frauenburg, der bei Professor Renner, einem Schüler Max Regers; an der Regensburger Kirchenmusikschule studierte.
Der berühmte Dom mit seinem in Silber getriebenen Hochaltar, den zierlichen gotischen Sakramenthäuschen, den Renaissancemonumenten der Grabdenkmäler und den schönen Glasfenstern wurde gebührend bewundert, während die Walhalla, dieser pseudodorische Riesen‑„Tempel" über der Donau, uns zu patriotischen Gefühlen hinriß: „Möge Walhalla", hatte, ihr Stifter, König Ludwig I von Bayern, zur Grundsteinlegung gesagt, förderlich sein der Erstarkung und Vermehrung deutschen Sinnes. Möchten alle Deutschen, welchen Stammes sie auch seien, immer fühlen, daß sie ein gemeinsames Vaterland haben, ein Vaterland, auf das sie stolz sein können, und jeder trage bei, soviel er vermag, zu dessen Verherrlichung!" Gesamtdeutscher Patriotismus!
Im Jahr zuvor hatte ich eine überraschende Beziehung zwischen Regensburg und Marienburg „entdeckt", das wir bei einem Klassenausflug mit unserem kunstsinnigen Deutschlehrer Dr. Motzki kennenlernten: Es gibt einen „Regensburger Altar“ der 14 Nothelfer, der als Dank‑ und Versöhnungsgabe für die Befreiung von einer im 16. Jahrhundert in Regensburg wütenden Pestepidemie von der Fronleichnamsbruderschaft gestiftet und, mit silberbedeckten Madonnenbildern geschmückt, in der Marienburger Pfarrkirche aufgestellt worden ist. Unser eigentlicher Besuch galt natürlich der Ordensburg. Ich suchte ihre Geschichte durch einen phantasiereichen Traum wieder zu beleben. Ein freundlicher Ordensritter fährt uns durch dunkle Gänge, die sich immer mehr mit Scharen von Rittern füllen. Alles strömt in den Kapitelsaal, in den wir einen kurzen Blick werfen dürfen. Auf hohen, kunstvollen Stühlen thronen feierlichwürdige Gestalten um den neugewählten Hochmeister als Mittelpunkt. Wir durchwandern den gotischen Kreuzgang, schreiten durch die schöne „Porta aurea" in die Schloßkirche mit ihren geschnitzten Bänken und reichverzierten Kandelabern, blicken in die kargen Schlafräume der Ritter und sehen sie mit dem neuen Hochmeister im Refektorium versammelt sitzen ‑ mutige, kampferprobte Männer, die ihre Freude über die Wahl mit einem friedlichen Kampf, nämlich dem mit Braten und Wein, feiern dürfen. Zuvor hatten wir den dick‑ und rotwangigen Küchenmeister in seinem Reich, der großen, finsteren Küche des Schlosses, wie einen König walten sehen können. Er ließ den Duft des Bratens genüßlich seine knollige Nase umwehen. Der Herdqualm entschwebte in den gewaltigen Schornstein. Uns entging auch nicht die Bedeutung des an die Außenwand des Speisesaales angebauten „Herrendansker", der dazu bestimmt war, die unverdaulichen Oberreste des Mahles aufzunehmen. Unser freundlicher Ritter begleitet uns dann aus dem lärmenden Festgelage zu der stillen, kalten, prunklosen Gruft der früheren Hochmeister. Das Licht eines flackernden Lämpchens fällt auf die steinernen Betten der Toten, die in der Nachwelt weiterleben als Vorkämpfer des Sieges der christlichen Kultur über die heidnische Natur, des Glaubens über den Unglauben. Eine Sandsteinpforte mit Darstellungen der Himmelfahrt Christi und des jüngsten Gerichts entläßt uns, die wir nun dem Hochmeister‑Palais zustreben. Siegfried von Feuchtwangen hat es1306 ‑ 1309 erbaut. Unser Ritter erzählt uns noch von der Polenkugel, die die schlanke, sich nach oben wie eine Blüte entfaltende, das schwere Gewölbe tragende Säule treffen sollte, aber kraftlos in der Wand stecken blieb. Gemächlich erklärt er die kunstreichen Wand‑ und Glasmalereien des Remters und des Festsaales. Wir treten ins Freie vom Hupen der Autos, Geklingel der Fahrräder, Knarren der Wagen empfangen ‑ der Alltag hatte uns wieder, von keinem freundlichen Ritter waren wir durch die Marienburg geführt worden, sondern von einem milden, alten Kantor. Daß Joseph von Eichendorff, als Oberpräsidialrat der Regierung in Königsberg an der Geschichte der Restauration der Marienburg gearbeitet und eine Tragödie „Der letzte Held von Marienburg" verfaßt hatte, erfuhr ich erst später.
Meine früheste Liebe zur Natur gehörte nicht den Bergen, sondern der See! Als meine Eltern mit mir als etwa 3‑jährigem Knirps zum erstenmal nach Cranz fuhren und ich die Ostsee erblickte, soll ich in die Hände geklatscht und gerufen haben: „Soße Wanne!" (Große Wanne), denn das einzige Vergleichsobjekt für mein kindliches „Thalassa, Thalassas" war bis dahin die Badewanne in Widminnen gewesen. (So nannte ich als kleiner junge die Pfirsiche „Stoff‑Äpfelchen", weil ich zuvor nur Äpfel gekannt hatte.) Wir haben dann fast alle Sommerferien im Ostseebad Cranz verbracht und dort zum Teil bei „Tante Deta" (Grete), der besten, unverheiratet gebliebenen Freundin meiner Mutter und meiner Patentante, gewohnt. Die arme Tante Deta ist im Winter 1944 ‑ 45 bei der Eroberung Ostpreußens durch die sowjetische Armee an Entkräftung, Hunger und Kälte gestorben. Sie wurde tot in einem Straßengraben aufgefunden.
Meine Liebe zum Wasser überhaupt („Hydrophilie") und zur Seefahrt beruht wahrscheinlich auf einem „genetischen Code": Der Vater meiner Mutter war Kapitän und gründete eine Dampfschiffsreederei „Gustav Reck" in Tilsit. Seine Dampfer befuhren den Memelstrom und das Kurische Haff, eines seiner Schiffe nannte er nach dem Vornamen seiner Tochter „Trude“, sein „Flaggschiff' „Herold" war ein beliebter Ausflugsdampfer, beförderte aber auch Frachten auf dem Haff. Sein Sohn wurde ebenfalls Kapitän. Auf dem „Herold" (Schiffsnamen pflegen sonst Feminina zu sein!) bin ich viel später noch mit Antonia über das Haff gefahren. Nach dem Tode meines Großvaters wurde der „Seebäderdienst der Kurischen Nehrung" von der Königsberger Reederei Hermann Götz mit den „Salondampfern" „Cranz", „Memel'' und „Rositten“ übernommen. In Cranz badete ich begeistert in der Brandung ‑ Schwimmen hatte ich frühzeitig in der Braunsberger „Passarge" gelernt ‑ , saß träumend, zeichnend und erste zaghafte Gedichte von Nixen, Nymphen, gläsernen Unterwasserreichen ersinnend, am Strande. Es ging mir mit Cranz und der Samlandküste ähnlich, wie es Thomas Mann in „Lübeck als geistige Lebensform“ von dem Meer seiner Kindheit, der Lübecker Bucht und Travemünde, beschreibt. Nur war es für mich nicht der „Zusammenklang des Meeres mit der Musik", der „in meinem Herzen eine Gefühls‑ und Ideenverbindung für immer einging", sondern es war der Zauber des rhythmischen Wogens und Schäumens, des Sich‑auf‑bäumens und Hinabstürzens der Brandungswellen als Svmbol des Lebens, der mich gefangen hielt und mich heute noch immer aufs neue fesselt, wenn ich auf Norderney bin. „Des Lebens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn ihr der alte, stumme Fels, das Schicksal, nicht entgegenstände", dieser herrliche Bildgedanke HölderIins im „Hyperion" hat mich in meinem Leben getreulich begleitet. Nicht weniger liebte ich die Kurische Nehrung mit Nidden, dem so berühmt gewordenen Fischerdorf, in dem die Maler Pechstein, Bischof‑Kulm, Kallmeyer, Partikel, Birnstengel beim Gastwirt BIode wohnten und wirkten, mit dem nach Tymian‑ und Katzenpfotchenblüten duftenden Dünenweg zur See und mit dem Sommerhaus von Thomas Mann. Unser Freund, der Kunsthistoriker Dr. Erich Krause, vielgereister Kenner auch der ägyptischen Geschichte und Kultur, hatte sich dort mit ihm über den im Entstehen begriffenen Roman „Josef und seine Brüder" unterhalten. Klaus Mann nannte Nidden ‑ in seinem Lebensbericht „Der Wendepunkt", 1951 ‑ „ein idyllisches Ostsee‑Dorf, berühmt für die wüstenhafte Weite seiner Dünenlandschaft und für eine besondere Art von Elchen, die mit ihren glatten, massiven Leibern dem Spaziergänger und Autofahrer die sandige Straße versperrten…" „Das war Nidden ‑ primitiv und pittoresk, nicht ohne einen gewissen düster‑traulichen Reiz..“
Weniger ans Herz gewachsen war mir das Frische Haff mit seiner Nehrung und dem Ostseebad Kahlberg, obwohl es Braunsberg weit näher lag. Und doch taten geruhsame Kahnfahrten auf dem Haff in der Nähe der Passargemündung meinem träumerischen Herzen wohl. Sie lebten in der Erinnerung wieder auf, als ich Goethes „Züricher See" las: „…die Welle wieget unsern Kahn im Rudertakt hinab, hinauf…“. Nur waren es nicht „Berge, wolkig, himmelan", die „unserm Lauf begegneten", sondern schilfbestandene Ufer und die fernen Dünenlinien der Nehrung. Den „Rudertakt" übten wir Schüler mit den Booten unseres „Gymnasial‑Rudervereins" auf der Passarge bis zum Haff. Der Rudersport war neben dem Schwimmen die einzige Sportart, die ich einigermaßen intensiv betrieben habe. Nur das Reiten machte mir mindestens die gleiche Freude. Ich hatte es als 13‑Jähriger im Braunsberger Landgestüt auf einem alten, ruhigen Hengst erlernt, der sich ungeachtet seiner 23 Jahre des Namens ..Don Juan" erfreuen durfte. Ich bin bis in meine spätere Hamburger und Königsberger Zeit hinein immer wieder gerne geritten und übte mich im Hamburg‑Flottbeker Reitstall sogar im leichten Hürdenspringen bei Musik. Der Rudersport aber erzog uns nicht nur zur körperlichen Kräftigung und zum sportlichen Gemeinschaftsgeist, sondern auch zur Abhärtung. Beim sogenannten „Abrudern" zum Jahresende mußten wir bei 3 Grad unter Null im bloßen Trikot unseren „Vierer“ etwa 20 km weit auf der Passarge bis zum Gasthaus „Pfahlbude" an der Flußmündung rudern. Die Muskelarbeit schützte uns vor Abkühlung, und wir wurden von Dr. Candidus BarzeI, dem Vorsitzenden des Vereins mit anerkennenden Worten und vom Gastwirt Koskowski mit einem steifen Grogchen belohnt! (Zu den gastronomischen Spezialitäten Pfahlbudes gehörten auch Brat‑Aal, Aal in Gelee oder Dill und köstliche Fischsuppe.) Außer dem Wassersport interessierte ich mich schon sehr früh für das Segelfliegen, das ich auch heute noch für eine der erzieherisch wertvollsten Sportarten halte. Einen seiner Pioniere, den Lehrer Ferdinand SchuIz, besuchte ich als Schüler in seiner Königsberger Werkstatt und beobachtete ihn beim Bau eines Segelflugzeuges. Er war durch Weltrekordflüge mit seiner primitiven, selbstgebauten „Besenstielkiste“ über der Kurischen Nehrung berühmt geworden und imponierte mir sehr. 1938 habe ich das Segelfliegen in Pillkoppen bei Nidden (die Segelflugschule wurde „Picebefä", Abkürzung für "Pillkoppener B‑ und C-Fabrik", genannt) erlernt und dort die „A"-Prüfung, ein Jahr später in Wenningstedt auf Sylt die B‑Prüfung bestanden. Zur „C" bin ich wegen des Kriegsausbruches nicht mehr gekommen. Durch Ferdinand SchuIz angeregt, ließ ich damals als Assistenzarzt an der Königsberger Universitäts‑Nervenklinik im Rahmen der von mir eingeführten Arbeitstherapie von psychisch Kranken Einzelteile von Segelflugzeugen (Rumpfteile, Tragflächen usw.) herstellen, die dann von technisch Sachverständigen geprüft, für einwandfrei befunden und in Segelflugzeuge eingebaut wurden. Die mit diesen „Maschinen" fliegenden Piloten wußten allerdings nicht, daß sie sich Flugzeugen anvertraut hatten, die in den wichtigsten Teilen von Schizophrenen und Epileptikern hergestellt waren!
Ende Juni 1923 beschlossen meine Freunde Otto und Heinz, mit mir einige von der Schulfron unbeschwerte Ferientage im Ostseebad Kahlberg auf der Frischen Nehrung zu verleben. Leider scheiterte dieses Dreier‑Vorhaben an einem Streik der Landarbeiter, der zu unserer Einberufung als „Technische Nothelfer“ führte. Wir mußten auf die verlockende Absicht, als „feine Pinkels" mit weißen Hosen („Schmand‑Bixen") und eleganten Strandschuhen auf der Uferpromenade zu flanieren, verzichten und hatten statt dessen als Landarbeiter bei der Heuernte zu helfen, ich auf dem Gute eines Herrn von BüIow in Rauschnick bei Heiligenbeil. Wir wurden von den streikenden Landarbeitern als „Streikbrecher“ mit Spaten und Heugabeln bedroht, genossen aber die harte Arbeit des Heustakens und Tennenfegens bei kräftiger Landkost mit Schwarzbrot und frischer Milch in vollen Zügen. Von dem dafür erworbenen Gelde, dem ersten selbstverdienten meines Lebens, habe ich mir Herders Werke angeschafft, die ich heute noch in derselben Ausgabe besitze
Meine vita activa der Schulzeit schlug jäh in eine contemplativa um, als mir der hervorragende (jüdische) Königsberger Augenarzt Prof. Pieck wegen meiner Kurzsichtigkeit eine Atropinkur verordnete. Sie bestand außer der regelmäßigen Anwendung der pupillenerweiternden Atropintropfen, die mein Vater vornahm, in einem strengen Lese‑ und Schreibeverbot und dem Gebrauch einer Brille mit grünen Gläsern für die Dauer von vier Wochen. Damit sollte das Auge ruhiggestellt und der Verlängerung des Augapfels, die der „Myopie" zugrundeliegt, entgegengewirkt werden. Diese Kur hat zwar mein Sehvermögen nicht verbessert, sie verschaffte mir aber die Annehmlichkeit, eine Zeitlang von Klassen‑ und Hausaufsätzen sowie von schriftlichen mathematischen Aufgaben befreit zu werden. Sie gab mir zugleich willkommene Gelegenheit zur eingehenden Innenbetrachtung. Ich nutzte sie denn auch weidlich aus und versuchte, ein wenig mehr Ordnung und Klarheit in mein pubertär‑unruhiges und widerspruchsreiches seelisches und geistiges Leben zu bringen: In das Hin‑ und Hergewoge zwischen patriotischen und weltbürgerlichen Gefühlen, konservativen und antibürgerlich‑aufsässigen Impulsen, zwischen Naturreligion und Christentum, biologischen und literarischen Interessen, Triebregungen und Reinheitsidealen. Ich litt unter der Zerrissenheit, der „Strukturlosigkeit des Zeitgeistes, der Erniedrigung des Nationalgefühls durch die Schmach von Versailles", empörte mich gegen "Vaterlandslosigkeit", Materialismus, Kriegsgewinnler‑ und Protzentum, gegen den „Valutadrachen“ und seine Kulturfeindlichkeit, ich sehnte mich nach Frieden zwischen den Völkern ‑ am meisten schmerzte mich die „Erb"-Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich! ‑, suchte nach einer Verständigung zwischen den Konfessionen und strebte nach einem festen Halt im Glauben an Gott, rang aber nur um seine Form und wußte noch nicht recht wie sie mit Inhalt erfüllt werden sollte und könnte. Freundschaft bedeutete mir viel, während Liebe zur Weiblichkeit sich ‑ mit Ausnahme einer kurzdauernden, heftigen „Romanze" mit einer weit älteren, geschiedenen Frau ‑ noch nicht über zarte, sehnsuchtsvolle Gefühlsseligkeiten hinausgewagt hatte. Das Problem des Todes lag mir noch fern. Selbsttötung hielt ich für ethisch nicht vertretbar im Gegensatz zu der Ansicht unseres liberal gesonnenen evangelischen Religionslehrers, Prof. SchIonski, der den selbstgewählten Tod einer jungen Braunsberger Lehrerin von ihren Motiven her zu verstehen und zu rechtfertigen suchte.
Für eine Art „vorläufiger Lebensbilanz" war es mit 16 Jahren natürlich viel zu früh. Aber ich prüfte mich selbst und suchte mich im besonderen etwas mühsam und mit wechselndem Erfolge einer inneren Schwäche zu erwehren: Der Eitelkeit. Anlaß zu dieser unliebsamen Eigenschaft gab mir nicht nur die Bemerkung der beiden Berlinerinnen bei der Schwarzwaldwanderung („Der Kleenste, aber der Scheenstel"), sondern auch ein Briefchen, das mir mein Freund Otto einmal schrieb. Darauf stand ein Loblied auf mich, das mit den Worten schloß: Every such a man!" Zum Glück hat sich ein regelrechtes Liebesgedicht nicht erhalten, das ein älterer Mitschüler mir auf dem Schulhof heimlich zusteckte Er war eine dichterisch begabte, herrlich unbürgerliche, vagantenhaft ‑ liebenswerte, an Francois ViIIon erinnernde Natur. Das Poem schmeichelte mir zwar, berührte mich aber mit Unbehagen, ähnlich wie die herausfordernd ‑ schmachtenden Blicke, die mir ein damals sehr bekannter Kabarettist, Paul O'Montis, auf der Strandpromenade in Cranz zu‑ und nachwarf. Ich verstand ‑ und verstehe heute nach ‑„Liebe", „Eros“ in einem allumfassenden Sinne als Liebe zur Gott‑Natur, als Liebe zum Leben, zur Menschheit, zur Schönheit, zum „Sein“. Lao‑Tse, Platon, Goethe ‑ ein zu weites Feld, als daß ich es hier zu betreten wage. Trotz schmerzlicher Enttäuschungen neigte ich zur Idealisierung der „Frau“, ohne dieser Neigung bis heute ganz untreu geworden zu sein!
Niemals sah ich Anlaß, mit Thomas Mann zu sagen, ich verabscheue die Schule. Vielmehr war und bin ich ihr dankbar für das, was sie mir an Bildungselementen und geistiger Erziehung mitgegeben hat. Nur das letzte Schuljahr wurde mir „sauer'. Meine Freunde Otto und Heinz hatten ihr Abitur bereits hinter sich, waren Studenten, Corpsstudenten, freie Burschen. Ich hingegen fühlte mich weiter ins Joch der Schule gezwungen und kannte es kaum erwarten, es mit dem eigenen Abitur abzuschütteln. „Nun noch ein schwarzes Jahr!", schrieb ich in mein Tagebuch. Zudem bedurften die Latein‑ und Griechisch-Kenntnisse meiner Unter‑ und Oberprima dringend der Verbesserung, die uns von besonders strengen Lehrern aufgenötigt wurde. ("Sie werden rasseln'", drohte unser Griechisch‑Lehrer Hohmann dem einen oder dem anderen, wobei sein Vollbart, der eine Schilddrüsenvergrößerung (Kropf) bedeckte, bedenklich ins Zittern und Wanken geriet!). Ich war in Gefahr, mich durch allzuviele Interessen zu verzetteln und litt unter dem Konflikt zwischen ihnen und den Erfordernissen des Pensums. Auch das ging vorüber, und nach gut, wenn auch ohne Befreiung vom „Mündlichen" bestandenem Abitur war ich „frei". Wirklich frei?
Hier endet mein Schülertagebuch. Am 18. Geburtstage, dem 24 Juni 1924, also noch vor dem Abitur, schloß ich es ab mit den Worten „Das Tagebüchlein ist aus. Vieles Kindliche und Törichte steht darin, besonders am Anfang, vieles, was ich jetzt belächeln muß. Manches an Ansichten, die ich längst verwarf. Aber es gibt vielleicht den kleinen Ausschnitt einer Entwicklung." Ich habe das Büchlein dann mit einer dankbaren Widmung meinen Eltern wiedergeschenkt.
Corpsstudent in Königsberg
Der Abiturient, der das Studium erwartete, wurde - und wird vielleicht heute noch - "Mulus", "Maulesel", genannt, weil er, vergleichbar der Kreuzung von Pferdehengst und Eselstute, weder Schüler noch Student oder "nicht Kix, nicht Kax", war. Für mich stand fest, daß ich, dem väterlichen Leitbild folgend, Medizin studieren und Arzt werden wollte. Ebenso fraglos war, daß ich dem Königsberger Corps Littuania angehören würde, dessen begeisterte Mitglieder mein Vater und sein Vetter, ein im Ersten Weltkriege gefallener Rechtsanwalt, mein Patenonkel, waren. Von Bedenken und Vorurteilen gegenüber studentischen Verbindungen im allgemeinen und denn "Kösener Corps" im besonderen fühlte ich mich frei. Ich war im Gegenteil stolz darauf, Corpsbruder meines Vaters zu werden, zumal ich wußte, daß unter den Argumenten, mit denen waffenstudentische Korporationen kritisiert wurden, zumindest zwei nicht zutrafen: Nationalismus und Antisemitismus! Die "Corps" - das Wort, von der französischen Fassung des lateinischen "Corpus" = Körperschaft abgeleitet, hat sich um etwa 1800 eingebürgert - verstehen sich nach einer Definition aus dem Jahre 1848 als "brüderliche Vereinigungen von Studenten, die ohne Rücksicht auf eine für Alle bindende politisch bestimmte Richtung auf Grundlage einer besonderen Constitution den allgemeinen Zweck haben, den von dem allgemeinen Senioren-Convent (SC) aufgestellten Comment und das deutsche Studentenwesen in seiner Eigentümlichkeit aufrecht zu erhalten". Ihre Aufgabe sei es (stilistisch umständlich und holperig formuliert), "den geistigen und geselligen Verkehr der Mitglieder zu fördern, dieselben für das Leben und für die Gesellschaft heranzubilden, bei völliger Freiheit der Individualität, d.h. ohne Beeinflussung ihrer politischen, religiösen und wissenschaftlichen Richtung". "Dies Ziel wird erstrebt auf Grundlage des Prinzips, stets auf Mannesehre zu halten und stets brüderliche Freundschaft untereinander zu halten." Als junge, leicht aufsässige "Füchse", aber auch später als "Corpsburschen" haben wir uns bisweilen belustigt gefragt, worin die Förderung des "geistigen Verkehrs" bestehen sollte, wenn der Corpsbetrieb sich im wesentlichen auf die zwei wöchentlichen Kneipen, die Semesterantritts- und abschlußkneipen, die Sommer- und Stiftungsfeste, den ordentlichen und außerordentlichen Corps-Convent (CC) beschränkte. Ich kann mich jedenfalls nicht an geistige Anregungen durch Vorträge, Diskussionen, Leseabende oder Ähnliches erinnern. Die eigentliche Aufgabe der "Littuania" bestand, ihrem landsmannschaftlichen Charakter entsprechend, in der Pflege des Heimatgeistes und der Heimattreue. Sie ergab sich aber schon ganz von selbst aus der gemeinsamen Zugehörigkeit zu dem nordöstlichen, "Preußisch-Litauische` genannten Teil Ostpreußens. Denn der Nachwuchs des Corps rekrutierte sich in der Hauptsache aus Absolventen der Gymnasien in Tilsit (an dem auch mein Vater sein Abitur bestanden hatte), Insterburg, Gumbinnen. "Preußisch-Litauen" war als Siedlungsgebiet, "Wildnis", durch den Deutschen Ritterorden und durch Herzog Albrecht mit Hilfe litauischer und masovischer Auswanderer kolonisiert worden. Später, als Ostpreußen durch die Pest und den Tatareneinfall stark entvölkert war, wurde diese Kolonisation unter den Königen Friedrich dem Ersten und besonders unter dem "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm dem Ersten und durch die ihres evangelischen Glaubens wegen vertriebenen Salzburger Immigranten verstärkt. Die Einwanderer aus Litauen und Masuren vermischten sich mit der deutschen Bevölkerung und gingen völlig in ihr auf. Die Bezeichnungen "Littauer" und "Masuren" hatten nur noch eine geographische Bedeutung. Da die meisten der in Königsberg 1820 gegründeten Landsmannschaften aus "Litauen" stammten, nannten sie sich "Littuania", obwohl sie alle Deutsche waren. In Verkennung dieses geschichtlich-ethnographischen Faktums und der unpolitischen Zielsetzung unseres Corps hat im Jahre 1982 eine nationallitauische Exilgruppe in Australien, "Lithuanian Academic Fraternity Romuva", Verbindung mit dem Hamburger Corps "Albertina" als Traditionscorps der Littuania, Hansea und Baltia aufgenommen, um der Gemeinsamkeit des Schicksals der Besetzung Litauens und Nord-Ostpreußens durch die Sowjet-Union Ausdruck zu verleihen. Ober einen höflichen Schriftwechsel und die Teilnahme eines würdigen und sympathischen Vertreters der "Romuva" an einer Kneipe ist dieser gutgemeinte Annäherungsversuch allerdings nicht hinausgekommen. Die Geschichte der Landsmannschaft und des späteren Corps Littuania ist insoweit interessant, als sie die bis heute fortbestehende Polarisierung in konservativ-restaurative und liberal-fortschrittliche Richtungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. Die erste im Rahmen der "Allgemeinen Burschenschaft" gegründete Landsmannschaft Littuania mußte sich ein Jahr später, 1821, auflösen, weil Metternich nach der Ermordung des deutschen, in russischen Diensten stehenden Schriftstellers August von Kotzebue durch den Burschenschafter Karl Sand mit den "Karlsbader Beschlüssen" vom August 1819 die Verfolgung der "Demagogen" und ihrer "geheimen oder nicht autorisierten Verbindungen" durchgesetzt hatte. Als solche galt auch die Königsberger "Allgemeine Burschenschaft", die schon im Dezember 1819 verboten wurde. Anstelle der Ersten Landsmannschaft Littuania entstand 1821 ein Kränzchen", dem auch der Student der Rechts- und Staatswissenschaften Eduard Simson angehörte. Simson war bereits mit 26 Jahren ordentlicher Professor an der Albertus-Universität, wurde 1848 vom Rat seiner Vaterstadt Königsberg in die Frankfurter Nationalversammlung berufen und zu deren Präsidenten gewählt. Im Auftrage der Nationalversammlung bot er an der Spitze einer Deputation 1849 dem König Friedrich Wilhelm dem Vierten die deutsche Kaiserkrone an, die dieser jedoch ablehnte, da das demokratische Angebot dem legitimen "Gottesgnadentum" widersprach! Der König versuchte dann aber mit Hilfe der Fürsten und im Zusammenwirken mit Simson die Reichsgründung voranzutreiben. Simson wurde später Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1867 des Norddeutschen Reichstages und trug am 18. Dezember 1870 dem Preußischen König Wilhelm die Kaiserkrone an, die dieser nur widerwillig annahm. Zum Präsidenten des Ersten Deutschen Reichstages gewählt und 1879 zum ersten Präsidenten des Reichsgerichtes in Leipzig berufen, wurde ihm vom Kaiser der Schwarze Adlerorden, mit dem der erbliche Adel verbunden war, verliehen. Als Wahlspruch wählte Simson das Horazische Wort "sapere aude incipe!", von Kant in seiner Schrift .Was ist Aufklärung?" frei übersetzt: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Simson hatte schon als 18-Jähriger das juristische Doktorexamen an der Albertus-Universität bestanden, was Zelter Goethes Freund, diesem brieflich mitteilte. Goethe lud den jungen Doctor juris utriusque daraufhin zu einem Besuch in Weimar ein, und Simson nahm im Jahre 1828 an einem Empfang und Abendessen bei Goethe teil. Er blieb ein so großer Verehrer und Kenner seiner Werke, daß er zum ersten Präsidenten der 1885 in Weimar gegründeten Goethe-Gesellschaft gewählt wurde. Das Bild dieses hervorragenden Mannes - er war Jude - hängt heute in der Littauer-Kellerkneipe unseres Nachfolgecorps Albertina in Hamburg. Auf einer Photographie des Inneren des ehemaligen Königsberger Corpshauses aus dem Jahre 1935 (!) ist kein Bild von ihm zu sehen, dafür über dem Verhandlungstisch des CC-Zimmers ein Portrait des "Führers und Reichskanzlers" Adolf HitIer! Diese - allerdings mehr optische - Konzession an das NS-Regime konnte nicht verhindern, daß im selben Jahr der Kösener Seniorenconventsverband und mit ihm alle Corps aufgelöst wurden. 1938 entstand auf Initiative des Landgerichtspräsidenten Funk Littuaniae, eines durch versehentliche Handgranatenexplosion an den Armen verstümmelten und im Gesicht entstellten hochintelligenten, mir etwas zwielichtig erscheinenden Mannes, anstelle des Corps eine "Kameradschaft Tannenberg", deren »Führer" er selbst wurde. Er ist 1943 in Rowno (Ukraine) ermordet worden.
Zurück zur Geschichte der "Littuania": Der erste Senior der am 31. Januar 1829 unter der Förderung Simsons von sieben Studenten gegründeten Landsmannschaft Littuania, stud. Jur. Gustav von SaItzwedeI, später Regierungspräsident in Gumbinnen, sollte auf Anordnung des Oberpräsidenten von Schön , in dessen Amt Joseph von Eichendorff tätig war, einer Haussuchung unterzogen werden. Er konnte sich ihr durch Ausweichen nach Berlin und Verbrennen des Mitgliederverzeichnisses und aller Papiere entziehen. Später wurden die Landsmannschaften von der Regierung geduldet und vom Verdacht der politischen Betätigung - "schon wegen ihrer Armut"! - befreit. Die Littuania wählte die Farben GrünWeiß-Rot und ein Wappen mit dem sich aufbäumenden Littauer-Schimmel und der Devise "Durate et vosmet rebus servate secundis!" aus der Aeneide des VergiI, I, 207. Simsons politischer Gegner, der - ebenfalls jüdische - Königsberger Arzt Dr. med. Johann Jacoby, ehemals auch Mitglied des "Littauer-Kränzchens", forderte als Vertreter der liberalen Bürgerschaft der Stadt die Einführung einer demokratischen Verfassung mit parlamentarischer Volksvertretung. (Von ihm ist folgende Anekdote überliefert: Der streitbare Jacoby war wieder einmal wegen politischer Äußerungen verhaftet worden. Zu dieser Zeit fand vor dem Königsberger Stadtgericht eine Verhandlung gegen ein Mädchen statt, die jäh unterbrochen werden mußte, weil die Angeklagte ein Kind bekam. Kurz entschlossen ließ der Richter, ein guter Bekannter Jacobys diesen aus der Zelle in den Gerichtssaal rufen, um ihn zu bitten, der Angeklagten beizustehen. Jacoby leitete die Geburt erfolgreich und wurde mit verbindlichem Dank in seine Zelle zurückgeführt. So war es damals!) 1848 spaltete sich die Littuania in ein schon seit 1836 bestehendes Corps mit hierarchischer Gliederung in Corpsburschen, "Renoncen" (von "renoncer" = verzichten, nämlich auf die Wahl zum Corpsburschen) und "Füchsen" mit ganz verschiedenen Rechten unter den Farben Grün-Silber-Rot, daher "Silber-Littuania" genannt, und in eine Landsmannschaft mit gleichen Rechten für alle Mitglieder und den Farben Grün-Weiß-Rot, die sich "Tuch-Littuania" nannte. 1851 haben die "Silber-Littauer" die Königsberger Corps-Landsmannschaft "Baltia" mitbegründet. Es gab also, der allgemeinen gesellschaftlich-politischen Polarisierung Konservativ - Liberal - entsprechend, an der Universität Königsberg zwei verschiedene Korporationen mit unterschiedlicher Struktur, aber gleichem Stiftungstag, gleichem, Namen und gleichem Wappen, ohne daß dadurch etwa eine persönliche Gegnerschaft unter den "Coleurbrüdern" entstanden wäre! Erst im Jahre 1894 wurde die Landsmannschaft Littuania in den "Hohen Kösener Senioren-Conventsverband" ("H.K.S.C.V.") aufgenommen, also endgültig als Corps konstituiert. Alle Königsberger Korporationen waren seit ihrer Gründung schlagende Verbindungen. Das heißt: Das Fechten war Pflicht jedes ihrer Mitglieder, wenn auch zunächst nur als Erwiderung auf eine - oft provozierte - Beleidigung. Allmählich bildeten sich feste Regeln ("Pauk-Comment") heraus, und das Schlägerfechten wurde zu einem studentischen Sport, der von einem Fechtlehrer erlernt und auf dem "Paukboden" geübt werden mußte. Ich bin noch von dem zu meiner Zeit berühmten und beliebten, mit einem grau-weißen Vollbart würdig geschmückten Fechtlehrer namens GrünekIee unterrichtet worden, und zwar in der von einem wohlhabenden Königsberger Chirurgen, Dr. med. Lange, gestifteten "Palästra Albertina". Die jeweiligen "Paukanten" wurden von den Fechtchargierten in sogenannten "Bestimmzetteln" für die scharfen Mensuren bestimmt, die deshalb "Bestimmungsmensuren" genannt werden. In Königsberg habe ich neun, in München bei dem dortigen Corps Makaria drei weitere Mensuren gefochten, wurde einmal von dem damals besten Königsberger Fechter nach 11 Minuten abgestochen", und erlebte in München eine kleine, mir heute ziemlich lächerlich erscheinende "Genugtuung", indem ich dem dortigen besten "S.C.-Fechter" selbst eine "Abfuhr" erteilte. Zu Triumph war kein Anlaß, denn in Königsberg wurde mit dem "Glockenschläger" schnell und elegant gefochten, in München mit dem "Korbschläger" langsamer und plumper (mehr nach Holzhacker-Buam-Art), so daß ich bei nur durchschnittlichen Fechtleistungen meinem bajuwarischen "Gegenpaukanten" überlegen war. Eine Mensur mußte, wenn sie nicht nur technisch, sondern auch "moralisch" einwandfrei sein sollte, ohne Zeichen von Angst oder Erschrecken (man nannte es "Kneifen"!) gefochten werden. "Moralisches" Verhalten wurde auch gefordert für das nachfolgende "Flicken" durch den "Paukarzt", bei dem die Kopf- und Gesichtswunden, z.B. auch die an der Lippe, ohne örtliche Betäubung zusammengenäht wurden, oft von Studenten oder Kandidaten der Medizin! Für mich als nicht gerade besonders robusten Jüngling bedeutete das Fechten eine harte Erziehung zur Selbstbeherrschung, zum Widerstand gegen die Angst als Feigheit und zum Ertragen von Schmerzen. Allerdings habe ich später unblutige Sportarten wie das von mir betriebene Segelfliegen als geeignetere Möglichkeiten der Selbsterziehung schätzen gelernt. Auf die "Schmisse" an Stirn, Wange und Kinn, die ich in Königsberg "bezogen" hatte, war ich in pubertärer Eitelkeit zunächst noch stolz. In reiferen Jahren hätte ich gerne auf sie verzichtet, zumal Antonia nichts von dieser Art akademischer Erkennungszeichen hielt. Ich überlegte sogar, ob ich die leichten Wulst ("Keloid"-) - bildungen nicht kosmetisch retuschieren lassen sollte!
Die Corps waren und sind wie alle traditionsgebundenen studentischen Korporationen reine Männerbünde. Als einer unserer Corpsbrüder einmal fragte, warum eigentlich nicht auch Damen an dem "Katertag" nach den Stiftungsfesten teilnehmen sollten, erhob ein "alter Herr" seine Stimme mit den denkwürdigen Worten: "Das fehlte noch, daß uns die Frauen den Katertag versauen!" Heute ist das männerbündische Prinzip zum Glück aufgelockert durch die selbstverständlich gewordene Teilnahme der Frauen, Witwen, Partnerinnen oder Töchter von Corpsbrüdern an den sommerlichen Begegnungen in der Lüneburger Heide, durch den allerdings auch schon früher üblichen Ball beim Stiftungsfest und durch die Pflege des Kontaktes mit den Witwen der Littauer. Eine Corpsschwester, Frau Ilse MöIIer, hat sich sogar besondere Verdienste um den Zusammenhalt außerhalb der konventionellen Veranstaltungen des Corps erworben. Eine Teilnahme von Frauen an den Kneipen, Kommersen, Corpsburschen-Conventen usw. erscheint allerdings nach wie vor und in Zukunft undenkbar. Neuerdings scheinen feministische Tendenzen in die studentischen Männerbünde einzudringen: An der Universität Tübingen sollen sich weibliche Korporationen etabliert haben, die bestimmte Gepflogenheiten und Rituale der privilegierten Männerverbindungen - mit Ausnahme des Fechtens ! - nachahmen!
Den eigentlichen Wert meiner Zugehörigkeit zu einem Corps sah und sehe ich heute noch im Geist der Treue, der uns verbindet und die Treue zur geliebten alten ostpreußischen Heimat umschließt. Es war der einst berühmte Dichter, Schriftsteller und Politiker Wilhelm Jordan, der in seinem großen Stabreim-Epos "De Nibelunge" das "Hohe Lied der Treue" besungen und beschworen hatte. Jordan gehörte mit Simson , Jacoby und sechs weiteren Mitgliedern der Littuania zu den Abgeordneten der Deutschen Bundesversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848. Untrennbar vom Geist der Treue war und blieb der Geist der Freiheit, der schon frühzeitig von den Landsmann- und Burschenschaften namentlich auch von der Littuania vertreten und - mit bestimmten Einschränkungen - praktiziert wurde. Der Littauer Jordan war von den Ideen Ludwig Feuerbachs und Hegels begeistert und zählte zu den markantesten Abgeordneten und brillantesten Rednern des Frankfurter Parlaments. Er war mit Ferdinand Gregorovius aus Neidenburg, dem späteren Ehrenbürger von Rom, der dem Königsberger Corps Masovia angehörte, befreundet. Im Jahre 1843 wurde er dazu ausersehen, Franz von Liszt, bei dessen Aufenthalt in Königsberg auf der Konzertreise zum Hof des Zaren in Petersburg eine Ehrenurkunde auszuhändigen und ihm eine mit einem goldenen Albertus geschmückte Kappe auf das Haupt zu setzen. Liszt gefiel es in Königsberg so gut, daß er dort länger blieb als vorgesehen war. Er befreundete sich eng mit Jordan und begleitete ihn bis an dem Memelstrom (Njemen). Als sich die beiden Freunde 35 Jahre später in Budapest wiedersahen, wohin Jordan zu einer Lesung seiner "Nibelungen" gereist war, wurde ihm zu Ehren ein von diesem selbst verfaßtes Lustspiel aufgeführt. Nach der Vorstellung gab Liszt in seinem Hause ein Fest für Jordan, der sich, in sein Hotel zurückgekehrt, mit folgendem Gedicht bedankte: "Die Jünger selbst des Kant und Hegel erwärmtest Du zu lichter Glut. Sie schmückten in der Stadt am Pregel Dein Haupt mit einem Doktorhut. Dann, während oft ich Deinem Spiele, Dicht neben Dir allein gelauscht, Hat nach verwandtem Ruhmesziele Ein Drang von Hoffnung mich berauscht. Du nahmst mich mit. Erst auf der Brücke Des breiten Njemen macht' ich kehrt, Seitdem nach einem Künstlerglücke Wie Deines hat mein Herz begehrt." Nun - das "Künstlerglück" Liszts hat das von Jordan - zum Glück! - überdauert. Immerhin sind Hegel und der Fluß, an dem unsere liebe Heimatstadt liegt, um des Reimes willen mit einer überraschenden poetischen Würdigung bedacht worden! Als literaturhistorische Randbemerkung sei erwähnt, daß Jordan eine "metaphysische Dichtung" mit dem Titel "Demiurgos" hinterlassen hat, ein Vermächtnis seiner nicht zuletzt durch das Erlebnis der Nationalversammlung geprägten Weltanschauung, das damals sogar mit Goethes "Faust" verglichen wurde, aber zum "Ruhmesglücke" des ostpreußischen Dichters nicht beitragen konnte. Am 31. Januar 1929 wurde das hundertste Stiftungsfest der Littuania als "ältester Verbindung an der Albertina", in großem, auch von der Öffentlichkeit, der Universität und den Vertretern des Staates, der Gesellschaft wie des kulturellen Lebens gewürdigtem Rahmen gefeiert. Die in Anführungsstriche gesetzte Bezeichnung war ein Kompromiß, der erst nach einem aus heutiger Sicht kleinlichen "Anciennitätsstreit" mit den drei anderen Königsberger Corps Baltia, Masovia und Hansea um das Gründungsdatum als Corps gefunden wurde. Unser Corpsbruder Kurt RiedeI hat seine Rede zum Festkommers dieser Zentenarfeier mit den Worten geschlossen: "Wenn an einer künftigen Wende unserer Corpsgeschichte wieder einmal der Blick auf die Vergangenheit zurückschauen wird, dann möge das Urteil über unsere Generation so ausfallen, daß sie nach Kräften bemüht gewesen ist, sich der Männer würdig zu erweisen, welche unsere Littuania während eines Säkulums durch alle Schwierigkeiten geführt haben. Heute stehen wir wieder an einer Wende, die den Blick auf die Vergangenheit richten und in die Zukunft werfen läßt." Ich selbst sehe in der Erinnerung an die Geschichte der Littuania eine Verpflichtung zur Pflege des Erhaltungswürdigen an der Tradition, aber auch zum Abwerfen überholter Formen und Inhalte und zum Mut, Neues in einer von Grund auf veränderten Welt und Gesellschaft zu versuchen - eine Aufgabe, die durch einförmiges und zeitraubendes Festhalten an alten Kneip- und Kommersritualen und durch die Lücken in der Pflege geistiger Lebenselemente und kultureller Anregungen nicht gerade erleichtert wird. Heute, da die Einheit Deutschlands unter völlig neuen gesellschafts-, staats- und weltpolitischen Bedingungen wieder hergestellt ist, sollten wir uns vielleicht daran erinnern, daß die damaligen ostpreußischen Abgeordneten des Paulskirchen-Parlaments zu einer Deutschen Reichsverfassung vom 28. Mai 1849 beigetragen haben, zu deren Grundlagen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 ebenso gehört wie die Bundesverfassung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867, die Reichsverfassung von 1871 und die Weimarer Verfassung von 1919. Wir müssen die Vergangenheit kennen, wenn wir die Gegenwart verstehen und für die Zukunft arbeiten wollen! Aber: "Alte Traditionen werden nicht durch lebhafte Worte lebendig, sondern nur durch lebendiges Beispiel!" Dies hat Hans-Joachim Schoeps, 1980 verstorbener Ordinarius für Religions- und Geistesgeschichte an der Universität Erlangen - Nürnberg, in einem Vortrag "Preußen - Gestern und Morgen" am 24. Juni 1961 vor dem Corps Borussia in Bonn gesagt. Schoeps, Sohn eines "Königlich Preußischen Oberstabsarztes", entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie in der Mark Brandenburg und ließ sich durch seine 1938 erzwungene Emigration nach Schweden - seine Eltern fanden im Konzentrationslager den Tod - nicht beirren, als konservativer Demokrat und kämpferischer Geist für die Besinnung auf die viel geschmähten Tugenden des alten Preußentums einzutreten: Preußen mußte gegen eine "armselige Wirklichkeit" aus einem Ethos des Dienens, des Opfermutes und der Leistung erst geschaffen werden. Schoeps dachte nicht etwa an eine Restauration Preußens. Der geschichtliche Bezug auf das Preußentum hatte für ihn einen unmittelbaren Sinn: Er bedeutete ihm Aufforderung und Gebot als Vorbild und Beispiel und damit zugleich als Kritik am Ungeist des Zeit-Geistes im Kampf gegen den Tanz um das "Rote Kalb", für Freiheit und Eigenverantwortlichkeit und für ein "von innen her geordnetes Leben" des Menschen. Als einer der letzten Repräsentanten des enzyklopädischen Gelehrtentums im 19. Jahrhundert hat Schoeps neben seinen Untersuchungen zur urchristlichen, christlichen, judenchristlichen und jüdisch-deutschen Religions- und Kulturgeschichte sowie zur philosophischen Anthropologie der neuesten Zeit ("Was ist der Mensch?", 1960) die Preußische Staatsidee als Grundlage und Beispiel eines Rechtsstaates aus ihren Verschüttungen durch die politische Liquidation Preußens, die von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg verfügt wurde, wieder hervorgeholt und begründet. "Der Preußische Staat ist kein Bauern-, kein Kaufmanns-, kein Adels-, aber auch kein militärischer Staat", so steht es in den "Preußischen Provinzialblättern oder Vaterländischem Archiv für Wissenschaft", Band XIII, Königsberg 1835, 317 (zitiert nach Schoeps, "Preußen-Bilder und Zeugnisse", Propyläen Verlag Berlin, 1967). Hier sei daran erinnert, daß Preußen in eineinhalb Jahrhunderten nur 8 % der europäischen Kriege geführt hat, Frankreich hingegen 28 %, was natürlich keine moralische Rechtfertigung des Krieges bedeuten kann! In dem genannten Buch schreibt der preußisch-jüdische Autor weiter: "Wenn sich das Grundgesetz der Bonner Bundesrepublik im Artikel 33 zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums bekennt, wie sie auch schon in der Weimarer Verfassung verankert waren, so kann man zureichend genau angeben, worin sie tatsächlich bestanden haben und heute noch bestehen. Es waren und sind nämlich uneigennützige Hingabe an den Dienst, ein hohes Maß an Nüchternheit und Sachlichkeit in der Urteilsbildung - auch wenn politisch die Wellen hochgehen -, gewissenhafte Pflichterfüllung und absolute Unbestechlichkeit, ferner die allem äußeren Pomp abgewandte Schlichtheit des Auftretens, wie sie sich in Graf SchIieffens Preußischem Wahlspruch ausdrückte, mit dem er das Wesen Moltkes charakterisieren wollte: "Viel leisten, wenig hervortreten, mehr sein als scheinen." "Es war ferner der Wille zur Sparsamkeit, der sich immer an die untere Grenze dessen hielt, was als ,standesgemäßes Auftreten' galt, denn die selbstlose Hingabe an das Amt und damit an den Staat, was war der Inhalt des spezifisch preußischen Beamtenethos ..."
Hermann Sudermann und Littuania
Geschichte ist nach Arnold Toynbee nicht in abgeschlossenen Ganzheiten zu sehen, sondern muß als ein "Gewebe" begriffen werden. In dem corps- und zugleich literatur-geschichtlichen Gewebe erscheint interessant und des kritischen Nachdenkens wert, was Hermann Sudermann im "Bilderbuch meiner Jugend" über seine Episode bei der Littuania berichtet. Er wurde für die damalige Landsmannschaft Littuania durch einen Erstchargierten namens Neiß "gekeilt", wie man das Anwerben von jungen Studenten nannte. (Der Name ist tatsächlich als Senior in der von Dr. jur. Walter Passauer verfaßten "Corpstafel der Littuania zu Königsberg" unter dem SommerSemester 1874-75 verzeichnet). Mit Hilfe eines "tiefgründigen Gespräches über Menschenwerte, über die Geschichte des Erlösungsgedankens, den Wettstreit werdender Weltanschauungen" gelang es Neiß, ihn zu gewinnen. Als Sudermann sich, begeistert von dem geistigen Höhenflug des Gespräches, und hocherfreut, einen Freund gefunden zu haben, zur Mitgliedschaft entschloß, mußte er schwere Enttäuschungen erleben: Kaum "Fuchs" geworden, wurde er "angeschnauzt und umhergestoßen, herumkommandiert und geschurigelt", und mußte anhören, daß Neiß, auf ihn hinweisend, zu seinem Nachbarn sagte: "Es war ein hartes Stück Arbeit mit dem Schafskopf!" Es erwies sich, daß vom "Geist der Freiheit" nichts zu spüren war! "Die Fron, in die ich mich begeben hatte, nahm ihren Fortgang, und so schwer lastete sie auf mir, daß für den eigentlichen Zweck meines Daseins nur wenig Kraft und innere Anteilnahme übrig blieb." Der Trinkzwang war Sudermann ebenso zuwider wie die Pflichtmensur. Dabei betont er, daß er kein "Kneifer" war, sondern leidenschaftlich gern gefochten hat und "sogar zu wohlberechtigten Hoffnungen" berechtigte. Auch im "Suff' stand er seinen Mann, brachte es "auf achtzehn Seidel" an einem Abend und verstand sich so gut zu trainieren, daß er "im zweiten Semester nie mehr die Besinnung verlor." Daß der Ehrbegriff einer studentischen Korporation nicht mit dem eines jungen Dichters übereinstimmen muß, hat Sudermann schmerzlich erfahren, als durch eine Indiskretion bekannt wurde, daß er, ein "krummer Fuchs" anstatt "allabendlich auf die Kneipe zu kommen, auf seiner Bude hockt und - was tut? .. Dramen schreibt!" Der dramenschreibende Fuchs und spätere hochberühmte Dichter der Bühnenwerke "Ehre", "Heimat", "Die Raschhoffs", "Johannesfeuer" sah sich dem Spott und Gelächter der "Corona" ausgesetzt, wurde den durchreisenden "Alten Herren" als Sehenswürdigkeit vorgeführt und allenfalls für geeignet gehalten, Bierzeitungen zu liefern - eine Kränkung, die Sudermanns heftige, nicht in allem gerechte Kritik an den Littuania verstehen läßt. Den Rest gab ihm eine offizielle Rüge, die ihm erteilt wurde, weil er aus Kummer über den Tod eines von ihm nur keusch geliebten, lungenkranken jungen Mädchens außerstande war, bei der regelmäßigen Gesangstunde eines der fröhlichen Studentenlieder mitzusingen. Als er bei der nächsten Versammlung, anstatt bereuend zu Kreuze zu kriechen, eine donnernde Rede gegen die unerhörte Sklaverei hielt, der er als freier Bursch ausgesetzt sei, wurde sein Mitschuldiger freigesprochen, er aber mit einer Rüge bestraft. Er verließ die Versammlung, tat sein grün-weiß-rotes Band säuberlich in ein Briefkuvert, legte seine Austrittserklärung dazu und war - frei! Hierzu hat ein Tübinger Corpsstudent, H. Fortmann, in der Deutschen Corpszeitung vom November 1990 erklärt, daß die Niederlegung des Corpsbandes einen Eidbruch bedeute, der nicht nur "moralisch verwerflich" sei, sondern auch juristisch einen Straftatbestand darstelle! Von dem Eid, der mit der Verleihung des Bandes geschworen wird, könne nur das Corps selbst, vertreten durch den "F.C.C." ("Feierlichen Corps-Convent°), zwangsweise oder auf Vereinbarung, entbinden! Ein Corps sei kein "Verein", aus dem man nach eigenem Belieben austreten könne! Wenn diese Ansicht richtig sein sollte, hätte ich selbst mich vor etwa 30 Jahren "moralisch verwerflich" verhalten und "strafbar" gemacht, als ich mein Band niederlegte, weil das Verhalten eines Corpsbruders gegen die Begriffe Ehre, Treue, Brüderlichkeit und Fairness auf das Gröbste verstieß, ohne daß der Alt-Herren-Verein des Corps bereit war, sich von ihm zu trennen. Ich sah darin, vielleicht in unnötiger Empfindlichkeit, einen Mangel an Solidarität mit mir, obwohl die Mehrzahl der Corpsbrüder meine Ansicht teilte, daß dieser Mann eine querulatorische Persönlichkeit, für unsere Gemeinschaft unerträglich geworden war. Ich habe meinen etwas überzogenen Entschluß später revidiert und mein Band wieder angelegt, nachdem jener Ruhestörer sich selbst von uns getrennt hatte.
Ich erwähne dies, um darzutun, daß eine rigorose Auffassung wie die des Herrn Fortmann im Widerspruch zum Recht des Einzelnen steht, seinem Gewissen folgend, über Verbleib oder Nicht-Verbleib im Corps zu entscheiden. Der Eid mag zwar an die Korporation binden, aber er entbindet nicht vom eigenen Gewissen, und es ist eine unzulässige Anmaßung, wenn die Freiheit des Mitgliedes, auch ohne "F.C.C."-Beschluß sein Band zurückzugeben, als "unmoralisch" oder als "Straftatbestand" verurteilt wird! Eine solche Einstellung widerspricht auch dem alten preußischen Grundsatz der Toleranz und der Achtung vor dem "freien Ungehorsam" gegenüber der Staatsdoktrin. Die Generäle von SeydIitz und Yorck von Wartenburg, die aus eigener Verantwortung dem Befehl des Königs zuwider handelten und dabei ihren Kopf riskierten, der Domänenpächter Wilhelms II. in Cadinen, der den Kaiser mit Erfolg verklagte und seinen Prozeß in drei Instanzen gewann, weil dieser ihn öffentlich in seiner Berufsehre beleidigt hatte, um ihn aus dem Pachtverhältnis vorzeitig entlassen zu können (!) - diese und andere Beispiele bezeugen eine Haltung, die der Obrigkeit kein absolutes Recht zubilligt, sich über die Unabhängigkeit des Einzelnen hinwegzusetzen! Es ist Hans-Joachim Schoeps als Historiker Preußens zu verdanken, das Zerrbild des Preußentums vom "Kadavergehorsam", Militarismus, Junkertum usw. als Verfallserscheinungen der Wilhelminischen Zeit dargestellt und das "Janusgesicht Preußens", dieses "gleich zu hassenden und sehr zu liebenden Preußen", wie Theodor Fontane es nannte, klar herausgearbeitet zu haben. Gegenüber den oben angedeuteten menschlichen Unzulänglichkeiten, die zum corpsstudentischen wie zu jedem anderen Zusammenleben gehören, hat sich für mich doch immer wieder der Geist der Treue als der eigentliche innere Wert des Corps erwiesen. Ich habe dies in einem Dankesbrief zu meinem 80. Geburtstag an die "Vereinigung der Angehörigen des Corps Littuania" zum Ausdruck zu bringen versucht: "... Wenn man die im 90. Psalm vorgesehene Höchstgrenze menschlichen Daseins überschritten hat, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen: Ergebnis: Manches Erreichte blieb hinter dem Erstrebten zurück. Aber: ,O blicke nicht nach dem, was jedem fehlt! Betrachte, was noch einem Jedem bleibt!', sagt Leonore zur Prinzessin in Goethes ,Tasso'. Was bleibt? Die Dankbarkeit für ein Leben im Dienste des Helfens und für das Geschenk der Freundschaft, Treue und Liebe. Zu diesem Geschenk gehört auch die Treue, die mich mit der alten, lieben Littuania verbindet ..." Die alte Treue ist es, die sich gerade auch in unserem späteren Leben erweist, wenn wir uns beim winterlichen Stiftungsfest in Hamburg und beim sommerlichen Heidetreffen zusammenfinden. Es ist die. Vertrautheit mit Menschen aus der ostpreußischen Heimat, die Gemeinsamkeit der Erinnerung, die innere Nähe, die uns im Grunde mehr verbindet als die zufällige äußere Zugehörigkeit zum Corps - ohne die es allerdings nicht zu dieser menschlichen Beziehung gekommen wäre. Bei unserem 155. Stiftungsfest, 1984, sagte unser späteres Ehrenmitglied Dr. jur. Carl Theodor Peicher in seiner Festrede treffend, in einem Zeitwandel von unerhörten Ausmaßen habe sich eine Idee, vor 155 Jahren geboren, durchgesetzt und bewahrt, eine Idee der Treue, der Verantwortlichkeit und der Hingabe, eine Idee "von solcher Irrationalität, daß sie zum mindesten in unserem so ,vernünftigen' Zeitalter schon längst hätte untergehen müssen." "Das so Unbegreifliche ist offenbar stärker und beständiger als äußere Macht, wirtschaftlicher Erfolg und technischer Fortschritt." Daß das Corps eine "Gemeinschaft von Individualisten" ist, zeigt sich am Beispiel von Männern so unterschiedlicher Geistesart, weltanschaulicher, politischer Richtung und biographischer Entwicklung, die einmal Corpsstudenten waren, wie: Karl Marx (!), Egon Erwin Kisch, Otto Fürst von Bismarck, Wilhelm Liebknecht, Theodor Körner, Justus von Liebig, Wilhelm Freiherr von KetteIer (Erzbischof), Alfred Brehm, Emil von Behring, Gottlieb Daimler, Alfred Herrhausen, Hanns Martin SchIeyer, Graf von der Schulenburg (Widerstandskämpfer gegen Hitler), und schließlich Wilhelm II. von Preußen, Deutscher Kaiser. Auch Walter Eucken, der mit seinen "Grundlagen der Nationalökonomie" die theoretische Basis der sozialen Marktwirtschaft geschaffen hat (er wird jetzt, 1991, mit einer Briefmarke der Deutschen Bundespost geehrt) war als Kieler Sachse Corpsstudent, hat aber aus Protest und aus Solidarität mit seinem Bruder, dem wegen seiner jüdischen Ehefrau der Austritt aus dem Corps nahegelegt worden war, 1935 das Band niedergelegt!
Medizinstudent in Heidelberg
Die Wahl des Medizinstudiums war für mich nicht nur durch den Beruf meines Vaters motiviert, sondern auch durch ein frühzeitiges Interesse an "sozialhygienischen" Problemen und an der sozialen Seite der Alkoholfrage. Seltsamerweise hatte ich schon als Schüler der oberen Klassen den Wunsch, später einmal "Honorarprofessor für Sozialhygiene" zu werden, nicht ahnend, daß mir dann tatsächlich eine Honorarprofessur für Psychiatrie mit sozialpsychiatrischer Orientierung an der Medizinischen Hochschule Hannover übertragen werden sollte. So können spätere Linien des Lebens schon im Vorbewußtsein vorgezeichnet sein! Auch von den in den zwanziger Jahren Aufsehen erregenden konstitutionstypologischen Veröffentlichungen ("Körperbau und Charakter") des Psychiaters Ernst Kretschmer fühlte ich mich lebhaft angesprochen. In den ersten drei Königsberger Semestern trat das Studium allerdings hinter den corpsstudentischen Verpflichtungen ziemlich kläglich zurück. Ich beschloß daher, das Versäumte nachzuholen und mit meinem Corpsbruder Frank Borchert und dem Segen unserer Eltern nach Heidelberg zu gehen, um dort das Nützliche einer intensiven Vorbereitung auf das medizinische Vorexamen ("Physikum") mit dem Angenehmen des vielbesungenen und noch unverfälschten "Alt-Heidelberg" zu verbinden. Physik wurde von dem Nobelpreisträger Philipp Lenard gelehrt, einem genialen Experimentator und Entdecker der Kathodenstrahlen, aber auch glühenden Judenhasser und Bewunderer Adolf Hitlers und Alfred Rosenbergs. Lenard pflegte nur solche Studenten selbst zu prüfen, die er, ihrem Aussehen und ihrer Körpergröße nach als "arisch" gelten ließ! Die Anderen mußten sich mit der Prüfung durch seinen Oberassistenten und späteren Nachfolger Professor August Becker begnügen, was nicht unbedingt einen Nachteil bedeutete, da sein Chef als der weitaus strengere Prüfer gefürchtet war. Zur rassischen Beurteilung ließ Lenard sich die Kandidaten persönlich vorstellen. Mich würdigte er trotz brauner Augen und dunkler Haarfarbe (Erbteil meiner Mutter) des zweifelhaften Vorzuges, zur Prüfung durch ihn zugelassen zu werden, wobei meine Körpergröße von 1,80 m als arisierend-mildernder Umstand gewirkt haben mag. Lenards Antisemitismus hatte sich auf Albert Einstein konzentriert, dessen Relativitätstheorie er als "Judenbetrug" bezeichnete und, im Widerspruch mit seiner eigenen "Aethertheorie" stehend, als "unbewiesene Hypothese" abtat. Es störte ihn nicht, daß die Gültigkeit der Einsteinschen Theorie mit der experimentell unwiderlegbare Formel E = mc2 bewiesen und von der großen Mehrzahl der theoretischen Physiker anerkannt war. Sie schien zudem auch durch eine totale Sonnenfinsternis in den Tropen (im Mai 1919) "bis zu einem gewissen Grade" empirisch bestätigt zu sein. In seinem fanatischen Judenhag verstieg Lenard sich soweit, daß er unverhüllt die Beseitigung Walter Rathenaus forderte und nach dessen Ermordung sich weigerte, die für den 27. Juni 1922, den Tag seiner Beerdigung, angeordnete Staatstrauer einzuhalten! Als er es ablehnte, die Flagge des Heidelberger Physikalischen Universitäts-Institutes auf Halbmast zu setzen, "wandte sich der sozialdemokratische Vorsitzende der Studentenschaft an die Gewerkschaftsführer, die ihre Mitglieder mobilisierten und zum Institut marschierten, um mit Lenard zu sprechen". Sie wurden vom zweiten Stock her aus einem Schlauch mit kaltem Wasser begossen, worauf sie in das Institut eindrangen, geringen Sachschaden anrichteten und Lenard zwangen, mit ihnen "unter Begleitung einiger Polizisten" zum Gewerkschaftshaus zu gehen. Unterwegs "wurden Rufe laut, die forderten, der Professor solle in den Neckar geworfen werden" - eine Legende, die ihn beinahe zum Märtyrer gemacht hätte und noch zu meiner Zeit - fünf Jahre später, 1927, - umging. Um die Menge zu beschwichtigen, wurde Lenard in Schutzhaft genommen, aber noch am selben Abend entlassen. Dieser Vorfall hatte einen großen Einfluß auf sein späteres Leben: Er betrachtete ihn einerseits als eine ihn schwer erniedrigende Beleidigung, andererseits aber - im Sprachgebrauch des Nationalsozialismus - als ein "Ehrenzeichen". Der akademische Senat untersagte ihm bis auf weiteres, das Institut zu betreten. Aber seine Studenten sammelten 600 Unterschriften für eine Eingabe, mit der seine Studenten sammelten 600 Unterschriften für eine Eingabe, mit der seine Wiedereinsetzung durch das Badener Kultus- und Unterrichtsministerium gefordert und auch erwirkt wurde. Als das Ministerium wegen seiner Weigerung, die Staatstrauer für Rathenau einzuhalten, ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleitete und ihn mit einer schriftlichen Rüge bestrafte, reichte er seinen Rücktritt ein. Er beschloß jedoch nach einer erneuten Unterschriftensammlung seiner Studenten und Mitarbeiter, die seine Wiedereinsetzung forderten, im Amt zu bleiben, und so habe ich ihn als wissenschaftlich weltberühmten und politisch rechts-radikalen Universitätslehrer kennen gelernt. Seine Vorlesungen waren immer sorgfältig vorbereitet und mit "bühnenreif" zelebrierten Demonstrationen, durch Erzählungen von großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen gewürzt, höchst eindrucksvoll und lebendig. Einer seiner Assistenten, Ramsauer behauptete, Lenards Persönlichkeit und seine Unterrichtsmethoden vermittelten in dem riesigen Hörsaal das Bild eines "Priesters der Physik"! Dabei entsprach dieser "Priester der Physik" in Aussehen und Gestalt - dunkelhaarig, schmächtig, höchstens mittelgroß - keineswegs seinem rassistisch geprägten Ideal eines arisch-nordischen Menschen. Eine jüdische Studentin, die in der obersten Reihe des Hörsaals - sie kam wie ich bisweilen zu spät - neben mir zu sitzen pflegte, mokierte sich zu mir darüber und las während der Vorlesung Lenards den vor kurzem (1926) erschienenen Roman "Der Teufel" des jüdischen Autors Alfred Neumann. Die Vorfälle um das Staatsbegräbnis für Rathenau und vollends ein Freispruch des sozialdemokratischen Vorsitzenden der Studentenschaft trieben Lenard "immer mehr in die Arme der Nationalsozialisten". Sein Laboratorium wurde zum "Zentrum rechtsradikaler Politik". In einem überschwenglichen Huldigungsschreiben bekannte er sich öffentlich zu HitIer und seiner Bewegung, wobei er sich nicht scheute, den "Geist des Führers und Ludendorffs (!)mit dem Galileis, Newtons, des Führers und Ludendorffs (!)mit dem Galileis, Newtons, Keplers Faradays zu vergleichen - ungeheuerliche Entgleisung eines genialen Forschers und fanatischen Psychopathen in einer Person! Im Jahre 1928 besuchten Hitler und sein Stellvertreter Heß ihn nach einer Rede in seiner Heidelberger Wohnung zu einem Gespräch über die "germanische religiöse Bewegung", das Lenard als "eines der denkwürdigsten Ereignisse meines Lebens!" bezeichnete. Sein kritikloser Antisemitismus hatte ihn dazu hinreißen lassen, gegen die Verleihung des Nobelpreises an Einstein beim Nobelkomitee zu protestieren! Die Vorliebe für Theorien und Abstraktionen stempelte er als "englisch" und "jüdisch" und damit als "natur- und wissenschaftsfremd" ab. Der Arier beuge sich vor der Natur in Bescheidenheit und Demut, während der Jude anmaßend und überheblich auf sie herabsehe! Nun - den "Arier" Lenards scheint die Natur nicht gerade mit den Gaben der Bescheidenheit und Demut ausgestattet und vor "jüdischer" Anmaßung und Überheblichkeit bewahrt zu haben! Psychologisch interessant ist immerhin, daß sich bei ihm ein rivalitätsmotiviertes Ressentiment gegenüber Einstein mit der Bereitschaft zu fanatischer Aggressivität verbunden und in kritikloser, alle rationalen Sicherungen durchschlagender und ehthischen Gegenmotive aufhebender Feindseligkeit abreagiert hat. Wenn Lenards die Vorliebe für Theorien und Abstraktionen für "jüdisch" und "wissenschaftsfremd" hielt, so hatte er die Tatsache verdrängt, daß er sich, um seinen jüdischen Rivalen zu bekämpfen, als sogenannter "Arier" selbst einer wissenschaftsfremden Theorie und Abstraktion bediente, nämlich der nationalsozialistischen Rassenlehre! Erstaunliche Selbsttäuschung eines großen Naurwissenschaftlers und bedeutenden Universitätslehrers! Sein Judenhaß verband sich mit heftiger Polemik gegen alles Englische - ein Vorurteil, dem auch ein anderer Nobelpreisträger und Hitler-Bewunderer anhing: Knut Hamsun!
"Arische Physik"
Ungeachtet der Tatsache, daß ihre Grundsätze voller, sich gegenseitig aufhebender Widersprüche und ihre Repräsentanten zum Teil zerstritten waren, verfolgte die "arische Physik" seit 1935 ein klares politisches Ziel: Wissenschaftliche Gegner als "jüdisch" denkend in Mißkredit zu bringen und ihre eigenen Gefolgsleute in akademisch einflußreiche Stellen zu lancieren. Dies geschah denn auch mit wirksamer Unterstützung durch Alfred Rosenberg und Teile der SS! Zu den Opfern dieser Politisierung der Physik gehörte Werner Heisenberg, den Stark auf infame Weise als "Geist von Einsteins Geist" verunglimpft hatte. (Ich entnehme diese und andere geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Einzelheiten zu den verhängnisvollen Abwegen einer ihrem Wesen nach exakten Wissenschaft dem wichtigen, überaus gründlich dokumentierten, in deutscher Ausgabe 1980 erschienenen Buch eines Historikers an der Ohio State University in Columbus, USA, Alan D. Beyerchen: "Wissenschaftler unter Hitler-Physiker im Dritten Reich". Der Autor bezieht sich hierbei im besonderen auch auf Lenards grundlegendes vierbändiges Werk "Große Naturforscher' (1929), das in 65 biographischen Skizzen den Nachweis erbringen soll, daß "die großen wissenschaftlichen Leistungen ausnahmslos auf Persönlichkeiten arisch-germanischer Rassenherkunft zurückgingen"! Alles in allem lehrreich - warnende Beispiele für die Nachwelt angesichts heute nicht minder gefährlicher Wahrheits- und Machtansprüche einer Ideologisierung und Politisierung der Wissenschaften!)
Heidelberger Ordinarius für Chemie war zu meiner Zeit - im Wintersemester 1926127 - Karl Freudenberg , ein ebenfalls bedeutender Forscher und hervorragender, aber von uns Studenten wegen seiner Strenge bei der Prüfung gefürchteter Lehrer. Er ließ regelmäßig mindestens die Hälfte der Physikumskandidaten durchfallen. Als Lenard nach dem Kriege vor eine Spruchkammer gebracht werden sollte, setzte Freudenberg sich als amtierender Rektor der Universität mit Erfolg dafür ein, daß er verschont wurde, weil es "unehrenhaft wäre, den betagten Physiker zu demütigen"! Seinen und Lenards Vorlesungen habe ich die Einführung in die Grundlagen der Physik und Chemie zu verdanken, von denen allerdings nicht sehr viel haften geblieben ist. Aber in den Praktika, an denen man teilnahm, um im Examen besser abzuschneiden, lernten wir selbst zu experimentieren. Sonst sind mir aus der Heidelberger Studienzeit nur die Persönlichkeiten der Anatomen KaIIius und Hoepke in lebendiger Erinnerung geblieben. Geheimrat KaIIius, eine vornehme Erscheinung von gütigem, feinsinnigem Wesen, Meister in der dozierenden Vermittlung und künstlerischen, mit bunten Kreiden an die Tafel geworfenen Einzeldarstellungen des menschlichen Körperbaus, erfreute sich bei uns, nicht zuletzt auch als milder Prüfer, ungeteilter Beliebtheit. Wohl weniger wegen meiner Detailkenntnisse als einer sorgfältigen Präparation des Ganglion spheno-palatinum bedachte er mich mit einer "Eins" im Physikum, mit der die "Zweien" in den anderen Fächern gekrönt wurden. KaIIius war ein Bewunderer des Schönheitsprinzips, das sich im Aufbau der Gewebsstrukturen und Zellverbände ausdrückt. Schon als Schüler habe ich einzelne Zellformen und die verschiedenen Arten von Blutzellen mit Feder und Tusche gezeichnet und in der allerfrühestens wissenschaftlichen Arbeit meines Lebens unter dem Titel "Die Zelle als Baustoff des Lebens - ihre Entstehung, Organisation, Leistung und ihre Ausbreitung im Weltenraum als Theorie" meinen Eltern zum Weihnachtsfest 1924 gewidmet. Daher bedeutete mir die Arbeit im Präpariersaal bei KaIIius eine willkommene Erweiterung meiner anatomischen Interessen, mit der das ziemlich eklige Herumschneiden an Leichen - Köpfen und Körperteilen (ich besitze noch Photographien von diesem schaurigen Tun!) einem praktisch-wissenschaftlichen Zweck dienen und sogar noch ästhetisch sinnvoll erscheinen konnte! Ich sehe KaIIius noch vor mir, wie er das leider mißlungene Ergebnis der Präparierübung eines Studenten betrachtete und mit Trauer in seiner tiefen, wohlklingenden Stimme beklagte: "Herr Kollege (so redete er uns junge Adepten an)! Die schöne Fascie (die sehnig-faserige Bindegewebshaut, die Muskeln und Muskelgruppen umgibt), dieses Wunderwerk der Natur, haben Sie mir roher Hand zerstört! Gott verzeihe es Ihnen!" Während ich KaIIius verehrte, liebte ich geradezu seinen Oberassistenten, den damaligen Privatdozenten Hermann Hoepke, der mit uns Studenten wie ein älterer Bruder umging. Es wäre absurd gewesen, in ihm einen jener Hochschullehrer zu sehen, die bei der Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre als "Träger von Talaren mit dem Muff von tausend Jahren" geschmäht wurden, oder ihn etwa später, als ihm von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Frau die Lehrbefugnis entzogen worden war und er als schlichter praktischer Arzt in der Heidelberger Altstadt wirkte, einen "Halbgott in Weiß" zu nennen! Ich erinnere mich an einen lustigen Ausflug, den er mit unserer Examensgruppe nach Frankfurt unternahm. Er nannte mich immer "Jauz", weil er das handschriftliche "n" meines Namens als "u" gelesen hatte. Ich will ihm immer noch ein paar Zeilen der Erinnerung und des Dankes schreiben - in der Hoffnung, daß es dazu nicht zu spät ist. Denn er hat inzwischen - 1991 - ein Lebensalter erreicht, bei dem, wie es von dem alten Adenauer hieß, "mit seinem Ableben nicht mehr zu rechnen ist!: Mit 102 Jahren(!) soll er täglich noch behenden Schrittes und ohne Stock in Heidelberg spazieren gehen! Hermann Hoepke ist als "Altstadt-Doktor" und Stadtrat zur Legende der Stadt geworden, von den Bürgern hoch geachtet wegen seiner Verdienste um die Sanierung der Altstadt, von den Patienten verehrt wegen der Güte seines Herzens, von den Kollegen gewürdigt wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen, namentlich der Erforschung der körpereigenen Abwehrkräfte gegen den Krebs durch das lymphatische System, 1976 ausgezeichnet mit der höchsten Ehrung, die von der Deutschen Ärzteschaft vergeben wird: Der Paracelsus-Medaille! Nach fünfjährigem Verbot der Lehrtätigkeit wurde er 1945 auf den Lehrstuhl für Anatomie der Universität Heidelberg als Nachfolger seines Lehrers KaIIius berufen. In der "köstlichen Muße des Ruhestandes", wie er schreibt, hat er Homers "Odyssee" und Ilias'' in Distichen übertragen. Schillers "Spaziergang", in Distichen verfaßt, hatte ihn angeregt, anstelle des umständlichen, mit Füllwörtern beladenen, gestelzt wirkenden deutschen Hexameters der rhythmischen Wechsel von Hexametern und Pentametern zu wählen, um den Vers; wie Rudolf Hagelstange in einer Besprechung der Hoepkeschen "Ilias"-Obertragung gesagt hat, lesbarer (wohl auch vor-lesbar!) und "moderner" zu machen. Hoepkes Neufassung der Odyssee" ist mir in einer vom Witzstock-Verlag prächtig ausgestatteten, mit Holzschnitt von Frau Hella Ackermann bereicherten Ausgabe von meiner Nichte Juliane zum siebzigsten Geburtstag geschenkt worden. Ich lese immer wieder gerne darin und wünschte, Homers epische Gesänge mögen mehr gelesen werden, wenn sie auch heute keine Aussicht haben, "die größte Verbreitung" zu finden, die sie bereits im 7. nachchristlichen Jahrhundert ein halbes Jahrtausend hindurch genossen hatten. "Seit dem fünften Jahrhundert war Homer Schulbuch, aus dem die Kinder Religion und Geschichte lernten, und als Zitatenschatz (auch schon als parodistischer) in aller Munde", schreibt Egon FriedeII, von Hermann Hoepke in einem Vorwort zu seiner "Odyssee"-Übertragung zitiert. An der Heidelberger Universität lag in den zwanziger Jahren "ein geistiges Fluidum in der Luft", das von der geisteswissenschaftlichen Fakultät auch in die juristische und theologische, ja, selbst in die medizinische Fakultät weiterwirkte", das schreibt der große Archäologe Ludwig Curtius in seinen Lebenserinnerungen "Deutsche und antike Welt". Ich brauche außer ihm selbst nur die Namen Max und Alfred Weber, Karl Jaspers, Heinrich Rickert, Hermann Oncken, Gustav Radbruch, Ernst Robert Curtius (mit Ludwig nicht verwandt) und nicht an letzter Stelle Friedrich GundoIf zu nennen. Ludwig Curtius berichtet anschaulich von Besuchen Max Schelers , des Grafen Hermann Keyserling, Hugo von HofmannsthaIs in Heidelberg und spricht von der geistigen Verbundenheit mit früheren Studenten, die auf dem "Heidelberger Geist" beruhte, auf der "idealistischen Weltoffenheit für alle Probleme des modernen Lebens und auf dem Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit ihnen gegenüber". Dies sei "die besondere Leistung dieser Universität" gewesen, und deshalb sei keine andere deutsche Universität durch die nationalsozialistische Revolution so hart getroffen worden wie sie!" Nach 1933 gab es in Heidelberg zwei Ruinen, oben die des Schlosses, unten die der Universität!"
Da ich von den Vorbereitungen zum Physikum erheblich in Anspruch genommen war, mußte ich mich darauf beschränken, von dem "Heidelberger Geist" wenigstens einen Hauch zu verspüren: Es waren die Shakespeare-Vorlesungen Friedrich GundoIfs. Was er vortrug, weiß ich im einzelnen nicht mehr. Aber wie er war und wirkte, ist mir in lebendiger Erinnerung geblieben, etwa so, wie Ludwig Curtius ihn schildert: ,Seine schlanke, große Erscheinung, die in dem blassen, glattrasierten, schmalen, ebenmäßigen Gesicht die jünglingshafte, beinahe griechische Schönheit bis zu seinem allzu frühen Tode nicht verlor, hatte in seinem rasch dahineilenden Gang etwas eigentümlich wehend Flüchtiges, als ob er nicht ganz zu dieser Welt gehörte und über sie ,hinwegschwebte'. "Der eigentliche Motor in ihm war die wirkliche dichterische Sehnsucht, die er in seinem Lehrer Stefan George erfüllt sah, der er auch in seinen letzten Jahren in zahlreichen lyrischen Gedichten Ausdruck verlieh, zu denen er, sich selbst ironisierend, bemerkte: ,Ich dicht' halt zu gerne!' Aber dem reinen und wirklichen Dichtersein stand in ihm sein eigener, bedeutender, rationaler, heller Verstand im Wege, der es genoß, das Wesen einzelner dichterischer Persönlichkeiten oder einzelner Schöpfungen in möglichst knappen aber zugleich umfassenden Begriffen zu charakterisieren."
Gerne wäre ich noch ein weiteres Semester in Heidelberg geblieben, um ohne Examensdruck GundoIf, Jaspers, Alfred Weber zuhören. Schweren Herzens mußte ich Abschied nehmen, einem unwillkommenen Gebot meines Corps folgend, zusammen mit Frank Borchert bei dem Münchener Corps "Makaria" ("Glückseligkeit") aktiv zu werden. Wir hatten gemeinsam im "Prinz Karl", einem ehemaligen Hotel am Fuße des Schloßberges, gewohnt. Unsere Wirtin war Frau Bensemann, eine rundlichfreundliche Witwe mit rothaariger, von uns nicht begehrter Tochter. Vom Corpsleben haben wir außer gelegentlicher Teilnahme an Kneip-Abenden der "Rhenania" nicht viel wahrgenommen. Etwas von der alten Heidelberger Studenten-Romantik war noch im "Seppl" übrig geblieben, dem berühmten Studentenlokal mit den an der Decke hängenden, von übermütigen jungen Leuten abmontierten Straßenschildern, Verkehrszeichen, Hinweisen wie mit dem aus einem Friseurladen entwendeten Text: "Am Samstag werden meine verehrlichen Kunden hinten rasiert!" Als vornehmstes Corps, fast nur aus Adligen bestehend, galt die "Saxo-Borussia", deren Mitglieder sich durch betont saloppe Kleidung und provozierendes Verhalten von den weniger feudalen Verbindungen unterschieden - frühe Vorläufer der als ideologisch motivierter Bürgerschreck agierenden Jugendlichen der späten sechziger Jahre!
Mit einem "Veni - vidi - vici. Cand. med. sine cauda" - Telegramm an meine Eltern konnte ich das Ergebnis des Heidelberger Semesters verkünden, nachdem mir auf dem Wege zum Zeugnisempfang auf der Neckarbrücke eine irrtümlich unheildrohende schwarze Katze über den Weg gelaufen war!
Über dem Portal des Anatomischen Institutes der Heidelberger Universität stehen die Worte des "Pfarrers" aus Goethes "Hermann und Dorothea", die sich mir als fast immer passendes Zitat für Kondolenzbriefe eingeprägt haben: "... Lächelnd sagte der Pfarrer: Des Todes rührendes Bild steht, Nicht als Schrecken dem Weisen, und nicht als Ende dem Frommen. Jenen drängt es ins Leben zurück, und lehret ihn handeln, Diesem stärkt es, zu künftigem Heil, im Trübsal die Hoffnung, Beiden wird zum Leben der Tod...." Die weiteren Worte pflegen nicht hinzugefügt zu werden, sind aber des Zitiertwerdens nicht weniger wert: ..."Der Vater mit Unrecht Hat dem empfindlichen Knaben den Tod im Tode gewiesen. Zeige man doch dem Jüngling des edel reifenden Alterns wert, und dem Alter die Jugend, daß beide des ewigen Kreises Sich erfreuen
und so sich Leben im Leben vollende!"
München
In München wurden Frank (aus unerfindlichen Gründen "Kaki" genannt) und ich als Nordlichter von den vorwiegend bayerischen Makaren mit ungezwungener Kontaktbereitschaft, ja Herzlichkeit empfangen, die uns die Umstellung erleichterte. Man freute sich, keine Animosität zwischen Preußen und Bayern spüren zu müssen, und die erst vor kurzem angeknüpfte "corpspolitische" Freundschaftsbeziehung Littuania-Makaria trug dazu bei, daß wir Ostpreußen uns mit den Bajuwaren dank gemeinsamer Wesenszüge vorzüglich verständen. Die Trinkerei hielt sich selbst beim Oktoberfest in Grenzen. Unser Corpshaus, Platzl 6, stand zwar unmittelbar neben dem Hofbräuhaus, aber der Bierkonsum erfuhr dadurch keine Steigerung, da wir diese altbayerische Volkstrinkstätte so gut wie nie aufsuchten. Im Februar 1928 wurde zum erstenmal seit dem Ersten Weltkriege wieder das Faschingsfest gefeiert, ein denkwürdiges Ereignis, an dem ich mich in der tiefenpsychologisch aufschlußreichen Kostümierung eines Athleten mit dick ausgestopften Armmuskeln und einem Schild mit der Drohung beteiligte: "Man bitet den Atleten nicht zu neken! Er beist!" So zog ich durch die Straßen Münchens, die Bräus und Festsäle. In dem langen Festumzug, der sich durch die Innenstadt bewegte, kamen noch die Nachwirkungen des Versailler Vertrages symbolisch zum Ausdruck: Der deutsche Michel als Dukatenesel, aus dessen Hinterteil die Reparationsmünzen kullerten! Höhepunkte des Faschings waren für mich die Kostümfeste im Deutschen Theater und ein von der Preußischen Gesandtschaft in Bayern - das gab es noch! - veranstalteter Ball in sämtlichen Räumen der Schack-Galerie. Den Vorzug einer Einladung zu dieser exklusiven Veranstaltung verdankte ich den Eltern eines Münchener Corpsbruders, die zu der kultivierten Gesellschaft der Stadt gehörten, der Vater als Kunsthistoriker und Privatgelehrter, die Mutter als hochgebildete, geistreiche Jüdin, der Sohn als künstlerisch begabter angehender Architekt, originell, elegant und erfreulich unbürgerlich, aber konservativ, ohne bohemienhafte Züge. Die Tochter, warmherzig, liebenswert, ein charakterlich untadeliger, prächtiger Kamerad, zu allen Faschings- und Corps-Munterkeiten aufgelegt, begleitete mich mit Eltern und Bruder auch auf diesem Kostümball in der Schack-Galerie, die sich mit verhängten Gemälden, Weißwurst-Ständen und Bierzelten seltsam zweckentfremdet ausnahm. Die Freundschaft mit dieser Familie, der Zauber der Stadt, nicht zuletzt der freie Geist und die Beschwingtheit des Corpsiebens ließen München an mein Herz wachsen. Mit Königsberg, Berlin und Hamburg ist es meine liebste Stadt in Deutschland geworden und - mit Ausnahme des sowjetisch verfremdeten Königsberg - geblieben. "München leuchtete" - nicht nur, wie in Thomas Manns "Gladius dei" -, es leuchtet heute immer noch in mir: in den Bildern der Erinnerung und in der Freude an unseren Besuchen zur Adventszeit mit dem Christkindlmarkt und dem riesigen Weihnachtsbaum am Marienplatz, mit den Kirchen, den Pinakotheken und dem AntikenMuseum, mit der Staatsoper und dem Gärtnerplatz-Theater, mit der Residenz, mit dem "Franziskaner" und "Spatenbräu", mit Dallmeyr und dem Bratwurstglöckle am Viktualienmarkt, mit dem Englischen Garten und Nymphenburg.
Ringelnatz
In meiner Studentenzeit gab es noch den "Simplizissimus" in Schwabing mit Joachim RingeInatz. Eines Abends fielen wir in diese berühmte Künstlerkneipe ein, um den "betrunkenen Seemann vom lsarstrand", wie man ihn, sein wahres Wesen und seine dichterische Bedeutung verkennend, nannte, und die berühmte "Simpl"-Wirtin Kathi Kobus zu erleben. Leider war RingeInatz selbst gerade nicht da. Also sprang ich kühn für ihn ein, riß, wie er es zu tun pflegte, ein paar Fetzchen von der papierenen Tapete neben dem kleinen Podium ab und deklamierte " Das Geseires einer Aftermieterin" ("Meine Stellung hatte ich verloren, weil ich meinem Chef zu häßlich bin. Und nun habe ich ein Mädchen geboren, Wo keinen Vater hat und kein Kinn..." - ich kann es heute noch auswendig hersagen). Zur Belohnung für diese improvisierte Aushilfe durfte ich mit der schon im fortgeschrittenen Matronenalter befindlichen Kathi einen Walzer tanzen. Dies empfand ich als Ehre ebenso wie das "Du", mit dem sie mich - allerdings auch jeden anderen Gast - anredete. Ich bin RingeInatz später, 1929, in Königsberg begegnet. Er trug seine Gedichte wie immer im Matrosenanzug vor, mit einem Glas Wein in der Hand und im Seemannsgang schaukelnd. So erwartete es das Publikum. Danach saß er neben uns im "Blutgericht", dem berühmten alten Weinkeller im Königsberger Schloß. Mein Corpsbruder SchIemminger, ein begabter Karikaturenzeichner, warf das spitzwinklige Vogelnasen-Profil des Dichters auf einen Bierfilz und bat ihn um ein Autogramm. RingeInatz überlegte eine Weile, schrieb etwas unter das Bild und reichte es uns zurück. Was lasen wir? "Von Hindenburg"! So war er. Von diesem Vortragsabend im eiskalten Februar 1929 stammt sein Gedicht: "In Königsberg zum zweitenmal Ich wohnte im Hotel Central. Dort war gut hausen. Doch draußen: An Kälte zwei und dreißig Grad. Ich ächzte und ich stöhnte. Ja, Königsberg war stets ein Bad für südwarm weich Verwöhnte. Und weil ein Streik der Autos war, Verfluchte ich den Februar, Was den durchaus nicht rührte. Doch was ich so an Menschen sah, Das war mir hell und war mir nah, So, daß ich Freundschaft spürte. Die Mädchen, die mir's angetan, Die wirkten so wie Walzen Und schmeckten doch wie Marzipan, Nur kräftig und gesalzen. Und sollte es hier einen Sarg, So krumm wie ich bin, geben, So möcht' ich gern in Königsberg Begraben sein und leben." Von seinem Aufenthalt in Königsberg schrieb RingeInatz, der die ersten Gedichte noch unter seinem richtigen Namen Hans Boetticher veröffentlicht hatte, an seine geliebte Frau "Muschelkalk", die Tochter des Bürgermeisters von Rastenburg: "Königsberg war ein Triumph ...Oh, Euer Ostpreußen ist doch besser als Wurzen." (sein Geburtsort bei Leipzig). Mit Frau "Muschelkalk", geborene Lona Pieper, einer fünfzehn Jahre jüngeren Sprachlehrerin, habe ich mich an jenem Münchener Abend anstelle ihres Mannes lange über ihn und über unsere ostpreußische Heimat unterhalten, mit der ihn auch seine aus Tilsit stammende Mutter verband. Zum Münchener Fasching ergab sich bald ein Gesprächsthema: "Muschelkalk" hatte mit ihrem Mann zusammen mehrere Veranstaltungen besucht, für die er eine Menge Ideen zu Dekorationen und Sketchs entwarf wie "Ein Simpl-Abend am Meeresgrund", "Kathi an der Eskimo-Bar" usw. Die Hochzeit war 1920 auch im "Simpl" gefeiert worden. Kathi, eine Traunsteiner Bauerntochter, erfreute sich als ehemalige Kellnerin der "Dichtelei" und nunmehrige Chefin des "Simpl", rigoros und geschäftstüchtig, trotz ihrer Perücke und der vorgerückten Jahre immer noch eines "bestrickenden Charmes" und genoß hohes Ansehen beim Volk der Künstler und Dichter. In einem der vielen Simplizissimus-Lieder auf sie hieß es: " Es gibt auf dem ganzen Globus nur eine Kathi Kobus!" Für junge, unbekannte Dichter, Maler, Tänzer und Sänger wurde sie zur Mäzenin. So auch für den schriftstellernden Anfänger Hans Boetticher, der sich auf dem Wege zu Joachim RingeInatz befand. Für seine Auftritte erhielt er von ihr zwei Schoppen Wein, eine warme Mahlzeit und eine Mark Tagesgage. Als Kathi in ihrer Wolfrathhausener Villa "Kathis Ruh" starb, waren für ihren "Hausdichter" auch die letzten Fäden zerrissen, die ihn noch an München banden. Vorüber die Zeit, da die Simpl-Wirtin ihm ihr Bild in Großformat mit der eigenhändigen Widmung geschenkt hatte: "Meinen (!) Liebling J. R. und seine (!) lieben Fr. Muschelkalk zum fröhlichen Gedenken an die schönen Stunden im Simpl und Kathi Kobus." Alfred Polgar hat das Wesentliche dieses ViIlon-Nachfahren, eines der letzten Bohemien-Poeten deutscher Sprache, treffend umschrieben: "Dieser unglaubliche Ringelnatz hat den Stein der Narren entdeckt, welcher, wie wunderbar, dem der Weisen zum Verwechseln ähnlich sieht." In der "Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilbersforcemonument", einem seiner "schönsten" Gedichte, sagt "dieser unglaubliche Ringelnatz" von sich und hüllt damit zugleich die Liebe zu seiner Frau in eine zärtliche Skurrilität: "Ich bin etwas schief ins Leben gebaut, Wo mir alles rätselvoll ist und fremd ... Ich bin auch nicht richtig froh. Ich habe auch kein richtiges Herz. Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk. Mein richtiges Herz, das ist anderwärts, irgendwo im Muschelkalk." Hermann Hesse nannte ihn einen "adligen Schwärmer edler Art mit einem Dichterherzen und einem kleinen Vogel im ritterlichen Kopf." Paul ClaudeI erkannte in ihm gleichermaßen "Geist, Humor und Herz", und Kurt TuchoIsky schrieb: "Es gibt mitnichten so viele Dichter. Ringelnatz aber ist einer!" Thomas Mann hatte ihn schon 1911 zum Weiterschreiben ermutigt. Er ging später nach Berlin, wo er 1934, mit 51 Jahren, an Lungentuberkulose gestorben ist, einer Erkrankung, die damals in einen Zusammenhang mit Alkoholismus gebracht wurde! Nach 1933 war es still um ihn geworden. Die bayerische Polizei verbot ihm sein Auftreten im "Simpl", seine Bücher wurden zum Teil beschlagnahmt - Opfer eines humorlosen Systems! Zuletzt hatten Freunde, unter ihnen die großen Schauspieler, der Ostpreuße Paul Wegener und die Dänin Asta Nielsen, der Verleger Ernst Rowohlt, die Bildhauerin Renee Sintenis, zu einer Geldspende für den verarmten Kranken aufgerufen. Asta Nielsen (die Berliner sagten: "Ich will ja gar nicht viel seh'n, ich will nur Asta Nielseen!" war ihm schon 1921 im berühmten Berliner Kabarett "Schall und Rauch" begegnet. Er schwärmte für sie. Als "trunkener Seemann" Kuttel Daddeldu hatte er sich ein blaues, von einem Pfeil durchbohrtes Herz mit ihrem Namen auf die nackte Brust unter der Matrosenbluse gemalt. In einem kleinen Kreis, der sich in Wegeners Wohnung zusammenfand, lernte sie in ihm - so schrieb sie in ihrem etwas holperigen Dänisch-Deutsch - "einen der entzückendsten Menschen kennen, die mir je begegnete, von einer charmierenden Atmosphäre umgeben, von einer Takt durchdrungen, der nicht mit Erziehung, sondern nur mit Herz zu tun hat, von einer fast kindlichen Lebendigkeit und eine völlige Mangel an Sentimentalität." Damit hatte sie den Kern seines Wesens getroffen. Hinter dem wilden Mann, dem bezechten Matrosen, den er spielte, dem abenteuernden Seemann, der er einst war, verbarg sich ein poetisch zartes Herz. Seine burlesken Einfälle und kauzigen, nicht immer salonfähigen, aber niemals ordinären Späße bildeten den gleichsam lärmenden Vordergrund einer stillen Nachdenklichkeit und Traurigkeit über das Leid in der Welt und das Fragwürdige der menschlichen Existenz. Er liebte Kinder, Tiere, Pflanzen, die Armen, den Kaktus, seine Schuhsohlen. Er war ein guter Freund, ein großer Liebender, ein Kritiker seiner Zeit und ein Parodist ihrer Machthaber. Seine Toleranz, seine Güte, sein Humor schützten ihn vor Radikalität und revolutionärem Fanatismus. Feinfühligkeit, Ehrlichkeit, Noblesse, eine scheue Frömmigkeit und die Neigung, sich selbst nicht allzu ernst zu nahmen, gehörten zu den liebenswerten Zügen dieses bunten Vogels. Er hatte nicht nur in seinem Profil etwas Vogelhaftes: Eine leidenschaftliche Begeisterung für das Fliegen, eine kindliche Freude am Ballonfahren, ohne daß er jemals Pilot gewesen wäre, ließen ihn traurig werden, wenn er wieder zur Erde zurückkehren mußte. Daher sein Gedichtband "Flugzeuggedanken", 1929 bei Rowohlt, den ich als ähnlich Flugbegeisterter verschlungen habe! Sein Künstlertum äußerte sich auch in seiner Begabung als Maler und Zeichner, von Renée Sintenis, Karl Hofer, dem Galeristen FIechtheim gefördert und durch Ausstellungen und Museen gewürdigt. Sein Stil war Ausdruck einer "naivgenialen Vorstellungskraft", einer "Mischung von Ungeschicklichkeit und Raffinement". Als Motive gestaltete er oft die Verlorenheit und Einsamkeit des Menschen, die "Entrückung aus Raum und Zeit", die Melancholie der Sehnsucht. Als er einmal von der Bardame eines Lokals gefragt wurde, ob er auch "richtige Bilder" male, sagte er: "Nein, ich mal nur unrichtige. Ich forme Gesichter aus Quark, und die Augen setze ich aus Kirschen ein. Das Ganze wird dann auf einem Holzbrett serviert." Er war sehr bescheiden im eigenen Urteil über seine Bilder. Immerhin hängen sie im Münchener Lenbach-Haus, im Berliner Märkischen Museum, im Leipziger Museum für Bildende Künste, im Besitz des bedeutenden Kölner Privatsammlers Paul Haubrich, der uns einmal zusammen mit dem uns nahestehenden Kunsthistorikers Dr. Toni Feldenkirchen besucht hat, als wir noch in Ilten wohnten. Die von Max Liebermann gegründete "Gesellschaft der Kunstfreunde" kaufte auf der Frühjahrsausstellung der Preußischen Akademie der Künste ein Gemälde des malenden Dichters "Elf Uhr nachts" an, ein nächtliches Großstadtmotiv mit einem einsamen Menschenpaar an einer Mauer. Es wurde mit der Aktion "Entartete Kunst" von den NS "Kunst"-Diktatoren entfernt. RingeInatz war nicht nur der dichterische Erfinder des "Daddeldu, the old sealerbeu Kuttel", einer Gestalt, die wie Wilhelm Buschs "Fromme Helene" und Christian Morgensterns "Palmström" aus dem kaum sehr üppigen Repertoire der deutschen Humor-Poesie nicht mehr wegzudenken ist. Er hat uns auch Verse wie diese hinterlassen: "Es ließe sich alles versöhnen, wenn keine Rechenkunst es will. In einer schönen ganz neuen und scheuen Stunde spricht ein Bereuen so mutig still. Es kann ein ergreifend Gedicht werden, das kurze Leben, wenn ein Vergeben aus Frömmigkeit schlicht sein Innerstes spricht. Zwei Liebende auseinandergerissen: Gut wollen und einfach sein! Wenn beide das wissen, kann ihr Dach wieder sein Dach sein und sein Kissen ihr Kissen." Oder: "Wo wird es bleiben, was mit dem letzten Hauch entweicht? Wie Winde werden wir treiben - Vielleicht!? Werden wir reinigend wehen? Und kennen jedes Menschen Gesicht. Und jeder darf durch uns gehen, Erkennt uns aber nicht ... Wie weit wohl Gottes Gnade reicht. Uns alles zu vergeben? Vielleicht!" Oder: "Trüber Tag": "Zu Hause heulten die Frauen: Das tote Kind sah aus wie Schnee. Wir gingen, nur mein Bruder und ich, in See. Dem Wetter war nicht zu trauen. Wir fischten lauter Tränen aus dem Meer. Das Netz war leer." Seine Kindergebetchen, seine Worte über das Schenken: "Schenke groß oder klein, Aber immer gediegen. Wenn die Bedachten die Gaben wiegen, Sei dein Gewissen rein ... Schenke mit Geist ohne List. Sei eingedenk, daß dein Geschenk du selber bist!" - sie entzücken und erwärmen noch heute mein Herz.
Warum habe ich mich so lange - allzu lange - bei RingeInatz aufgehalten? Warum komme ich von ihm nicht Ios? Er war für uns junge Studenten ein "Moderner", unser heimlicher Sympathisant, ein bizarr-poetischer Rebell gegen das Spießertum. Damals habe ich in mir selbst ein Stückchen bürgerlich verhinderten RingeInatz entdeckt, und dieses Stückchen ist mir bis heute treu geblieben! (Einzelheiten aus seinem Leben und Werk verdanke ich dem Fischer Büchlein von Helga Bemmann "Daddeldu, ahoi!", Februar 1982).
Nun ist es Zeit, über München nicht nur als Stadt der heiteren und ernsten Muse zu sprechen, sondern auch als Studienstadt. Die Medizinische Fakultät gehörte mit Berlin, Heidelberg, Wien zu den bedeutendsten im deutschsprachigen Raum. Meine Lehrer, der Internist Friedrich von MüIIer, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der Pathologie-Anatom Borst (Vater des jetzt berühmten Herz- und Thoraxchirurgen an der Medizinischen Hochschule Hannover), der Dermatologe Leo Ritter von Zumbusch waren das, was man Koryphäen nennt. Ich bedauerte nur, daß wir z. B. bei Friedrich von MüIIer zwar vieles Wichtige über die Diagnostik innerer Krankheiten, aber so gut wie nichts über deren Therapie erfuhren. Sauerbruch war damals schon berühmt durch seine Entdeckung des Druckdifferenzverfahrens bei operativen Lungeneingriffen und seine frühen (1904) Untersuchungen zur Operation des Brustraumes, mit denen Erfolge möglich wurden, die zu den größten Errungenschaften der Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen. Aber er war ein Mann, der anscheinend nicht begriffen hatte, daß Genialität kein Freibrief für schlechtes Benehmen sein sollte. Ich erinnere mich, daß er in einer seiner letzten Münchener Vorlesungen vor der Berufung nach Berlin seine Oberärzte, darunter den schon ergrauten Professor Lebsche, in einer Weise anfuhr, daß wir Studenten mit lautem Füßescharren protestierten. Viel später, 1950, ein Jahr vor seinem Tode, habe ich ihn bei einem Vortrag in Hannover erlebt, wie er sich ständig wiederholte, den Faden verlor und vorzeitig aufhören mußte: Arteriosklerotische Demenz als erschütternder Lebensabschluß eines genialen Mannes, ähnlich dem fortschreitenden geistigen Abbau Immanuel Kants, von seinem Freunde, dem Königsberger Theologen Wasianski, so wirklichkeitsnah beschrieben, daß ich seine Beobachtungen in meinen Leipziger Vorlesungen über dieses Thema (aus einer zeitgenössischen Ausgabe seines Buches "Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren", 1804 bei Friedrich Nicolovius, Königsberg) zitieren konnte. Leider habe ich versäumt, die Vorlesungen des damaligen "Papstes der Psychiatrie", Oswald Bumke, zu besuchen, des Lehrers meines späteren Königsberger und Leipziger Klinikchefs und väterlichen Freundes August Bostroem, der an der Münchener Psychiatrischen Universitätsklinik als Oberarzt und eine Art "Kardinalstaatssekretär am Vatikan der Psychiatrie" arbeitete. Bumkes Kolleg soll ein didaktischer und intellektueller Genuß gewesen sein. Offenbar hat er auch psychologische und psychopathologische Probleme so wirklichkeitsnah darzustellen gewußt, daß eine unzweifelhaft psychisch gesunde Hörerin, als er glaubte, nur von kranken Menschen gesprochen zu haben, zu einer anderen meinte: "Wie er uns kennt!" Sein gedanken- und zitatenreiches Alterswerk "Gedanken über die Seele" (1948) endet mit der Feststellung: ,... es gibt sie nicht, die Seele schlechthin. Es gibt sehr viele und unendlich verschiedene Seelen, " und mit dem Eingeständnis: "Wissen wir doch selbst über die eigene Seele ganz ungenügend Bescheid."
Bumke contra Freud
Über die Psychoanalyse verhängte Bumke ein unnachsichtlich strenges Verdikt. Ein Schüler Sigmund Freuds, SchiIder, hat nach einem auf der Innsbrucker Naturforscher- und Ärzte-Versammlung 1924 von Bumke erstatteten Referat gemeint, er habe der Psychoanalyse schon eine Leichenrede gehalten. Bumkes Antwort war: "Jetzt noch nicht, in zehn Jahren vielleicht." Sechs Jahre später, bei der Naturforscher- und Ärzte-Versammlung in Königsberg 1930, erklärte er, Freuds Methode werde verschwinden, denn "sie würde den Untergang aller Wissenschaft, das Ende jeder Forschung bedeuten." Ein bei einem so kritisch denkenden Gelehrten wie Bumke bemerkenswert kurzschlüssiges und voreiliges Wort! In seiner 1938 erschienenen Streitschrift "Die Psychoanalyse und ihre Kinder - Eine Auseinandersetzung mit Freud, AdIer und Jung" gab er zu, "...auch wenn die Psychoanalyse tot ist, so sind es ihre geistigen Wirkungen noch nicht." Er meinte damit die AdIersche "Individualpsychologie" und die Jungsche "komplexe Psychologie". Sein Haupteinwand gegen die Psychoanalyse, den auch ich für begründbar halte, lautet, sie versuche, das Seelische zu materialisieren und das Unbewußte zu rationalisieren, und er führt dabei Thomas Mann , der Freuds Libidolehre als "Naturwissenschaft gewordene Romantik" und die Psychoanalyse als den Rückschlag gegen die mechanistisch-materialistischen Neigungen des vorigen Jahrhunderts" und als "eine Erscheinungsform des modernen Irrationalismus" bezeichnet hat. Interessant ist, daß Psychoanalytiker selbst sich bemüht haben, Freud als den Begründer seiner Theorie und Methode analytisch zu verstehen. Sie sehen in ihm z.B. einen "Hasser aus Liebe", der aus Enttäuschung über die Unmöglichkeit, ein Lebensideal zu verwirklichen, das Seelische desillusioniert und auf bloße Triebe, eben die Libido" reduziert habe. Oder es seien Minderwertigkeits-, Haß- und Rachegefühle, vor allem der Haß, der nach Ansicht des Psychoanalytikers Charles MayIan (1929), hinter Freuds Werk stehe: Haß gegen seinen Vater, Haß gegen den Papst, den er mit dem Vater gleichsetzt und in dem er zugleich das Oberhaupt der von ihm auch gehaßten Christenheit sieht, gekränkte Eigenliebe, die Verstimmung gegen die offizielle akademische Wissenschaft, die ihn nicht früh genug anerkannt habe, Haß, der "Freud in den äußersten Intellektualismus seiner letzthin materialistisch orientierten, geist- und gemütsfernen psychoanalytischen Wissenschaft hinaufpeitscht..." Bumke fragt, wie man das schreiben und sich einen Psychoanalytiker nennen und wie man das glauben und doch psychoanalytische Methoden anwenden kann, bleibe MayIans Geheimnis. Mit der psychoanalytischen Methode könne man alles beweisen, weil sie sich weder auf unwiderlegliche (und das heißt: nachprüfbare) Tatsachen stützt noch auf ein klares verstandesmäßiges Erkennen. Die Kritik Bumkes richtet sich im besonderen gegen Freuds Auffassung vom "Unbewußten", dem "Es" unterhalb des "Ichs", dem er ein eigenständiges, das Bewußtsein betrügendes, also amoralisches Denken und Agieren zuschreibt. Freud verwechsele dabei das wirklich Unbewußte oder besser Ungewußte, nämlich das, was wir Menschen von uns selbst nicht gerne wissen möchten, aber - leider nur allzu gut wissen, mit der Fiktion oder Hypothese eines Unbewußten oder Unterbewußten im psychoanalytischen Sinne. Die Freudschen Begriffe und Konstruktionen seien den Sachverhalten, die Freud wirklich gesehen und entdeckt hat, "fast durchwegs inadäquat, ja, oft verfälschten sie sie geradezu", hat Hans Kunz in einer erkenntniskritischen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gesagt. Diese Unangemessenheit der mechanistischen und rationalistischen (das heißt die Phänomene rational umdeutenden) Begriffsbildung stellt offensichtlich die logische und erkenntnistheoretische Auswirkung jenes fundamentalen Selbstmißverständnisses dar, dem Freud als Erbe des naturwissenschaftlichen Zeitalters erlag. "Wenn das Unbewußte auf diese Weise rationalisiert wird, sei praktisch `garnichts erreicht' und nicht erklärt, warum die Widersprüche, die sich im bewußten Seelenleben scheinbar nicht lösen lassen, gerade hier zustande kommen und gelöst werden", heißt es weiter bei Bumke. Er erinnert an das alte Problem des Menschen, wie schwierig es für ihn ist, zugeben zu müssen, daß er dieselbe Sache mit dem Verstand ablehnt und mit dem Gefühl doch glaubt, denselben Menschen aus eingestandenen Gründen bewundern und aus nicht eingestandenen hassen, dasselbe Ereignis mit dem einen Teil unseres Ichs fürchten, mit dem anderen herbeisehnen kann: lbsens Lebenslügen, Fontanes Hilfskonstruktionen, das Daimonion des Sokrates und "unsere Stimme des Gewissens", ja, das alte gnoti seauton (Anm: bei J. in griech. Buchst.) "sie alle haben nur diesen Sinn". Aber Bumke versteht Freud nicht, und er verkennt dessen geniale Leistung, mit der Hypothese des Unbewußten" und dem Prinzip der "Verdrängung" durch das "Über-Ich" der Eltern, der staatlichen und kirchlichen Autoritäten, der Gesellschafts-"Moral" wesentliche Entstehungsbedingungen neurotischer Fehlentwicklungen, sogenannter "Konversionshysterien", psychosomatischen Erkrankungen usw. freigelegt zu haben. Zuzustimmen ist seiner Kritik jedoch, wenn er die Überschätzung der Sexualität, die unbegrenzten Möglichkeiten der Sexualsymbolik in den Traumdeutungen, die Behauptung von Dingen, die zwar nicht zu widerlegen, aber auch nicht durch Tatsachen zu beweisen sind, als unvereinbar mit dem Postulat der "Wissenschaft" bezeichnet und in den Bereich der Weltanschauung verweist, der nichts mit Wissenschaft zu tun hat. Er verstößt allerdings selbst gegen diese Forderung, wenn er die Psychoanalyse "als das entlarvt, was sie in Wirklichkeit ist: ein rein dialektischer raffinierter Versuch, den Menschen alle, aber auch alle Ideale zu rauben!"
Daß die Psychoanalyse in ihren Grundlagen entgegen der Prognose Bumkes nicht wirklich tot ist, zeigt sich in ihrer Relativierung und Differenzierung durch die Arbeiten Karen Horneys, Franz Alexanders, Erich Fromms, die die von Freud vernachlässigte Bedeutung kultureller Faktoren für die Psychologie und Psychopathologie der sogenannten Neurosen erkannt und herausgearbeitet haben. Immerhin versuchen Jürgen Eysenck und die Verhaltenstherapeuten in letzter Zeit dem Dogma der Psychoanalyse den Todesstoß zu versetzen.
Ich habe mich nur einmal öffentlich zu der Notwendigkeit geäußert, das empirisch Gesicherte vom Hypothetischen, vom Fragwürdigen, Widerlegten - und Gefährlichen der Psychoanalyse zu unterscheiden: In einem Correferat am Psychologischen Institut der Leipziger Universität 1946. In meiner psychotherapeutischen Tätigkeit mußte ich manche seelischen Schäden erkennen und zu beheben versuchen, die durch die clichéehaften, mit dogmatischem Wahrheitsanspruch vertretenen Anwendungen psychoanalytischer Methoden ohne Rücksicht auf die ihnen nicht entsprechenden individuellen und biographischen Besonderheiten der Patienten entstanden waren.
Zurück zu München: Im Winter 1927-28 fuhren wir zum Skilaufen nach Oberammergau, wo wir bei einem Herrgottsschnitzer wohnten, der zu den Darstellern der Passionsspiele gehörte, Bei einer Abfahrt verlor ich einen Ski, geriet in die Dunkelheit, verirrte mich und mußte von einem Suchtrupp der mit Fackeln versehenen Bergwacht gerettet werden. Angenehmer verlief eine Pfingstfahrt mit Fahrrad ins Allgäu mit Übernachtung im Füssener Gasthof "Zum Löwen". Ich verliebte mich in die dunkelgelockte Tochter "Tini" des Löwenwirtes, ohne daß es zu einer intimen Annäherung gekommen wäre. Keuschheit galt - nicht nur für mich - als erwünschte Schranke gegen vorzeitige Entromantisierung der Gefühle! Jahrzehnte später übernachtete ich mit Antonia wieder beim "Löwen" in Füssen. Tini, das einstmals liebreizende Wirtstöchterlein, war inzwischen zur voluminösen grauhaarigen Matrone herangereift. Enttäuscht und entzaubert wagte ich nicht, mich ihr zu erkennen zu geben - eine Feigheit, derer ich mich heute noch schäme! Eine Brautschau, zu der ich mit Freund "Kaki" von einem alten Herrn der Makaria nach Pfaffenhofen an der Ilm eingeladen war, endete nach Besichtigung des etwas dürren Töchterchens ergebnislos. Sportlich betätigte ich mich mit der Teilnahme an einem Schwimmwettbewerb der Universität und einem Sportkurs in Neuburg an der Donau, wo wir im alten Schloß wohnten und ein beschwingtes Jahrmarktsfest mit munteren Mädchen erleben konnten.
Wien
Zwei Semestern in München folgte ein Sommersemester in Wien. Ich kannten die Stadt meiner Träume" schon von einem Großdeutschen Kongreß an der dortigen Universität her, an dem ich als Königsberger Vertreter des "Hochschulringes deutscher Art" teilgenommen hatte. Der Begriff "Großdeutsch" war damals noch nicht mit nationalsozialistischen Anschluß"-Ansprüchen und dem Ziel eines zentralistischen Einheitsstaates nach Hitlerschem Muster verbunden. Der großdeutsche Gedanke - Einigung Deutschlands mit Einschluß Österreichs - hatte schon nach den Freiheitskriegen 1813-15 weite Kreise, auch die Burschenschaft, erfaßt. In der Frankfurter Nartionalversammlung 1848-49 stieß er auf den Widerstand der kleindeutschen Richtung - engerer nationaler Bundesstaat unter preußischer Führung -, die sich mit der Bismarckschen Reichsgründung durchsetzte. Nach dem Untergang der Habsburgischen Monarchie 1919 wollten sich die Deutschen in den Alpen- und Sudetenländern mit dem Deutschen Reich vereinigen, was durch die Verträge von Versailles und Saint-Germain verhindert wurde. Wir fuhren von Wien nach Innsbruck und erlebten bei der dortigen Studentenschaft große Begeisterung für den auch von Sozialdemokraten vertretenen großdeutschen Gedanken, eine Begeisterung, die sich auch gegen die völkerrechtswidrige Annektion Südtirols durch das faschistische Italien richtete. Wir deutschen Studenten sympathisierten lebhaft mit dieser Proteststimmung unserer österreichischen Kommilitonen. Bei der Wiener Tagung hatte ich einen Vortrag des katholischen Geschichtsphilosophen, Sozial- und Volkswirtschaftlers Othmar Spann gehört, der für einen christlichen Ständestaat als Kern des mittelalterlichen Reichsgedankens eintrat und mich als "zugewanderten (nicht-katholischen) Ermländer" besonders interessierte. Nach meiner Rückkehr von dieser "politischen Reise" berichtete ich in der "Ermländischen Zeitung", die in Braunsberg erschien, über die Wiener Tagung. Es war mein erster und letzter Beitrag für die Tagespresse. Ich hatte in Wien während der Tagung bei einer Mennoniten-Familie gewohnt. Da mein Vater noch mennonitisch, also spätgetauft ist und seine Vorfahr ren zum großen Teil Mennoniten-Prediger und zugleich "Älteste" der Mennonitengemeinde waren, habe ich mich mit der Geschichte dieser Religionsgemeinschaft der "Taufgesinnten" etwas näher beschäftigt. Sie ist von einem ehemaligen katholischen Priester, dem Holländer Menno Simons etwa 1540 in Ostfriesland gegründet worden. Da er die Amtskirche, die theologische Interpretation der Bibel, das Berufspriestertum und die Frühtaufe ablehnte, wurden seine Anhänger von den Lutheranern und Reformierten nicht geduldet. Sie mußten unter deren Druck und dem der evangelischen wie katholischen Landesherren auswandern und fanden Zuflucht in West- und Ostpreußen, nach dem Dreißigjährigen Krieg in Baden, Elsaß, Kurpfalz und Mähren, seit 1683 auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, im 18. Jahrhundert in Rußland. Von dort wurden sie wegen ihrer Verweigerung des Wehrdienstes wieder vertrieben und gingen außer in die USA nach Kanada und Mexiko. In diesen Ländern liegt heute der Schwerpunkt der "Historischen Friedenskirche", wie sie sich jetzt nennen. Es gibt aber noch größere Mennonitengemeinden in Paraguay. Nach dem Zweiten Weltkriege haben sie, wie die Quäker und andere Sekten, aus den USA viel Gutes für die notleidende deutsche Bevölkerung getan. Sie berufen sich allein auf den Wortlaut der Heiligen Schrift nach dem MatthäusEvangelium, 5, 37: "Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein! Was darüber ist, das ist vom Übel!" und verwerfen die Eidesformel, den staatlichen Zwang in Glaubensfragen, den Kriegsdienst und die Ehescheidung. Verpflichtende Lebensordnung ist für sie die Nachfolge Christi im Sinne der Bergpredigt. Als tüchtige Deichbauern von Holland her, haben die Mennoniten zur agrarischen Kultivierung der Weichsel-, Nogat- und Memelniederung tatkräftig beigetragen. Sie waren aber auch, wie meine väterlichen Vorfahren, wohlsituierte, ehe- und familientreue Landwirte, zugleich Prediger und Gemeinde-Älteste. Antonia meint, daß meine Neigung zum Dozieren, zu einer gewissen "Lehrhaftigkeit" auf einem genetischen Code aus dieser Vorfahrenschaft beruhen könnte. Mein Familienname Janz ist die Genetivform vom holländischen Jan: Der Sohn des Jan. Dessen Sohn wäre der Jansen oder Janzen. Mit dem Pazifismus nahmen es meine Vorfahren übrigens nicht so genau, auch nicht mit der Verweigerung der Eidesleistung gegenüber dem Landesherrn: In dem mit Silberbeschlägen verzierten Familien-Photographie-Album meines Großvaters findet sich das Portrait eines recht verwegen ausschauenden Soldaten, der mit dem Eisernen Kreuz geschmückt, an der Schlacht von Mars-La-Tour 1871 teilgenommen hat! Alttestamentarische Vornamen meiner Ahnen wie Abraham brachten mich während des Dritten Reiches in die Gefahr, "nicht-arischer" Abstammung zu sein.
Die Wiener Medizinische Fakultät hatte einen bedeutenden Ruf wegen ihrer großen Repräsentanten, des Chirurgen Anton von Eiselsberg (früher in Königsberg), Nachfolger von BiIIroth, des Pädiaters Clemens Freiherr von Pirquet, des Entdeckers der Tuberkulinreaktion zur Frühdiagnose der Tuberkulose, Julius Wagner Ritter von Jauregg, des einzigen Nobelpreisträgers der Psychiatrie, des aus Holland stammenden Internisten und Kardiologen Wenckebach, Schüler des Erfinders der Elektrokardiographie, des ebenfalls niederländischen Nobelpreisträgers Willem Einthoven, und anderer hervorragender Ärzte und Forscher. Medizingeschichtlich interessant ist die Beziehung zwischen zwei berühmten Vertretern der holländischen Heilkunde und Wien: Gerhard van Swieten aus Leyden, ein Schüler des niederländischen Pathologen und Klinikers Hermann Boerhave (1668-1738), der als größter Arzt und Forscher seiner Zeit galt von ihm stammt das beherzigenswerte Wort: Simplex sigillum veri, Das Einfache ist das Siegel der Wahrheit! -, wurde von Kaiserin Maria Theresia zum Ersten Leibarzt und Praefektor der Hofbibliothek berufen. Er hat sich größte Verdienste erworben um die Erneuerung des Medizinstudiums, die Ausbildung und Prüfung der Chirurgen, Apotheker und Hebammen, die Reorganisation der verwahrlosten Hofbibliothek, den Ausbau des Botanischen Gartens in Wien, die Einrichtung eines chemischen Laboratoriums, eines Findelhauses, einer Veterinäranstalt und um andere Reformen. Als "ein wahrer Fürst der heilkundlichen Organisation im Zeitalter des Rationalismus", wie Werner Leibbrand ihn in seiner "Problemgeschichte der Medizin", 1953, nennt, hat er, mit Adel, Orden und Mitgliedschaft vieler Akademien ausgezeichnet, einen Ehrenplatz in der Augustinergruft der Wiener Hofkirche erhalten. In seiner religiösen Haltung stand er der von seinem Landsmann Cornelius Jansen begründeten katholischen Richtung, dem "Jansenismus" nahe, die wegen ihrer Oberspitzung der Gnadenlehre von den Jesuiten heftig bekämpft wurde. Mit viel Kollegenneid bedacht, erfreute er sich auch als politischer Berater Maria Theresias bis zu seinem Tode, 1772, ihrer ungeminderten Gunst. Nach van Swieten ist die älteste Ärztegesellschaft Österreichs, die älteste Europas überhaupt, benannt worden, und ich freute mich und war ein bißchen stolz, vor diesem ehrwürdigen Gremium im Großen Saal der Wiener Hofburg zweimal, 1968 und 1978, gesprochen haben zu dürfen: Über "Kritisches zur Psychosomatik und ihrer Kritik" und über "Psychosomatische Probleme bei der Behandlung Schmerzkranker".
Freud und Wagner-von-Jauregg
An Siegmund Freuds Lehre waren wir in der traditionellen Schulmedizin aufgewachsenen Studenten nicht sonderlich interessiert. Sie galt als nicht ganz seriös, und man sprach wegen des Vorranges der Sexualität in der Freudschen Neurosentheorie unehrerbietig von den "Psychoanalüstlingen"! Mein späterer Psychiatrielehrer Geheimrat Ernst Meyer in Königsberg setzte psychoanalytische Schriften auf den Index und wollte uns untersagen, einen Vortrag des Psychiaters Hans Prinzhorn, der der Psychoanalyse nahestand und das grundlegende Werk "Bildnerei der Geisteskranken" verfaßt hat, zu besuchen. Wir jungen Leute - ich war damals erst Medizinalpraktikant - haben uns nicht danach gerichtet, und es fügte sich sonderbar, daß meine erste Stationsärztin an der Königsberger Nervenklinik, Frau Dr. Lucie Jessner - Frau des Intendanten des dortigen Schauspielhauses und Schwägerin des berühmten Berliner Regisseurs und Intendanten Leopold Jessner - nach ihrer Emigration eine bedeutende Psychoanalytikerin in New York geworden ist! Freud ordinierte zu meiner Wiener Zeit in seiner Wohnung Berggasse 19, hielt aber seit 1919 keine Vorlesungen an der Universität mehr, sondern beschränkte sich auf mehr private Kollegs in einem Saal der Herzstation des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Er und Wagner-Jauregg waren natürlich wissenschaftliche Antipoden. Wagner-Jauregg, Direktor der Psychiatrischen Universtitätsklinik, hatte 1919 die Ernennung seines Studienkollegen und Duzfreundes Freud zum außerordentlichen Professor mit der Begründung abgelehnt, er sei nur "Dozent für Neuropathologie" und habe sich "nie praktisch mit Psychiatrie eingehender beschäftigt", was allerdings schon wegen seiner berühmten "Studien über Hysterie" nicht ganz zutraf. Freud mußte daher drei weitere Jahre auf seine Ernennung warten. Als er endlich - mit 63 Jahren! - zum Ordinarius ernannt werden sollte, war Wagner-Jauregg in seinem Gutachten "trotz bestimmter Bedenken" zwar voll des Lobes für den Vertreter einer "ganz anderen Form der psychiatrischen Behandlung" und sprach sich für den Antrag aus, beging aber in dem handschriftlichen Text des Gutachtens eine typische "Freudsche Fehlleistung", indem er die Ernennung zum "Professor Extra - Ordinarius" vorschlug. Es gehört zu den Kuriosa der Medizingeschichte, daß in der Dekanatskanzlei das "Extra" feinsäuberlich mit einer anders gefärbten Tinte durchgestrichen werden mußte!
Freud bewies bei aller Gegnerschaft zwischen Psychoanalyse und klassischer Psychiatrie seine Fairneß, indem er eine gegen Wagner-Jauregg gerichtete und in der Presse verbreitete Anschuldigung entkräftete, dieser habe sogenannte Kriegsneurosen mit "elektrischer Folter" behandelt und damit bei Tausenden Soldaten verbrecherische Methoden angewandt. Alle Neurotiker, so Freud, seien Simulanten, aber sie simulieren, ohne es zu wissen, und das sei ihre Krankheit! Allein die Psychoanalyse hätte hier ihren Platz gehabt, nicht elektrischer Starkstrom! Wagner-Jauregg verteidigte sich in der gerichtlichen Voruntersuchung mit dem Argument, der Verfasser des in der Zeitung "Der freie Soldat" erschienenen Artikels "Die elektrische Folter", ein Walter Kauders, sei selbst ein Simulant gewesen und habe sich aus Feigheit in die Krankheit geflüchtet. Nach dem Umsturz 1918 sei eine große Menge von "Neurotikern" aus dem Spital davongelaufen - sie konnten auf einmal gehen! Die elektrische Behandlung psychogener Lähmungen sei altbekannt und führe meist zu sehr schnellen Erfolgen, eine Erfahrung, die auch von deutschen Nervenärzten wie Nonne in Hamburg, bestätigt werden konnte. Freud betonte trotz seiner abweichenden Ansicht, "Freund Wagner-Jauregg " und seine Mitarbeiter hätten ihre Methode aus humanitären Motiven angewandt und sich keiner ärztlichen Pflichtverletzung schuldig gemacht. Schäden seien den Soldaten nicht entstanden. Daraufhin kam es nicht zur Anklageerhebung. Wagner-Jauregg hatte 1927, ein Jahr vor meiner Wiener Studienzeit, den Nobelpreis erhalten für seine Entdeckung der erfolgreichen Malariatherapie der bis dahin meist tödlich verlaufenden progressiven Paralyse. Freud ist dieser Anerkennung seiner eigenen wissenschaftlichen Leistungen nicht gewürdigt worden - zu Unrecht! Übrigens wurde der Vorschlag, Wagner-Jauregg den Nobelpreis zu verleihen, zunächst abgelehnt, weil- der psychiatrische Referent des medizinischen Professoren-Kollegiums des Karolinischen Instituts der Universität Stockholm, Professor GadeIius, erklärt hatte, ein Arzt, der einem Paralytiker noch Malaria einimpfe, sei ein Verbrecher! Erst nach der Pensionierung dieses "alten Herrn" erhielt der Nobel-Aspirant, so erzählte er selbst, den Preis! Später ist bekannt geworden, daß er gar nicht als Gegner der Psychoanalyse bezeichnet werden wollte: In einem Brief an den "lieben Freund", in dem er sich für die "freundlichen Glückwünsche" der Wiener psychoanalytischen Vereinigung und die persönliche Gratulation ihres Obmannes Freud zu seinem 75. Geburtstag (1932) bedankt, bittet er, den Mitgliedern zu sagen, sie sollten ihn "nicht für einen Gegner ansehen, sondern für einen unvoreingenommenen Menschen, "der das Recht der Kritik in Anspruch nimmt" und "der überzeugt werden muß". Für das, "was ehemalige Schüler gegen die Psychoanalyse geschrieben haben", übernehme er keine Verantwortung. Er verweise nur darauf, daß an seiner Klinik "andere Herren ... im Sinne psychoanalytischer Lehren geschrieben haben", ohne daß er ihnen das verübelt hätte. "Mich freut es aber besonders", fügt er hinzu "daß ich bei dieser Gelegenheit wieder mit Dir in persönliche Berührung gekommen bin und so an eine Zeit anknüpfen kann, die schon 50 Jahre zurückliegt. Mit herzlichem Gruß Dein ergebener Wagner-Jauregg." Wagner-Jauregg beherrschte, wie mein Lehrer Bostroem, noch das Gesamtgebiet der Psychiatrie und Neurologie, die sich im Zuge der fortschreitenden Spezialisierung inzwischen getrennt haben. Die Paralyse ist dank der Chemotherapie äußerst selten geworden, praktisch wohl ausgestorben, und die Entdeckung ihrer Behandlung mit Malariaimpfungen gehört der medizinhistorischen Vergangenheit an. Wagner-Jaureggs Schüler und Nachfolger PötzI zitierte in seinem Nekrolog Arthur Schopenhauer: "Jeder Wahrheit ist nur ein kurzes Siegesfest beschieden zwischen den langen Zeiträumen, in denen sie als Unsinn verlacht und in denen sie als Selbstverständlichkeit geringgeschätzt wird."
Den Vorlesungen Wagner-Jaureggs verdanke ich eine erste Einführung in die Grundlagen der klinischen Psychiatrie. Sein Oberarzt, Professor Raimann, von seinem Chef durch den Schmuck eines prächtigen schwarzen Vollbartes unterschieden, las ein ebenfalls klinisch gut fundiertes, logisch klares und begrifflich präzises Kolleg über gerichtliche Psychiatrie. Beide Lehrer erweckten in mir ein regeres Interesse an meinem späteren Fachgebiet, das in den Königsberger Schlußsemestern durch den dortigen Ordinarius Geheimrat Ernst Meyer, den Sohn eines der Begründer des norestraintuPrinzips, der freien Behandlung der "Irren", weiter gefördert wurde. Meyer pflegte die akustischen Halluzinationen schizophrener Patienten uns Studenten mit Hilfe der in dialektfreiem Hannoversch hingesäuselten Frage: "Hören Sie Sstimmen?" zu demonstrieren. Er gab mir, als ich Medizinalpraktikant an seiner Klinik wurde, für meine Dissertation das Thema Psychobiologische Untersuchungen an Ehefrauen chronischer Alkoholiker", ein damals noch weitgehend unerforschtes Problem. Leider starb er, bevor ich die Arbeit, durch aufreibenden Dienst an der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Altona behindert, abgeschlossen hatte. Sie wurde von seinem Oberarzt, dem Privatdozenten Dr. Moser, übernommen, der sie mit "summa cum laude" bewertete und zum Anlaß nahm, mich Meyers Nachfolger, Bostroem, zu empfehlen und damit meinen weiteren beruflichen und wissenschaftlichen Weg festzulegen. Meyers Söhne, Hans-Hermann und Joachim Ernst, setzten die psychiatrische Familientradition fort und wurden selbst - in Homburg (Saar) und in Göttingen - Psychiatrie-Ordinarien. Dem Zweitgenannten habe ich meinen Nachfolger als Leiter der Wahrendorffschen Anstalten in Ilten bei Hannover Jan CorneIsen zur Fachausbildung ans Herz gelegt, die er auch, obwohl er ursprünglich Chirurg oder Gynäkologe werden wollte, als Erbe und Wahrer der Wahrendorffschen Familientradition pflichtgemäß absolviert, durch neurologische und psychotherapeutische Weiterbildung ergänzt und in der schwierigen Aufgabe, ein 1250 Plätze umfassendes Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie mit 850 Mitarbeitern chefärztlich zu leiten, mit ernstem Bemühen angewandt hat.
Doch zurück zu Wien: In den Pfingstfeiertagen fuhr ich auf dem Rücksitz des Motorrades meines Studienfreundes BoeIzig über den Semmering, Graz und durch die Karawanken nach Triest - Fiume und Abbazia, das in der kaiserlich-königlichen ("K und K")-Zeit Österreichs vornehmste Seebad der Wiener Elite an der Adria. In Triest ergatterten wir eine Passage auf einem Frachtdampfer mit dem Bestimmungshafen" Venezia". Da es verboten war und auch sinnlos erschienen wäre, ein Motorrad in die autofreie und brückenreiche Lagunenstadt zu verfrachten, mußten wir unser Vehikel heimlich in der Dunkelheit in den Frachtraum des Schiffes schieben und während der nächtlichen Seereise sorgfältig bewachen. Problematisch wurde das Unternehmen bei der frühmorgendlichen Ankunft vor dem Markusplatz. Wahrscheinlich waren wir die ersten und voraussichtlich auch die letzten Menschen, die auf die verrückte Idee gekommen sind, die "neptunische Stadt", wie Goethe Venedig nannte, mit einem Motorrad zu besuchen. Dies müssen auch die Gondolieri empfunden haben, die sich unserem Schiff näherten. Sie lachten, riefen und winkten ab, als wir sie baten, uns mit dem Rad aufzuladen und mitzunehmen. Nur einer wagte es, durch unsere bittenden Gesichter und einige Lire angelockt. Vielleicht war auch er ein Gondoliere ohne Konzession, der Aschenbach in Thomas Manns "Tod in Venedig" gerudert hat? Unter dem ungewöhnlichen Gewicht des Motorrades sank seine Gondel bis nahe an die Bordkante und schwankte bedenklich. Aber wir kenterten nicht und erreichten glücklich den Markusplatz. Nun begann der schwierigste Teil des Unternehmens: Die schwere, ungefüge Maschine über insgesamt 20 Brücken treppauf zu heben und - mühsamer noch - treppab am Vornüberstürzen zu hindern! Die noch leicht schlaftrunkenen Venezianer rieben sich die Augen, schüttelten die Köpfe und lachten schließlich mehr mit als über uns. So gelangten wir, schweißgebadet, bis zum damals noch nicht so erschreckend wie heute industrialisierten Festlandsort Mestre, wo wir unser rollendes Gepäck einer Garage anvertrauen konnten. Venedig selbst empfing uns mit dem einzigartigen Zauber "dieser wunderbaren Inselstadt", von der Goethe in der "Italienischen Reise" schreibt, sie sei "nur mit sich selbst zu vergleichen". So viel sei schon von ihr erzählt und gedruckt worden, daß er "mit Beschreibung nicht umständlich sein wolle." Und doch hat er ihre poetische Schönheit so lebendig geschildert, daß der Leser, der nie dort war, eine der Wirklichkeit wenigstens angenäherte Vorstellung von ihr gewinnen kann. Doch was ist die Vorstellung gegen die Wirklichkeit? Thomas Mann nennt sie "die unwahrscheinlichste der Städte".
Als junge, noch nicht Venedig-reife Banausen haben wir nicht viel an Kirchen und Kunstschätzen genossen. Wir begnügten uns damit, den Campanile zu besteigen, um den Blick auf das Wunder Stadt mit der Lagune, dem Lido, den Inseln, dem Festland zu erleben, auf dem "Salon Europas", wie Napoleon den Markusplatz bezeichnet hat, den drei miteinander rivalisierenden Musikkapellen zu lauschen, das Flanieren der Menschen und das Geoirre der Tauben zu betrachten und durch die engen Gassen zu schlendern. Länger als zwei Nächte konnten wir im Hotel Victoria - das es heute nicht mehr gibt - ohnehin nicht bleiben, da unsere Hoffnung, einige Devisen als "Poste restante" vorzufinden, nicht in Erfüllung ging. Wir mußten daher schleunigst in Richtung Gardasee weiterrollen, wo Freund BoeIzig finanzielle Hilfe von einer dort lebenden Tante erhoffte. Mangels einer solchen Tante verließ ich ihn schon in Padua, wo ich immerhin den Condottiere Gattamelata des DonateIIo, den Antonius-Dom und den Innenhof der Universität mit den Wappenschildern der alten deutschen Familien auf mich wirken ließ, die im Mittelalter dort studiert haben. Erst sehr viel später fand ich Zeit, das Katheder, von dem aus GaIiIei gelehrt und das Theatrum anatomicum, in dem Morgagni Leichen obduziert hat, zu sehen. Giovanni Battista Morgagni (1682 - 1771) hat in dem epochemachenden Werk "De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis", in seinem 80. Lebensjahr erschienen, die Grundlagen der Speziellen Pathologie geschaffen und als Erster die Lehre von der Beziehung zwischen den Ursachen und dem Sitz der Krankheiten wissenschaftlich exakt begründet. Da es damals von der Kirche streng verboten war, Leichen zu sezieren, mußten diese heimlich in Booten auf unterirdischen Kanälen herbeigeschafft werden. Von dieser geistes- und medizingeschichtlichen Bedeutung Paduas wußte ich medizinisches Greenhorn noch nichts. Mit dem Rest meines Geldes und voller allzu flüchtiger, aber nachhaltiger und appetitanregender Eindrücke kehrte ich auf Eisenbahnschienen allein nach Wien zurück. Dank väterlicher Finanzierung konnte ich es mir leisten, nach Budapest zu fahren und das Semester mit einer allerdings spottbilligen Studienreise zum Balkan und in den vorderen Orient abzuschließen. Die Hauptstadt des ehemaligen, von dem Reichsverweser Admiral a. D. Horthy regierten Königreiches Ungarn faszinierte mich mit einem der schönsten Städtebilder Europas, mit den Donaubrücken, dem imposanten Parlamentsgebäude im Zuckerbäckerstil, mit der Flora und den Thermalquellen der Margareteninsel, dem von der Donau malerisch aufsteigenden "Buda" ("Ofen") und nicht zuletzt mit der patriotischen, freiheitsliebenden Gesinnung der Menschen. In den Straßenbahnen waren vaterländische Aufrufe zu lesen, mit denen gegen die im Vertrag von Trianon beschlossene Verkleinerung des Landes auf ein Drittel seines Bestandes zugunsten der Tschechoslovakei, Rumäniens und Jugoslawiens protestiert wurde. Es gefiel mir besonders, daß bei einem studentischen Kommers, zu dem ich eingeladen war, der alte Vater eines der Korporierten, ein schlichter Puszta-Bauer, im Mittelpunkt des Festes stand und mit Ansprachen und Liedern geehrt wurde. Man sang die ungarische Nationalhymne, die ich als eine feierlich-ernste choralartige Melodie in Erinnerung behalten habe. Ich verbrüderte mich schnell mit meinem Gastgebern - einer pumpte mich um 20,-- Mark an, die ich nicht wieder sah - und wir zogen anschließend in eine Bar, in der wir Franz MoInar und die gefeierte Filmschauspielerin Vilma Banky antrafen. Den Rest des Abends verbrachten wir, beschwingt und übermütig, im WellenThermal-Schwimmbad des berühmten Gellért-Hotels, das in mir den Wunsch aufkommen ließ, dort später einmal wohnen zu können. Dieser Wunsch ging auch in Erfüllung im Jahre 1977, aber, ach, mit der bitteren Enttäuschung, daß das einst so repräsentative Haus unter der sozialistischen Zwangswirtschaft regelrecht heruntergekommen und das schöne WellenSchwimmbad - ohne Wasser war! Daß wir außerdem im Hotelzimmer abgehört wurden und ich, an einer schweren Cystopyelitis erkrankt, nicht von Dr. Alfred Simkö, meinem ärztlichen Freund aus alter ungarischer Familie, betreut werden durfte, sondern einen regierungstreuen Hotelarzt akzeptieren sollte, sei nur nebenbei erwähnt. Inzwischen - 1991 - ist Ungarn endlich wieder frei!
Balkan- Orientreise
Höhepunkt des Wien-Semesters war die Orientreise unserer deutschen Studentengruppe: Mit Donaudampfer nach Belgrad (Beograd), weiter durch das "Eiserne Tor" nach Rumänien, mit der Bahn durch Siebenbürgen mit Kronstadt, Hermannstadt, Schäßburg, über Bukarest nach Konstanza, auf dem Schwarzen Meer nach Konstantinopel, von dort über das Marmarameer nach Mudania, mit Kraft- und Pferdewagen, zum Teil zu Fuß durch die anatolische Steppe nach Brussa (Bursa), zurück nach Konstantinopel, zurück mit dem Schiff nach Varna/Bulgarien, von dort streckenweise auf Mauleseln reitend durch das Balkangebirge, Rast am Rila-Kloster, und über Trnovo, die alte bulgarische Hauptstadt, Plowdiv (Philippopel), Sofia, Vidin und donauaufwärts nach Wien mit Heimkehr über Prag, Berlin, Swinemünde, Pillau! Diese Reise war für mich ein großes Erlebnis, über das ich in häufigen Briefen an meine Eltern überschwenglich-begeistert berichtet habe. Hierzu nur einige Auszüge aus einem Brief vom 30. Juli 1928 über die Wiederbegnung mit unserem Standort Konstantinopel (so hieß Istanbul damals noch) nach der Rückkehr von einer Exkursion durch Anatolien: "Nach wilder Fahrt in einem alten klapperigen Chevrolet über die westanatolischen Höhen von Brussa nach Mudania und sanfter Schaukelei auf dem Marmarameer sahen wir wieder die Häuserterrasse von Galata und Pera, die grüne Spitze und die weißen Kioske des Serails, die schlanken Minaretts von Istanbul aus dem Blau des Himmels und des Wassers sich erheben. Konstantinopel erschien mir nun nicht mehr wie beim erstenmal als eine wundersame Fata Morgana, sondern ich begrüßte in ihr eine vertraute, schöne Freundin. Sie ist eine ältliche, wohlgeformte Kokotte mit gut konturierten Reizen ihres vielgestaltigen Körpers, aber von modernen Schminken übertüncht, mit stillosen Pflästerchen beklebt und im Inneren von mancherlei Dekadenzmaladien durchseucht. Man muß sich nur kurz vor Sonnenuntergang auf den hohen Galataturm stellen und sich von der Zauberhülle dieses göttlichen und allzu menschlichen Meisterwerkes in einen wohligen Trancezustand hineingleiten lassen, wenn die Sonne ihrem schönen Kind den Gutenachtkuß gibt und es in flüssiges Gold einhüllt, wenn die abgeschnittenen Wolkenkratzer von Galata und Pera, die so gar nicht in das orientalische Bild passen wollen, wenn die Moscheenkuppeln und Minarette des alten Stambul von einem tief-rötlich blinkenden Feuersturm, dem Goldenen Horn, geschieden werden, und Bosporus und Marmarameer, von Schiffsmasten und Schornsteingewirr besät, in den Abendhimmel und die bunten Ufer übergehen - und man muß durch die nachtdunklen, schmutzstarrenden und übelriechenden Eng- und Steilgassen der drei Stadtteile schreiten, sich von dem lärmenden Feilsch- und Brülltrubel der Händler, den bettelnden oder mit Glasperlen-Ketten spielenden Männern traurig stimmen und sich von der verkommenen Schamlosigkeit der Straßendirnen anekeln lassen - "die wurmstichige Belladonna reckt sich grell vor dem Auge." In meiner wort- und bilderreichen Bewunderung dieser Stadt befand ich mich in bester Gesellschaft: Alexander von Humboldt zählte sie neben Rio de Janeiro und Neapel zu den drei schönsten Städten der Welt. In ihre Schönheiten und Sehenswürdigkeiten wurden wir von einem ehemaligen "Janitscharen-Major" - so nannte er sich, obwohl die Janitscharen-Leibgarde der Sultane schon 1826 blutig beseitigt war - eingeführt, einem höchst originellen, kunsthistorisch und archäologisch hochgebildeten Mann, den ich noch deutlich vor mir sehe: Groß, hakennasig, etwas krummbeinig, am Stock humpelnd, zerzaust - bärtig, mit Zahnlücken und einem vorstehenden Hauer behaftet, von einem nicht ganz sauberen Schlapphut und einem ebensolchen offenen Mantel umweht. Seinen Namen habe ich behalten: "Ghazi Turkhan Bey Ali Ahmed Mehdi Zadi Agha", wobei er sich den Titel "Ghazi" anscheinend wegen seiner Verdienste als Berichterstatter beim Boxeraufstand in China selbst verliehen hatte. Er kannte auch Winston Churchill von dessen Tätigkeit als Kriegsberichterstatter im Burenkrieg her. Wir folgten ihm nach dem Vorort Eyüp mit der "Eyüp Camii", der heiligsten Moschee Istanbuls, in der früher die Schwertumgürtung, also "Krönung" der Sultane stattfand, zum malerisch hoch über dem Anfang des Goldenen Horns gelegenen, mit Platanen und Cypressen bepflanzten Friedhof und der Grabkapelle des Bannerträgers Mohammeds. Jedes Grab trägt zwei zum Teil reich ornamentierte, mit Schriftzeichen versehene Steine, von denen der eine mit einem steinernen Fez oder Turban geschmückt war, bis Mustafa KemaI Pascha, der große Reformator und "Atatürk" (Vater der Türken) diese Kopfbedeckung abschaffte. Als ich unseren "Ghazi Turkhan Bey ..." fragte, warum einige Feze schief auf dem Grabstein standen, antwortete er: "Die sind hingerichtet worden." Er führte uns natürlich auch durch die Hagia Sophia, die Prachtkirche der "Heiligen Weisheit", unter Kaiser Justinian und seiner Frau Theodora, einer früheren Schauspielerin, im 6. Jahrhundert nach Christus erbaut, ein Wunderwerk der byzantinischen Baukunst, für mein ästhetisches Gefühl verwirrend überladen und seit 1935 Museum. Er zeigte uns die mit ihren blauen Fayencefliesen weit schönere "Blaue Moschee", die nicht minder berühmte Süleyman-Moschee und andere Moscheen, deren Namen mein Gedächtnis unnötig belasten würden. Wir besichtigten mit ihm das "Topkapi Saray", das Serail, die ehemalige Palaststadt der Sultane mit dem Schatzhaus und der einzigartigen Porzellansammlung, den Goldkunstwerken, Diamanten, Riesensmaragden und Edelsteinen aus dem Schatz der Sultane, und den "Diwan", den Saal für die Beratungen der Wesire - alles von mir 22-jährigem Orientfahrer mit Staunen und Ehrfurcht gebührend bewundert. Der Harem (arabisch Harim, das Verbotene), zu dem nur der Sultan, seine Blutsverwandten und die Eunuchen Zutritt hatten, war geschlossen. Ein alter Eunuche, als solcher erkennbar an Bartlosigkeit und Fistelstimme, führte mich in seine ärmliche Häuslichkeit und bewirtete mich mit Tee. Über sein Schicksal und Vorleben konnte ich wegen fehlender sprachlicher Verständigungsmöglichkeiten leider nichts erfahren. Im Großen Bazar mit seinen vier- bis fünftausend Läden erstand ich zwei schön ziselierte Bronze-Aschenbecher, eine Wasserpfeife ("Nargileh"), aus der ich zu Hause, in der Hocke sitzend, meinen Eltern und staunenden Gästen etwas vorrauchte, und einen Fez, in dessen Innerem ich - zu spät - die eingedruckten Worte "Made in Zwickau" entdeckte! Ich habe dann 1967 Istanbul mit Antonia und Vera zusammen auf der Rückreise von Izmir, Ephesus, Pergamon, Milet, Aphrodisias, Hierapolis, Didyma wieder erlebt, diesmal weniger enthusiastisch, dafür mit mehr geschichtlichem Verständnis. Als Studenten hatten wir im "Deutschen Club Teutonia", an der Rue Tekké des Stadtteils Pera gewohnt, in der Nähe des Galataturms, dem hochragenden Wahrzeichen der Stadt, nicht weit vom "Yüksek Kaldirim", dem "Hohen Pflasterweg" einer Treppenstraße mit zahlreichen Stufen. Unser Nachtlager war ein großer Saal, in dem wir auf Matratzen schliefen. Wie billig diese große Reise war, zeigte sich daran, daß ich, als mein Vater mir der Sicherheit halber 100,Rentenmark nach Konstantinopel überwies, mit der leicht übertriebenen Versicherung dankte, damit könnte ich noch bis Kapstadt reisen. Ich besaß außerdem noch 200,- Mark, von denen 60,- Mark für die Weiterreise, 40,- Mark für eine - nicht zustandegekommene - Exkursion nach Troja und der Rest für die Heimreise über Bulgarien, Wien, Prag, Berlin und mit dem Schiff von Swinemünde bis Pillau vorgesehen waren.
Das Reformwerk Mustafa KemaI Paschas befand sich 1928 erst in den Anfängen. In Anatolien waren die Frauen trotz des staatlichen Verbotes immer noch tiefverschleiert. Sie mußten - und müssen, wie ich hörte, auch heute noch - mit Lastballen und Früchtekörben schwer bepackt, hinter dem Maultier herlaufen, auf dem der Mann reitet! Unser "Dragoman" (Dolmetscher) in Anatolien, ein österreichischer Gutsverwalter, sagte uns, den Frauen werde in der extrem-patriarchalischen Gesellschaft des Orients die Seele abgesprochen, sie müssen in den Moscheen hinter einem Wandschleier in Seitenräumen sitzen, während die Männer im Hauptraum unter der gen Allah oder Mohammed hochragenden Kuppel beten dürfen. Homosexualität sei unter Männern weitverbreitet. Wenn der Mann sehr arm ist, "verschachere" er eine seiner Frauen, um an Geld zu kommen. Ein jungverheirateter Hammal (Lastträger) "vermiete" seine Frau für einige Monate an einen Ausländer und verschaffe sich damit eine Existenzgrundlage. 80 - 90 % der ländlichen Bevölkerung in Anatolien seien Analphabeten. Die älteste Tochter eines Bauern, in dessen Lehmhütte wir gastfrei aufgenommen wurden, war eine Art Dorfwunder, weil sie lesen und schreiben konnte! Wir durch-schritten mit unserem Österreicher, dem einzig deutsch sprechenden Menschen in Bursa und Umgebung, einen Tag lang die anatolische Steppe in großer Hitze und Dürre, überquerten ausgetrocknete Flußbetten, wurden von Distelsträuchern gestochen, von moskitoartigen Mücken gebissen, von Durst geplagt und waren dankbar, von dem Bauern, seinen beiden Frauen und der Tochter mit Kaweh (Kaffee), Tschai (Tee) und Zigaretten bewirtet zu werden. Die kleinasiatische Küstenregion hingegen ist reich bewachsen mit Olivenwäldern, Pappel- und Pinienreihen, Tabakfeldern. Bursa, die alte Hauptstadt des Osmanischen Reiches, in weitem Tal am bithynischen Olymp (Ulu Dag) gelegen, war damals noch ein mittelgroßer Provinzort mit schwarzen, flachdachigen, erkerreichen Häusern, einigen schönen Moscheen, altrömischen Thermalbädern, einem Hallenbazar, einer Karawanserei (die wir mehr als Karawanzerei kennenlernten) und einem "Hotel", das sich der Ausstattung mit einer unbeschreiblichen "Toilette" und Konservendosen als Waschgelegenheiten erfreute. Mein Versuch, von dort aus den Olymp zu besteigen und nach Nikäa, der ehemaligen bitynischen Hauptstadt, und weiter mit der Bagdad-Bahn nach Haidar Pascha zu fahren, scheiterte kläglich an der Unmöglichkeit, die dafür nötigen Einreisegenehmigungen, "Visika", zu beschaffen und das unumgängliche, aber meine Barmittel denn doch übersteigende "Bakschisch" aufzubringen. Dafür wurde ich mit zwei anderen Studenten - die Instanbuler Presse hatte fast täglich über uns berichtet - eines Empfanges bei dem deutschen Botschafter NadoIny in Terapia oberhalb des Bosporus gewürdigt. Da der Botschafter selbst uns wegen eines Treffens mit dem diplomatischen Vertreter Italiens nur kurz begrüßen konnte, wurden wir von seiner Frau und einem zart-blonden, gazellenfigürlichen Töchterchen sehr liebenswürdig zum Five-o-clock-Tee unter Palmen empfangen. NadoIny stammte, wie sich im Gespräch ergab, aus Groß-Stürlack in Ostpreußen und war ein Neffe des Superintendenten Trinker. Dies war für mich das Stichwort zu der Bemerkung, es habe außer diesem Onkel noch drei weitere Pastoren mit alkoholfreudigen Namen im südlichen Ostpreußen gegeben: Meinen Taufpfarrer Wiski sowie die Seelsorger Korn und Bierfreund! Die deutsche Botschaft stand damals kurz vor ihrer Verlegung nach Angora, dem heutigen Ankara, das von KemaI Atatürk zum neuen Regierungssitz erhoben wurde und sich dann zur zweitgrößten Stadt der Türkei neben Istanbul entwickelt hat. Frau NadoIny sah diesem Wechsel mit Unbehagen entgegen, da Ankara noch ein abgelegener, häßlicher kleinasiatischer Ort mit angeblich ungesundem Klima und nur einem benutzbaren Hotel war. Aber der modern denkende Mustafa KemaI ließ dort bereits vorsorglich ein Operettenhaus, das erste in der Türkei, erbauen und übertraf damit Istanbul, das weder Oper, Operette noch eine Schauspielbühne, nur Kinos besaß! Ein Wort noch zu den Beziehungen zwischen Deutschen und Türken: Sie waren - und sind, wenn auch mit Einschränkungen, die mit dem Golfkrieg und der Kurdenfeindlichkeit zusammenhängen - von gegenseitiger Sympathie bestimmt. Ein Schuhputzer in Izmir brachte sie 1967 auf die schlichte Formel: "Aleman gut - Turk gut!" und ließ sich mit diesem Verbrüderungswort 10 türkische Pfund (fast 5,-- DM) für seine Mühe geben. Der türkische Leiter einer Reise-Agentur in Izmir mit dem poetischen Namen Abdullah Bülbül (Nachtigall), ehemaliger Offizier der türkischen MarineLuftwaffe und späterer Flugzeugkommandant bei der Luftverkehrslinie Istanbul-Ankara, versicherte mir, die deutsch-türkische Freundschaft sei durch die alte Waffenbrüderschaft der beiden "großen Völker" begündet und gefestigt worden. Er wußte, daß diese das Verdienst Helmut von Moltkes ist, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts als Instruktor der türkischen Armee gewirkt hat. Trotz des Unterrichts, den Moltke, dieser hochgebildete, geistvolle Offizier und geniale Stratege, erteilte, erlitt das türkische Heer im Kampf gegen die aufständischen Kurden und die Ägypter eine verheerende Niederlage: Sein Kommandeur, der General Hafis Pascha, hatte nicht den Rat Moltkes, sondern den seiner Sterndeuter befolgt! Die Gemeinsamkeit der deutsch-türkischen Interessen bewährte sich später aber in dem Erfolg, den die Marine beider Länder im Ersten Weltkriege gegen die britisch-französische Flotte an den Dardanellen Anfang 1915 erringen konnte. Den bei Kriegsende auf Grund gesetzten deutschen Kreuzer "Goeben" sahen wir noch im Bosporus liegen. Moltke hatte übrigens schon vor den unabsehbaren Folgen einer fortschreitenden Technisierung der künftigen Massenkriege gewarnt und eine gesamteuropäische Friedensordnung angestrebt!
Mein bescheidener Beitrag zur deutsch-türkischen Verständigung beschränkt sich auf einige türkische Worte, die ich in einem der Karl - May Bücher, ich glaube "In den Schluchten des Balkan" als Junge auswendig gelernt habe. Sie lauten: "Dur, Askerler, tüfenkler doldoryniz! Araschtyrarim!" Auf Deutsch: "Halt, Soldaten, ladet die Gewehre! Ich werde rekognoszieren!" So unpassend sie auch sind - ich habe noch keinen Türken erlebt, der sich nicht gefreut hätte, wenn ich ihn so begrüßte!
Unsere Rückreise über das schwarze Meer und durch Bulgarien vollzog sich nicht weniger reich an vielfältigen Eindrücken und Erlebnissen, die sich aus unserer unkonventionellen Art zu reisen, abseits vom Baedeker, ergaben, z.B. bei einem Mauleselritt im Balkangebirge, Besuch im Rila-Kloster und Begegnungen mit einsam lebenden mönchischen Anachoreten, Verbrüderung mit bulgarischen Studenten, Kontakt mit dem staatlich-bulgarischen Arbeitsdienst, nach dessen Muster der spätere nationalsozialistische Arbeitsdienst entstanden ist, und anderes mehr. Wir fuhren dann mit dem Schiff donauaufwärts nach Wien zurück, und ich durchstreifte zum Abschluß das damals noch "Goldene Prag", das ich später, 1968, noch zweimal, nun weniger golden geworden, nach dem "Prager Frühling" und nach dem Einmarsch der SowjetArmee 1968 erleben und durch freundschaftliche Beziehungen zu einem tschechischen Fachkollegen, Dozent Dr. Frantisek FaItus, liebgewinnen sollte.
Ich will aber auf meine Wiener Studentenzeit nicht zurückschauen, ohne eine besondere Sehens- und Erinnerungswürdigkeit dieser traditionsreichen Stadt erwähnt zu haben: Frau Anna Sacher, die Inhaberin des weltberühmten Hotels! Die Fleischhauertochter Anna Fuchs hatte den Sohn Eduard des Erfinders der nach ihm benannten Torte geheiratet und das Hotel - er selbst soll den "Tafelspitz" erdacht haben! - nach seinem frühen Tode mit Klugheit, Geschäftstüchtigkeit, Fleiß und Menschenkenntnis so erfolgreich geführt, daß es zu einem lebendigen Mittelpunkt Wiens wurde, von dem man sagte: "In deinen Betten schläft Österreich!" Ich habe die alte Dame noch mehrmals gesehen, wie sie vor dem Hotel saß, eine dicke, kurze Brasil rauchend, zur Seite ihre englischen Bulldoggen, die eine fatale Ähnlichkeit mit dem dickwangig gewordenen Gesicht ihrer Herrin hatten. Sie unterschieden sich von ihr aber zumindest dadurch, daß sie nicht rauchten, und bestätigten so die Richtigkeit der Ansicht des alten Feldmarschalls von MoItke, der auf die Frage nach den Unterschieden zwischen Mensch und Tier - nach einem tiefen Zug aus einer Zigarre - antwortete: "Tiere rauchen nicht!"
Abschluß der Studentenzeit in Königsberg
Diese Differenzen und die danach noch ausgetragenen "PP" ("Pro patria") Mensuren konnten jedoch, und das ist tröstlich, den freundlichen korporativen und persönlichen Beziehungen zwischen den vier Corps nichts anhaben. Ihre Mitglieder waren "Söhne Ostpreußens mit Leib und Seele", und das war stärker als das Trennende!
Die Festlichkeiten der Zentenarfeier dauerten sechs Tage, Höhepunkte waren der Ball mit Essen in den Festräumen der Stadthalle, der Festakt in der Aula der Universität, das Festessen in der alten "Jubiläumshalle", in der mein Vater noch, bevor das Corpshaus in der Münzstraße 3 erworben wurde, die Veranstaltungen des Corps erlebt hatte, und - als Höhepunkt - der Festkommers im Großen Saal der Stadthalle. Eine Festrede folgte der anderen, Heimatgeist, Heimattreue, Vaterlandsliebe, Freundschaft, Mannesmut wurden beschworen. Nur Einer, der Oberbürgermeister Dr. Dr. h.c. Lohmeyer, wagte es, die Frage zu stellen: "Haben die deutschen Korporationen noch ihre Berechtigung?" Er bejahte sie »aus voller Überzeugung": Das Korporationswesen sei heute notwendiger als je zuvor, da es die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges fehlende militärische Erziehung, "die beste Lebensschule der Deutschen", zu ersetzen berufen sei! Den Korporationen erwachse die Aufgabe, den studentischen Nachwuchs so zu erziehen, daß er den Forderungen, die der Staat und das Volk an ihn stellen, genügte. Auch die Pfarrer unter den Corpsbrüdern äußerten sich als Festredner und -dichter in militärisch-patriotischem Sinne. Pfarrer Schwandt, ein begabter Kanzelprediger, sprach in seiner Rede zum Gedächtnis der im Weltkriege gefallenen Kameraden vom "heiligen Glauben", "heroischen Kampf` und "Heldentod" unserer Brüder. Pastor Herford, unser damaliger Corpsdichter, hatte zum Stiftungsfest am 31. Januar 1915 einen Prolog verfaßt, der mit dem Aufruf begann: "Ran an den Feind und durch! Stolz wehen Deutschlands Fahnen. Wir Alle schwören mit dem Wahlspruch unserer Ahnen: Wir halten aus und gehen sonder Zagen Durch Not und Tod hindurch zu schönern Tagen!" Als dieser Wahlspruch unserer Ahnen sich nicht erfüllte, dichtete Pastor Herford zum Stiftungsfest 1919 traurig, aber trotzig: "Wahn - Friede war's, der Traum zerrann in Nichts, Und doch, Ihr Brüder, soll es Losung bleiben: Halt' aus, es muß der junge Tag des Lichts Die alte Nacht der Finsternis vertreiben." Beim Abschiedsfrühschoppen des Hundertjährigen wurde er sanfter und wehmütiger: "Zum grauen Alltag kehren wir zurück. Doch ist das Leben stets im tiefsten Innern Ein zierlich Denken und ein süß Erinnern Im Alltag leuchtet uns Erinnerungsglück..."
Zum "Erinnerungsglück" gehörte auch das im "Katertag" des großen Festes aufgeführte "Große Drama Urte Pusch am Sies" in vier Akten, in dem ich die Hauptrolle der "Urte" übernehmen mußte. Es handelte von dem Kampf der Deutsch-Ordensritter gegen die heidnischen Pruzzen. Mein Corpsbruder Georg Weißer, mit mir der Letzte unseres Semesters, spielte das heidnische Urweib "Ennusze" mit langem, nur die Nase freilassendem weißem Haar - unvergeßlich komisch! Im Mittelpunkt der Handlung stand die Begegnung eines Ritters "Kurt" mit der litauischen Fürstentochter Urte. Der Ritter fragt sie: "Wie ist Dein Nam'?" Urte: "Ich heiße Urtchen!" Der Ritter: "Das trifft sich gut, ich heiße Kurtchen!" Weitere Einzelheiten der Aufführung sind in mir nur verschwommen haften geblieben, wobei der lampenfiebermindernde Alkoholtrank mitgewirkt haben mochte. In einer Chronik der Littuania unseres Corpsbruders Fünfstück heißt es zu dem "musikdramatischen Vorspiel dieses denkwürdigen "Katerstückes": "Unter Verwendung der neuesten Schlagermelodien mit vielen witzigen Einfällen und Anfrotzeleien alter und junger Corpsbrüder entfesselte es Stürme der Heiterkeit." Als Dichter, Spielleiter und Dirigent fungierte mein "Leibbursch" Martin Braun, Theologiestudent, später Superintendent in Münster Westfalen. Mein corpsstudentisches Debüt als Schauspieler hatte ich bereits als junger Fuchs in der Aufführung eines auch von B ra u n gedichteten Stiftungsfest-Katerstückes absolviert. Damals ging es um ein Märchen aus dem Reiche des "Königs Passedéfinus", in welchem ein dekadentscharwenzelnder "Prinz Fikipo" (von Frank "Kaki" Borchert gespielt!) die schwarzlockige "Prinzessin Lätitia" (mein späterer Schwager Adalbert Connor!) liebt. Ich hatte die Rolle des würdigen Kanzlers dieses Reiches zu übernehmen, der mit einem langen Stab die Szenenfolge und die Personen ansagen mußte. Leider hatte Lätitia - Adalbert sein Lampenfieber in einer Oberdosis von Bier und Schnäpschen zu ertränken versucht, so daß er nicht in der Lage war, seinen Text aufzusagen, und statt dessen hinter die Bühne gebracht werden mußte. Dort konnte er sich mit Hilfe eines rasch vorgehaltenen Sektkübels erleichtern, um anschließend mit Schneeabreibungen des Gesichtes in den Stand versetzt zu werden, seine Liebesrolle mit Prinz Fikipo weiterzuspielen. Die durch diesen Zwischenfall entstandene peinliche Pause wurde von mir improvisiert überbrückt und erklärt, indem ich vor den Vorhang trat, dreimal mit meinem Kanzlerstab auf den Boden stieß und dem schon unruhig gewordenen Publikum verkündete: "Ich bitte um Verständnis für die Unterbrechung: Die Prinzessin ist leider soeben von ihrem monatlichen Unwohlsein befallen worden. Sie hofft aber, demnächst wieder erscheinen zu können." Dröhnendes Gelächter der Alten Herren, und die Situation war gerettet! Nach der glücklich zu Ende gebrachten Aufführung rief mich der gute, alte "Onkel John" (Geheimer Medizinalrat Dr. Forstreuter, Freund meiner Eltern) zu sich und sagte in breitem Ostpreußisch (er entstammte einer Salzburgischen Familie, war aber in Dworaliszki, Kreis Mariampol, Gouvernement Suwalki geboren): Mensch, Hans-Werner, woher weißt so schweinsche Sachen? Was wird de Mutter sagen?" Auf mein Medizinstudium konnte ich mich kaum berufen, da ich noch im vorklinischen Semester stand. Aber schließlich war mein Vater Arzt!
Fast hätte ich vergessen, zu bemerken, daß vom Großen Stiftungsfest ein Huldigungstelegramm an den Reichspräsidenten von Hindenburg gesandt wurde, für das er sich mit eigenhändiger Unterschrift bedankt hat!
Der vorletzte Teil dieses Hundertjährigen, der 2. Februar 1929, wurde bei Temperaturen um minus 30 Grad in Cranz verbracht. Die Ostsee war bis an den Horizont zugefroren, und am Strand hatten sich übermannshohe Eisberge gebildet, deren Kristalle heller Sonnenschein in allen Farben erglühen ließ - ein unvergeßliches Bild, das besonders auch die aus Süddeutschland angereisten Gäste, die unsere Ostsee noch nie gesehen hatten, begeisterte. Es war der eiskalte Februar, von dem RingeInatz schrieb: "In Königsberg zum zweitenmal Ich wohnte im Hotel Central" (in dessen Weinabteilung mit dem exzellenten Chefkellermeister ZimmerIinkat wir gerne einmal geschlürft hatten - Eigentümer des Hotels war unser Corpsbruder Willi StadIer, auch Salzburger Herkunft), "Dort war gut hausen. Doch draußen: An Kälte zwo und dreißig Grad, Ich ächzte und ich stöhnte. Ja, Königsberg war stets ein Bad für südwarmweich Verwöhnte..."
Niemand ahnte damals, daß der Kösener Seniorenverband nur wenige Jahre später, 1935, zwangsaufgelöst und die Littuania mit allen anderen deutschen Corps suspendiert sein würde. Der optimistische Wunsch, den eine Corpsschwester, Frau Hedwig Pietsch, zur Zentenarfeier in einem ,vaterländisch-poetischen Kampfruf` ausgesprochen hatte: "... Diesen Geist allzeit zu lehren, Mutter Littuania, Stehe weiter hoch in Ehren, weit're hundert Jahre da!" erfüllte sich nicht.
Politisch schien zunächst alles noch in einigermaßen geordneten Bahnen zu verlaufen. Scheinruhe vor dem NS-Sturm! Dessen Vorboten - die ständig anwachsenden Mitgliederzahlen, Wählerstimmen und Machtansprüche der NSDAP, die rhetorischen Propaganda-Kaskaden Hitlers und GoebbeIs', die Ausschreitungen der SA, die Straßenkämpfe zwischen braunen und roten Gruppen, die sich in ihrer Radikalität nicht und in sozialistischen Zielsetzungen nur wenig unterschieden - all dies berührte mich persönlich kaum. Nur das unpolitisch "Peer-Gynt'sche" und "Ringelnatz'sche" in mir begehrte zuweilen auf gegen das konservative Element meines Wesens. Es drohte sich sogar einmal zu einem spätpubertären Ausbruchsversuch aus der Fron der Examensvorbereitungen und den langweiligen Zwängen der bürgerlichen Welt zu steigern: Als ich eines Sonntags mit meinen Studienfreunden Walter Steffen und Gerhard Specht am Königsberger Hafen spazierenging, waren wir plötzlich drauf und dran, einen dort ankernden spanischen Frachter mit dem Bestimmungshafen Bilbao zu besteigen und mit ihm davon zu fahren. Aber Verantwortung, Pflicht und Vernunft erwiesen sich als stärker - im besonderen auch Pflicht als "Forderung des Tages" in Goethes Definition. Diese Forderung lautete: Staatsprüfung, Ausbildung, Dienst am kranken Menschen. Jahrzehnte später bin ich dann doch noch nach Bilbao gelangt, wenn auch mit Hilfe eines kleinen Unfalls: Auf der Fahrt zum Internationalen NeurologenKongreß in Lissabon mit Antonia, Vera und Freund Francisco LIavero wurde unser Volkswagen in der Stadtmitte von Bilbao, als ich vor einer Kreuzung hielt, um einen Polizisten nach dem Weg zu fragen, achtern von einer Straßenbahn heftig gerammt. Weil ich sofort die Handbremse löste, schob die Bahn den Wagen ein Stück weit vor sich her, so daß der Heckmotor unbeschädigt blieb und uns weiter in die portugiesische Hauptstadt und auch wieder heimwärts gelangen ließ. Allerdings mußte der durch den Stoß entstandene Ausfall des Bosch-Horns durch eine rasch erworbene Gummi-Hupe ersetzt werden, die von Verachen fleißig betätigt wurde.
Das Staatsexamen 1930 zog sich mit den einzelnen Stationen über vier Monate hin, wurde mit der Gesamtnote "gut" bestanden und von meinen Eltern mit einer gemeinsamen Reise in die Schweiz belohnt. Als Medizinpraktikant und junger Arzt in Altona und Hamburg Nach der ersten praktischen Berührung mit der Psychiatrie als Medizinalpraktikant an der Königsberger Universitäts-Nervenklinik hatte ich den Wunsch, mich auch in der Inneren Medizin umzusehen und ging an die Medizinische (Innere) Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Altona, die von dem großen Internisten Prof. Leo Lichtwitz, dem Begründer der neueren klinischen Chemie, geleitet wurde. Hier erlernte ich nicht nur Innere, sondern auch Allgemeine Medizinn von der Pike auf`. Denn wir angehenden Arzte mußten im Nacht- und Wochenend-Dienst bei neu aufgenommenen Patienten möglichst sofort eine Diagnose stellen, um zu entscheiden, ob sie in der Inneren, der Chirurgischen, der Gynäkologischen oder auch in der kleinen psychiatrischen Abteilung weiter zu untersuchen und behandeln seien. Natürlich wurde diese Aufgabe von den jeweiligen Ober- oder Chefärzten kontrolliert. Wir hatten, wenn die Laborantinnen nicht im Dienst waren, auch alle Laboratoriumsuntersuchungen selbst auszuführen. Ich erinnere mich, wie ich mich des Nachts stundenlang mit Blutzucker-, Reststickstoff-, Harnsäure-, Kreatininbestimmungen abmühte, um dem Chef Lichtwitz zur Visite am nächsten Morgen die fertige Krankengeschichte der "Zugänge" mit den chemischen und sonstigen Analysen vorlegen zu können. Heute schafft man in einer Hannoverschen Labor-Gemeinschaft mit computerisierten Schnellverfahren bis zu 20 000 Einzelanalysen am Tage und etwa 1500 Blutbilder in einer halben Stunde! Die Altonaer Zeit bedeutete für mich nicht nur ärztlich, sondern auch persönlich einen wichtigen Lebensabschnitt: Freundschaftliche Beziehungen entwickelten sich mit dem Chirurgischen Oberarzt, meinem Corpsbruder Dr. Hans Reinert und seiner Frau, mit meinem gleichaltrigen Kollegen Joachim, dem Großneffen des berühmten Geigers Josef Joachim , mit Günter Haenisch, Sohn eines bedeutenden Hamburger Röntgenologie-Professors und späterem Professor der Chirurgie, und ganz besonders mit Arthur Jores und seiner Frau Ilse, zwei Menschen, die einen unverlierbaren Platz in meinem Herzen eingenommen haben. Jores gehörte zu den begabtesten Schülern unseres Meisters Lichtwitz , dessen Schule auch andere hervorragende Wissenschaftler und Kliniker entstammen wie Paul Meyer und Hans Adolf Krebs . Lichtwitz verließ 1933 Deutschland und ging nach New York, wo er das Montefiore-Hospital übernahm und seine Forschungen über die Gicht und andere Stoffwechselkrankheiten fortsetzte. Meyer wich nach Lyon aus und Krebs wurde in England (Cambridge und Oxford) für seine Entdeckungen mehrerer Reaktionen des intermediären Stoffwechsels mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet, mit acht Ehrendoktoraten geschmückt und von der Königin geadelt.
In Altona wurde aber nicht nur, wie man in Hamburg sagte, "fix gearbeitet", sondern
auch "fix gefeiert": Unvergeßlich ein "Urviechfest" am 16. April 1932, zu dem Ilse und
"Arthur" mit folgender Ankündigung eingeladen hatten: Urviecher, die als solche durch
Aussehen und Kleidung gekennzeichnet sind, haben freien Eintritt. Kulturviechern und
Mistviechern ist der Eintritt verboten!" Lichtwitz war - natürlich! - als "Löwe" erschienen,
Haenisch als Hamburger Jung (der er auch war), ich als Rasputin, eine
tiefenpsychologisch wieder einmal aufschlußreiche Maskierung, derer ich mich auch
später mehrfach und mit Erfolg, besonders bei Damen, bedient habe.
"Es war im
schönen Karneval,
Wo, wie auch sonst und überall,
Der Mensch mit ungemeiner List
Zu scheinen sucht, was er nicht ist." (Wilhelm Busch).
Arthur Jores
Auch unsere liebe und verehrte Freundin Frau Dr. rer. nat. Olga Guyot,
Chemikerin und Bajuwarin, nahm an diesem wahrhaft rauschenden Fest teil. Sie bildete
mit Jores den festen Kern der Lichtwitzschen Crew, die bis weit in die Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengehalten hat. Damals leitete sie die
Forschungslaboratorien der Chemisch-Pharmazeutischen Fabrik "Promonta" in
Hamburg. (Peter Bamm, den ich zum erstenmal im Kasino des Allgemeinen
Krankenhauses Hamburg-Barmbek - er war Assistenzarzt an dessen Chirurgischen
Abteilung - begegnet bin, lieferte ihr einige Werbetexte für das Haarwuchsmittel
"Trilysin"!) Antonia und ich blieben der treuen Olly" bis kurz vor ihrem Tode
freundschaftlich verbunden. Jores hatte in Altona pathophysiologisch-experimentell und
klinisch über die Erkrankungen des Hypophysen-Zwischenhirn-Systems, innersekretorische Störungen und Probleme der
Tagesperiodik gearbeitet und war auf dem Wege, auf diesen Gebieten eine international
anerkannte Kapazität zu werden. Er habilitierte sich bei Heinrich Curschmann in
Rostock, und dort ereilte ihn ein Schicksal, das zu einer tiefgreifenden Wende seines
Lebens und seines wissenschaftlichen Wirkens geführt hat: Er versah das erste
Exemplar eines von ihm verfaßten Buches "Grundzüge der Inneren Medizin für
Studierende der Zahnheilkunde" mit einer Widmung an seinen verehrten Lehrer Prof.
Lichtwitz in New York und ließ es in seinem Dienstzimmer liegen. Sein Widersacher an
der Rostocker Klinik, ein wissenschaftlich unbeschriebenes, aber sich nach dem NS-Winde drehendes Blatt, namens
Böhme, photographierte unbemerkt diese Widmung
und übergab sie der zuständigen Parteidienststelle. "Staatsfeindliche Verbindung mit
einem emigrierten Juden", hieß dies Delikt, Verlust der Dozentur und "Strafversetzung" in
den Bayerischen Wald (!) waren die Folge. Olga Guyot rettete Arthur vor der
Verbannung, indem sie ihm einen Forschungsauftrag bei den Promontawerken
verschaffte, wo er seine experimentellen Untersuchungen fortsetzen und ihre Ergebnisse
im "Handbuch der Neurologie und Inneren Medizin" veröffentlichen konnte. Seine kritische
Haltung zum Nationalsozialismus ließ er später allzu deutlich werden, als er während es
z. Weltkrieges als Reserve-Sanitätsoffizier der Luftwaffe im Kasino eines Fliegerhorstes
in Dänemark äußerte: Wenn Deutschland diesen Krieg gewinnen sollte, so würde das den
Untergang des Christentums und der abendländischen Kultur bedeuten! Ein
Sanitätssoldat, der das gehört hatte, denunzierte ihn bei der vorgesetzten Dienststelle,
und er wurde in einem Kriegsgerichtsverfahren wegen "Wehrkraftzersetzung" zu einer
mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt! Er verbüßte die Haft in Berlin-Moabit und erlebte
dort die Bombenangriffe - die Gefangenen wurden bei Fliegeralarm nicht in den
Luftschutzkeller gebracht! - in Todesangst und Gottvertrauen. Damit vollzog sich in Arthur
J o r e s ein innerer Wandel in zwei verschiedenen, aber zueinander gehörenden
Richtungen: Die Konversion zum katholischen Glauben und der Übergang von der
naturwissenschaftlichen zur psychosomatischen Medizin! Er wurde fortan einer ihrer
Wegbereiter im deutschsprachigen Raum. Die Themen und Titel seiner
Nachkriegsveröffentlichungen waren nun nicht mehr am Hypophysen-Zwischenhirnsystem, am
"Melanophorenhormon", der Endokrinologie und 24-StundenRhythmik orientiert,
sondern lauteten "Der Mensch und seine Krankheit", "Vom kranken Menschen", "Die
Medizin in der Krise unserer Zeit°, "Menschsein als Auftrag". Ein sanftes, keineswegs
fanatisches Sendungsbewußtsein schien ihn anfangs das Kind der
naturwissenschaftlichen mit dem Bade der psychosomatischen Medizin ausschütten und
körperliche Krankheiten schlechthin auf unbewältigte Schulderlebnisse, Konfliktprobleme
und fehlenden Glaubenshalt zurückführen zu lassen. In seiner Hamburger Rektoratsrede -
er war nach dem Kriege Ordinarius für Innere Medizin und Direktor der z. Medizinischen
Klinik des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf geworden - soll er gesagt
haben, einer Lungenentzündung lägen Defizite an Sinnerfüllung des Daseins oder
Schuldgefühle zugrunde, und sie müsse nicht mit Antibiotika, sondern mit dem Bittgebet
behandelt werden. Ich kenne den Wortlaut dieser Rede nicht, weiß aber, daß sie damals
schon seinen hervorragenden wissenschaftlichen Ruf zu gefährden drohte. Aber Arthur
Jores war selbstkritisch und wissenschaftlich redlich genug um den Bogen des
Psychischen in der Genese körperlicher Krankheiten nicht zu überspannen. Dies
beweisen seine späteren klinisch und epidemiologisch sorgfältig begründeten
Untersuchungen etwa zur "Psychosomatik des Bronchialasthmas", zur Pathogenese und
Symptomatik des "Pensionierungsbankrotts" u.a.m. Seine große und vielseitige
wissenschaftliche Begabung beruhte auf einem genetischen Code: Vater Leonhard J.
Ordinarius für Pathologie, weitere Vorfahren (Thiedemann, Physiologe und Anatom,
Bischof, Anatom). Die Freundschaft mit diesem charakterlich vorbildlichen, durch
Leiden gereiften, tiefgläubigen, schlichten und bescheidenen Mann, einer wahren
"anima
candida", hat mir viel bedeutet.
Nach dem frühen Tode seiner Frau Ilse heiratete Arthur eine Oberin der Eppendorfer
Universitätskliniken, Hanna, mit der wir freundschaftlich verbunden wurden und auch in
Arthurs schwerer, zum Tode führender Erkrankung vertrauensvoll geblieben sind. Zu
diesem traurigen Ende seines Lebens war es so gekommen: Da im Programmentwurf
des Wiesbadener Internistenkongresses 1982 das Thema "Bronchialasthma" nur von der
somatischen Seite her behandelt werden sollte, fragte er den Präsidenten des
Kongresses, den Gießener Ordinarius für Innere Medizin, an, ob er in einem Kurzvortrag
etwas zu der psychischen Entstehungskomponente dieses häufigen und oft schweren
Syndroms beitragen könnte. Der Präsident antwortete ihm in einem fast überschwenglich
höflichen Dankschreiben, es bedeute eine große Ehre für ihn und die Kongreßteilnehmer,
wenn er die anderen Referate durch seine reichen Erfahrungen ergänzen würde. Als
Jores dann das fertige Programm erhielt, fehlte sein Name mit der Ankündigung seines
Beitrages, ohne daß der Präsident ihm eine Erklärung dafür mitgeteilt hätte! Arthur war so
betroffen von dieser Enttäuschung und Unhöflichkeit, daß er wenige Stunden später einen
"Schlaganfall" (Hirn-Infarkt) mit durchgehender Lähmung des rechten Armes und Beines
und totaler Aphasie (völligem Ausfall des Sprachausdrucks- und verständnisses) erlitt.
Eine Reise in die Toskana mußte abgesagt, der Patient sofort in die Intensivabteilung des
Städtischen Krankenhauses Altona (unserer ehemaligen gemeinsamen Wirkungsstätte!)
aufgenommen und mit künstlicher Ernährung und medikamentösen Infusionen versorgt
werden. Es folgte ein langes Leidenslager, über dessen Verlauf Hanna uns in fast
täglichen Telefongesprächen berichtete. Es war besonders bedrückend, von ihr zu
hören, daß er weinte, wenn er vergeblich zu sprechen versuchte. Sie hat dieses
Martyrium bis an die Grenzen ihrer seelisch-körperlichen Belastungsfähigkeit auf sich
genommen aus Liebe zu diesem, wie sie sagte, "wunderbaren Mann" und aus
Dankbarkeit für die Gemeinschaft mit ihm. In unserem Urlaub auf Norderney lasen wir in
der "Ostfriesen-Zeitung" die Nachricht vom Tode des "Nestors der deutschen
Psychosomatik". Ich schickte Hanna mit dem Frühschiff ein Gebet-Büchlein aus dem
"Ars sacra"-Verlag, das mir unsere Freundin Hedwig Jagdt einmal geschenkt hatte, und
fügte die Worte aus Thornton Wilders "Brücke von San Luis Rey" hinzu:
"Da ist ein Land
der Lebenden und der Toten, und die Brücke zwischen beiden ist die Liebe - das einzig
Bleibende, der einzige Sinn..."
Es mag kein "Zufall", sondern sinnvolle Fügung gewesen sein, daß Arthur Jores'
Leben durch eine der psychosomatisch entstandenen Erkrankungen endete, denen er
seine wissenschaftliche und ärztliche Arbeit in der zweiten Lebenshälfte gewidmet hatte:
Der Hirn-Infarkt war unmittelbar nach einer ihn tief verletzenden seelischen Erschütterung
aufgetreten, das sicherlich bereits arteriosklerotisch vorgeschädigte Gehirn hielt dieser
plötzlichen Belastung nicht stand und reagierte mit einer akuten "Dekompensation"! Mein
spanischer Freund Prof. Francisco LIavero hat die Entstehung, Symptomatik und
Verlaufsform der "zerebralen Dekompensation" in seiner Monographie "Symptom und
Kausalität" dargestellt, die in gedanklichem Zusammenwirken
während seines zweijährigen Aufenthaltes in Ilten, der ursprünglich
als Wochenendbesuch vorgesehen war, entstanden ist.
Hamburg - Barmbek Nach dem vom NS-Regime erzwungenen Weggang unseres Klinikchefs Leo Lichtwitz und unter der Nachfolge des kühl und unpersönlich wirkenden Prof. Kroetz hielt es die Lichtwitz-Leute und auch mich nicht länger in Altona. Nach vergeblicher Bewerbung als Volontärarzt bei Prof. Viktor von Weizsäcker - Heidelberg, dem ideenreichen Vorkämpfer einer "Medizinischen Anthropologie", nahm ich eine Assistenzarztstelle an der Inneren Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Barmbek an. Barmbek war zwar ein ärztlich hervorragend geführtes Großkrankenhaus, stand aber etwas im Schatten der Eppendorfer Universitätsklinik, obwohl dort wissenschaftlich hochqualifizierte Internisten wie BennhoId, Reye, der Diabetesforscher Ferdinand Bertram (genannt "Zucker-Ferdi"), der Chirurg OehIecker, der Neurologe Embden, der Dermatologe Delbanco einen international anerkannten Ruf repräsentierten. Jedenfalls flüsterte man sich damals folgende Definition des Begriffes "Größenwahn" zu: "Größenwahn ist es, wenn der Ärztliche Direktor von Barmbek träumt, er sei Medizinalpraktikant in Eppendorf!" Dieses Bonmot konnte ich sehr viel später, 1973, zur Einleitung eines Vortrages zitieren, den ich bei einem Kongreß der Nord- und Nordwestdeutschen Gesellschaft für Innere Medizin im Auditorium maximum der Hamburger Universität gehalten habe. 1932 konnte ich als schlichter Barmbeker nicht ahnen, daß ich selbst einmal als apl. Professor der Hamburger Medizinischen Fakultät angehören und Vorlesungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik im "Allerheiligsten Eppendorf" halten würde. Leitender Arzt der Inneren Abteilung am Barmbeker Krankenhaus war zu meiner Zeit Herr Knaack, der den Professorentitel weniger seinen wissenschaftlichen Leistungen als seiner politischen Reputation als sozialdemokratisches Mitglied der Hamburger Bürgerschaft verdankte. Die Neurologische Abteilung wurde von Prof. Embden (1871 - 1941) geleitet. Ihm kam ich persönlich näher, weil ich seinen Oberarzt, den Sohn des bedeutenden Tübinger Psychiaters Prof. Gaupp, vorübergehend vertreten durfte. Embden, Sohn eines angesehenen jüdischen Rechtsanwaltes, war, wie sein jüngerer Bruder, ein berühmter Physiologe, wissenschaftlich hochbegabt, ein menschlich liebenswerter, gütiger Arzt und überdies ein kultivierter Verehrer der schönen Künste. Hierzu mögen seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu Heinrich Weine beigetragen haben, dessen Schwester Charlotte in die Familie Embden eingeheiratet hatte. Dem "unglaublichen Engagement und der Beharrlichkeit" seines Bruders, eines erst zwanzigjährigen Doktoranden am Freiburger Universitäts-Institut für physiologische Chemie, ist der Auftakt zu einem der spannendsten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte zu verdanken, nämlich eine Grundlage des heute, im Zeitalter der Gen-Technologie, hochaktuell gewordenen Gebietes der "Humangenetik": Embden hatte durch familiengeschichtliche Untersuchungen an Schwarzwaldbauern herausgefunden, daß eine bestimmte Stoffwechselstörung, die von Embdens Lehrer Professor Baumann und dem Russen WoIkow chemisch identifizierte "Alkaptonurie", auf einer erblichen Determination beruht. Dieses aufsehenerregende Ergebnis wurde fünf Jahre später von dem englischen Kliniker Sir Archibald Garrod bestätigt und von dem englischen Botaniker William Bateson mit einem offensichtlich rezessiven Erbmodus erklärt. Damit konnten die Mendelschen Vererbungsregeln zum erstenmal auf den Menschen angewandt werden. Interessant ist hierbei auch, daß Embdens Doktorarbeit (1893) einen Wendepunkt bildet von der bisher rein sinnlichen Wahrnehmung des für die Alkaptonurie charakteristischen schwarzen Urins zu einem wissenschaftlichen, chemisch-analytischen Nachweis. Der farbenempfängliche und kunstverständige Embden hatte sich, durch den optischen Sinneseindruck fasziniert, auf entsprechende Assoziationen des "visuell hochbegabten Goethe" berufen und die wissenschaftliche Durchdringung primärer Sinneseindrücke zur Forschungsaufgabe erhoben!
Heinrich Embden übernahm als früherer Schüler Max Nonne s 1923 die Barmbeker Neurologische Abteilung mit 180 Betten. Mit Rücksicht auf seine Tätigkeit an
einem Feldlazarett im Ersten Weltkrieg, für die er mit dem Eisernen Kreuz erster und
zweiter Klasse ausgezeichnet worden ist, durfte er nach 1933 zunächst noch in
Barmbek tätig bleiben. Das Eiserne Kreuz wurde auch hier nicht, wie der Schriftsteller
Walter Kempowski behauptet hat,
nur "als Belohnung für die Tötung feindlicher Soldaten" verliehen, sondern ebenso für
Verdienste um die Versorgung Verwundeter und Kranker! So war es auch bei der
Verleihung an mich 1942. Ich habe als Arzt im Rußlandfeldzug keine Waffe getragen. Als
diesem hochverdienten Arzt und Forscher 1938 die Approbation entzogen wurde, konnte
er dank seiner Freundschaft mit dem brasilianischen Pathologen Henrique La Rocha-Lima nach seiner Emigration eine Anstellung als Berater am Instituto Biologico in Sao
Paulo finden, wo er kurz nach seinem 70. Geburtstag am 4. April 1941 verstorben ist. Ich
werde meine Begegnung mit Heinrich Embden ebenso dankbar in Erinnerung behalten
wie die mit dem - ebenfalls jüdischen - Leiter der Barmbeker Dermatologischen Abteilung,
Professor DeIbanco, der mich zu meiner ersten - und letzten - dermatologischen
Veröffentlichung über das Lymphogranuloma inguinale (oder den "klimatischen Bubo")
angeregt und mir dabei mit histologischen Untersuchungen zu den klinischen Befunden
geholfen hat. (Eine Würdigung "In memoriam Heinrich Embden, Hamburg 1871 -
1941" ist von dem Medizinhistoriker Privatdozenten Dr. med. Peter Voswinke! in
Oldenburg in der Zeitschrift "Arzt und Krankenhaus" 4/91 publiziert worden.)
"Drittes Reich", die Deutschen und ich
Ja - und dann kam der 30. Januar 1933! Ich habe den Tag der "Machtergreifung"
durch die Ernennung Adolf HitIers zum Reichskanzler im Kasino des Barmbeker
Krankenhauses erlebt. Er begann damit, daß der mir zur Einführung in die Propädeutik
der Inneren Medizin zugeteilte Medizinalpraktikant, ein Herr CouteIIe, ein intelligenter,
rothaariger junger Mann mit einem scharfnasigen Raubvogelgesicht, in das Zimmer
meiner Dienstwohnung stürzte und die sofortige Rückgabe der Schriften erbat, die er mir
geliehen hatte. Es waren dies: Das Kommunistische Manifest, Auszüge aus dem Kapital"
von Karl Marx, Texte von Engels und Lenin, Gedrucktes also, das für seinen Besitzer
wie für mich plötzlich hochgefährlich geworden war. Ich übergab ihm alles und habe ihn
seitdem nicht wiedergesehen. Wie ich später erfuhr, hat er als militanter Kommunist am
spanischen Bürgerkrieg gegen Franco teilgenommen und ist dann nach Rot-China
gegangen. Nach dem Zusammenbruch 1945 ist er nach Deutschland zurückgekehrt. Bei einer Ärzteversammlung in
Berlin hat er den uns nahestehenden Röntgenologen Dr. Josef SchöImerich,
seinen kommunistischen Genossen, beschuldigt, während des NS-Regimes seine Partei
verraten zu haben, indem er angeblich "zur Tarnung" braune SA-Hosen getragen habe.
Es kam zu einem öffentlichen Eclat, in dessen tumultuarischen Verlauf die Polizei
eingreifen und Herr CoutelIe den Saal verlassen mußte. Schölmerich war nach
der "Roten Machtergreifung" im sowjetisch besetzten Teil Berlins dank seiner politischen
Verdienste als eine Art Staatssekretär im dortigen Gesundheitsministerium tätig gewesen,
bis er jenes "doppelten Spiels" überführt und in das Gulag Workuta am Eismeer verbannt
wurde. Über diese Gulag-Zeit hat er später in einem Bestseller "Die Toten kehren zurück",
nunmehr in Westdeutschland, berichtet. Doch führten wie es scheint - weder die Workuta-Zeit noch die Erfahrungen mit seinen Genossen zu seiner Abwendung vom
Kommunismus oder radikalen Sozialismus". Die "kapitalistische Medizin" in der
Bundesrepublik Deutschland hat er in heftiger, verallgemeinernder Polemik kritisiert. Da
Antonia ihn, als er unter der NS-Herrschaft inhaftiert war, mit Lebensmittelsendungen ins
Gefängnis versorgt hatte und wir damals zu ihm hielten, versprach er nach seiner
Befreiung im Frühjahr 1945, dafür zu sorgen, daß ich Ordinarius für Psychiatrie in Leipzig
werden sollte. Bei einer Abstimmung im Stadtrat schloß er sich aber dem Kollektiv-Urteil
"Janz: Idealist, also kein Materialist", das hieß: "Ideologisch nicht tragbar", an und ließ
mich fallen. Er gehörte auch zu denen, die "links dachten und rechts lebten": Als die
amerikanische Besatzung Leipzigs im Juni 1945 durch die Sowjet-Armee abgelöst wurde,
beeilte er sich, Proudhons These: "Eigentum ist Diebstahl!" auf seine Weise zu
praktizieren, indem er meine Hemden trug, bei einer Siegesfeier das von meiner Mutter
geerbte Porzellan zerschlug und dazu noch einen Sessel von uns verlangte, was Antonia
ihm denn doch abschlug, so daß er sich mit einem Schrank begnügen mußte!
Zurück zum Beginn des "Dritten Reiches" : Als wir im Rundfunk hörten,
HitIer sei
Reichskanzler geworden, waren wir jungen Ärzte fast ausnahmslos begeistert!
"Endlich
ist es soweit!", hieß es! HitIer, der Befreier des deutschen Volkes von den
"Ketten des
Versailler Vertrages", von seiner Demütigung und wirtschaftlichen Erdrückung durch die
Reparationszahlungen, von der Not der Arbeitslosigkeit, von der Gefahr des
Bolschewismus. Jetzt konnte er in
die Tat umsetzen, was man erhofft und er versprochen hatte! "HitIer, unsere letzte
Hoffnung!" stand auf einem Wahlplakat der NSDAP! Dem demokratischen
Parlamentarismus der Weimarer Republik war das alles nicht gelungen. Er hatte versagt.
Wir sahen nur das Positive der braunen Revolution, wir sahen nicht, konnten oder wollten
nicht sehen, was es bedeutete, daß der Teufel des Kommunismus mit dem Beelzebub
des Nationalsozialismus ausgetrieben wurde, eine Diktatur an die Stelle einer anderen
treten sollte. Vor dieser Alternative hatte Deutschland gestanden, und es entschied sich in
seiner Mehrheit für das "kleinere Übel"! Die Meisten - auch ich - hatten HitIers
"Mein
Kampfe nicht gelesen. Seine wahren Ziele: "Großgermanisches Reich", "Lebensraum im
Osten", Weltmachtstellung der deutschen Nation", Beseitigung des "Krebsschadens" der
Demokratie, Ausstoßung der Juden, Bolschewisten und Marxisten aus der
Volksgemeinschaft, Vernichtung des jüdischen Todfeindes der arischen Rasse", wurden
daher nicht klar genug erkannt oder traten zurück hinter der Einsicht in die Notwendigkeit,
daß eine radikale "nationale und sozialistische" Wende, wie der Name der Partei es
versprach, unumgänglich geworden war. Ich selbst glaubte auch an einen
antikapitalistischen "Sozialismus", mit dem eine gerechtere Gesellschaftsordnung
angestrebt werden sollte, verkannte aber, daß Hitler, wie Joachim C. Fest bemerkt hat,
den Sozialismus-Begriff nicht im Sinne "eines humanitären Antriebes und eines
Neuentwurfes der Gesellschaft" mit Veränderung der Produktionsverhältnisse verstand.
Seine sozialistischen Parolen gehörten vielmehr "ins manipulationsfähige ideologische
Vorfeld, das der Tarnung, der Verwirrung diente und nach Opportunitätsmotiven mit
wechselnden Schlagworten bestückt war." Die NSDAP nannte sich "sozialistisch", um
sich mit dieser populären Vokabel als Arbeiterpartei "der energischsten gesellschaftlichen
Kraft und ihrer Wählerschaft zu vergewissern". Diese zynische Tarnungsstrategie
HitIers
wurde damals nicht durchschaut, und man war fasziniert von der Verbindung des "Nationalismus" als der
"Hingabe des Einzelnen für das Ganze" mit dem "Sozialismus"
als der "Verantwortung des Ganzen für den Einzelnen"! Man - auch ich - vertraute zudem
dem Versprechen HitIers, die Macht "streng legal" zu erringen, (ich höre diese Worte
noch immer in seinen vom Rundfunk übertragenen Ansprachen), wußte aber nicht, daß
er als Zeuge vor dem Reichsgericht in Leipzig 1930 (in einem Prozeß gegen drei
Offiziere, die innerhalb der Reichswehr für
die NSDAP geworben hatten) gesagt hatte, wenn er legal zur Macht gekommen sein
werde, würden "möglicherweise
legal einige Köpfe rollen"! Es kam hinzu, daß die
Regierung im Jahre 1932 mit Franz v. Papen , General v. SchIeicher, fünf weiteren
Adligen ("Das Kabinett der Barone"), zwei Konzerndirektoren und dem Reichspräsidenten
von Hindenburg sich keiner Popularität erfreute und als zu schwach erwies, die
bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen auf den Straßen zu beenden. Am 17. Juli
1932 erlebte ich in Altona die blutigsten Straßenkämpfe des Sommers, bei denen ein
Demonstrationszug von rund 7000 Nationalsozialisten von den Kommunisten des
dortigen Arbeiterviertels mit einem Feuerüberfall von den Dächern und aus den Fenstern
beantwortet wurde. Es gab siebzehn Tote und viele Schwerverletzte, die zum Teil von
meinem Corpsbruder, dem Chirurgen Dr. Borbe und seiner Frau, einer früheren
Krankenschwester, versorgt werden mußten. Alles dies verlangte nach einer "starken
Hand", und ich überwand mein physiognomisches Mißvergnügen an Hitlers bei seinen
Propagandareden theatralisch verzerrter Visage", indem ich meinen Namen in eine uns
Ärzten des Barmbeker Krankenhauses vorgelegte Liste mit der Aufforderung zur
Mitgliedschaft in der NSDAP eintrug. (Sympathischer war mir da schon das zwar plumpe,
aber gutmütige Gesicht des "guten, ehrlichen" Gregor Strasser, den
HitIer bei der sogenannten Röhm-Revolte 1934 ermorden ließ.) Ich glaube, es war im Mai 1933. Wie
konnte ich ahnen, daß ich damit einen "Pakt mit dem Teufel" schloß und nach dem
Zusammenbruch des "Dritten Reiches" für diesen Fehltritt eine Zeitlang büßen mußte?
Ich hatte geglaubt, einer guten Sache für die nationale und soziale "Erhebung" des
deutschen Volkes zu dienen.
Heute fassen wir, die wir dieser Illusion erlegen waren, uns an den Kopf über die
Einengung des politischen Blickfeldes, die uns die größenwahnsinnigen Ziele Hitlers nicht
voraussehen oder verdrängen ließ. Aber wir jungen Akademiker standen ja nicht allein mit
unserer unkritischen Begeisterung, sondern sahen sie zunächst bestätigt: durch Hitlers
innenpolitische Leistungen und Erfolge, durch den an ein Wunder grenzenden
wirtschaftlichen Aufstieg, durch die Vollbeschäftigung seit 1936 und die Überwindung der
sozialen Not - alles ohne Inflation! So kam es, daß die deutsche Arbeiterschaft nach 1933
"in hellen Haufen von der SPD und KPD zu Hitler umschwenkte, und daß auch die
Deutschen, die keine überzeugten Nationalsozialisten waren "Hitleranhänger, Führergläubige" wurden...
"und das waren auf den Höhepunkten der
allgemeinen Führergläubigkeit wohl sicher mehr als neunzig Prozent aller Deutschen",
schreibt Sebastian Haffner in seinen "Anmerkungen zu Hitler"! Hitlers anhaltende
Erfolge demonstrierten, wie Joachim C. Fest richtig gesehen hat, "wie sehr der
Nationalsozialismus eine charismatische, wie wenig er eine ideologische Bewegung war,
daß er nicht auf ein Programm, sondern auf einen Führer blickte..." Nach dem Preis, den
seine Leistungen kosten würden, nach den Folgen der Alleinherrschaft eines Mannes und
seiner Partei, der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, nach dem Spitzelsystem
einer Diktatur - in der kommunistischen noch perfekter und gefährlicher entwickelt -, nach
diesem zu hohen Preis fragten die wenigsten. Man sah nicht voraus, daß die
unzweifelhaft grandiose Aufbauleistung Hitlers schließlich zu einer "Zerstörungsleistung"
wurde, wie Haffner sagt. Man war durch die Propagandareden des Diktators
geblendet, seinem Faszinosum verfallen. Ich erinnere mich genau, wie ich mich
persönlich suggestiv angesprochen fühlte, als er auf dem Königsberger Flugplatz Devau
im Frühjahr 1934 auf seinem offenen Mercedes mit ausgestrecktem Arm stehend, dicht
an mir vorüberfuhr und seinen Blick direkt auf mich zu richten schien! Plötzlich war er mir
nicht mehr so unsympathisch! Meine Vorbehalte zerflossen unter seinem Blick!
War es nicht das, was Stefan George schon 1921 prophetisch verkündet hatte?
"Der sprengt die Ketten fegt auf trümmerstätten Die Ordnung, geisselt die verlaufnen
heim Das ewige recht wo gross wiederum gross ist Herr wiederum herr, zucht wiederum
zucht, er heftet Das wahre sinnbild (Hakenkreuz!) auf das völkische banner Er führt
durch sturm und grausige signale Des frührots seiner treuen schar zum werk des
wachen tags und pflanzt das Neue Reich."
Wir haben uns auch durch HitIers Friedensbeteuerungen irreführen lassen,
deren Glaubhaftigkeit durch seine nicht minder erstaunlichen außenpolitischen Erfolge
bestätigt zu sein schien, während er später zugab, daß er sie bewußt als
Täuschungsmanöver eingeplant habe! Die Fakten: 1935 Wiederbewaffnung durch
allgemeine Wehrpflicht unter Bruch des Versailler Vertrages, 1936 Remilitarisierung des
Rheinlandes unter Bruch des Locarno-Vertrages, Flottenvertrag mit England, 1938 Anschluß Österreichs zum
"Großdeutschland", Annexion des Sudetenlandes mit
Billigung Frankreichs und Englands, 1939
Protektorat über Böhmen und Mähren, Besetzung Memels - alles ohne Krieg! Die
"Appeasement-Politik" Englands und Frankreichs erleichterte es dem "Führer", mit diesen
Schritten, die das Ausland eigentlich aufs höchste beunruhigt haben müßten, ungestört
einen neuen Krieg vorzubereiten. Dann kamen die kriegerischen Erfolge: 1939 schneller
Sieg über Polen, 1940 Besetzung Dänemarks, Norwegens, Hollands, Belgiens,
Luxemburgs, rasche Niederringung Frankreichs, 1941 Besetzung Griechenlands und
Jugoslawiens. "Hitler beherrscht den europäischen Kontinent!" Bei dem Überfall auf die
Sowjet-Union am 21. Juni 1941, von dem ich eines Morgens erfuhr - ich war damals
Leiter einer von mir aufgebauten psychiatrisch-neurologischen Untersuchungs- und
Behandlungsabteilung am Luftwaffenlazarett Halle-Dölau - befiel mich der schreckhafte
Gedanke: "Wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!" Ich erlebte dann auch nach
den täuschenden Anfangserfolgen die ersten Rückzugsbewegungen der deutschen
Truppen im Südabschnitt der Front. Entgegen den Plänen HitIers waren wir vor dem
Einbruch des Winters nicht bis zum Kaspischen Meer und den dortigen Ölquellen
vorgedrungen, sondern aus Rostow am Don bis hinter Taganrog zurückgeschlagen
worden. Als ich von Djnepropetrowsk aus zur Inspektion meiner Sanitätseinheiten in
diese Gegend, nach Mariupol am Asowschen Meer, fuhr, wurde mir klar, daß der vom
Zaun gebrochene "Europafeldzug" gegen Rußland verloren war. Im Stillen begrüßte ich
diese Bestrafung der Hybris des Größten Führers aller Zeiten" ("Gröfaz" genannt!), auch
wenn sie uns alle in die Katastrophe mitreißen würde. Sechseinhalb Jahre hatten ihn von
dem Höhepunkt seines Ruhms - 1938-39 - getrennt, "sechs Jahre mit grotesken
Irrtümern, Fehlern über Fehlern, Verbrechen, Krämpfen, Vernichtungswahn und Tod",
schreibt Joachim C. Fest in seinem Hitler-Buch. Fest wagt folgende Überlegung: Wäre
HitIer 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen, würden nur wenige zögern, ihn einen
der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte zu
nennen. Seine aggressiven Reden, ,Mein Kampf, der Antisemitismus und das
Weltherrschaftskonzept wären vermutlich als Phantasiewerk früher Jahre in die
Vergessenheit geraten ..." Zu diesem Gedankenexperiment läßt sich heute nur sagen:
Auch wenn HitIer durch einen frühen Tod, etwa 1938, daran gehindert worden wäre,
seine späteren Massenverbrechen, die "Endlösung der Judenfrage", Auschwitz, zu
begehen, würde man in ihm später nicht mehr "einen
der größten Staatsmänner der Deutschen" sehen, und zwar, wie
Haffner meint, aus
zwei Gründen: HitIer sei bereits 1938 - mit Sicherheit schon viel früher - zum Krieg
entschlossen gewesen, der halle seine vorausgehenden Leistungen aufs Spiel setzen mußte", und tatsächlich auch zerstört hat. Zweitens: Er hätte keine Verfassung, keine
Institution, sondern ein staatliches Chaos hinterlassen, das nur durch seine Person
zusammengehalten und verdeckt wurde. Er habe "die Funktionsfähigkeit des Staates
zugunsten seiner persönlichen Allmacht und Unersetzlichkeit von Anfang an bewußt
zerstört." Dies allein unterscheide ihn von großen Staatsmännern wie Bismarck und
Napoleon. Aber es sind noch andere und, wie ich denken, tiefere Gründe, die uns heute
davor bewahren, ihn als überragenden Staatsmann zu rühmen: Inzwischen 1991 - sind
die meisten Diktaturen mit ihren Diktatoren bis auf wenige Reste Rot-China, Kuba, einige
afrikanische Staaten - gescheitert. In der zivilisierten Welt hat sich ein politischer
Reifungsprozeß vollzogen, der die Völker aufbegehren läßt gegen die Unterdrückung der
Freiheit durch den Machtanspruch ideologischer, im besonderen kommunistischer
Systeme. Die Denkmäler Lenins, Stalins, Ceaucescus oder wie sie auch heißen
mögen, werden gestürzt. Das Recht und der Anspruch auf Selbstbestimmung, Freiheit
der Meinungsäußerung, Toleranz der Andersdenkenden setzt sich mehr und mehr durch.
Das Verlangen nach einem tyrannischen "Retter" und "Befreier" weicht einer wachsenden
Mündigkeit der Völker. Es besteht weithin kein Bedarf mehr nach einem Alleinherrscher.
Rechts- und linksextremistische Totalitätsansprüche sehen sich in Außenseiterpositionen
verwiesen. Deshalb wäre auch dem Diktator HitIer heute wahrscheinlich ein gleiches
Schicksal beschieden gewesen. Die Nachwelt hätte ihm keine "Kränze geflochten". Seine
Glorifizierung durch einen Märtyrertod bei dem Attentat vom 20. Juli 1944 ist dem
deutschen Volk erspart geblieben. Die Genocide, die von ihm gewollt und in seinem
Namen begangen worden sind, waren zwar vergleichbar mit denen Stalins, aber
einzigartig in den Methoden ihrer technischen und chemischen Durchführung und in ihrer
Begründung: Vernichtung des Rassenfeindes, nicht des Klassenfeindes! Nach und nach
wäre es auch in die Öffentlichkeit gedrungen, was zunächst nur Wenige wußten: Daß es
schon seit 1933 Konzentrationslager gab, daß bereits am 1. April 1933 jüdische
Geschäfte durch die SA boykottiert und zerstört worden waren, und daß
HitIer seit
Dezember 1941, als er sah, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war und
seine Weltherrschaftsziele aufgegeben werden mußten, sich zur radikalen
Judenausrottung in Europa entschlossen hatte. Damit dankte der "Politiker
HitIer endgültig ab zugunsten des Massenmörders Hitler ", wie
Haffner scharf und treffend formuliert hat. Der Nimbus HitIers, die "Droge", von der
das deutsche Volk berauscht war, wäre damals schon verflogen, wenn bekannt
geworden wäre, daß er am 27. November 1941 dem schwedischen Außenminister
Scavenius und dem jugoslawischen Außenminister Lorkovic gegenüber erklärt hat:
"Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein Blut für
seine Existenz einzusetzen, so sollte es vergehen und von einer anderen, stärkeren
Macht vernichtet werden, ich werde dem deutschen Volk keine Träne nachweinen!"
(zitiert nach Andreas HiIIgruber: "Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler",
Frankfurt/M - 1967-70.) Mit diesen Worten hatte sich HitIer entlarvt! Er war dann auch
entschlossen, die Konsequenzen zu ziehen und die Deutschen der Rache der Russen
auszuliefern, wenn sie nicht mit ihm »durch Dick und Dünn gingen"! Mit seinem
"Nerobefehl" vom 19. März 1945 sollte allen Deutschen durch die Zerstörung der
Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen und der Sachwerte innerhalb
des Reichsgebietes jede Überlebensmöglichkeit genommen werden! Seinem früheren
Architekten und späteren Rüstungsminister Albert Speer ("Des Teufels Architekt") hat
er auf dessen Einwände hin "in eisigem Ton" erklärt, es sei »nicht notwendig, auf die
Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht,
Rücksicht zu nehmen". Es sei im Gegenteil besser, diese Dinge zu zerstören. Denn das
Volk habe sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre
ausschließlich die Zukunft! Was nach diesem Kampf übrig bleibe, seien ohnehin die
Minderwertigen, "denn die guten sind gefallen!" (zitiert nach Haffner).
So wie HitIer damit zum Verräter seines Volkes geworden ist, muß sich das Volk
von ihm verraten gefühlt haben. So, wie er die Deutschen verachtet hat, als sie ihm nicht
mehr "durch Dick und Dünn" folgen wollten und konnten, so verdiente er, von ihnen
verachtet zu werden, als sie erfuhren, wie er über sie dachte. Natürlich gab es damals
Leute, die das nicht wahrhaben wollten, es beschönigten oder verdrängten. Ich selbst
wäre fast das Opfer unbeirrbarer Führertreue geworden, als ich am 20. Juli 1944 nach
der Rundfunkmeldung, HitIer habe das Attentat überlebt, den Verwaltungsdirektor unserer Leipziger
Klinik fragte: "Was sagen Sie dazu, daß Hitler lebt? Ist das nicht schlimm?" Seine
Antwort: "Das will ich nicht gehört haben, Herr Oberarzt!"
Wenn man aber in der letzten Zeit des Krieges bei Zivilisten und Soldaten
herumhörte - und ich habe das gründlich getan -, dann wurde bestätigt, was Haffner
meint: Die feindliche Besatzung, die dem Zusammenbruch folgte, sei - jedenfalls im
Westen - ganz überwiegend als Erlösung begrüßt worden, die Amerikaner, Briten und
Franzosen, die erwartet hatten, ein Volk von Nationalsozialisten vorzufinden, seien statt
dessen auf ein gründlich desillusioniertes Volk gestoßen, das nichts mehr mit
HitIer zu
schaffen haben wollte. "Die Umerziehung, die die Alliierten sich vorgenommen hatten,
hatte in den letzten Wochen HitIer auf drastische Weise selbst vollzogen." Freilich -
Unentwegte gibt es auch heute noch. Dummköpfe, Unbelehrbare und Fanatiker sterben
nicht aus!
Hitler als psychopathologisches Problem
Für den psychopathologisch Kundigen ist HitIer das massenkriminell gewordene
Exempel eines "fanatischen Psychopathen", und zwar eines sogenannten Kampffanatikers": Kampffanatiker sind Persönlichkeiten, deren Denken, Wollen und
Handeln von einer "überwertigen Idee" (oder Ideologie) und damit von der Überzeugung,
im Besitz der alleingültigen Wahrheit zu sein, bestimmt wird. Sie verfolgen ihre Ziele mit
der Starrheit, Verbissenheit und Radikalität ihres Sendungsbewußtseins. Die überwertige
Idee war für HitIer wie für Goebbels und andere Nationalsozialisten - die
Überzeugung, das "Internationale Judentum" sei als "zersetzendes Element" der
Weltfeind, der "Weltvergifter", und in "schonungslosem Kampf' zu vernichten. In seinem
Testament vom 29. April 1945 bezeichnete er dieses Ziel als eine "heilige Aufgabe". Die
Juden und ihre Helfer trügen auch die Alleinschuld am Kriege!
Eine derartige Absurdität und realitätsfremde Verstiegenheit des Denkens grenzt an
einen Wahn", ist aber nicht identisch mit diesem, in seinem strengen Sinne verstandenen
Begriff. Ein Fanatiker ist kein Wahnkranker, kein Schizophrener, sondern eine "abnorme
Persönlichkeit", ein "Charakteropath", wie ich den Typus des "Psychopathen" lieber
nenne. Psychopathen sind nach einer Definition des Heidelberger Psychiaters Kurt Schneider, dem wir eine klare, wenn auch
bisweilen unvermeidbar starre Begriffsordnung in der klinischen Psychopathologie
verdanken, "abnorme Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden, oder - und dies trifft
im besonderen auf HitIer zu - unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet." Sie sind
Varianten, Abweichungen von einer nicht näher bestimmbaren Durchschnittsbreite
menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen. Als fanatischer Psychopath war
HitIer eine aktivaggressive, "expansive" Persönlichkeit, ein "Ideenfanatiker", der
"für sein
Programm kämpft oder demonstriert"! Bei ihm war zugleich ein Geltungsbedürfnis
erkennbar, das sich in "exzentrischem Wesen" - "um die Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen" - und ein Bedürfnis nach "selbstgefälligem Renommieren" - "um die eigene
Persönlichkeit zu heben" - äußerte (zitiert - ohne ausdrücklichen Bezug auf
HitIer -
nach Kurt Schneider). Er glaubte, im Auftrag der von ihm immer wieder
beschworenen ,Vorsehung" eine "heils"-geschichtliche Sendung ("Heil Hitler!",
"Sieg-Heil!") erfüllen zu müssen. "Ich gehe den mir vorgeschriebenen Weg
mit
nachtwandlerischer Sicherheit!", sagte er in seiner Münchener Rede am 15. März 1936.
Dieses "nachtwandlerische" Sendungsbewußtsein unterscheidet sich von einem
schizophrenen Wahn dadurch, daß es aus einer primären Persönlichkeitsstruktur und
ihrer Lebensgeschichte verstehbar und kontinuierlich - sinngesetzlich ableitbar ist. Der
schizophrene oder sonstige psychotische Wahn etwa als "Wahnwahrnehmung" oder "Wahneinfall" hingegen läßt sich vom Charakter und von der Biographie her
nicht sinngesetzlich verstehen, sondern nur - und dies auch nicht immer - kausal erklären. (Ich
folge auch hier der empirisch begründeten begrifflichen Unterscheidung Kurt Schneiders
).
Dies bedeutet: HitIer war kein seelisch Kranker! Er stand zwar gleichsam
zwischen den Polen psychisch gesund und psychisch krank, aber er war auf Grund
seiner Intelligenz und seiner unbezweifelbaren politischen Begabung fähig, zwischen
Recht und Unrecht zu unterscheiden und war damit auch voll verantwortlich für sein
Wollen und Handeln. Wenn seine Verbrechen Gegenstand eines gerichtlichen
Strafverfahrens geworden wären, hätte ein hinreichend erfahrener psychiatrischer
Sachverständiger die Anwendung der Paragraphen 20 oder 21 des heutigen
Strafgesetzbuches, das heißt: des Ausschlusses oder der Verminderung der
Schuldfähigkeit nicht begründen können. Denn
die im Gesetz genannten Voraussetzungen für Schuld-Unfähigkeit oder verminderte
Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinne - : "krankhafte seelische Störung",
"tiefgreifende
Bewußtseinsstörung", "Schwachsinn" wären nicht erfüllt gewesen. Auch der in der neuen
Fassung des Strafgesetzbuches hinzugekommene Begriff einer "schweren anderen
seelischen Abartigkeit" hätte zwar diskutiert werden, aber nicht begründen können, daß
diese "Abartigkeit" den "Angeklagten schuld-unfähig" oder "vermindert schuld-fähig"
werden ließ. Denn dann müßte HitIer bereits seit seiner Jugend als nicht verantwortlich
oder vermindert verantwortlich im strafrechtlichen Sinne gegolten haben, weil er schon im
Jahre 1913, wie er in beiden Bänden seines Buches "Mein Kampf' schreibt, die
Oberzeugung vom "Weltfeind Judentum" vertreten hat! Die Vorstellung vom Judentum als
Haßobjekt war bei ihm sehr früh vorgeprägt durch den neurotisierenden Einfluß der
Lektüre eines "rassekundlichen Magazins", das von einem verschrobenen Wiener
"Philosophen" mit dem angemaßten Adelsnamen Jörg Lanz von Liebenfels
herausgegeben wurde. Dieser seltsame Mann, ein entlaufener Mönch, verkündete ihm
Namen der germanischen Frühlingsgöttin Ostara eine "ebenso schrullenhafte wie
mörderische Lehre vom Kampf der Asinge (oder Heldlinge) gegen die Äfflinge (oder
Schrättlinge)", einem "Kampf bis aufs Kastrationsmesser", mit welchem der
Rassenkampf dem sozialistischen Klassenkampf entgegengesetzt, die Ausrottung des
Tiermenschen und die Entwicklung des "höheren", blonden und blauäugigen
"Neumenschen" erreicht werden sollte! Seine eigentliche antisemitische Ideologie
wurzelte aber in "drei ideologischen Schlüsselfiguren", von denen HitIer in seinen
Wiener Jahren beherrscht wurde: Dies waren der Begründer und Führer der Alldeutschen
Bewegung, der österreichische Gutsbesitzer Georg Ritter von Schönerer, ein
Radikalpatriot, der seine Briefe "mit deutschem Gruß" unterschrieb und über dessen Bett
Kernsprüche hingen wie »Ohne Juda, ohne Rom Wird gebaut Germaniens Dom. Heil!"
Der Andere, dessen Anhänger und Nachbeter HitIer wurde, war der Bürgermeister von
Wien und Führer der Christlich-Sozialen Partei Dr. Karl Lueger, ein demagogisch
begabter, populärer Mann, der die Interessen des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft
vertrat und von ihm überschwenglich als "der letzte große Deutsche der Ostmark" und
"gewaltigste deutsche Bürgermeister aller Zeiten" gepriesen wurde. Sein drittes Idol war
Richard Wagner, in dem er "die größte Prophetengestalt,
die das deutsche Volk besessen habe", sah. An Wagner bewunderte er die
verführerische, massenverzaubernde Wirkung der Musik der Opern mit ihrer "unverwechselbaren Mischung von Walhall, Revue und Tempeldienst" (den Vorläufern der
Theatralisierung des öffentlichen Lebens im Dritten Reich!) (Joachim C. Fest), und er
fühlte sich zugleich innerlich verwandt mit dem "großen Mann", von dessen überragender
Bedeutung für die Entwicklung des "deutschen Menschen", seinem Mut und seiner
Energie, politisch zu wirken, er fasziniert war. Er identifizierte sich auch mit Wagners
frühen Enttäuschungen und unbeirrbaren Berufungsglauben erfülltem Leben, das "am
Ende in Weltruhmesglanz mündete" (Thomas Mann in "Leiden und Größe Richard
Wagners") und ihm als Vorbild seiner eigenen Lebensvision erschien. Der Judenhaß
Wagners stand hinter Hitlers Widerwillen gegen Wien mit seinem "Völkergemisch" und
dem "ewigen Spaltpilz der Menschheit - Juden und wieder Juden." (In: "Mein Kampf").
Im besonderen mochte den jungen, von sozialem Abgleiten bedrohten und zeitweilig
unter Deklassierten in einem Wiener Männerheim lebenden HitIer mit seinem Idol
Wagner der verbissene, eben fanatische Wille verbunden haben, die Menschheit durch
ein außerordentliches, künstlerisches (!) Werk von der behaupteten Herrschaft einer
minderwertigen Rasse, dem "Fluch des Goldes", der bürgerlichen Dekadenz zu befreien.
Die entscheidende Rolle des Vernichtungsantisemitismus Wagners und seiner davon
geprägten WerteIdee bei der Entstehung von Hitlers Vernichtungswillen gegenüber dem
Judentum ist in den mit vorbildlicher wissenschaftlicher Sorgfalt dokumentierten
Untersuchungen Hartmut ZeIinskys seit über zwanzig Jahren dargestellt worden.
Den Anfang machte die 1976 erstmals erschienene Dokumentation zur
Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876 - 1976 "Richard Wagner - ein
deutsches Thema", der über ein Dutzend zum Teil umfangreiche Aufsätze und 1990 ein
weiteres Buch über den Siegeszug der Werte-Idee Wagners als einer deutschen
Idee
und einer deutschen - das heißt antisemitischen - Bewegung seit der
Thronbesteigung Kaiser Wilhelm II. 1888 folgten. ZeIinskys Arbeiten haben bei zahlreichen
wagnerianischen Kritikern einen polemischen Zelinsky-Effekt ausgelöst, der es
erschwert, daß diese grundlegenden Forschungsergebnisse so vorurteils- und
emotionsfrei gewürdigt werden, wie sie es verdienen. Die Wirkung der Thesen
ZeIinskys erkennt
man zumindest daran, daß amerikanische Autoren - wie P. L. Rose oder
Marc Winer -
sie in ihren jüngeren Büchern ausdrücklich zur Sprache bringen, deutsche Autoren sich
aber ihrer bedienen, ohne den Namen ZeIinskys überhaupt oder adäquat anzuführen.
So z. B. Joachim C. Fest in einem umfangreichen Wagner-Aufsatz in der FAZ - im
Oktober 1996 - oder Joachim Köhler in seinem 1997 veröffentlichten Buch
"Wagners
Hitler", für das er sich mit unbekümmerter Unverfrorenheit den Ansichten und Thesen
ZeIinskys bediente und sie breit ausschlachtete.
Zu den Wagner-Einflüssen, die, wie HitIer selbst sagte, das granitene
Fundament" seiner Weltanschauung bildeten, kamen die antidemokratischen Tendenzen
der damaligen Zeit: die aristokratische Rassenideologie Graf Gobineaus und die wagnerhörigen Rassenschriften
Houston Stewart ChamberIains sowie der "Sozialdarwinismus" als angewandte Naturwissenschaft im Denken des 19. Jahrhunderts
( Darwins "Kampf ums Dasein", Sicherung der Überlegenheit eines Volkes durch
Ausmerzung der Minderwertigen, Untüchtigen und Züchtung eines biologisch und
rassisch hochwertigen Menschen).
So erwuchs aus der charakterlichen Abartigkeit des eigenbrötlerischen,
rechthaberischen und einer wirklichen Freundschaft unfähigen Außenseiters
HitIer,
aus seinen sozialen Ängsten und Ressentiments und aus dem Geist seiner Zeit die überwertige Idee, zum Erlöser des deutschen Volkes von seinen Verderbern, dem
Judentum und den anderen rassisch Minderwertigen, ja, schließlich zum "Weltherrscher"
berufen zu sein. Nietzsche hat mit seinem psychologischen Spürsinn erkannt, daß dem
übersteigerten Selbstwertgefühl des Fanatikers keine eigentliche Ich-Stärke
zugrundezuliegen braucht, sondern daß es Ausdruck des Versuches, innere Schwächen
und Unsicherheiten zu überwinden, sein kann. "Der Fanatismus ist nämlich die einzige
,Willensstärke', zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können."
Ich erwähne diese psychologischen und zeitgeschichtlichen Deutungsversuche
zum Problem "HitIer, Deutschland und die Deutschen!" - sie sind in detaillierter und
überzeugender Darstellung bei Joachim C. Fest nachzulesen - um noch näher zu
begründen, daß wir es bei HitIer eben nicht mit einem
Wahnkranken zu tun haben,
sondern mit einem Fanatiker, dessen unheilvolles Wirken sich rational und emotional,
biographisch und zeitgeschichtlich
verstehbar ableiten läßt. Dies gelingt jedoch nicht bei einem schizophren Wahnkranken,
der, wie zum Beispiel einer meiner Patienten, die Wirtin seiner Berliner Wohnung auf
grauenhafte Weise ermordete, weil er in ihr ein "hochgefährliches Insekt", den
"Weltfeind", erkannte, von dem er die Menschheit befreien zu müssen glaubte. Hier
handelt es sich nicht um eine "überwertige", sondern um eine mit halluzinatorischer
Verkennung verbundene Wahn-Idee, die als etwas psychogenetisch Unverstehbares,
qualitativ Neues und Fremdes die bisher unauffällige Persönlichkeitsentwicklung und
Lebensgeschichte unvermittelt durchbrach. Natürlich kennen wir "überwertige Ideen" bei
Entdeckern, Erfindern, Religionsstiftern. Aber sie unterscheiden sich von der Adolf
HitIers dadurch, daß sie einem schöpferischen Genius entspringen und auf verschiedene
Weise einem Fortschritt der Menschheit zu dienen pflegen. Hitlers überwertige Idee
schien nur anfangs im Dienste eines aufbauenden Willens zu stehen, um sich später in
das zerstörerischste Verhängnis des 20. Jahrhunderts zu verkehren. Er wollte nicht
auch dienen, sondern nur herrschen, ohne sich selber beherrschen zu können - oder zu
wollen.
Von einer inhaltlich verschiedenartigen, aber psychopathologisch vergleichbaren
überwertigen Idee können wir auch bei einem anderen großen Kampffanatiker unseres
Zeitalters, Lenin , sprechen. Von ihm sagte ein boischewikischer Kritiker", Woronski:
"Er spricht wie ein Mensch, der immer die gleiche Idee hat, die Idee der Ideen, um welche
die Splitter aller anderen Gedanken kreisen wie die Planeten um die Sonne" (zitiert nach
Josef Rudin "Fanatismus", Walter Verlag Olten, 1965).
Es ist erwiesen, daß HitIer in den letzten Jahren seines Lebens an einem
"Spätparkinsonismus" ("Schüttelzittern") gelitten hat. Aber keine Äußerung eines der
Augenzeugen, die HitIer in den letzten Tagen seines Lebens gesehen und gesprochen
haben (Speer, General Guderian, Dr. med. Giesing und Andere) läßt darauf
schließen, daß er "wahnsinnig" oder "dement", das heißt intellektuell defekt,
"schwachsinnig" geworden sei. Er wirkte auf Speer zwar "greisenhaft, gebeugt, seelisch
leer, ausgebrannt, ohne Leben", sein Gedächtnis hatte nachgelassen, seine Hände
zitterten, sein Gang war schleppend und schwankend, die Stimme matt, und seine
Neigung zu ungehemmten Wutausbrüchen, bei denen er "am ganzen Leibe zitterte", und
dem, der ihm zu widersprechen wagte, wie zuletzt seinem Generalstabschef Guderian, sich überschreiend seine Vorwürfe entgegenschleuderte, erschien noch nicht
ganz erloschen. Albert Speer schreibt, wenn in der Presse zu lesen gewesen sei,
HitIer sei in diesen letzten Wochen vor Wut, Ohnmacht und Verzweiflung über seine
gescheiterten Pläne wahnsinnig geworden, so könne davon keine Rede sein. Von Sinnen
sei ihm, Speer, vielmehr ein Teil seiner Umgebung erschienen, zum Beispiel ein
General Busse, der von der Hinfälligkeit der Erscheinung des "Führers" geradezu
geschwärmt und dann ausgerufen haben soll: "So habe ich mir immer Friedrich den
Großen nach Kunersdorf vorgestellt." Inmitten der
allgemeinen Kopflosigkeit im
unterirdischen Bunker der Reichskanzlei kurz vor dem Ende sei HitIer der einzige
gewesen, der sich keine Illusionen darüber machte, daß der Krieg verloren ist. In seinem
von dem englischen Historiker Hugh R. Trevor- Roper herausgegebenen "Politischen Testament" habe
HitIer für die Nachwelt kühl, nüchtern und mit einer Art
geschichtsphilosophischer Überlegenheit" begründet, warum Deutschland den Krieg
verlieren mußte! Während er in den Lagebesprechungen "Zuversicht verbreitete,
Zehntausende von Hitler-Jungen gegen russische Panzer schickte und unbefestigte
Städte zu Festungen erklärte", habe er selbst davon nichts geglaubt -
"alles Lüge, alles
Zynismus!" Ich bezweifele, ob HitIer damit bewußt "gelogen" hat. Es liegt näher,
anzunehmen, daß hier zwei Seiten seines Wesens hervorgetreten sind: Hier sein kalter,
klarer Verstand, dort der irrationale und unbeirrbare Glaube an seine Sendung. Nach der
jeweiligen Situation spielte er die eine oder die andere Seite aus. Das ist es, was
Speer
mit der Frage meinte: "Was war Verstellung, was Berechnung?", und was er mit dem
Satz sagen wollte: "Er sprach mit zweierlei Zungen!" Mit einer Zunge sprach er, als er zu
seinem Architekten und Rüstungsminister sagte: "Glauben Sie mir, Speer, es fällt mir
leicht, mein Leben zu beenden. Ein kurzer Moment, und ich bin von allem befreit, von
diesem qualvollen Dasein erlöst."
Daß HitIer in den letzten Monaten von Januar bis April 1945 jede Kontrolle über
die Ereignisse und jeden Realitätssinn verloren hatte, war kein Zeichen einer seelischen
Erkrankung, sondern Ausdruck eines psychologisch verständlichen
Verdrängungsvorganges als Reaktion auf den Selbsterhaltungswillen in einer
Extremsituation. "Wenn er vom Ende sprach, dann von dem seinen und nicht von dem
seines Volkes", sagte Speer , der in Hitlers "Flucht in das zukünftige Todesgewölbe" auch
eine symbolische Bedeutung sah,
eine Abschottung von der Wirklichkeit der Tragödie "seines" Volkes, für die er nicht
verantwortlich sein wollte. Hier enthüllte sich der wahre HitIer, der im Grunde
nur sich
selbst liebte, wenn er vorgab, sein Volk zu lieben.
Auch sein
Mißtrauen, das sich in den letzten Monaten zu grotesken Formen
gesteigert haben soll, gehörte zu den Merkmalen eines extrem egozentrischen
Menschen. Es hatte nichts mit einer "paranoiden", krankhaften
Persönlichkeitsveränderung zu tun. Albert Speer sind interessante Hinweise auf
HitIers
Charaktereigenschaften zu verdanken, wie er sie im langjährigen, engen Umgang mit ihm
beobachten konnte: "Wohl könnte ich sagen, daß er grausam, ungerecht, unnahbar, kalt,
unbeherrscht, wehleidig und ordinär gewesen sei, und tatsächlich war er das alles auch.
Zugleich jedoch war er von fast allem auch das gerade Gegenteil: Er konnte ein
fürsorglicher Hausvater, ein nachsichtiger Vorgesetzter, liebenswürdig, selbstkontrolliert,
stolz und begeisterungsfähig für alles Schöne, Große sein ..."
Hierzu fällt mir ein, daß eine uns nahestehende Bekannte, die Hitler als Hausdame
in der Berliner Reichskanzlei täglich gesehen und häufig gesprochen hat,
"nur Gutes" von
ihm zu sagen wußte: Er sei immer höflich, verbindlich, charmant und liebenswürdig
gewesen und habe sich fürsorglich um das Wohl seiner engsten Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter gekümmert. Als die ersten "Gerüchte" über Verbrechen an Juden,
Deportationen, Konzentrationslager usw. durchsickerten, hätte niemand dem "Führer"
zugetraut, daß er dafür verantwortlich war. Das könnten nur ohne sein Wissen
HimmIer oder Andere veranlaßt haben!
"Nur zwei Begriffe fallen mir ein", schreibt Speer weiter, die alle seine
Charaktereigenschaften decken und der gemeinsame Nenner dieser vielen Gegensätze
sind: "undurchschaubar und unaufrichtig!" "im ganzen blieb sein Wesen rätselhaft, auch
für die wenigen ihm Nahestehenden. Er hatte keine Freunde. Wenn
er einen Freund
gehabt hätte, dann wäre er, Speer, es gewesen!" Aber er war keiner Freundschaft, die
diesen Namen verdient, fähig. Als er erfuhr, daß Speer seinen "Verbrannte Erde"-Befehl -
Zerstörung aller Industrie- und Nachrichtenanlagen, also der Grundlagen des Volkslebens
- sabotiert hatte, befahl er ihn zu sich und verlangte von ihm eine Erklärung darüber, daß
der Krieg nicht verloren sei (die amerikanischen Truppen standen vor Frankfurt, die
russischen vor Berlin!). Zugleich drohte er ihm mit "Konsequenzen", falls er die Zerstörungsbefehle nicht ausführe, und verlangte von ihm, daß er einen
"Krankheits"-Urlaub antrete. Speer erwiderte, er sei nicht krank und wolle
sein Amt, das Rüstungsministerium, weiterführen. HitIer ging darauf ein, unter der
Bedingung, daß er den Krieg nicht für verloren halte. Speer versuchte, seinen suggestiven
Blick" und ,beschwörenden Ton" nicht auszuweichen und blieb stumm. Hitler insistierte:
"Wenn Sie wenigsten glauben könnten, dann wäre alles gut." Sp.:
"Ich kann es nicht, mit
dem besten Willen nicht. Und schließlich möchte ich nicht zu den Schweinen in Ihrer
Umgebung gehören, die Ihnen sagen, sie glaubten an den Sieg, ohne an den Sieg zu
glauben." Sein Gesprächspartner: "Wenn sie wenigstens hoffen könnten, daß wir nicht
verloren haben. Sie müssen das doch hoffen! ... dann wäre ich schon zufrieden." Keine
Antwort. HitIer gab ihm 24 Stunden Zeit, um sich seine Antwort zu überlegen.
Speer: "Die vierundzwanzig Stunden waren verstrichen. Ich wußte keine Antwort und überließ es
dem Augenblick, was ich sagen würde." HitIer "Nun?" Speer ("ohne Überlegung und
gänzlich nichtssagend"): "Mein Führer, ich stehe bedingungslos hinter Ihnen! ! " Hitler
erleichtert: "Dann ist alles gut!"
»Nichtssagend" war Speers letzte Antwort natürlich keineswegs. Sie drückte
dreierlei aus: Die Angst vor der Hinrichtung, die immer noch nicht erloschene
Suggestivwirkung des großen Ver-Führers auf einen hochintelligenten Mann wie Speer
und nicht zuletzt die geschickte Umgehung einer direkten Antwort auf die Tod oder Leben
bedeutende Frage des Diktators. Das war Ende März 1945. Zuletzt - am 23. April, die
Reichskanzlei lag schon unter schwerem Beschuß der sowjetischen Artillerie - fragte
HitIer, apathisch und weich geworden, seinen Architekten, ob er in Berlin
bleiben oder nach Berchtesgaden fliegen solle, und erhielt von ihm den Rat, es
sei besser, wenn er sein Leben in der Hauptstadt als in seinem Wochenendhaus
beschließen würde, was dann auch geschah, nachdem er noch schnell seine Geliebte
Eva Braun geheiratet hatte. Beim Abschied von Speer "kamen seine Worte so kalt wie seine Hand":
"Also
Sie fahren? Gut. Auf Wiedersehen!" - kein Gruß an die Familie, kein Wunsch, kein Dank,
kein Lebewohl.
So viel - oder so wenig - über diesen schrecklichen Menschen, dem der
größere Teil des deutschen Volkes wie verfallen war. (Es
war ein Massenrausch, dem es erlag, wenn er eine seiner großen Reden beim
Nürnberger Parteitag, in Licht getaucht, die Menge im Dunkel, mit den Worten begann:
"Ich sehe nicht Alle von Euch, aber Ihr Alle seht mich. Und obwohl ich Euch nicht sehe,
fühle ich Euch, und Ihr fühlt mich - wir sind eins!") "Wer den Nationalsozialismus nur als
politische Bewegung versteht, weiß fast nichts von ihm. Er ist mehr noch als Religion:
Er
ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung!" - das hat er selbst einmal geäußert! Aber
es war nicht nur die von diesem Pseudomessias ausstrahlende quasi-religiöse
Suggestivwirkung, mit der das Phänomen "Hitler, die Deutschen und der
Nationalsozialismus" erklärt wäre. "Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in
einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht", hat Jacob Burckhardt gesagt. In Hitler und bestimmten seiner Eigenschaften verdichteten sich nicht nur
die Sehnsüchte und Ressentiments des im Ersten Weltkriege geschlagenen und
gedemütigten deutschen Volkes, sondern in ihm verkörperte sich auch, wie
Joachim C. Fest denkt, eine "versteckte Wahrheit der Epoche". Er war "die Vereinigungsfigur vieler
Zeittendenzen", eines "riesigen, ungeordneten Potentials an Aggressivität, Angst,
Hingabewillen und Egoismus", "vor allem aber an jener großen Angst, dem
Grundgefühl
der Zeit"! Hinter seiner radikalen Aggressivität, seinem Mißtrauen, seiner
Großmannssucht und unechten Theatralik stand wahrscheinlich auch Angst, die er mit
diesen Verhaltensweisen zu überspielen wußte. Daß er im Grunde
feige war, zeigte sich alleine schon in seiner überstürzten Flucht nach
dem gescheiterten Putsch vom 9. November 1923 und seinem Versteck im Landhause
HanfstaengI, nachdem er
zuvor großspurig verkündet hatte: "Geht's durch, ist's gut, geht's nicht durch, hängen wir
uns auf!" Wenn es ihm gelungen war, in nur 12 Jahren das Gesicht der damaligen Welt,
vor allem Europas zu verändern, so lag das keineswegs allein an einer besonderen
Anfälligkeit der Deutschen für die Unterwerfung unter den Machtwillen eines einzelnen
Demagogen. Es entsprach auch dem Zeitgeist, der nach einem Retter
aus den Ängsten
und Bedrohungen im großen gesellschaftlichen, geistigen, politischen Umschichtungsprozeß der Epoche verlangen ließ. Auch andere Länder suchten und
fanden ihren "starken Mann": Rußland seinen Lenin und Stalin , Italien seinen Mussolini ,
China seinen Mao Tse Tung usw. Sie alle erhofften sich eine neue, gerechtere
Gesellschafts- und Weltordnung von einer Ideologie, verkündet und vertreten von einem
Mann, dem sie sich unterwerfen wollten, um sich - nach den von Le Bon so meisterhaft analysierten massenpsychologischen Gesetzen - in der angstlösenden
Geborgenheit einer "Volksgemeinschaft" endlich sicher fühlen zu können.
War es die "Schuld" der Deutschen, wenn auch sie diesem epochalen Sog und
Druck unterlagen, freilich mit der ihrem Wesen - vielleicht - eigentümlichen, für
HitIer
selbst charakteristischen Alternative: "Sieg oder Untergang"? Diese Formel galt bereits
für die Wilhelminische Zeit, wie Hartmut Zelinsky in seinem 1990 erschienenen Buch
gezeigt hat: »Sieg oder Untergang : Sieg und Untergang. Kaiser Wilhelm II., die Werte-Idee
Richard Wagners und der "Weltkampf!."
Nein! Kollektivschuld gibt es nicht. Es gibt immer nur Schuld des Einzelnen in der
Verantwortung für das, was er getan oder versäumt hat. Das hat außer
Theodor Heuss
und Anderen auch Hannah Arendt gesagt, die mit Recht die Verantwortung des
Einzelnen in einer Diktatur betonte. Für Verbrechen, die unter dem NS- und später unter
dem DDR-Regime begangen worden sind, muß jeder Einzelne, der sie begangen hat,
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aber was konnte ein Einzelner wie ich
damals tun, um einem zu spät als verbrecherisch erkannten System aktiven Widerstand
zu leisten? Heute ist es leicht, uns, der älteren und alten Generation, den Vorwurf zu
machen, wir, jeder Einzelne von uns hätten versagt und seien schuld daran, daß
Verbrechen an Juden, Zigeunern, Polen begangen wurden und ein sinnlos gewordener
Krieg verlängert werden konnte. Wer will den ersten Stein werfen auf den, der wie ich,
nicht bereit war, öffentlich zu protestieren oder sich an einer der
Widerstandsbewegungen zu beteiligen? Man wußte, was man zu erwarten hatte, zumal
nach dem gescheiterten Attentat auf HitIer am 20. Juli 1944. Was wäre erreicht
worden, wenn man das Risiko der Hinrichtung, des Gefängnisses oder
Konzentrationslagers auf sich genommen hätte? Ein Toter oder ein Häftling mehr und
weitere Verschärfung der Maßnahmen, deren sich eine Diktatur in solchen Fällen zu
bedienen pflegt. Es war daher ein Gebot der Vernunft und der Verantwortung der Familie
und dem eigenen Leben gegenüber, wenn man sich, wie wir es taten, darauf
beschränkte, der inneren Ablehnung und Empörung durch das - nicht immer
ungefährliche - Abhören feindlicher Rundfunksender" - gewöhnlich des englischen BBC -
und kritische Äußerungen zu vertrauenswürdigen Menschen Ausdruck zu geben.
Allerdings wagte ich es, in meinen Leipziger Vorlesungen über forensische Psychiatrie
1943 - 44 die von HitIer angeordnete "Euthanasie", die Massentötung psychisch Kranker und geistig
Behinderter als unvereinbar mit den ethischen Grundsätzen des Arzttums zu bezeichnen.
Meine Studenten trampelten sogar Beifall, niemand hat mich denunziert und mir ist nichts
geschehen. Diese verbrecherische Aktion war dann unter dem Druck der Bevölkerung
und auf den Protest mutiger Männer wie des Kardinals Graf Galen und des Betheler
Pastors von BodeIschwingh abgebrochen worden. Das Risiko meiner Kritik war
daher nicht mehr allzu groß. Größer hätte es sein können, als ich während des
Winterfeldzuges in Rußland 1941 - 42 den Begleitarzt HitIers, den Chirurgen
Dr. Karl
Brandt, der meine Sanitätseinheiten in und um Dnjepropetrowsk inspizierte, unter vier
Augen zu fragen wagte, wer denn eigentlich verantwortlich sei für die verheerenden
Auswirkungen des sich bereits abzeichnenden militärischen Desasters auf die
medizinische und sanitäre Versorgung der Soldaten: Mangel an Verbandsmaterial,
Medikamenten, Stroh, geheizten Unterkünften usw. Karl Brandt: "Herr Janz, bitte
verstehen Sie, wenn ich Ihnen diese Frage nicht beantworte!" Er flog am nächsten Tage
ins Führerhauptquartier bei Rastenburg zurück, um HitIer persönlich über das
Ergebnis seiner Inspektionsreise zu berichten und hätte mich leicht wegen defätistischer"
Äußerungen denunzieren können. Daß er es nicht tat, rechne ich ihm heute noch hoch
an. Daß er und der Reichsleiter BouhIer von Hitler mit der Organisation der
"Euthanasie" beauftragt war, wußte ich nicht. Er ist dafür 1946 in Nürnberg zum Tode
verurteilt und gehenkt worden.
Es war nicht mein Verdienst, davongekommen zu sein. Ich habe einfach Glück
gehabt. Wie die Meisten, war auch ich kein Held, der sein Leben aufs Spiel setzte, um
Deutschland und die Welt von dem Diktator zu befreien. Todesmutig waren die Männer
des 20. Juli 1944, die das Scheitern ihres allerdings dilettantisch vorbereiteten Attentats
mit der Hinrichtung durch den Henker bezahlen mußten. Sie hatten diese mögliche
Konsequenz bewußt in Kauf genommen. General Henning von Tresckow schrieb bereits
im Sommer 1941 von der Ostfront aus an Claus Graf Schenk von Stauffenberg:
"Das Attentat muß erfolgen, coüte que coûte. Sollte es
nicht gelingen, so muß trotzdem
in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an,
sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der
Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat." Als Angeklagter vor dem Volksgerichtshof sagte er:
"Ich halte HitIer nicht nur für den Erzfeind
Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor
den Richterstuhl Gottes treten werden, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und
Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im
Kampf gegen HitIer getan habe." (Zitiert nach Klaus Hildebrand: "Das Vermächtnis
des anderen Deutschland. Diktatur und Widerstand - Zur Gegenwärtigkeit des
Vergangenen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Juli 1989, Nr. 167). Daß diese
bewundernswerte Haltung, die den Tyrannenmord moralisch zu rechtfertigen vermochte,
nur von ganz Wenigen aufgebracht wurde, kann der großen Mehrheit der Deutschen, die
einfach überleben wollten, nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jeder Einzelne von uns
aber sollte im Aufstieg, in den Verbrechen und im Untergang der Hitler-Diktatur ein
geschichtliches Vermächtnis sehen, das ihn mahnt und verpflichtet, einer neuen
Alleinherrschaft, sei es einer Partei, einer Ideologie oder eines Machtmenschen beizeiten,
im Rahmen seiner Möglichkeiten und des demokratischen Rechtsstaates, zu
widerstehen! Principiis obsta! Wer, wie ich, zwei Diktaturen, die nationalsozialistische
und die kommunistische, unmittelbar erlebt und erlitten hat, wird höchst empfindlich
gegen alle Anfänge einer Unterdrückung der individuellen Meinungsfreiheit durch den
Machtanspruch von Gruppen oder Personen.
Albert Speer
Es sind jedoch nicht allein politische, ideologische oder institutionelle
Machtansprüche selbst, gegen die wir uns gar nicht genug sensibilisieren können. Es
sind auch die Gefahren der fortschreitenden Technisierung, im besonderen der
Kommunikationstechnik, deren sich die Machtstrukturen unserer Zeit bedienen, um große
Menschengruppen indoktrinierend und manipulierend zu beherrschen. Albert Speer hat
in seinem Schlußwort als Angeklagter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß 1946
gesagt: "Die Diktatur Hitlers war die erste Diktatur eines Industriestaates dieser Zeit, einer
Diktatur, die sich zur Beherrschung des eigenen Volkes der technischen Mittel in
vollkommener Weise bediente . ... Durch Mittel der Technik wie Rundfunk und
Lautsprecher (es
gab noch kein Fernsehen) konnten 80 Millionen Menschen dem Willen eines Einzelnen
hörig gemacht werden ... Das verbrecherische Geschehen dieser Jahre war nicht nur
Folge der Persönlichkeit HitIers. Das Ausmaß dieser Verbrechen war gleichzeitig
darauf zurückzuführen, daß HitIer sich als erster für ihre Vervielfachung der Mittel der
Technik bedienen konnte ... In der Gefahr, von der Technik beherrscht zu werden, steht
heute jeder Staat der Welt, in einer modernen Diktatur scheint mir dies aber
unvermeidlich zu sein: Je technischer die Welt wird, umso notwendiger ist als
Gegengewicht die Forderung der individuellen Freiheit und des Selbstbewußtseins des
Menschen ..." Das sagte ein Mann, der selbst, geblendet von den Möglichkeiten der
Technik als Hitlers Rüstungsminister, die katastrophalen Folgen ihres Mißbrauchs durch
einen gewissenlosen Despoten in zwanzigjähriger Gefängnishaft und mit schwerer
Gewissenslast erlitten und gebüßt hat. Speer interessiert mich nicht nur wegen seiner
zeitgeschichtlichen Bedeutung, sondern auch, weil ich ihm dreimal persönlich begegnet
bin: Er kam am 30. Januar 1942, zusammen mit Sepp Dietrich , einem der frühesten
Anhänger HitIers und Befehlshaber eines SS-Panzerkorps, nach Dnjepropetrowsk in
der Südukraine, um die Reparatur der zerstörten Eisenbahnanlagen vorzubereiten. Dort
lernte ich ihn in einem abgestellten Eisenbahnwagen kennen, weil ich als
Reserve-Sanitätsoffizier der Luftwaffe zur "Transport-Standarte Speer" abkommandiert
war und in dieser Eigenschaft den Winterfeldzug in Rußland 1941-42 erlebt
hatte. HitIers "Blitzkrieg" gegen die Sowjet-Union war nach riesigen Anfangserfolgen - von 260
sowjetischen Divisionen sollen 200 vernichtet worden sein - im Spätherbst zum Stehen
gekommen. Anstatt nach Hitlers Plan bis zu den Ölfeldern am Kaspischen Meer
vorgerückt zu sein, waren unsere Truppen aus Rostow am Don zurückgeschlagen
worden und sahen sich dem frühen Einbruch des Winters unvorbereitet ausgesetzt. Die
Flugplätze waren verschneit, und eine leicht mögliche erneute Zerstörung der gerade erst
wieder aufgebauten langen Dnjepr-Brücke hätte die gesamte deutsche Süd-Armee vom
Winternachschub abgeschnitten. Ich hatte mich von den bedrohlichen
Nachschubproblemen bei einer Inspektionsfahrt zu meinen weit verstreuten
Sanitätseinheiten bei Mariupol am Asowschen Meer selbst überzeugen können.
Russische Panzerverbände waren bis auf etwa 20 Kilometer an Dnjepropetrowsk
herangerückt, und wir sollten uns, obwohl wir kein Kampfverband waren, auf die
Verteidigung vorbereiten. Es war dafür aber so gut wie nichts vorhanden, "einige Gewehre
und ein liegengebliebenes Geschütz ohne Munition", erinnert sich Speer. Er mußte
seine Rückreise verschieben, weil die Startbahn des Flugplatzes eingeschneit und sein
Sonderzug in den Schneemassen steckengeblieben war. Dabei hatte er sich die Wangen
erfroren und ließ sie von mir mit Salbe und Pflaster behandeln. Einen nachhaltigen
Eindruck scheint diese truppenärztliche Versorgung allerdings nicht bei ihm hinterlassen
zu haben, da er sich später nicht mehr an sie erinnern konnte. Dafür berichtet er in
seinen "Erinnerungen", daß ein hilfreicher russischer Zivilist sein Gesicht mit Schnee
eingerieben und aus seinem verdreckten Anzug ein blütenweißes, sauber gefaltetes
Taschentuch hervorgezogen habe, um ihn abzutrocknen. Dieser und andere Russen
hatten seine Erfrierungen bemerkt, als sie den Weg zum Flugplatz von dem meterhohen
Schnee - vergeblich - zu räumen versuchten. So konnten sich Russen verhalten, die von
Hitler pauschal als "Untermenschen" und "Bestien" bezeichnet wurden!
Ich selbst hatte mich damals innerlich darauf eingestellt, nicht mehr nach Hause
zurückkehren zu können, verhalf aber einigen Soldaten, darunter auch einem Reserve-Sanitätsoffizier, durch psychiatrische Attestierung ("reaktive Depression",
"seelische
Belastung für die Truppe"!), aus der ihnen hoffnungslos erscheinenden Situation des
Abgeschnittenseins herauszukommen. Speer berichtet, daß unsere Soldaten bei
Kameradschaftsabenden sehr wehmütige Lieder sangen, die den Drang zur Heimat und
die Trostlosigkeit der russischen Weite zum Ausdruck brachten und "unverhüllt die
seelische Anspannung zeigten, unter der diese Außenposten standen." Erst nach dem
Kriege erfuhr er, daß HitIer gegen die für den Druck dieser Lieder Verantwortlichen ein
Kriegsgerichtsverfahren angeordnet hatte! Ich versuchte, meine eigene trübe Stimmung
und die meiner Kameraden aufzuhellen, indem ich abends vor versammelter Mannschaft
das Lied von der schönen Minka" anstimmte: "Im Ural, da bin ich geboren, bin eines
Kosaken Sohn, Dem Zaren, dem hab' ich geschworen, zu schützen sein Land und sein'
Thron ... Wenn im Ural die Sonne sich neiget, dann singt meine Minka und weint, Und sie
windet aus Tränen ein Kränzlein, worin uns're Liebe sich eint ... Und dann sing' ich:
Schöne Minka, leb' wohl, lebe wohl, schöne Minka, schöne Minka, leb' wohl!". Im
Soldatensender Ost erzählte ich die Geschichten vom masurischen Rekruten
"Kapaunke" (u.a.: Wie ist .der
Kaiser mit der Kaiserin verwandt? Sind Brieder!", oder: Unteroffizier: "Wenn Du Wache
stehst vor einem Munitionslager und eine unbekannte Person will an Dir vorbei reingehen,
was machst Du dann?" Kapaunke: "Ich weiß nicht, Herr Unteroffizier!" Uffz.:
"Du
verlangst das Losungswort!" K.: "Jawoll, Herr Unteroffizier!" Uffz.: "Wenn der Mann kein
Losungswort sagt, was machst Du dann?" K.: "Ich weiß nicht." Uffz.: Dann kannst Du ihn
über den Haufen schießen!" K.: "Wenn aber kein Haufen da ist, Herr Unteroffizier?"); und
für Ablenkung sorgte ich durch Vorträge über Gesundheitsfragen.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Dnjepropetrowsk erfuhr Speer durch den
ihm nahestehenden Dr. Brandt, daß der Minister für Bewaffnung und Munition
Dr. Todt mit
einem Flugzeug tödlich abgestürzt sei, in dem er selbst vom Führerhauptquartier in
Rastenburg nach Berlin hatte fliegen wollen! HitIer ernannte ihn unverzüglich, um
seinem Rivalen Göring zuvorzukommen, zum Nachfolger Todts. Damit begann
seine verhängnisvolle Tätigkeit, die ihn vor das Nürnberger Tribunal brachte. Nach
Speers Entlassung aus dem Spandauer Gefängnis, in dem er seine zwanzigjährige Haft
verbüßt hatte, bin ich ihm noch zweimal wieder begegnet: Im Düsseldorfer Hause
unseres "Schwippschwagers" Ernst Wolf Mommsen, dem er seit der gemeinsamen
Tätigkeit im Rüstungsministerium freundschaftlich nahestand. Da ich wußte, daß er von
allen Gesprächspartnern immer nur nach Hitler gefragt wurde, nicht nach ihm selbst,
habe ich jene Frage vermieden und mich mit ihm nur über seine "Erinnerungen"
unterhalten. Dieses Buch bildet mit den 1975 erschienenen "Spandauer Tagebüchern"
ein einzigartiges Dokument zur Geschichte des "Dritten Reiches". Nach der Lektüre der
"Erinnerungen" habe ich ihrem Autor am 31. Dezember 1969 einen Brief geschrieben,
den er aus Gründen, die mir unbekannt sind, nicht erhalten, jedenfalls nicht beantwortet
hat. Die "Spandauer Tagebücher" sind aus über zwanzigtausend Notizen auf
Kalenderblättern, Zetteln, Pappdeckeln oder Toilettenpapier entstanden, die er aus dem
"bestbewachten Gefängnis der Welt" "kassibert" hatte. Die "Tagebücher" habe ich vor
und nach meiner dritten Begegnung mit ihm, am 13. Dezember 1975, gelesen. Erst an
diesem Tag kam es in der Bar des "Breidenbacher Hofes" in Düsseldorf zu einem
ausführlichen Gespräch mit ihm und auch mit seinem Sohn, einem Professor der
Architektur, und dessen zweiter Frau, der Schauspielerin Ingmar Zeisberg. Bei dem
vorangegangenen Hauskonzert im
Mommsenschen Hause konnte ich beobachten, daß der sowjetische Botschafter
FaIines vermied, Speer die Hand zu geben! Anscheinend hatte er das Schuldbekenntnis,
das Speer in den beiden Büchern glaubhaft zum Ausdruck bringt, nicht zur Kenntnis
genommen oder angesichts seiner schweren Verstrickung in das nationalsozialistische
Regime und die Kriegsrüstung für bedeutungslos gehalten. »Dieser Mann ist zu schade
für Hitler !°, das war der Eindruck, den ich von dessen Chefarchitekten und jüngstem
Minister schon in Dnjepropetrowsk gewann. Künstlerisch hochbegabt, zu romantischen
Visionen neigend, ein urbaner Geist, fern von allem Antisemitismus und Rassenfimmel"
war er trotz seines frühen Eintritts in die NSDAP (1931) ein im Grunde unpolitischer
Mensch. Als Architekt hätte man ihm keine Hauptkriegsverbrechen vorwerfen können.
Seine Schuld begann mit der Tätigkeit als Rüstungsminister, der für die
Massendeportationen, die Zwangsarbeit und die Konzentrationslagerhaft ausländischer
Industriearbeiter verantwortlich gemacht wurde. Daß Hitler ihn in dieses Amt berief,
war aber nicht nur durch seine Leistungen als "Generalbauinspekteur" und seine
ungewöhnliche organisatorische Begabung begründet. Mit dieser Berufung bestätigte und
steigerte sich auch sein Machtgefühl, das ihm die großartige Inszenierung des
Nürnberger Parteitages, der Bau der Reichskanzlei und die Planung von
Monumentalbauten verliehen. hatten. Als junger, begeisterungsfähiger, von Stefan George
erglühter und ruhmbedürftiger Architekt war er bereits seit 1933 dem verführerischen Reiz
erlegen, den Hitlers frühe gigantomanische Entwürfe, z. B. Zeichnungen eines riesigen
Triumphbogens und einer gewaltigen Kuppelhalle, auf ihn ausgeübt hatten. Er war der
suggestiven, bezwingenden Macht verfallen, die von dessen Person ausging und ihn, wie
er schreibt, "zu ungeheuren Selbststeigerungen befähigte". Er sah HitIer"damals
durchaus als großen Mann, ganz in der Nähe Friedrichs des Großen oder NapoIeons,
"und er erlebte den Genuß von Macht an seiner Seite"! Seine überredende Kraft, die
eigentümliche Magie seiner keineswegs angenehmen Stimme, die Fremdartigkeit seines
eher banalen Gehabes, die verführerische Einfachheit, mit der er die Kompliziertheit
unserer Probleme anging - das alles verwirrte und bannte mich. Von seinem Programm
wußte ich so gut wie nichts. Er hatte mich ergriffen, bevor ich begriffen hatte."
Der Preis, den er für dieses "Ergriffenwerden" bezahlen mußte, war sehr hoch: In
zwanzig Jahren Einzelhaft "zum alten Mann geworden," "deformiert", "mit dem
immerwährenden Gefühl der Schuld belastet", in seiner moralischen Integrität zerstört, in
dem Bewußtsein weiterlebend, "meine ganze Existenz auf einen Irrtum gegründet zu
haben" - erschütterndes Lebensfazit! Darüber habe ich mit Speer bei unserer letzten
Begegnung gesprochen. Sechs Jahre später, 1981, ist er mit 76 Jahren in London nach
einem Fernseh-Interview an "Gehirnschlag" gestorben. Es blieb ihm erspart, die
Schmähungen zu erleben, mit denen ein Amateur-Historiker namens Mathias Schmidt, ihn in einer Schrift
"Ende eines Mythos" post mortem bedacht hat. Daß der bedeutende
englische Historiker Hugh Trevor-Roper sein zunächst positives Urteil
"ein
gebildeter Mann von offensichtlicher Intelligenz, der nicht katzbuckelte oder die Hände
rang oder seine Vergangenheit verleugnete, sondern vernünftig sprach, klar, offen,
würdevoll ..." - später modifizierte und ihn als denn wirklichen Verbrecher
Nazideutschlands" beschrieben hat, beruht auf der Verkennung zweier wichtiger
psychologischer Gesichtspunkte: Der Bedeutung des
Verdrängunsprozesses auf der
einen und der Persönlichkeitsreifung auf der anderen Seite. Wenn Speer sich gegenüber
den Haßtiraden HitIers und Goebbels' und "noch schlimmeren Dingen" nach
seinen eigenen Worten "taub und blind" gestellt hatte, so war dies ein typisches Beispiel
für die "Skotomisierung", die "Ausblendung" des Bewußtseins, des kritischen Denkens
und moralischen Empfindens durch die faszinative Kraft der Ausstrahlung Hitlers und
durch das eigene Machterlebnis. Speer hat das in der Strafhaft selbstkritisch erkannt und
in den "Spandauer Tagebüchern" ausgesprochen: Es sei nicht einfach Opportunismus
und Feigheit gewesen, wenn ihm das HitIersche Vokabular "Vernichtung" oder "Ausrottung"
"gar nicht auffiel"! Wir lebten damals, schreibt er, in einer fest
geschlossenen, nach außen oder auch unserem bürgerlichen Selbst gegenüber isolierten
Wahnwelt. Erst nach der Aufdeckung der Massenmorde an den Juden, von denen er bei
seiner Vernehmung als Angeklagter "keine Kenntnisse" oder "richtig doch nur auf eine
"äußerliche Weise" gehabt haben will, sei eine Scham in ihm aufgekommen über das
mutlose Schweigen bei Tisch, die moralische Dumpfheit, über so viele Jahre des
Verdrängens. "Niemals werde ich darüber hinwegkommen, an führender Stelle einem
Regime gedient zu haben, dessen eigentliche Energie auf
die Menschenausrottung gerichtet war." Daß dieses Scham- und Schuldgefühl ihn zwar
erst spät und unter dem Druck der Anklage befallen, dann aber sein ganzes weiteres
Leben hindurch belastet hat - auch darüber sprach er offen mit mir - rechtfertigt nicht, ihn
als "wirklichen Verbrecher` zu bezeichnen. Es spricht vielmehr dafür, daß sich in ihm ein
tiefgreifender Persönlichkeitswandel, ein Reifungsprozeß, vollzogen hat, der ihn eine
"neue Identität", sein wahres Selbst, sein eigentliches Wesen finden oder wieder finden
ließ.
"Das hervorragende Merkmal von Albert Speer war sein Mut zur Bekenntnis", hat Dr.
Robert M.W. Kempner, der ehemalige stellvertretende Hauptankläger in Nürnberg,
gesagt. "Sein Auftreten in Nürnberg unterschied sich von dem der anderen Angeklagten,
die bis auf wenige ihre Verbrechen leugneten." Weil er die persönliche Verantwortung auf
sich nahm und die Strafe, zu der er verurteilt wurde, akzeptierte, warfen ihm die anderen,
Göring, Schirach, Dönitz, Funk, Treulosigkeit und Verrat vor und distanzierten
sich von ihm. Kempner berichtet auch, daß Speer ihm bald nach seiner Entlassung
aus dem Spandauer Gefängnis erklärt habe, er wolle "die volle Wahrheit über das
verbrecherische Regime dem deutschen Volke "nahebringen", was dann auch in den "Erinnerungen" geschehen ist. Der amerikanische Historiker
Eugene Davidson hat sie
als "unvergleichliches historisches Zeugnis, ein absolut unbezahlbares Dokument"
bezeichnet. Kempner erwähnt dann noch, daß Speer einen Teil des Erlöses aus dem
Riesenerfolg der "Erinnerungen" einem New Yorker jüdischen Altersheim, in dem
zahlreiche kranke Naziverfolgte leben, und einem holländischen Karmeliterinnenkloster,
das mehrere "nichtarische" Ordensfrauen, darunter die Professorin Edith Stein,
versteckt hatte, zur Verfügung gestellt habe, ohne daß dies in der Offentlichkeit bekannt
werden solle!
Speer war, wie Kempner mitteilt, in Nürnberg von dem amerikanischen und dem
russischen Richter in geheimer Beratung zum Tode verurteilt worden, aber der britische
und der französische Richter setzten sich mit der Strafe von zwanzig Jahren Gefängnis
durch.
Warum habe ich mich so lange, vielleicht allzu lange bei dem Thema Albert Speer
aufgehalten, obwohl sich jüngere Leser meiner "Memorabilien" kaum noch für das Leben
und Schicksal dieses zeitgeschichtlich herausragenden Mannes interessieren dürften?
Ich wollte warnen vor dem "kleinen Speer in
uns". vor der Gefahr, die Moral dem Ehrgeiz zu opfern! Warnen auch vor der latenten
Gefährdung, der selbst intelligente und gebildete Menschen erliegen können, wenn sie der
"Diktatur der Faszination" durch einen Einzelnen oder den "Zeitgeist" nicht widerstehen.
Das Beispiel "Speer" zeigt, daß Intelligenz, Bildung, Begabung nicht zu schützen
braucht vor der Unterwerfung unter eine solche Diktatur, mit der die innere Freiheit
preisgegeben und die Selbstverantwortung durch das "Mitmachen" in einer
Massenbewegung erdrückt wird. "Wer Speer versteht, versteht die Deutschen!", hat
Trevor-Roper ganz richtig gesagt. Die Deutschen und gerade auch viele "Intellektuelle" waren durch und mit Hitler auf eine unreife, "infantile" Stufe der
Unselbständigkeit und Kritiklosigkeit verwiesen worden und schienen einer Art von
atavistischem Götzendienst verfallen zu sein. Das Schicksal Speers lehrt, wie schwer es
sein kann, welche Lebenskrisen durchlitten und bestanden werden müssen, damit ein
Mensch, der schon seiner Erfolge und damit seiner selbst sicher sein zu können glaubte,
reifer, verwachsen" wird!
Jene "Diktatur der Faszination" gemahnt an das, was Goethe mit dem "Dämonischen" meint, das er
"eine der moralischen Weltordnung, wo nicht
entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht" nennt. Bei aller Banalität und
Primitivität, die Hitlers Wesen und seinen Lebensstil kennzeichnet, ließe sich von ihm
sagen, es seien "nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an
Talenten (an denen es ihm allerdings nicht gefehlt hat!), selten durch Herzensgüte sich
empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine
unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann
sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte
vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als
Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen
angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch
nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen
...". Ich habe diese Worte aus Goethes "Dichtung und Wahrheit" einmal während des
Krieges, 1942 in Berlin, in vertrautem Kreise zitiert.
Speers Schicksal mahnt uns ganz einfach - und dies gilt nicht nur für die
Zeitgenossen eines totalitären Systems, sondern auch für Jeden, der in einem
demokratischen Gesellschafts- und Wirtschaftsgefüge lebt -, Geltungsehrgeiz, Eitelkeiten und Machtgelüste beizeiten durch die Tugenden der Bescheidenheit und
Dankbarkeit zu zügeln! Nicht zuletzt läßt es uns hoffen, daß durch das Bekenntnis zu ihr
und durch die läuternde Kraft der Sühne vergeben werden kann.
Ich habe weit vorgegriffen, gefesselt durch das auch für die Zukunft unerschöpfliche
Thema "Hitler und die Deutschen". Doch zurück zum Jahre 1933! Es brachte mir die
Fortsetzung der internistischen Ausbildung. Ich mußte sie kurz vor dem Erwerb der
Facharztanerkennung abbrechen, weil ich das unerwartete Angebot des Bostroemschen Oberarztes, Priv.-Doz.
Dr. Moser, zum 1. Januar 1934 eine Assistentenstelle an
der Königsberger Universitäts-Nervenklinik zu übernehmen, nicht ausschlagen zu dürfen
glaubte. Es bot mir die Chance, den seit jeher erstrebten Weg in die Psychiatrie und
Neurologie zu eröffnen. Daß diese Chance sich ergab, war das Ergebnis der Mühe, mit
der ich am Städtischen Krankenhaus in Altona neben der anstrengenden und
zeitraubenden Tätigkeit als Medizinalpraktikant und Volontär meine
über Psychobiologische Untersuchungen an Ehefrauen chronischer Alkoholiker" in
Nacht- und Sonntagsarbeit zustandegebracht hatte. Da sie trotz meiner selbstkritischen
Zweifel mit "Summa cum laude" bewertet wurde, meinte ich - in aller Vorsicht - mir damit
die Anwartschaft auf weitere klinische und wissenschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten
einer Universitätsklinik - mein stiller Wunsch! - erworben zu haben. Das Thema der
Arbeit, das Geheimrat Ernst Meyer mir gestellt hatte, war damals so gut wie neu. Man
interessierte sich noch wenig für sozial-psychologische Fragen, und es gab bis dahin nur
vereinzelte Untersuchungen zur Rolle der Ehefrau in ihrer Bedeutung für das Verhalten
des alkoholabhängigen Ehemannes, die Entwicklung seines Alkoholismus und die
Aussichten einer Behandlung. Erst in letzter Zeit ist die Rolle der Ehefrau und anderer
Bezugspersonen des Alkoholkranken als "Ko-Abhängige" oder auch "Antitherapeuten"
erkannt und näher untersucht worden. Ich hatte bei meinen Königsberger
Untersuchungen, die der Dissertation zugrundelagen, gefunden, daß viele Ehefrauen
durch Nachgiebigkeit, Einsichtslosigkeit oder Indulenz die Alkoholabhängigkeit des
Mannes indirekt unterstützten und damit die damals ohnehin noch recht unzulänglichen
ärztlichen und sozialen Hilfen erheblich erschwerten. So gut wie nie kam es zu Ehescheidungen, weil die Frauen ihren Männern die
verbalen Demütigungen oder die Schläge, mit denen sie nicht nur bedroht, sondern auch
traktiert wurden, zu verzeihen pflegten. Sie glaubten immer wieder den Beteuerungen des
Ehemannes, nicht mehr trinken zu wollen, verlangten häufig seine vorzeitige Entlassung
aus der stationären Behandlung oder die Aufhebung der Vormundschaft und verhielten
sich zurückhaltend oder ablehnend gegenüber den alkoholgegnerischen
Abstinenzverbänden. "Wenn er nicht trinkt, ist er der beste Mensch von der Welt", lautete
die Begründung, mit der sie ihre Nachgiebigkeit und Inkonsequenz zu rechtfertigen
suchten. Mit einer verzeihenden, duldenden oder übertrieben fürsorglichen Haltung
unterstützten sie nur noch die Tendenz der Männer, ihren Alkoholismus zu verleugnen
oder zu bagatellisieren, und stärkten zugleich ihr eigenes schwaches Selbstwertgefühl
oder neutralisierten Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. Eine besondere Rolle spielte
vielfach auch die wechselseitige instinktive Anziehungskraft, die psycho-pathologisch
strukturierte Persönlichkeiten aufeinander ausüben. Die Mehrzahl der Trinkerfrauen
repräsentierten nämlich einen psychopathisch-psychasthenischen, affekt- und
willenslabilen, stark gefühlsambivalenten Persönlichkeitstypus, der dem
charakteropathischen Bilde des Ehemannes entsprach. Zum Teil war es auch eine
sogenannten "Kontrastehe", die aus der Polarität der Ich- und Triebschwäche der Frau
und der robusten "animalischen" Triebhaftigkeit des Mannes oder einer dominierenden,
maskulin akzentuierten Partnerin und ihrem eher weichen, nachgiebig-unterwürfigen
Ehemann die gegenseitige Bildung fixierte und eine schon zerrüttet erscheinende
Trinkerehe aufrecht erhalten ließ. Weit häufiger sind Trennungen oder Ehescheidungen,
wenn die Frau selbst Alkoholikerin ist - damals seltene Ausnahmen, heute in
beunruhigender Zunahme! - und der Ehemann die destruktiven Folgen für das
Familienleben, die Kinder, den Haushalt nicht länger hinnehmen zu können glaubt. Die
praktische Schlußfolgerung meiner Arbeit entsprach der Forderung Emil Kraepelins, des selbst alkoholabstinent lebenden Begründers der neueren, wissenschaftlich
fundierten Psychiatrie, "die unwürdige Stellung der Trinkerfrau" im Sinne politischer
Gleichberechtigung zu überwinden und sie durch Aufklärung, Belehrung und Beratung zur
tätigen Mitarbeit an der Abwehr der Alkoholgefahren heranzuziehen, wobei ich einem
besseren Verständnis ihrer psychobiologischen Eigenart und ihrer sozialen Stellung eine
besondere Bedeutung beimaß. Zugleich wies ich auf die Notwendigkeit von Reformmaßnahmen in der
Trinkerfürsorgegesetzgebung hin und versuchte damit einen Beitrag zur Bekämpfung des
Alkoholismus zu leisten.
Die Dissertation, die ich mit stark vereinfachenden, heute "altmodisch gewordenen
Methoden der Persönlichkeitsanalyse - nach dem Kretschmerschen
psychobiographischen Einteilungsschema - erarbeitet hatte, bildete den Auftakt zu meiner
späteren intensiven Beschäftigung mit dem Alkohol- und Drogenproblem unter individual- und sozialpsychologischen, im besonderen auch geistes- und zeitgeschichtlichen
Aspekten. Daß dem Problem des Alkoholismus und Alkoholmißbrauchs mit gesetzlichen
Verbotsmaßnahmen nicht beizukommen ist, hatte sich damals schon durch das
Scheitern des amerikanischen Prohibitionsgesetzes erwiesen. Mein Correferent, Prof.
Martin Nippe, Ordinarius für gerichtliche Medizin in Königsberg, fragte mich in der
mündlichen Dr.-Prüfung nach dem Ergebnis dieses inzwischen aufgehobenen Gesetzes.
Ich konnte ihm nur antworten, daß es ein völliger Fehlschlag gewesen sei, weil das
Alkoholverbot zur illegalen Herstellung alkoholischer Getränke geführt habe, die in der
Form des Methylalkohols gesundheitlich weit gefährlicher als der übliche Aethylalkohol
seien (Erblindung!), und weil es, abgesehen vom Schmuggel und anderen kriminellen
Folgen, verfehlt sei, dem Verlangen des Menschen, sozialer Not und individuellen
Problemen durch den Rausch zu entfliehen, mit staatlichem Zwang begegnen zu wollen.
1933
Das Jahr 1933 brachte für Deutschland und die Weit zunächst den Brand des
Reichstagsgebäudes am 27. Februar und den am nächsten Tag beginnenden staatlichen
Terror mit Massenverhaftungen und der vom Reichspräsidenten von Hindenburg nach
stillschweigender Zustimmung des Vizekanzlers von Papen unterzeichneten "Verordnung
zum Schutze von Volk und Staat". Mit ihr wurden alle Grundrechte aufgehoben und der
Weg zur Willkürherrschaft HitIers freigegeben, wie Haffner schreibt, der diesen
verhängnisvollen Schritt als die wirkliche "Magna Charta des Dritten Reiches" bezeichnet.
Ich, und mit mir sicherlich viele andere politisch - noch! - Naive erkannte nicht die
Tragweite der Entmachtung des Reichspräsidenten zugunsten des Reichskanzlers
HitIer. Wir wußten nicht und konnten damals auch nicht voraussehen, daß das, was
Hindenburg , wenn auch zögernd, unterschrieben hatte, "viele Blanko-Todesurteile", und
schließlich das Ende des Deutschen Reiches bedeutete! Nach der Auflösung des
Reichstages folgten am 5. März Neuwahlen, bei denen die NSDAP mit nur 43,9 % der
Stimmen keine parlamentarische Mehrheit gewonnen hatte. Aber am 21. März beschwor
HitIer in einem feierlichen Staatsakt in der Potsdamer Garnisonskirche den
"Geist von
Potsdam"! Damit nahm er, der Österreicher, bedenkenlos preußische Traditionen für sich
und seine Partei in Anspruch, Traditionen, die anstelle des "Geistes von Weimar" den
"Aufbruch der Nation" begründen sollten! Mit dem "Ermächtigungsgesetz" vom 23. März
befreite er sich von allen Bindungen an die Verfassung und von der parlamentarischen
Kontrolle. Das Zentrum und die bürgerlichen Parteien stimmten dem Gesetz zu, nur die
Sozialdemokraten votierten mit "Nein!" Damit war der Reichstag überflüssig geworden,
Legislative und Exekutive als Grundlagen der Demokratie (Montesquieus
Gewaltenteilung in "Vom Geist der Gesetze") wurden gleichgeschaltet, Diktatur und
totalitärer Staat waren etabliert. Nach dem "Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 konnten nichtnationalsozialistisch gesinnte
Beamte, auf Grund eines besonderen "Arierparagraphen", auch jüdische Beamte,
entlassen werden. Auch mein Vater war als Freimaurer, und unser Freund,
Nachbarkreisarzt und Corpsbruder Dr. med. Kurt RiedeI wegen seiner weit
zurückliegenden "nichtarische" Abstammung von dieser Gefahr bedroht. Sie durften
jedoch auf Grund ihrer Verdienste in ihren Ämtern verbleiben. Aber es hatte in beiden
Familien entsprechende Aufregungen und Besorgnisse gegeben, bei Kurt RiedeI im
besonderen auch verständliche Empörung, weil er sich als durchaus patriotisch gesinnter
Arzt völlig unerwartet in die demütigende Rolle eines "Paria" versetzt fühlen mußte.
Unsere Familie war von den "Nürnberger Gesetzen" indirekt dadurch betroffen, daß die
Kinder des Bruders meines Vaters, "Onkel Baus", und seiner jüdischen Frau, Tante Frida,
geborenen Michalowski, unter der Judenächtung zu leiden hatten: Mein Vetter
Joachim Janz durfte nicht studieren und nicht Reserveoffizier werden, obwohl er am Zweiten
Weltkriege als tapferer Soldat teilgenommen hatte, und seine Schwester Jutta nahm sich,
nachdem sie nach dem Kriege einen Amerikaner
in Kalifornien geheiratet hatte, in einer Heimwehdepression das Leben. Aus ganz anderen
Gründen, aber auch im Zusammenhang mit dem NS-Regime, traf uns das Schicksal des
Freundes meiner Eltern, des Domvikars Werner Kreth, der wegen homophiler
Handlungen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde und in seiner Haftzelle an
Lungentuberkulose starb. Wir waren von diesem Anklagepunkt durch sensationell
aufgemachte Pressemeldungen völlig überrascht worden. Der "Fall Kreth" paßte natürlich
ausgezeichnet in das Kampfkonzept der NSDAP gegen die katholische Kirche. Allerdings
hatten wir uns darüber gewundert, daß Werner als höherer Geistlicher und Angehöriger
des Frauenburger Domkapitels Mitglied der NSDAP geworden war und, mit dem
Parteiabzeichen am Priestergewande, dem Braunsberger Kreisleiter nahestand. Wir
konnten nicht wissen, daß er dieses doppelte Spiel, das mein Vater ihm seit längerem
vorgeworfen hatte, nur betrieb, um seine zum Teil recht unvorsichtigen und leider auch
geschmacklosen Aktivitäten mit Hilfe des Wohlwollens der Partei zu tarnen - vergeblich!
Das traurige Ende dieses guten Freundes, eines musikalisch hochbegabten - er war
Organist am Dom zu Frauenburg -, gebildeten, geist- und humorvollen Mannes, hat uns
mehr noch bedrückt als enttäuscht. Er soll auch noch im Gefängnis versucht haben,
seinen Neigungen nachzugehen. Der Bischof von Ermland, Maximilian Kaller, hat ihm die
Absolution erteilt. Erst rückblickend wurde uns klar, daß er zum katholischen Glauben
konvertiert war und Theologie studiert hatte, um eine - vermeintliche Schranke gegen
seine schon auf der Schule deutlich gewordene Homophilie zu errichten. Ich selbst war
froh, daß er in meiner Knaben- und Jünglingszeit, wohl mit Rücksicht auf meine Eltern,
nicht versucht hatte, sich mir zu nähern. Als Erinnerung an ihn besitze ich noch eine sehr
schöne, in Pergament gebundene und mit Reproduktionen der Zeichnungen Goethes
geschmückte Ausgabe der "italienischen Reise", die er mir zur Einsegnung am 9. April
1922 geschenkt hat.
Wie alle meine Barmbeker Mitassistenten ließ ich mich - wie ich schon erwähnte - in
eine im Ärztekasino ausgelegte Liste - wohl im Mai 1933 - als Mitglied der NSDAP
eintragen. Ich hatte keine Bedenken, die vaterländischen und gesellschaftspolitischen
Ziele der NS-Bewegung - sie nannte sich ja "sozialistisch" - zu unterstützen. Daß sich
dies später als schlimmer Irrtum erweisen und mich nach dem Zusammenbruch 1945 in
große Schwierigkeiten
versetzen würde, konnte ich nicht voraussehen. Mein Vater wurde als alter Anhänger und
Wähler der nationalliberalen ("Deutschen Volks"-) Partei Stresemanns nicht
Parteimitglied und wäre als Logenbruder auch nicht für würdig befunden worden. Ich
habe keine Parteiämter bekleidet, war aber einverstanden mit meiner Übernahme in das
"NS-Fliegerkorps", die sich aus meiner späteren Tätigkeit bei der Flieger-TauglichkeitsUntersuchungsstelle an der Königsberger Universitätsnervenklinik und aus meiner
segelfliegerischen Ausbildung ergeben hatte. Die politische Harmlosigkeit dieser
Vorgeschichte trug dann dazu bei, daß ich mit handfesten "Persilscheinen",
Entlastungszeugnissen, die mir von Juden, Sozialdemokraten, Holländern, Polen und
anderen "Antifaschisten" ausgestellt wurden, nach dem Zusammenbruch des "Dritten
Reiches" "entnazifiziert" werden konnte.
Meine
Abkehr vom Nationalsozialismus begann mit der sogenannten
"Reichskristallnacht" am 9. November 1938. Mit dieser verharmlosenden Bezeichnung
war nichts anderes gemeint als die Verwüstung und Plünderung jüdischer Geschäfte und
Wohnungen, das Niederbrennen der Synagogen und die Verhaftung von rund
zwanzigtausend Menschen. Daß auch nahezu hundert Juden ermordet wurden und die
SS-Zeitung "Das schwarze Corps" die Ausrottung des Judentums in Deutschland mit
"Feuer und Schwert" gefordert hatte, erfuhr ich erst aus der 1973 erschienenen Hitler-Biographie von
Joachim C. Fest. Anlaß dieser barbarischen Aktion war das durch
überwiegend persönliche Gründe motivierte Attentat eines 17-jährigen jüdischen
Emigranten auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in der Pariser
Deutschen Botschaft. HitIer konstruierte aus dessen Ermordung einen der "Anschläge
des Weltjudentums" und glaubte mit einer bis in die Schulen und Betriebe hinein
organisierten Feierstunden-Kampagne, Beethoven-Musik und demagogischen
Totenklage den Volkszorn entfesseln zu können. Er hatte sich, wie Fest schreibt, geirrt,
auch bei mir: Als ich die Nachricht von der "Reichskristallnacht" im Rundfunk der Klinik
gehört hatte und nach Hause kam, sagte ich zu Antonia: "Das ist der Anfang vom Ende!"
Aber durch Hitlers außenpolitische Erfolge und die militärischen Siege am Anfang des
Zweiten Weltkrieges beeindruckt, zweifelte ich - wie viele andere auch - an der Richtigkeit
meiner pessimistischen Voraussage, sah sie dann jedoch Schritt für Schritt bestätigt.
Leider hatte ich zuvor nicht die Tragweite der Reaktion Hitlers auf den "Röhm-Putsch" am
30. Juni 1934 erkannt: Er selbst ließ Röhm, den homophil veranlagten Stabschef der
SA, den ebenfalls männerliebenden SA-Führer Heines, zahlreiche andere höhere SA-Führer, seinen früheren Kampfgefährten und ehemaligen Rivalen
Gregor Strasser,
den General und früheren Reichskanzler von Schleicher mit dessen Frau erschießen und
rechtfertigte diese Mordaktion nachträglich, indem er am 3. Juli 1934 ein Gesetz erließ,
nach dem die "zur Zerschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1.
und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen als Staatsnotwehr rechtens sind."
Er proklamierte sich als "des Deutschen Volkes oberster Gerichtsherr" und als
Retter, dem das Volk für die "Befreiung von einer tödlichen Bedrohung" zu danken habe.
In seiner großen Rechtfertigungsrede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934 sagte er
wörtlich, er habe den Befehl gegeben, "die Hauptschuldigen an diesem Verrat zu
erschießen" und "die Geschwüre unserer inneren Brunnenvergiftung auszubrennen
bis
auf das rohe Fleisch". Diese durch den Rundfunk übertragenen, herausgebrüllten Worte
klingen heute noch in meinem inneren Ohr nach. Was ich - und mit mir wahrscheinlich
die Mehrzahl der Deutschen nicht wußte, war die Tatsache, daß viele der ermordeten SA-Führer weder einen Putsch noch ein Komplott geplant hatten, und daß sich ein
angeblicher Geheimbefehls Röhms, der die Sturmabteilungen zu den Waffen rief, als
Fälschung erwies! In Wirklichkeit wollte Hitler seinen einzigen ernstzunehmenden
Rivalen, Röhm, der den "Primat des weltanschaulichen Soldaten" mit einer zahlreichen
Anhängerschaft "alter Kämpfer" repräsentierte, beseitigen. Nutznießer seines
Zuschlagens waren die SS und die Reichswehr.
1934 - 35 in Königsberg
Meiner Hamburger Zeit folgte die Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der
Königsberger Universitäts-Nervenklinik unter Professor Dr. August Bostroem. Er
wurde für mich der maßgebliche klinische und wissenschaftliche Lehrer und später mein
väterlicher Freund. Dem NS-System stand er in kritischer Distanz gegenüber. Es fiel ihm
sichtlich schwer, den Arm zu amtlich vorgeschriebenen "Heil-Hitler"-Gruß zu erheben. Als
ich mit ihm über die Folgen des "Röhm-Putsches" sprach, erwähnte er, daß den
Erschießungen sein guter
Bekannter, ein völlig unbeteiligter Münchener Musikkritiker Dr. Willi Schmid, wegen
einer Verwechslung mit dem SA-Gruppenführer Wilhelm Schmidt zum Opfer gefallen
sei!
An der Klinik stürzte ich mich geradezu auf meine neuen Aufgaben und begann mich
auch sogleich für psychotherapeutische Hilfen zu interessieren. Ohne dazu von
Bostroem oder älteren Mitarbeitern angeregt oder angehalten worden zu sein, eignete ich mir
autodidaktisch die Methode der Hypnose an und konnte mir ihr bald einige neurotisch oder
psychosomatisch erkrankte Patienten erfolgreich behandeln. Dabei erkannte ich schnell
ein Risiko: Die angenehm passive Rolle, in die der Hypnotisierte versetzt wird, kann ihn
zur Abhängigkeit vom Therapeuten verleiten und suchtartige Ausmaße annehmen. Ich
lernte, daß Hypnose, wie Psychotherapie überhaupt, immer nur ein befristeter Weg zum
Ziel des Wiedergewinns der Selbständigkeit des Patienten sein dürfe und ohne seine
eigene aktive Mitarbeit nicht gelingen könne. Da Bostroem diese und meine weiteren
Interessen an der psychiatrischen Arbeitstherapie bemerkt hatte, schickte er mich als
Gast in die Heidelberger Psychiatrische Universitätsklinik zudem dortigen Ordinarius
Carl
Schneider, bei der ich mich mit einer gut organisierten und effizienten Arbeitstherapie
vertraut machen konnte. Es gelang mir dann auch, mit Hilfe arbeitstherapeutischer
Methoden den bis dahin sehr hohen Narkotika- und Schlafmittelverbrauch auf den "Unruhigen Abteilungen" der Königsberger Klinik auf ein unvermeidbares Minimum zu
reduzieren. Lange vor der Einführung der psychiatrischen Pharmakotherapie war es
grundsätzlich möglich geworden, auch bei akut Kranken nach dem Prinzip
"Medica
mente, non medicamentis!" Erregungs- und Aggressionszustände einzudämmen. Daß
die Arbeitstherapie auch bei chronisch Kranken wirksam ist, hatte schon Hermann Simon
Mitte der zwanziger Jahre an dem von ihm geleiteten Westfälischen Landeskrankenhaus
Gütersloh nachweisen können. Über meine eigenen Erfahrungen habe ich in einer
Sitzung des Königsberger "Vereins für wissenschaftliche Heilkunde" - meinem Vortrags-Debut! - berichten dürfen. Ich verschwieg nicht, daß der Versuch, schwerere
Erregungszustände ohne Medikamente zu beherrschen, auch seine Tücken haben kann:
In der Waschküche der Heidelberger Klinik flog mir plötzlich ein sehr nasser Lappen um
die Ohren, den eine manisch erregte Patientin gegen mich geschleudert hatte. Ernster
war ein Zwischenfall an der Königsberger Klinik, bei dem ein schizophrener Oberlehrer einem Patienten, den er wahnhaft für seinen Feind hielt, mit einem
Brett aus der Segelflug-Werkstatt so heftig auf den Kopf schlug, daß dieser an einer
Hirnblutung starb! Mehr oder weniger bedenkliche Erfahrungen mußten später, unter
meinem Nachfolger Dr. CorneIsen, junge Adepten machen, die mit dem Anspruch,
die "alte Psychiatrie" reformieren zu müssen, psychotische Erregungszustände ganz
ohne Medikamente, nur durch "Gespräche" abschwächen oder beseitigen zu können
glaubten. Einem dieser "Systemveränderer" wurde dabei von seinem Patienten das
emanzipatorische Statussymbol, der Vollbart, ausgerissen! Das kommt davon, wenn
man Ideologie statt Therapie betreibt!
Prof. Carl Schneider - nicht zu verwechseln mit seinem berühmten Nachfolger Kurt
Sch. - , ein begabter, aus der Anstaltspsychiatrie hervorgegangener, origineller, aber im
wissenschaftlichen Denken nicht recht disziplinierter Psychiater, war übrigens, was ich
nicht wußte, ein überzeugter Nationalsozialist und hat 1945 wegen mir nicht näher
bekannter Anschuldigungen, Suizid begangen!
Nach der Rückkehr aus Heidelberg baute ich in der Klinik eine regelrechte
Arbeitstherapie auf, eine Einrichtung, die es bisher nur an psychiatrischen
Langzeitanstalten, in dieser Form noch nicht an Universitätskliniken, gegeben hatte.
Außerdem befaßte ich mich näher mit der neurologischen Diagnostik und Therapie und
erlernte die Subcoccipitalpunktion und die Ventrikulographie zur röntgenologischen
Darstellung der Hirnhohlräume, Methoden, mit denen noch vor Einführung der
Elektroenzephalographie der Nachweis von Hirntumoren, Hirnatrophien, traumatischen
Hirnveränderungen und anderen organischen Gehirnerkrankungen möglich geworden
war.
Heirat 1935
Mit eigentlich wissenschaftlicher Arbeit begann ich erst nach meiner Heirat! Zuvor
glaubte ich, mich von den noch frischen Erinnerungen an das Scheitern einer
Partnerschaft mit den damit verbundenen Schuldgefühlen durch zeitweilige muntere
"Schlürfereien" und andere junggesellige Allüren entlasten zu können. Es bedurfte der
Einmündung dieses Obergangs- und Krisenstadiums in die
ruhige Harmonie meiner Verbundenheit mit Antonia und der Begründung eines
geordneten Ehelebens in der Königsberger Schrötterstraße auf den Hufen - in Kliniknähe -
, um mir, dem immerhin schon 29-jährigen, zu konzentrierter Planung und Stetigkeit
wissenschaftlichen Bemühens zu verhelfen. Die erste Begegnung mit Antonia geschah
am 30. Juni 1934, dem Tage des Röhm-Putsches. Die Geschichte dieser privaten
Begebenheit und ihrer Folgen habe ich in einem umfangreichen pseudopoetischen Epos
in holperigen Knüttelversen zum 30. Juli 1978, Antonias siebzigstem Geburtstag,
aufgezeichnet. Hier einige Auszüge bis zum Abschluß unserer Königsberger Zeit:
(Für den außenstehenden Leser ein paar Erklärungen mehrerer Namen:
"Adsch" =
Adalbert Connor, Sohn des Pastors der Deutschen Kirche in Tilsit, in dessen Familie
Antonia und ihre Schwester Vera als Schülerinnen in "Pension" wohnten, Corpsbruder
und späterer Schwager. "Lieschen Siehr" = in Tilsit wohnende Nachkommin
bedeutender Landsmannschaften und Corpsbrüder der Littuania, darunter des
ehemaligen Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen Ernst S., unverheiratet geblieben.
Antonias früherer "keuscher Bräutigam" = Herbert Langkeit aus Skaisgirren, nach der -
einvernehmlichen - Trennung, Lösung des Verlobtseins, einer unserer engsten Freunde,
glücklich verheiratet mit Charlotte Le Jeune, später Richter und Senatspräsident am
Bundessozialgericht in Kassel. Der "weitere Rivale" = Paul DargeI, hoher NS-Funktionär, Gauorganisationsleiter von Ostpreußen, nach dem Kriege verschollen.
"Mika"
= Abkürzung von "Mistkarre", einem alten, klapperigen Ford unseres
Corpsbruders Ernst Kemke, Sohn des Widminner Gemeindevorstehers, dem ich
als kleines Jungchen mit dem trotzigen "Einen Finger nehm' ich nich!" den Handdruck verweigert hatte. Die
"drei
Pastoren" = Vater Connor, Martin Braun, mein Corpsbruder und Leibbursch, später
Superintendent in Münster. Werner Kreth = Domvikar und Domorganist in Frauenburg
(siehe oben!) "Emmuschka" = Emma Jurkat, treue Helferin der Familie Hellwich,
zuerst als liebevolle Kinderfrau, dann als treffliche Köchin, eng vertraut und doch
distanziert, wie es sich für den Umgang der "Dienstboten" mit der "Herrschaft" in der
patriarchalischen Gesellschaftsordnung des damaligen Ostpreußen gehörte. Sie redete
Antonia später mit "Frau Professor, weißt Du noch?" an und bemerkte einmal zu einem
meiner ärztlichen Mitarbeiter, auf Antonia weisend: "Wenn Sie mal wüßten, wie ich der
Gnädigen ihr Popochen geküßt habe!" ! "Abschied von Soldatenleben" = Ich hatte während meiner soldatischen
Grundausbildung als "Schütze Janz" geheiratet und mußte mir die Genehmigung eines
Sonderurlaubs zu diesem Zweck vom Batallionskommandeur durch gute
Schießleistungen "erschießen", wobei ich aus lauter Angst, vorbeizuschießen, so gut
schoß, daß ich zwei Tage zusätzlichen Urlaub erhielt.
Nun der Text des Geburtstagsgedichtes:
"Antonia, Du mein liebstes Wesen,
Laß heute mich ein wenig lesen
Im Buche unsres langen Lebens,
Das mit des Nehmens und des Gebens
Sinnvollem Wechsel sich uns schenkte
Und unsre Wege glücklich lenkte
Auf Höhen, aber auch durch Tiefen -
Je nach den Stimmen, die uns riefen,
Unüberhörbar, wenn auch leise
Zu Zweit auf unsres Daseins Reise.
Ja - sie begann an jenem Tag,
Da Adsch und ich im "Hanomag
Von Papchen Janz mit viel Pläsier
Auf Brautschau fuhr´n zu Lieschen Siehr Gen Tilsit, ohne uns zu irren.
Doch machten Halt wir in Skaisgirren,
Wo uns - ich weiß es noch, wie gestern -
Freundlich empfingen erst zwei Schwestem!
Die eine blond, die andre dunkel,
Die Blonde - so des Adsch Gemunkel -
Verlobt und so bereits vergeben,
Die andre sogar schon fürs Leben
Gebunden an den Connor-Knaben,
Sodaß hier leider nichts zu haben
Schien für mich, zumal durch früh'ren Schmerz Zur Lieb' noch kaum bereit mein Herz.
Doch unerwartet wurde leise
Mein Inneres auf sanfte Weise
Berührt von süßem Ahnen:
Dies Blondköpfchen ist schon ein bißchen
Reizvoller noch als Tilsits Lieschen!
Und so verzichteten wir weise
Auf den weit'ren Teil der Reise! Das Folgende ist rasch erzählt:
Antoniachen hat nicht erwählt
Den Bräutigam, den keuschen,
Von dem sie keinen Kuß erheischen
Durft' weil dieser streng - asketisch
Erklärt; ein Christ müßt' vor der Eh'
Auf solche Sünden fromm verzichten
Dies ging
zu weit - sie sprach: "Mit nichten!"
Damit wurd'
plötzlich für Hans-Werner
Der Weg frei, zumal
ferner
Ein weiterer Rivale
Ihm weichen mußt' mit
einem Male
(Obwohl der gut war anzuschau'n,
lamettaschön und durchaus braun!).
Nun folgte
aber Schlag auf Schlag,
Bis schließlich zu dem
großen Tag,
Nach Stiftungsfest und Stadthallball
Nach "Kaltem Näschen?«, Königshall
(Wobei
Hans-Werner niedersank,
Doch rasch erhob sich
wieder, Gottseidank!),
Nach Wochenend im
Hellwich-Haus
Am Maientag,
Verlobungsschmaus,
Belebt durch Opis Küken,
Omis Segen,
Führt' Amor uns auf guten Wegen
So ward verbunden Schütze Janz
Mit Toni
unterm Myrtenkranz,
Zugleich auch Adalbert mit Verchen
Es war warhaftig wie im Märchen!
(Wenn
auch im Hochzeitsbett als Pärchen
Ausnahmsweis' statt der Ehegatten
Die
Schwäger Platz genommen hatten,
Da Beide
leider vor Beschlürfnis
nach andrem fühlten kein
Bedürfnis!)
Hernach jedoch der Ehemann
Wurd'
feurig so, daß ein Gespann
Des Bierfuhrwerkes
aus Ponarth
Er streift' auf "Mikas" kühner Fahrt
In dichtbelebter Junkerstraße,
Weil er verkannt die
breiten Maße
Von Kemkes altem Klapper-Ford
Drum flugs verließen diesen Ort
Die Flitterpaare
Connor - Janz
in Richtung auf das Seebad Cranz.
Die Hochzeitsfeier, fast hätt' ich's vergessen,
Beschränkt sich nicht auf opulentes Essen
Aus Omis einzigart'ger Küchenkunst -
Nein, sie erfreute sich besondrer Gunst
Durch Gegenwart von drei Pastoren.
Die uns vom Himmel warn erkoren:
Vater Connor, der die Paare traute,
Martin Braun, der nicht genau hinschaute
Als jener ihm, damit er besser höre,
Darbot seine Ohrenröhre,
Verkannt' den Zweck des Hörgerätes
Als Aschenbecher. da schon spät es
War und die geistlichen Herren
Vergeblich suchten zu
erklären
Gemeinsam mit dem Domvikar
Als Brüder in
Christo: Warum wohl
war Des Teufels Existenz
notwendig,
Wenn Gottes Geist im Mensch doch ist
lebendig?
(Emmuschka wundert sich indessen,
Das
Tischtuch hebend: Der Domherr hab' vergessen,
Beim
langen Gespräche und reichlichem Weine
Sich mal zu
vertreten die Beine!
Die Gute, sie konnte nicht wissen:
Der Geist schwebt über derlei Hindernissen!)
Der Abschied vom Soldatenleben
Beim Dorfe Arys
fiel nicht eben
Sehr schwer, da wir erwarteten
Die
Hochzeitsfahrt, zu der wir starteten
Mit Papchens "Hanomag", den Spuren
Der Kindheit folgend nach Masuren.
Dort war's denn auch beglückend schön
Der dunklen Wälder und der Seen
Tiefernste Stille
uns umfing,
Sodaß die Zeit im Flug' verging
und
unversehens uns tat rufen
Zur Schrötterstraße auf
den Hufen,
Wo unser Nestchen wir beziehen
Konnten, sogar von den Mühen
Der Hausarbeit
vorerst befreit
Durch Gerda, unsre Küchenmaid.
Denn "Tonichen" konnt' damals noch nicht kochen.
Der Krieg erst hat ein emstes Wort gesprochen
Und
ohne Gerda sie gezwungen,
das zu erlernen, womit
ihr gelungen,
Nicht nur zu kochen "so und so",
Sondern Hausfrau zu werden comme il faut!
Das war'n die ersten gute Jahre
In
Königsberg, die ich bewahre
Mit Dir, mein
Herz, im tiefsten Grunde
Als ruh'ges
Glück, dem keine Stunde
Zu schlagen
schien die Uhr des Lebens
Im Zauber wechselseit'gen Gebens
O, daß er ewig
grünen bliebe,
Der süße Traum der
jungen Liebe!
Doch nicht nur flitternd wird verbracht
Die schöne Zeit - Nein, manche Nacht,
Sogar der Urlaub ward mißbraucht
Zu
Forschungsarbeit, daß es raucht
Im
Kopf des Gatten.
Es kam hinzu: Gutachten hatten zu füllen
Die
knappe Kasse im Stillen!
Mein Weibchen
nahm dies brav in Kauf,
Es sagte sich, so ist
der Lauf
Und auch der Ernst des Lebens
Nun
einmal, und vergebens
Sind auf der Suche
wir nach Rosen,
Die dornenlos uns nur
umkosen!
Dir dank' ich's, Deiner, unsrer Liebe,
Daß manche
jener wilden Triebe
Des Junggesellen (so das "Schlürfen"!)
Nun nicht mehr wie ehemals dürfen,
Edlere Seiten meines Seins verdrängen
Und
meinen Daseinssinn verengen
Vielmehr der
Wunsch nach höherer Entfaltung
Bestimmt nun
meines Tuns Gestaltung!
"Zweite Hochzeitsreise" ins Saargebiet 1936
Ein Jahr nach unserer Hochzeit unternahmen wir eine "zweite Hochzeitsreise" zu
und mit Connors. Adalbert hatte sich als Hals-, Nasen-, Ohrenarzt in
Neunkirchen/Saar niedergelassen und dort schon erfolgreich gewirkt. Bei unserer
nächtlichen Ankunft empfing uns die den Hochöfen entströmende, den Himmel flammend
rötende "Waberlohe", Tag und Nacht ertönte das Hämmern, Quietschen, Rumoren aus
dem riesigen Stummschen Eisenwerk, aus der Bessemer Birne sprühte blutrote Glut,
aus dem Werk rollten glühende Eisenblöcke eine für uns agrarlandverbundene Ost-Elbier
fremdartige, zunächst etwas unheimlich - verwirrende Welt, an die man sich aber bald
gewöhnte. Die kleinen, ärmlichen, eng beieinander stehenden Häuschen der Eisenhütten- und Kohlengrubenarbeiter mit den von einem schweren Explosionsunglück 1932
herrührenden, notdürftig verklebten Rissen in den Mauern, die wir in den umliegenden
Orten sahen, deuteten die sozialen Probleme der Menschen im saarländischen
Industriegebiet an, das erst seit kurzem wieder zu Deutschland gehörte. Der Begründer
des Neunkirchener Eisenwerkes, der - später geadelte - Freiherr Karl Ferdinand von
Stumm, mit Borsig, Krupp, Siemens, Emil Rathenau einer der großen Industrie-Unternehmer-Persönlichkeiten der Bismarck -Zeit, war als politisch höchst aktiver
Repräsentant der "Freikonservativen" und Berater Kaiser Wilhelms II. frühzeitig für eine Altersund
Invalidenversicherung der Arbeiter eingetreten und hatte mit seiner "patriarchalischen
Sozialpolitik" Arbeiterwohnung, Betriebskranken- und Pensionskassen sowie eigene
Konsumanstalten geschaffen. Damit verstanden er, der "Saarkönig", und die anderen
"Schlotbarone", wie sie respektlos genannt wurden, die Arbeiter an den Betrieb zu binden
und einer von der Sozialdemokratie geforderten umfassenden staatlichen
Arbeiterschutzgesetzgebung entgegenzuwirken und der Gewerkschaftsbewegung den
Wind aus den Segeln zu nehmen - wenigstens eine Zeitlang. Wilhelm II. hatte sich
übrigens im sozialpolitischen Bereich bei der Groß- und Schwerindustrie soviel politische
Rückendeckung verschafft, daß er "nun leichter auf sein Ziel Iosgehen konnte, den
unbequemen Kanzler loszuwerden", schreibt Ernst EngeIberg im zweiten Band
seiner monumentalen Bismarck-Biographie. Dank der sozialreformerischen Vorarbeit
Stumms waren die Arbeiter des Neunkirchener Eisenwerkes in einem patriarchalischen
Treueverhältnis mit ihrem Betrieb verbunden und im allgemeinen zufrieden, jedenfalls
nicht kommunistisch verhetzt und zum Teil sogar Mitglieder des "Stahlhelm". Hingegen
gab es unter den Arbeitern in den staatlichen Gruben viel Unzufriedenheit und infolge der
Verteuerung der Lebensmittelpreise und durch den Wegfall der billigen Versorgung aus
dem französischen Elsaß - ohne Lohnerhöhung! - Anlaß zu linksgelenkter Auflehnung
("Deutsch ist die Saar - schlimmer als es war!").
Einen beklemmenden Eindruck von der schweren und gefährlichen Arbeit unter
Tage gewann ich bei der von unserem späteren Freunde, dem Bergassessor Rudolf Wawersik, ermöglichten Einfahrt in ein Kohlebergwerk bis zu einer Tiefe von 700 m - für
mich nachmaligen Segelflieger ein gleichsam "antipodisches" Erlebnis, das den ernsten
Sinn des Bergmanngrußes "Glück auf!" ebenso eindringlich verstehen ließ wie den des
fliegerischen "Glück ab!"
Von sozialen Spannungen war nichts zu vermerken bei der Kirmes, "Kerb" genannt,
die gerade gefeiert wurde, als wir dort waren: Die Straßen erfüllt von laut singenden,
lachenden, torkelnden Menschen mit grünen Hütchen und Federn am Kopf und unter
dem nächtlichen Glutschein der "Waberlohe" die sich drehenden Lichter der Karussells -
harte Arbeit und ausgelassene Fröhlichkeit, Walzwerk und Kirmes, Kohlengrube und
Karussell, Kapitalismus und Arbeiterschaft - diese Kontraste nur 25 Kilometer von der
deutsch-französischen Grenze
entfernt! "Mit einem nach Entfernung und Geschwindigkeit genau berechneten Schuß
und mit gezielt abgeworfenen Bomben könnte dieses wichtige Industriegebiet mit seinen
Menschen schlagartig ausgelöscht werden!" schrieb ich am 1. September 1936
ahnungsvoll an meine Eltern!
Von Neunkirchen ging es mit Adalberts neuem Heckmotor-Mercedes an die Mosel
(in Abwandlung der damals viel gelesenen Bindingschen Novelle "Moselfahrt aus
Liebeskummer" war es eine "Moselfahrt aus Liebesfreude"), nach Heidelberg und in die
Pfalz. Beim "Dürkheimer Wurstmarkt" schlug ich mit dem Hammer des "Haut den Lukas"
so konstant daneben, daß das umstehende Publikum sich vor Lachen bog, und in
Heidelberg ahmte ich vom Fenster einer Zahnarztpraxis aus, in die sich Adalbert begeben
mußte, den Vorgang des Bohrens und Ziehens pantomimisch offenbar so eindrucksvoll
nach, daß ein Ausflugsbus vor dem Hause hielt, um den Insassen diese im Programm
nicht vorgesehene Darbietung nicht entgegen zu lassen. Auch sie lagen sich vor Lachen
in den Armen. So munter waren wir damals!
Zur Weltausstellung in Paris 1937
Ein Jahr später, im Juli 1937, unternahm ich gemeinsam mit Antonias Skaisgirrer
Vetter Dr. med. Frank Lenuweit eine Reise zur
Pariser Weltausstellung. Wegen der
strengen Devisenbestimmungen durften nur wenige deutsche Reichsmark
mitgenommen werden. Als wir die Grenze passiert hatten, zog Vetter Frank mit
schlauem Blick eine größere Summe aus seinem Schuh-Versteck hervor, was mich zu
der scheinheiligen Bemerkung veranlaßte, ich wolle mit seinen schmutzigen
Devisenschmuggeleien nichts zu tun haben. Dies hinderte mich jedoch nicht, ihn
anzupumpen. Devisenstark, wie er war, konnte er es sich leisten, die "Folies Bergères"
zu besuchen und einiges vom Pariser Nachtleben zu genießen. Das hatte ihn so
ermüdet, daß er im Louvre mehrfach sanft entschlummerte und auch durch den Anblick
der Leonardoschen Mona Lisa, "La Gioconda", nicht recht erfrischt werden konnte.
Mit Hilfe unserer illegal aufgestocken Devisen konnten wir Beide ein am Boulevard
Edgar Quinet gelegenes Etablissement "Aux belles Poules" aufsuchen, das uns von
einem lettischen Verwandten Antonias, dem Juristen Udrys, empfohlen worden war. (Udrys wurde später, bei der sowjetischen
Okkupation Lettlands, als Generalstaatsanwalt von den Russen verhaftet und verschleppt
und ist verschollen geblieben!) Beim Betreten dieses Lokals, das nur durch Klopfzeichen
geöffnet wurde, erschrak ich so über das "Obenohne" der "schönen Hühner", daß ich
meine Brille abnahm, um nichts Genaueres erkennen zu müssen. Aber ich setzte sie
bald wieder auf und sträubte mich nicht, als ein schmuckes "Hühnchen" sich zu mir
setzte und folgenden Dialog begann: "Un petit baiser, Monsieur?" Ich: "Non Mademoiselle,
merci!" Sie: "Un peu d'amour?" Ich: "Non, non!" Sie: "Peut être une petite exibition?" Ich
"Aussi non, merci!" Sie: "Mais avec belles positions!" Ich: "Pardon, je suis marie!" Sie:
"Ah, vous êtes un Allemand?" Ich: "Oui, Mademoiselle, et je regrette: Je n'ais pas des
divises!" Damit verließ mich das schöne Hühnchen, nachsichtig lächelnd. Die Wahrheit
dieser Geschichte kann von Vetter Frank, der dabei war, bezeugt werden! Während er,
devisengeschwollener als ich, bei den Hühnern verweilte, entschwand ich in unser
dürftiges Hotelchen und verbrachte die Nacht einsam in einem typisch französischen
Doppelbett, das ich erst gegen Morgen mit dem Spätheimkehrer Frank teilen konnte.
Von der
Weltausstellung selbst sind mir nur der deutsche, von Albert Speer
entworfene, und der russische Pavillon in Erinnerung geblieben, beide herausfordernd
einander gegenüberstehend, der deutsche mit Reichsadler und Hakenkreuz, der
russische mit einem Hammer- und Sichelbewehrten Arbeiterpaar - die beiden feindlichen
und doch so verwandten Weltanschauungen symbolisierend.
Vom Eiffelturm habe ich ein Scherz-Photo aufbewahrt, auf dem Vetter Frank und ich,
an jeder Seite mit dem Arm am Gitter hängend, zu sehen sind.
Unser letztes Jahr in Königsberg war überschattet vom langen Sterben und dem
erlösenden Tod meiner Mutter, unseres auch von Antonia geliebten und verehrten
"Mamchens". Als Tote hatte sie ein schönes, jugendliches, die Reinheit ihrer Seele
ausstrahlendes Antlitz.
Mit dem verwitweten "Papchen" haben wir nach meiner zweiten Segelflugprüfung in
Wenningstedt auf Sylt noch kurz vor Ausbruch des Krieges letzte Sommertage auf der
Kurischen Nehrung, in Nidden, genossen. Wir wohnten bei Hermann BIode, dessen schlichtes Gasthaus durch Maler wie Pechstein,
Bischoff-Kuln, Mollenhauer, Kallmeyer, Partikel berühmt geworden und mit deren Bildern
geschmückt war. Mein Vater belohnte Antonia für jeden Elch, den sie erblickte, mit einer
Mark, bis sie täglich drei und mehr von ihnen aufspürte und der Finderlohn eingestellt
wurde!
Papchen teilte uns damals schon mit, daß er an eine neue Partnerschaft mit einer
Braunsberger Lehrerin denke, was uns - Mamchens Tod lag erst vier Monate zurück -
eine schlaflose Nacht einbrachte. Er hat diese gut aussehende, gebildete und
gesellschaftlich angesehene Frau auch geheiratet, ist aber bald danach, am Jahrestag
der Beerdigung meiner Mutter, an doppelseitiger Lungenentzündung im Elisabeth-Krankenhaus in Königsberg gestorben, neben dem Krankenbett seiner zweiten Frau, die
zugleich mit ihm wegen einer septischen Kieferhöhlenentzündung eingeliefert worden
war! Sein Immunsystem, wie man heute sagen würde, war hochgradig geschwächt
durch eine radikale Abmagerungskur, der er sich, ein gar nicht einmal dicker Pykniker,
aus Rücksicht auf Mamchens Nachfolgerin, die keine beleibten Männer liebte, unterzogen
hatte. Die Nonnen des Braunsberger Katharinenklosters, deren eine, die gute Schwester
Gonsalva, meine kranke Mutter rührend gepflegt hatte, meinten: "Jetzt hat die Frau
Medizinalrat ihn zu sich in den Himmel geholt!"
Ich bemühte mich um Verständnis für die zweite Heirat meines Vaters, weil er ein
"Du-Mensch" war, der nicht lange allein bleiben konnte und in der viele Jahre
andauernden Krankheit meiner Mutter - "chronische Polyarthritis" tuberkulöse Aussaat,
die schließlich zur Miliartuberkulose und Meningitis führte - auf eine intimere eheliche
Gemeinschaft hatte verzichten müssen. Auch Bostroem, dem ich mich mit diesem
Problem anvertraute, teilte mein Verständnis, und mein Vater hat es mir gedankt. Mein
verehrter klinischer Lehrer war mir inzwischen innerlich immer näher gekommen und zur
zweiten Vaterfigur geworden. Er nahm mich denn auch nach Leipzig mit, als er dem Ruf
auf das dortige Ordinariat folgte, und damit begann für uns ein neuer Lebensabschnitt.
Leipzig 1939 - 1947
Fortsetzung des Geburtstagsgedichtes für Antonia: Und so ging's weiter auf die Reise Vom Pregelstrom zum Rinnsal Pleiße, Von Königsberg, wie es noch hieß, Von Kant zu Goethes "Klein-Paris", Mit Bostroem, väterlichem Freund, Dienstlich und persönlich eng vereint, Zu neuen Ufem, neuer Wohnung (Und neuer Hilfskraft - mit Betonung Sag' ich's: Nicht Gerda nannte sich die Holde, Nein: Dieses Prachtstück hieß Isolde Vor Liebestod blieb sie gefeit Durch Körperumfang: Hoch wie breit!) Medizingeschichtliches In Leipzig empfing mich eine akademische Tradition, die durch drei berühmte Namen vertreten war: Strümpell, Möbius, Flechsig. Sie waren es, die Leipzig Ende des 19. Jahrhunderts zu einer der Hauptstätten neurologischer Forschung entwickelt hatten. Adolf StrümpeII, Sohn eines Professors der Philosophie im baltischen Dorpat, wurde als Internist einer der Mitbegründer der Neurologie in Deutschland. Als Dreißigjähriger hatte er 1883 ein Lehrbuch der Speziellen Pathologie und Therapie der Inneren Krankheiten verfaßt, das in einem "Nervenband" bereits ein geschlossenes Lehrbuch der Neurologie enthielt, ein Jahr später eine Auflage von 70 000 Stück erlebte und bis 1934 in 32 Auflagen erschienen ist. Ich besitze noch ein Exemplar aus dem Jahre 1907! StrümpeII - er wurde durch Verleihung des bayerischen Kronenordens in den persönlichen Adelsstand erhoben, machte aber keinen Gebrauch davon, sondern führte in seinen Publikationen auch weiterhin seinen _alten bürgerlichen Namen" - hatte frühzeitig und weit vorausschauend die Bedeutung des "psychischen Ursprungs zahlreicher Krankheitszustände und der Möglichkeiten ihrer Heilung wiederum auf psychischem Wege" erkannt, so lautete das Thema seiner Erlanger Rektoratsrede. Zwölf Jahre vor den Veröffentlichungen Freuds und Breuers ist er bereits auf die psychische Entstehung der Neurosen eingegangen - wobei er unter "Neurosen" allerdings auch bestimmte Organkrankheiten wie die Epilepsie, die Basedowsche und die Parkinsonsche Krankheit verstand -, und mit einer 1896 erschienen Schrift hat er die Grundlagen für den Begriff der "Unfallneurosen" und dessen intensive Diskussion geschaffen. Im Unterschied zu seinem verehrten Lehrer Erb - der auch der Lehrer Nonnes war - forderte er nicht die Selbständigkeit der Neurologie gegenüber der Psychiatrie, sondern trat für die Untrennbarkeit der beiden Gebiete ein, die auch für meinen Lehrer Bostroem wie für mich selbst noch zusammengehörten. Inzwischen hat sich die Neurologie mit ihrer fortschreitenden Spezialisierung als selbständiges Fachgebiet durchgesetzt und die Psychiatrie in biologische, neurochemische und neuropharmakologische Richtungen auf der einen und eine soziologische, verstehend anthrologisch-personalistische Orientierung auf der anderen Seite aufgegliedert. Das StrümpeIIsche Postulat einer Einheit der Psychiatrie und Neurologie gehört der medizingeschichtlichen Vergangenheit an. Aber Adolf StrümpeII steht mir innerlich in seiner geistigen Haltung und als Mensch, Gelehrter und Universitätslehrer nahe, zumal von ihm ein fachlich-akademischer Weg über seinen ehemaligen Leipziger Fakultätskollegen Oswald Bumke, den späteren Münchener "Psychiatrie-Papst", zu dessen Schüler, meinem Lehrer Bostroem, führt. Bemerkenswert ist, daß StrümpeII als Internist wie danach auch andere Internisten - Viktor von Weizsäcker, Thure von UexküII, Arthur Jores - zu den Wegbereitern der "Psychosomatischen Medizin" im deutschen Sprachraum gehört. Bumkes Münchener Nachfolger Kurt Kolle hat in einem von ihm herausgegebenen Sammelwerk "Große Nervenärzte" (1963) ein lebendiges Bild StrümpeIls hinterlassen, dieses "bescheidenen, stillen Gelehrten, der ganz aufgeht in seinem Dienst als Arzt und Lehrer, der sich an Kunst und Natur begeistert", eines "Repräsentanten der akademischen Medizin, der die besten Eigenschaften eines vielseitig gebildeten, schöpferischen und zugleich kritischen Geistes in sich vereinigt" - ein, wie hinzuzufügen wäre, inzwischen ausgestorbenes Leitbild! StrümpeIIs Assistent an der Neurologischen Abteilung der Leipziger Medizinischen Poliklinik war der hoch- und vielseitig begabte Paul Julius Möbius, eine der interessantesten, ideenreichsten und eigenwilligsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Nervenheilkunde und Psychiatrie. Möbius, E nkel eines Professors der Mathematik und Astronomie, Direktors der Leipziger Sternwarte, Neffe eines bedeutenden Philologen, Sohn des Direktors der Ersten Bürgerschule in Leipzig, Nachkomme von Künstlern und Pastoren bis zurück zu Martin Luther, verkörperte um die Wende des 19. Jahrhunderts den Versuch, als fachlicher Außenseiter „Kultur und Bildung seiner Epoche zu umfassen", wie sein Biograph A. R. Bodenheimer aus Zürich schreibt. Nach dem Theologie- und Philosophiestudium - die Philosophie diente ihm wesentlich, um die geistigen Eigenschaften des Menschen, ihre Entstehung und ihre Beziehung zu den körperlichen Eigenschaften genauer zu erforschen" - erwarb er als niedergelassener Nervenarzt die Venia legendi an der Leipziger Universität und erteilte zehn Jahre lang neurologischen Unterricht, wurde aber wegen seines schwierigen, die Universitätskollegen häufig brüskierenden Verhaltens nicht zum Professor ernannt. Gleichwohl sind ihm bedeutende wissenschaftliche und klinische Leistungen zu verdanken: Die Erkenntnis, daß die Basedowsche Krankheit auf einer Überproduktion des Schilddrüsenhormons beruht und mit einem „Antithyreoidin" behandelt werden kann, die Erforschung der Syphilis des Zentralnervensystems ( „Neorolues") und verschiedenartiger Lähmungen im Bereiche der Hirnnerven, wichtige Beiträge zur allgemeinen Psychopathologie und vertieftes Verständnis für die Symptomatik und das Wesen der sogenannten „Hysterie". Dies alles mit einer auch von Bumkes Vorgänger KraepeIin in München, dem Begründer der damals neuen Lehre einer Einteilung der psychischen Krankheiten, anerkannten Klarheit des Denkens, aber auch mit dem „fanatischen Drang, das als wahr Erkannte provozierend auszusprechen" und damit den Widerspruch zu herrschenden Ansichten herauszufordern. Als vorausschauender „Psychosomatiker" erwies er sich allein mit den Worten: „Man kann wohl sagen, die ganze Geschichte der Medizin wäre eine andere, weniger beschämende, hätte man jederzeit den seelischen Faktor (bei organischen Erkrankungen) genügend berücksichtigt. Ein Gramm Kenntnis des menschlichen Gemütes kann dem Ärzte nützlicher sein als ein Kilogramm Physiologie ohne jenes!" Besonders weitsichtig und kühn war auch sein militanter Kampf um die Errichtung von „Nervenheilstätten" mit der Forderung nach Arbeitstherapie und nach dem, was wir heute „Gruppentherapie" nennen würden, die er sich in einer Art „moderner klösterlicher Einrichtungen", aber nicht im Stile der konventionellen Pflegeanstalten, vorstellte. Er wandte sich damit scharf gegenen die im
ausgehenden 19. Jahrhundert aufgekommenen Tendenzen zu einer „Ausmerzung" der
lebensuntüchtigen, „die Volkskraft bedrohenden Minderwertigen" und „nervösen
Schwächlinge", und er kämpfte mit der gleichen Entschiedenheit, aber auf
ziemlich verlorenem Posten gegen den Alkoholismus. Medizin und
geistesgeschichtlich interessant ist auch, daß Möbius in seiner späten
Schrift über „Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie" der
naturwissenschaftlich fundierten „Experimentalpsychologie" eine scharfe Absage
erteilt. Er nimmt darin mit dem Konzept des „Unbewußten" die Grundlagen der
modernen Psychologie vorweg, ohne die Person und das Werk seines Zeitgenossen
Freud gekannt zu haben, und beruft sich auf Eduard von Hartmann , der die
fundamentale Bedeutung des Unbewußten für die Physiologie der „Nervencentra",
die Biologie, die Psychologie und Charakterkunde, die Ethik und
Entwicklungsgeschichte, ja, für das menschliche Leben überhaupt in seiner
ehemals berühmten Philosophie des Unbewußten" (1868) herausgearbeitet und
begründet hat. Eduard v. Hartmann, ein kritischer Außenseiter der
damaligen Universitätsphilosophie, hat im Vorwort zur 12., 1923 bei Kröner -
Leipzig erschienenen Auflage seines dreibändigen Werkes daran erinnert, daß der
Begriff des „Unbewußten" bereits in ScheIIings „Naturphilosophie" und
„transzendentalem Idealismus" „am deutlichsten zu Tage getreten" und in der
Ästhetik von Jean Paul , Friedrich Theodor Vischer und Moritz Carriere
übernommen worden sei. In Carl Gustav Carus, der ScheIIings Natur
philosophie besonders nahestand, sah v. Hartmann geradezu einen „Vorläufer der
Philosophie des Unbewußten". Den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen fand er
aber in Kants „klaren Worten" aus dessen Anthropologie: „Vorstellungen zu
haben, und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch
zu liegen ... Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung
zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind."
Der von H i t I e r mit einem vorgetäuschten polnischen Überfall" auf den
Rundfunksender Gleiwitz provozierte Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1.
September 1939 hat uns kaum überrascht und zunächst innerlich nicht tiefer
berührt. Wir, und mit uns die meisten Deutschen, ja, die Europäer, waren durch
die Expansionspolitik Hitlers , dieüberstürzteAufrüstung,dieEinverleibung
Österreichs in das Deutsche Reich vorbereitet auf die Möglichkeit eines Krieges,
hofften aber immer noch, er könnte vermieden werden. Diese Hoffnung wurde
gestärkt durch das Münchener Abkommen, mit dem H i t 1 e r , Mussolini , C h a m
b e r l a i n , der englische und D a 1 a d i e r , der französische
Ministerpräsident, den Frieden - einstweilen - gerettet zu haben schienen.
Stefan Z w e i g schildert in der „Welt von gestern", wie begeistert die
Engländer waren, als C h a m b e r I a i n von der Konferenz nach London
zurückkehrte und von der Tür des Flugzeugs aus stolz und lachend jenes
historische Blatt schwenkte, das „Peace for our time!" verkündete. Hitler hatte
Alle getäuscht: Mit dem "Friedens"Abkommen hatte er die Tschechoslowakei
preisgegeben und die „Appeasement"-, die „Try and try again" - Politik Europas
endgültig scheitern lassen. Der Krieg, seit jeher sein Ziel, war da! „Der
Gedanke zum Schlagen war immer in mir!", hatte er einmal gesagt. „Der ordinärste
kleine Hund, dem ich je begegnet bin",sagte C h a m b e r l a i n von ihm nach
seinen Gesprächen wegen der Sudetenkrise! 194
schichte des berühmten Schlosses, seiner ehemaligen Bewohnerin, der Herzogin
Dorothea von D i n o , und von ihrem Onkel (und Geliebten?) Charles-Maurice
Prince de T a I I e y r a n d , dem Meister der großen Diplomatie, dem
geistvollen Spötter, politischen Ränkeschmied und Bischof von Autun. Von der
Sprache hatte er gesagt, sie sei dazu da, die Gedanken der Menschen zu
verbergen, von der Liebe: „L'Amour est une realitä dans le domaine de I'
Imagination", und von den Versuchungen der Korruption: „Ich stehe für mich bis
zu einer Million!" Erst auf dem Sterbebett ließ er sich ein reuiges Bekenntnis
zur Heiligen Römisch-Katholischen Kirche abringen. Immo von H a tt i n g b e rg , Internist, Psychiater und Psychotherapeut, Sohn
des ersten Inhabers eines Lehrstuhls für Psychotherapie Ende der dreißiger Jahre
in Deutschland, Hans von H a t t i n g b e r g , entwickelte sich eine enge, bis
in seine letzte Lebenszeit dauernde Freundschaft, die durch seine vielseitige
Begabung und seine philosophische Bildung - er stand dem H e i d e g g e r-Kreis
nahe-, namentlich auch durch seine ebenso spannungsreichen wie liebenswerten
menschlichen Eigenschaften unser Leben bereichert hat. Auch der aus dem Baltikum
stammende Carl M u m m e wurde damals unser guter, besonders auch in der
Nachkriegszeit durch seine Hilfsbereitschaft bewährter Freund. aus
verschiedenen Sanitäts-Depots die geeigneten Medikamente für die Behandlung von
Tropenkrankheiten heraussuchen und transportbereit machen. Das Ganze, im
besonderen der Gedanke an einen truppenärztlichen Einsatz in Afrika war mir
äußerst unbehaglich, und ich überlegte, wie ich diesen lästigen Auftrag
Ioswerden konnte. Einen militärischen Befehl zu umgehen, war natürlich nicht
möglich. Da kam mir eine tropenärztliche Untersuchung, der ich mich zu
unterziehen hatte zu Hilfe: Es wurde ein kariöser Zahn festgestellt, der mich
„tropendienstuntauglich" machte, weil es durch hohe Außentemperaturen zu
Schwellungen und Entzündungen an der Zahnwurzel kommen könnte. Ich atmete auf,
ohne zu ahnen, daß mir der hohle Zahn das Leben gerettet hatte: Erst später
erfuhr ich, daß das Schiff, das mich nach Afrika bringen sollte, von einem
englischen Unterseeboot torpediert und mit der gesamten Mannschaft und meiner
mühsam zusammengestellten Sanitätsausrüstung untergegangen ist! Ich blieb also
auf unserem Kontinent, wurde nach Rußland kommandiert und sagte mir, es sei
immer noch besser, kein Meer zwischen sich und der Heimat zu wissen. Dies war
nach Straßburg mein zweites „Reiter-über-den-Bodensee" - Geschick. Ein drittes
fügte sich einige Zeit danach: Nach der Niederwerfung Polens sollte Krakau, die
schöne alte deutsche Kolonialund polnische Krönungsstadt, ähnlich wie Straßburg
Sitz einer "Reichsuniversität" werden. Ich war für das psychiatrische Ordinariat
und die Leitung der dortigen Universitätsklinik vorgeschlagen worden. Der
zuständige Sachbearbeiter beim Ministerium starb plötzlich. Sein Tod bewahrte
mich vor den sicheren Folgen einer Berufung: Nach der Wiedereroberung Krakaus
durch die Sowjet-Armee hätte mich Verschleppung in ein Straflager,
wahrscheinlich mit frühem Lebensende erwartet.
Ukrainischen Winter:
den ist.
Über seinen in einem silbernen Sarkophag ruhenden Gebeinen errichtete Peter der
Große als Krönung des prachtvollen Alexander-Newski-Prospekts in St. Petersburg
das gewaltige Alexander-Newski-Kloster mit acht Kirchen und Unterkunft für
tausend Geistliche. Die Zaren verliehen ihren Kriegshelden als hohe Auszeichnung
den Alexander-Newski-Orden, und selbst Stalin stiftete für die Rote Armee den
alten monarchistischen Orden wieder neu, um seine Soldaten im Zweiten Weltkriege
zu höchster Tapferkeit anzuspornen! Alexander N e w s k i hatte frühzeitig
erkannt, daß Rußland zwei Gesichter hat: Eines nach Westen, eines nach Osten
gewandt. Er selbst erhielt von seinem Vater J a ro s I a w den Auftrag, die
Stadt Nowgorod, eine Gründung R u r i k s , gegen die Schweden zu verteidigen.
Von Nowgorod liefen Lebensadern nach Reval und Riga nach Wisby auf Gotland,
namentlich nach Lübeck, Hauptstadt der Hanse, und weiter über Hamburg tief nach
Deutschland und in die anderen Nordseehäfen hinein. Kiew, in dessen Schatten
Nowgorod stand, war durch den Dnjepr mit Byzanz und dem Orient verbunden. „In
diesen beiden russischen Städten stecken zwei grundverschiedene Wurzeln
politischen Bewußtseins: Aus Kiew stammt der Hang zu byzantinischer
Vergöttlichung der Herrschaft, aus Nowgorod der Anspruch der Bürger, an der
Gestaltung von Staat und Gesellschaft mitzuwirken." ( S i e v e r s ) Nowgorod
war von den Schweden bedroht, die der Papst Gregor der Neunte zum bewaffneten
Kreuzzug, zusammen mit den Deutschen, gegen die russischen Orthodoxen aufgerufen
hatte. Alexander N e w s k i besiegte die Schweden am Ufer der Newa und erhielt
dafür den Ehrennamen „Newski". Den Deutschen unter dem Bischof H e r m a n n v o
n D o r p a t bereitete er eine vernichtende Niederlage auf dem zugefrorenen
Peipus-See. Danach besiegte er noch die Litauer, die gegen Nowgorod vorgedrungen
waren. Aber später erlag er der gewaltigen Übermacht der Tataren unter dem Khan
T e m u d s c h i n , genannt D s c h i n g i s Khan , am Asowschen Meer. Unter
dessen Sohn Ü g e d e i und seinem Neffen B a t u eroberten die tatarischen
Reiter Moskau und überschwemmten unter unsäglichen Grausamkeiten das Land,
unterwarfen Wolhynien, die ganze Ukraine östlich des Dnjepr, Galizien, Ungarn
und Polen bis Schlesien, wo der Herzog Heinrich von Schlesien sie in der
Schlacht bei Liegnitz am 9. April 1241 vergeblich aufzuhalten versuchte.
Deutschland und mit ihm das christliche Abendland verdankte seine Rettung dem
unerwarteten Tode des
Doch fand ich leider noch kein gutes. Drum leg' ich hoffnungsvollen Mutes
dies andre Bild zu Füßen Dir.
Ist der verkörperte Rivale. Doch uns, die wir dem Geiste leben, kann dieser Anblick nur beglücken. Wir sehn verklärt und voll Entzücken Der Liebe buntes Farbenweben! Den Jüngling mit der roten Haube und dem verflixten Augenschimmer Wir hängen ihn als Gast ins Zimmer Und als Experten, wie ich glaube."
Heisenberg selbst hatte schon auf wesentliche Fehler in seiner „Weltformel"
hingewiesen, die ja noch vom grundlegenden Symmetrieprinzip ausgegangen war.
Vielleicht hat er auch schon an die Notwendigkeit gedacht, den Begriff des
nisters der Luftfahrt ( G ö r i n g ) mit Wirkung vom 19. März 1942 Ihnen das
Eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen ..." - noch einige psychologische
Randbemerkungen: Erste Reaktion: Freude! Es wäre Heuchelei, leugnen zu wollen,
daß ich mich über die metallene Konzession an die männliche Eitelkeit nicht
gefreut hätte. Antonia allerdings hält nicht viel von einer solchen Bekundung
spezifisch männlichen Imponiergehabes. Zweite Reaktion: Beschämung! Denn es war
kein besonderes Heldentum, das mir - durch Zufall als vertretendem Truppenarzt
eines Luftwaffenstabes Gelegenheit gab, während eines schon abflauenden
Bombenangriffs der russischen Luftwaffe auf den Flugplatz BialaCerkew bei Kiew
die wenigen Verwundeten ärztlich zu versorgen. Dritte Reaktion: Genugtuung! Ich
sah in dem Kreuzchen - von S c h i n k e I entworfen, 1813 von König Friedrich
Wilhelm dem Dritten als Kriegsorden gestiftet und 1941 von dem Freiburger
Philosophen und Heidegger-Schüler Bruno B a u c h kunsthistorisch analysiert -
eine äußere Anerkennung meines Bemühens, im russischen Winter, nicht ohne innere
Opfer, meine ärztlichen Pflichten erfüllt zu haben. Major B I u m , ein aus
Hamburg stammender, regimekritischer Reserveoffizier, der mich für die
Verleihung vorgeschlagen hatte, legte als mein wohlgesonnener „Patenonkel" Wert
darauf, mir das Kreuz persönlich in feierlicher Form anzuheften. Es bedeutete
mir auch insofern eine kleine, etwas naive Genugtuung dafür, daß ich mich nicht
mehr der geringschätzigen Miene eines Rittmeisters auszusetzen brauchte, der
während einer Bahnfahrt meine Personalien - ich weiß nicht mehr, aus welchen
Gründen - feststellte und vermerken mußte, daß ich noch undekoriert war. Ich
konnte nun auch vor einer Äußerung Werner Wagners bestehen: „Na ja, mein Lieber,
wenn man schon in Rußland gewesen ist, muß man auch wenigsten das EK nach Hause
bringen!" - Wertmaßstäbe, die heute nur noch aus der Psychologie des Krieges
verständlich - und entschuldbar erscheinen!
Mich haben die gesund gebliebenen Anteile einer seelisch krank gewordenen
Persönlichkeit im Grunde immer mehr interessiert als das Krankhafte selbst, und
dieses Interesse hat auch mein Bemühen bestimmt, selbst mit Schwerkranken nach
Möglichkeit so umzugehen, als ob sie gesund seien. Kurt S c h n e i d e r , der
„Altmeister" der klinischen Psychopathologie, hat mir in einem persönlichen
Gespräch in seiner Heidelberger Wohnung gestanden, er habe das
»Extrapsychotische" im Psychotischen eigentlich erst nach seiner Emeritierung
entdeckt!
Aus meinem Tagebuch 1945 - 46
Viele Einzelerlebnisse aus der letzten Kriegs- und der ersten Nachkriegszeit
haben sich in meinem Tagebuch 1945-46 niedergeschlagen. Einige Auszüge: Leipzig,
14. Februar 1945: Gestern nacht von Hochweitzschen aus riesigen Feuerschein über
Dresden gesehen! Die ganze Stadt scheint zu brennen. Wieviel Menschen mögen
verbrannt sein? (Nachtrag 1992: Das einst weltbekannte Stadtbild wurde in der
Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 durch britische und amerikanische
Bomberverbände vollständig vernichtet. Die Zerstörung (über 12000 Gebäude mit
80000 Wohnungen, Trümmerfeld auf 3 km Länge nach Osten hin) übertraf alles, was
sonst deutsche Städte im z. Weltkrieg erlitten. Die Zahl der Opfer in der mit
oberschlesischen Flüchtlingen überschwemmten Stadt wird bis auf 300 000
geschätzt. Am B. Mai 1945 wurde D. von der Sowjetarmee besetzt.)
ihm ... dieses Vertrauen kommt von Minne (Liebe). Denn Minne hat nicht allein
Vertrauen, sondern auch ein wahres Wissen und eine unzweifelhafte Sicherheit!"
Im Gefängnis
4. Mai 1945: Visite bei meinen Patienten in Dösen. Hier soll eine sehr
unangenehme amerikanische Kommission tätig sein. Werner H a u ß als neuer
Direktor des Krankenhauses ist als "Nazi" beschimpft worden.
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