KREISGEMEINSCHAFT BRAUNSBERG (OSTPREUSSEN) e.V.

 

Hans-Werner Janz

 

AUS MEINEM LEBEN UND ERLEBEN

 

Professor Dr. med. Hans-Werner Janz (1906 - 2003) war zuletzt ärztlicher Direktor am Klinikum Wahrendorff in Ilten bei Hannover. Seine Frau Antonia lebt in der Nähe von Hannover.

 

Wir schätzen uns glücklich, daß wir die Möglichkeit haben, seine Aufzeichnungen auf unserer Braunsbergseite den interessierten Landsleuten und Freunden zugänglich zu machen. Auf diese Weise wird der Verstorbene noch lange unter uns sein!

 

In den folgenden "Kapiteln" berichtet er zunächst vom "Anfang", dann über seine Zeit als Gymnasiast in Braunsberg 1917 – 1924, und schließlich über sein Studium u. a. in Königsberg.

 

Teil 2: Von Leipzig bis nach Hannover

 

Fortsetzung von Teil 1: Von Masuren bis nach Leipzig


"Aus dem Staatsdienst entlassen"

 

5. November 1945: Ich bin mit Wirkung vom 31.10.45 aus dem Staatsdienst entlassen! (Schreiben der Landesverwaltung Sachsen an „Herrn Hans-Werner J a n z °!) Mit mir haben 60 Professoren und Dozenten der Universität Leipzig ein Schreiben gleichen Inhalts erhalten! Am 30. Oktober sollte die Universität feierlich neu eröffnet werden! Einladungskarten waren bereits verschickt worden. Feier auf unbestimmte Zeit verschoben.
Wohin soll dieser Wahnsinn führen? Zur Ausrottung der bürgerlichen Intelligenz? Aber wir sollten nicht vergessen, daß nach 1933 ein großer Teil der jüdischen Intelligenz ausgemerzt worden ist! Gleiches mit Gleichem vergolten? Fluch der bösen Tat?
Es heißt, politische „Rehabilitierung" sei nur über den Eintritt in eine der jetzt zugelassenen Parteien möglich! Schwere Skrupel!
Führende Mitglieder der liberal-demokratischen Partei sind verhaftet worden! Also auch Anpassung an eine neue demokratische Partei kein Schutz vor

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politischer Verfolgung!
10. November 1945: Weitere Fakultätssitzungen: Der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. H u e c k (Ordinarius für Pathologie) teilt mit, der Versuch, die entlassenen Dozenten zu halten, sei mißglückt! Die endgültige Entscheidung liege bei der russischen Militär-Administration. Also abwarten und kämpfen!
Erich K r a u s e bei uns. Trostreiche Tage. Viel Musik und Dichtung: Mozart, Bach, Mörike, Eichendorff, Hebbel. Romantiker-Novellen. E.T.A. Hoff m a n n : „Der Goldene Topf. Erich auch stellungslos.
Schreiben des Rektors (Prof. Schweitzer ) an mich: „Auf Grund eines Einvernehmens zwischen Universität, Landesverwaltung und Stadt können Sie Ihren Dienst bis auf weiteres fortsetzen!"
Zweite Mitteilung des Rektors: Ich gehöre zu dem Kreis derer, auf deren wissenschaftliche Weiterarbeit die Universität im öffentlichen Interesse Wert legt. Das sind freundliche Trostpflaster ohne praktische Bedeutung.
Fast allen Klinik-Direktoren ist gekündigt worden. Auch Wagner !
Abends bei Prof. W e I I e r und seiner Frau. Liebenswerte, kluge Menschen. Seine Depression im Abklingen. Gute Gespräche.
15. November 1945: Täglich kommen Menschen zu uns, die Trost brauchen. Dabei brauchten wir selber Trost!
Genußreicher „Mulina"-Sonntag bei C a r r i ä r e s in Dösen! Alexander Meyer von Bremen , blutjunger Pianist und Komponist, Mutter Russin aus Odessa, er spielt großartig Bach, Chopin, Skriabin, Rachmaninoff, Liszt. Antonia als kalorienspendender Mäzen des kleinen „Mozartoids".
Wie beschafft Antonia das, was wir zum Leben brauchen? (Ich habe bereits leichte Hungerödeme). Sie fährt mit der Bahn auf das Land, geht zu den Bauern und tauscht Schmuckstücke, Bettwäsche und anderes gegen Mehl, Kartoffeln, Speck ein! Demütigend, als Bettlerin zu den Bauern gehen zu müssen. Gefährlich auch, weil die Polizei am Bahnhof kontrolliert, ob Lebensmittel, die nicht legal auf Marken erworben sind, nach Leipzig geschmuggelt werden. Bisher ist sie immer noch durchgekommen!
Ein ganz junger Assistent, wir nennen ihn den „Kleinen Schmidt", Idealkommunist, soll Nachfolger Prof. B ü rg e rs werden! Die Zeit ist reich an Grotesken. S c h m i d t chen war anständig und vernünftig genug, abzulehnen. Bürger hat sich beklagt, daß „sein Chef S c h m i d t " ihm nicht zum 60.

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Geburtstag gratuliert habe. Früher sei es üblich gewesen, daß der Chef den Geburtstag eines langjährigen Assistenten nicht vergaß!!
Weitere Groteske: Die Oberammergauer Festspiele sollen nach einer Entnazifizierung (Bereicherung des Deutschen Wörterbuches!) der Darsteller wieder eröffnet werden. Leider mußte der Christus ( L a n g ) entlassen werden, weil er Parteigenosse und noch nicht denazifiziert war! Auch die Maria war als ehemaliges Mitglied der NS-Frauenschaft nicht tragbar. Der einzige Nicht-Parteigenosse und „Antifaschist" war ausgerechnet der Judas! Er darf bleiben!
16. November 1945: B a c h -Motette in der Thomaskirche: „Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig ist der Menschen Leben. Wie ein Nebel, so entstehet, und auch wiederum vergehet - so ist unser Leben!" Sehet!"
60 Mitglieder des Gewandhaus-Orchesters werden als frühere „Pgs" entlassen, auch der Dirigent A b e n d r o t h selbst! Will man auch diesen wunderbaren Klangkörper zerstören? Vielleicht darf A b e n d r o t h wenigstens das Schlagzeug bedienen?
25. November 1945: Totensonntag! Düsterer Tag! Gedenken an Mamchen und Julchen! Schuldgefühl!
30. November 1945: Inzwischen habe ich mit dem Rektor und dem Dekan gesprochen. Beide tun ihr Möglichstes. Aber die Möglichkeiten sind minimal. Die Amerikaner betreiben die „Denazifizierung" übrigens ähnlich rigoros wie die Russen!
Ein Zimmer unserer Wohnung ist beschlagnahmt, das Telefon abmontiert worden! Nach hartem Kampf wird es wieder angebracht. Der Städtische Amtsarzt Dr. G e ! b k e (Kommunist) will mich unterstützen. Herr B o g u s z ew sk i , ehemaliger dankbarer Patient, alter Sozialdemokrat, bemüht sich rührend um Hilfsbereitschaft über seine Partei! W a g n e r ist in die Christliche Union eingetreten (als Nicht-Christ!). Scharfer Disput mit ihm. Arroganz statt Freundschaft!
Rücktransport der Klinik-Bibliothek von Schloß Königsfeld der Grafen M ü n s t e r nach unendlichen Schwierigkeiten gelungen. Im Schloß sehe ich einen schönen großen Biedermeier-Tisch stehen, den russische Soldaten gerade zu Brennholz zerhacken wollen. Ich frage den aufsichtsführenden Offizier, ob ich den Tisch nicht mitnehmen dürfe. Er erlaubte es für 20,- Mark! Zugleich wurden Exponate des Musikhistorischen Institutes der Universität Leipzig, die in

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das Schloß ausgelagert waren, als „Beiladung" mitgegeben. Gespräch mit den Transporteuren: Keine Kommunisten!
1. Dezember 1945: Erneuter heftiger Disput mit W a g n e r wegen der Privatpatienten. Fühlt sich von mir „an die Wand gedrückt", weil die Patienten - angeblich - nur von mir behandelt werden wollen. Klärende und versöhnliche Aussprache.
Schwere Sorgen: Informationsblatt : Wohnungen und Möbel aller ehemaligen Pgs können beschlagnahmt werden! Man rüttelt an den Würzelchen unserer Existenz. Nach allen Seiten muß man sich wehren, aber das festigt den Willen!
Nachfolger von Wagner als kommissarischer Klinikchef wird der junge Volontär W i e c k , weil er politisch unbelastet ist. Am nächsten Tag bereits wurde Professor Q u e n s e I , Neurologe und Psychiater in Schkeuditz, an seine Stelle gesetzt, wird aber nur einmal in der Woche kommen, um Unterschriften zu leisten. Sympathischer alter Herr.
2. Dezember 1945: Ehepaar W e I I e r bei uns. Mozarts-D-moll-Klavierkonzert gegen Sorgen!
5. Dezember 1945: Erneute Registrierung der ehemaligen Offiziere und Sanitäts-Offiziere durch die russische Kommandantur. Auch Wagner , Dietrich (Assistent), S t e n d e r (Neurochirurg) registriert. Ich noch nicht. Einige dürfen Leipzig nicht verlassen. Zunehmende Spannungen zwischen Rußland und England! Scharfer Notenwechsel zwischen Marschall S h u k o w und General M o n t g o m e ry wegen der Truppenansammlungen in der englischen Zone und der Uniformierungen deutscher Soldaten durch die Engländer!
Devise: Ruhig bleiben! Kühlen Kopf behalten!
Heute Alexanders Geburtstag: Er spielt H ä n d e ! und S k r j a b i n , den seine russische Mutter, selbst Pianistin, besonders liebt.
8. Dezember 1945: Tolle Szenen in der Klinik seit der Entlassung W a g n e r s . Als Bewerber für den Posten des gekündigten Oberinspektors S t r e I I e r (der mich damals fast denunziert hätte, als ich das Mißlingen des Attentats auf H i t I e r bedauerte!) meldet sich ein Mann bei dem immer noch amtierenden W a g n e r mit sehr lückenhaften Zeugnissen und unzureichender Vorbildung. Nachdem W. ihm erklärt hat, daß er für den Posten kaum geeignet sei, geht er wütend in den Flur, kommt zurück, verlangt einen Brief des Rentamtes an

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Q u e n s e I und fuchtelt, mit der Faust drohend, vor Wag n e r s Gesicht herum, schlägt schließlich mit der Hand auf den Tisch und brüllt: „Sie sind entlassen! Sie haben mir gar nichts zu sagen!"
Inzwischen hat der neue Betriebsobmann von sich aus Pfleger eingestellt, ohne Prof. Q u e n s e I zu fragen. W. hat ihm dann schriftliche Vollmacht erteilt, Personal einzustellen und zu entlassen, so daß der Obmann, der selbst Pfleger ist, praktisch Personalchef der Klinik geworden ist! Auf Bitten W a g n e r s hat Q u e n s e I dann seine Vollmacht im Einvernehmen mit dem Betriebsrat wieder zurückgenommen. Der Betriebsobmann (kommunistischer Funktionär) brütet Rache, verlangt, bei Einstellungen von Ärzten gefragt zu werden und fordert, daß alle ehemaligen Pgs am 15. Dezember endgültig aus dem Dienst ausscheiden!
Übrigens hat sich herausgestellt, daß der von W a g n e r abgewiesene Bewerber um die Inspektorstelle vorbestraft ist (aber nicht aus politischen Gründen!).
11. Dezember 1945: Viel Korrespondenz erledigt. Lektüre: Leibniz: „Schriften zur Metaphysik". T i e c k : „Der blonde Ekbert!°, „Die schöne Magellone". K I e i s t : „Marionettentheater" und kleine Prosaschriften. M a rm o n t e I : "Moralische Geschichten".
Zunehmender Gewinn aus der L e i b n i z schen Philosophie, auch für das Kausalitätsproblem und die Leib-Seele-Frage. Erstaunliche Universalität ! Ablenkung von den Sorgen!
13. Dezember 1945: Vorahnung neuer Belastungen. Einspruch gegen die Entlassung mit 10 Leumundszeugnissen, sogenannten „Persilscheinen°, an den Rektor zur Weiterleitung an die Landesverwaltung eingereicht!
Alle bisherigen „Rehabilitationen" gelten als hinfällig. Neue dürfen nur beantragt werden, wenn „antifaschistische Handlungen unter Einsatz des Lebens" nachzuweisen sind! Mein Leben habe ich nicht eingesetzt, aber einiges riskiert, Verhaftung, KZ usw., durch mein Eintreten für jüdische, polnische, tschechische Patienten!
Grauer Tag., Sturm. Regen. Glatteis. (Alles von symbolischer Bedeutung!)
1946: Keine Tagebucheintragungen. W a g n e r endgültig in den Westen. Ich beneide ihn ein wenig, soweit ich überhaupt jemand zu beneiden vermag. Seit seinem Weggang bleibt an mir die Leitung der Klinik hängen. Trotz der Entlas

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sung wird mir von der Landesverwaltung von Monat zu Monat erlaubt, meinen Dienst auszuüben. Nur meine Lehrtätigkeit darf ich nicht wahrnehmen. Als kommissarischer Leiter der Klinik wird Prof. Dr. Dr. Richard Arved P f e i f f e r von der Landesverwaltung bestimmt. Pf. war ursprünglich Volksschullehrer, hat dann Medizin studiert und später hirnanatomisch gearbeitet. Sein großes wissenschaftliches Verdienst ist die Entdeckung der Angioarchitektonik des Gehirns. Aber ihm fehlt jede klinische Erfahrung. In seiner kleinen Nervenpraxis versucht er sie zu ersetzen durch eine Standardmethode mit intravenösen Calciuminjektionen, die bei dem Patienten ein von ihm suggestiv genutztes Wärmegefühl hervorrufen. Er stammt aus dem Vogtland, ist ein etwas kauziger Mann mit buschigem Schnauzbart und künstlerischer Mähne und wird von uns „Der Waldschrat" genannt. Mir gegenüber verhielt er sich zunächst loyal, lobte vor den Assistenten meine Tüchtigkeit und Pünktlichkeit (!) („Der Erste am Morgen, der Letzte am Abend"), geriet später aber unter den unheilvollen Einfluß seiner wesentlich jüngeren - er war Anfang 70 Freundin Frau Dr. B e n d r a t , einer niedergelassenen Nervenärztin, die auf sein Betreiben als eine Art Oberärztin an unsere Klinik beordert wurde. Sie verdankte diese Anstellung weniger einer wissenschaftlichen Qualifikation - sie hatte nichts veröffentlicht als politischer Opportunität: Im Dritten Reich war sie noch „brauner als braun" gewesen, im Vierten wurde sie rasch „märxer als Mark`. Ich ahnte zwar Ungutes für mich, konnte jedoch nicht voraussehen, daß sie im folgenden Jahre sich als „Teil von jener Kraft" erweisen würde, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Sie hat jedenfalls meinen naiven Glauben an das „Ewig-Weibliche, das uns hinanzieht", nicht gerade zu festigen vermocht!
Das Jahr 1947 begann mit der Beschlagnahme unserer Wohnung am z. Januar. Am selben Tage erhob ich schriftlichen Einspruch beim „Wohnungsamt, Abteilung Russenzentrale" in Leipzig aus drei Gründen: 1) Als vom Stadt-Gesundheitsamt eingesetzter „Sprengelarzt für die Seuchenbekämpfung" könne ich die von der Sowjetischen Militär-Administration als besonders vordringlich bezeichneten Aufgaben eines Sprengelarztes nur erfüllen, wenn ich die Möglichkeit habe, die hierfür erforderlichen Impfungen, Untersuchungen, schriftlichen Arbeiten usw. in meiner Arztwohnung auszuführen. 2) Ich sei von der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der Sowjetischen Besatzungszone, Abteilung Körperversehrte und Psychiatrie in Berlin im Einver

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nehmen mit der Sowjetischen Militär-Administration in Berlin-Karlshorst mit wissenschaftlichen Sonderaufgaben betraut worden, zu deren Wahrnehmung ich die umfangreiche Fachbibliothek in meiner Wohnung und eine ungestörte Arbeitsmöglichkeit benötige. 3) In einem beigefügten Schreiben des Rektors der Universität Leipzig werde gebeten, von der Beschlagnahme meiner Wohnung auch im Interesse der Universität, insbesondere der Universitäts-Nervenklinik abzusehen, da ich die laufenden medizinischwissenschaftlichen Arbeiten für die Klinik ebenfalls nur unter Benutzung meiner persönlichen Fachbücherei und unter ungestörten Arbeitsbedingungen in meiner Wohnung ausführen könne.
Schließlich habe ich darauf hingewiesen, daß ein „mit zahlreichen eidesstattlichen Bekundungen meiner antifaschistischen Betätigung begründetes politisches Rehabilitierungsgesuch befürwortend an den Sonderausschuß zur Wiederherstellung des politischen Ansehens" weitergeleitet worden sei. (Schreiben der SED Leipzig C.1, Karl-Marxplatz 7 vom 16.5.1946, Aktenzeichen Z.Wo/Do). Dieser letztgenannte Passus ist dadurch erklärt, daß mein dankbarer Patient B o g u s z e w s k i meinen Eintritt in die SPD beantragt hatte, die dann - gegen seinen und meinen Willen - mit der KPD zur SED verschmolzen wurde! Da er mit der zunehmenden Erdrückung der SPD durch die KPD nicht einverstanden war, ist er später auch in den Westen gegangen.
Zu Punkt 1) der Begründung meines Einspruches gegen die Beschlagnahme der Wohnung: Die „Seuchenbekämpfung" war natürlich ein Scheinargument. Aber die Russen hatten eine panische Angst vor Seuchen, und ein Schild „Vorsicht! Typhusgefahr!" schützte vor dem Eindringen der Soldaten in ein Wohnhaus. Zu 2): Mitglied der Abteilung Körperversehrte und Psychiatrie in der Berliner Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen war ich durch Empfehlung meines Freundes Dr. Wladimir L i n d e n b e r g geworden. Bei einer Sitzung dieses „Psychiater-Beirates", die in Gegenwart eines höheren russischen Offiziers, nach meiner Erinnerung eines Obersten K a r p o w , stattfand, bin ich außer den damals sehr bekannten Psychotherapeuten Schul tz-H e n c k e und K e m p e r auch dem Nestor der deutschen Psychiatrie, dem seit 1938 emeritierten Ordinarius und Direktor der Nervenklinik der Charité, Geheimrat Karl B o n h o e f f e r , begegnet. Zu seinem 75. Geburtstag war B. vom „Führer und Reichskanzler Adolf Hitler "die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen worden. Eine Woche danach wurden sein Sohn

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Dietrich und sein Schwiegersohn Hans von D o h n a n y i verhaftet, beide kurz vor dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches" in den Konzentrationslagern Flossenbürg bzw. Sachsenhausen ermordet, B o n h o e f f e r auf persönlichen Befehl H i t I e r s ! Sein Bruder Klaus und sein Schwager Rüdiger S c h I e i c h e r kamen in der Nacht vom 22. Zum 23. April 1945 bei einem Anschlag der SS auf prominente politische Häftlinge im Berliner Gefängnis in der Lehrter Straße ums Leben. Vater B o n h o e f f e r wußte natürlich, daß seine Söhne der Widerstandsbewegung angehörten, und es besteht kein Zweifel, daß er ihre Auffassungen geteilt hat, ohne sich aktiv als Widerstandskämpfer zu betätigen. Wie hätte er die Verleihung der Goethe-Medaille im Jahre 1943 zurückweisen können, ohne seine oppositionell eingestellten engsten Familienangehörigen zusätzlich zu gefährden?


Der "Fall Bonhoeffer" und die deutsche Psychiatrie


Ich erwähne dies, weil das Persönlichkeitsbild und die ärztliche Haltung Karl B o n h o e f f e r s lange nach seinem Tode in unverantwortlicher Weise verfälscht und diffamiert worden sind: Anläßlich einer Ausstellung zur Geschichte der „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" in Berlin-Wittenau, die 1988 unter dem Titel „Totgeschwiegen 1933 - 1945" stattfand, hat Frau Ursula G re I I in einer Broschüre - Edition Hentrich Berlin - ausgeführt, daß Karl B o n h o e f f e r , dessen wissenschaftliche und menschliche Integrität als unanfechtbar galt, schon als junger Wissenschaftler die geistige und körperliche Minderwertigkeit einzelner Menschen oder ganzer Menschengruppen nachgewiesen und damit das Argumentationsfeld für die nationalsozialistischen Maßnahmen vorbereitet habe: das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses („Sterilisationsgesetz") bis zu den Massenverbrechen der so genannten „Euthanasie"!
Damit erweckt sie den Eindruck, Karl B o n h o e f f e r habe mit seiner Gesinnung den Nazis nahe gestanden und „das Menschenbild der Schöpfer dieses Gesetzes" - des Sterilisationsgesetzes - geteilt. Nach einem von Frau Sibylle Wirsing verfaßten Bericht über die Ausstellung unter dem Titel „Die Abschaffung des leidenden Menschen" (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. September 1988) gewinnt der Leser den Eindruck, die Verbindung Bon

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h o e f f e r - Wittenau bedeute, daß „aus der Geschichte des Vaters von Widerstandskämpfern die Geschichte eines Vaters der antisemitischen Rassenideologien" hervorgehe. Mit anderen Worten: B o n h o e f f e r sei mitverantwortlich für die Tötungsmaschinerie gewesen, an der auch die Wittenauer Heilstätten beteiligt waren. Tatsache ist, daß B. vor 1945 nichts mit diesen zu tun hatte. Er war als Direktor der Universitäts-Nervenklinik der Charité und Ordinarius für Psychiatrie bereits 1938 emeritiert worden und ist erst in den letzten drei Jahren seines Lebens, nach dem Kriege, von 1945 bis 48, nicht als „Dirigierender Arzt", sondern beratend an wöchentlich zwei bis drei Vormittagen in Wittenau tätig gewesen. 1957 hat die Stadt Berlin zur Würdigung seiner herausragenden Verdienste um die Psychiatrie die Wittenauer-Heilstätten in "Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" umbenannt.
Karl B o n h o e f f e r hat mit der Euthanasie nichts und mit der Sterilisation nur insoweit etwas zu tun, als er, wie ausländische, schweizerische, amerikanische und andere Fachkreise lange vor dem Nationalsozialismus auch, die Möglichkeit einer Sterilisation in bestimmten Fällen für diskutabel hielt, aber eine Zwangssterilisation grundsätzlich ablehnte. Er hat keinen seiner Patienten nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses dem Amtsarzt gemeldet und in seinen Lebenserinnerungen geschrieben, daß es ihm „geboten schien, die Stelle des sachverständigen Psychiaters beim Erbgesundheitsobergericht zu übernehmen, um Einfluß auf die Begutachtung der Gerichte zu bekommen". An eine Rücknahme des Zwangsgesetzes sei bei der Mentalität das Nationalsozialismus nicht zu denken gewesen. „So blieb nur die Möglichkeit übrig, zu hemmen und durch Publikation und psychiatrische Lehrgänge auf die besonderen diagnostischen Schwierigkeiten im Erbgesundheitsverfahren hinzuweisen." „Daß die Tätigkeit der Berliner Klinik auf dem Gebiet der erbbiologischpsychiatrischen Lehrgänge und der entsprechenden Publikationen im Braunen Haus in München unangenehm empfunden wurde, ergab sich daraus, daß die (von ihm eingeführten) Kurse nach zweijährigem Bestehen vom Innenministerium nicht mehr gestattet wurden." (!) Frau Wirsing und Frau Grell scheinen diese Tatsachenfeststellungen in B o n h o e f f e r s Lebenserinnerungen nicht zur Kenntnis genommen zu haben, sonst hätten sie sie in ihren Ausführungen erwähnt! Aber das paßte nicht in ihr „Entlarvungs"-Konzept!

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Als ich Geheimrat B o n h o e f f e r 1946 in dem Psychiater - Beirat der (Ost-) Berliner Zentralverwaltung persönlich kennenlernte - er war damals 79 Jahre alt - , gewann ich den Eindruck eines in seiner Bescheidenheit und in der sorgfältig abwägenden Klarheit seiner Diskussionsäußerungen ungemein sympathischen Gelehrten und Klinikers. Damit und aus meiner Kenntnis seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen -sein Hauptwerk handelte von den „akuten exogenen Reaktionstypen" oder „symptomatischen Psychosen", die er als Erster herausgearbeitet und subtil beschrieben hatte - bestätigte sich für mich das, was sein Schüler Prof. Jürg Z u t t in einem Nekrolog 1948, Heidegger zitierend, von ihm gesagt hat „Nötig ist in der heutigen Weltnot die Strenge der Besinnung, die Sorgsamkeit des Sagen's und die Sparsamkeit des Wortes". An ihm wurde deutlich, sagt Z u t t weiter, „wie fern die Person B o n h o e f f e r s den Gefahren zeitbedingten Verfalls war und wie nahe den Quellen echter Kultur". Das schwere Leid, das er mit der Ermordung seiner beiden Söhne und der anderen Familienmitglieder zu tragen hatte, war dem verehrungswürdigen Mann nicht anzumerken. Er arbeitete damals an einem Aufsatz über „Vergleichende psychopathologische Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen" (Nervenarzt 18, 1-4 (1947), ein Thema, mit dem ich zur gleichen Zeit auch beschäftigt war. In seinem Nachlaß fand sich ein bisher unveröffentlichter Beitrag über „Führerpersönlichkeit und Massenwahn", der nach Kriegsende 1946 entstanden und in einer von J. Z u tt , E . S t ra u s und H. S c h e I I e r herausgegebenen Schrift zu Karl B o n h o e f f e r s Hundertstem Geburtstag am 31. März 1968 (Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1969) zum erstenmal publiziert worden ist. B. schickt voraus, daß für den Psychiater im allgemeinen der Grundsatz gelte, sich über den Geisteszustand eines lebenden Menschen nur dann verantwortlich zu äußern, wenn man ihn selbst untersucht oder zumindest gesprochen hat. Bei der Fülle von Gerüchtbildungen um die Person H i t I e r s sei doppelte Vorsicht bei der Urteilsbildung geboten . ... Eine sichere Diagnose sei nicht bloß vom psychiatrischen Gesichtspunkte aus von Interesse, es sei auch für die Beurteilung seiner großen Gefolgschaft im deutschen Volke nicht gleichgültig, ob sie sich von einem schweren Psychopathen oder von einem wirklich Geisteskranken durch zwölf Jahre habe führen lassen. Mit aller Vorsicht beschränkt B. sich auf die Feststellung einer durch die menschenverachtenden Handlungen H i t I e r s bewiesene Gefühlsroheit, die „auf das engste verbun

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den war mit einem Defekt des Gefühls für Recht und Vertragstreue, mit einem offenbaren Mangel an Selbstkritik, an staatsmännischer Mäßigung und klarem Überblick über die internationalen Machtverhältnisse und die Bedeutung ethischer Werte". „Auf der anderen Seite zeigte er eine ungewöhnliche Befähigung, sich den primitiven Masseninstinkten anzupassen und diese mit rhetorischem Geschick und mit moralischer Phraseologie sich dienstbar zu machen ...." „Die Entscheidung, ob man es mit einem ethisch Defekten, fanatischen und pseudologischen Psychopathen oder mit einem aus dem Umkreis des Schizophrenen kommenden, wirklich wahnkranken Paranoiden zu tun hat, muß bis zur Aufdeckung weiteren Materials offen bleiben." - Nun - ich denke, und ich habe es oben zu begründen versucht, daß H i t I e r kein wahnkranker Schizophrener gewesen ist.
Zum Schluß weist Karl B o n h o e f f e r noch auf die Bedeutung der Massensuggestion hin, die Hitler „unter Ausnutzung aller modernen Mittel zur Massenwirkung und Nivellierung des geistigen Niveaus in Radio, Kino und Lautsprecher ausgeübt hat ..." Es mag einem durch jahrelange Notzeit geschwächten Volke als Milderung der Schuld angerechnet werden, wenn es durch diese von allen Seiten und alltäglich einstürmende Propaganda mehr und mehr dem Massenwahn verfällt."


Dietrich B o n h o e f f e r

In Karl B o n h o e f f e r s Lebenserinnerungen heißt es: „Dem Sieg des Nationalsozialismus im Jahre 1933 und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler betrachteten wir von vornherein und zwar einheitlich in allen Gliedern der Familie als ein Unglück ..." „... Der zunehmende nationalsozialistische Druck wirkte sich natürlich auch in der Familie aus, vor allem waren die Zwillinge Dietrich und Sabine unsere Sorgenkinder, und zwar in zunehmenden Maße. Für Dietrich ergab sich im Kampf gegen ,Deutsche Christen' und den ,Reichsbischof ( M ü I I e r ) die Alternative: Bekenntniskirche oder Dozentur. Die Wahl war für ihn nicht zweifelhaft; er legte die Dozentur nieder..."
Ich habe Dietrich B. selbst nicht kennengelernt, aber mich seit langem mit ihm und seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus alleine aus zwei persönlichen Gründen beschäftigt: Bei seinen Besuchen in Pommern und Ostpreußen

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- sie führten zu Aufenthaltsmeldepflicht, Rede- und Schreibverbot wegen der Gefahr „volkszersetzender Tätigkeit" - war er mit anderen Pfarrern der Bekennenden Kirche auch Gast der evangelisch strenggläubigen Mutter Antonias, unserer lieben „Omi", in Skaisgirren. Der andere Grund: Dietrich B. war eng befreundet mit meinem Schulkameraden und Banknachbarn im Braunsberger Gymnasium Hosianum Franz H i I d e b r a n d t , der als Kirchenpräsident und enger Mitarbeiter Dietrichs in der ehemaligen DDR zu den herausragenden Widerstandskämpfern der Bekennenden Kirche
gehörte. Franz H i I d e b r a n d t , einer kinderreichen Pfarrersfamilie in der Diaspora  Braunsberg entstammend, wußte damals schon, daß er Pfarrer werden würde und lernte, neben mir sitzend, heimlich Hebräisch, was mir sehr imponierte - seine, wie er in einem Brief an die „lieben Schwestern und Brüder aus unserer heimatlichen Kirche" am 18. Februar 1986 schrieb, „immer noch liebste Sprache"!
Bei aller Bewunderung des theologischen Denkens und seelsorgerischen Wirkens Dietrich B o n h o e f f e r s habe ich mich seiner radikal christozentrischen Dogmatik nicht recht annähern können. Auch sein Begriff des „religionslosen Christentums" bereitet mir Schwierigkeiten. Denn „re-ligio" bedeutet Rückbindung an Gott, und das ist doch der Kern des christlichen Glaubens. B o n h o e f f e r hat gewußt, schreibt Otto D u d z u s in seinem Vorwort zum Bonhoeffer-Brevier (Chr. Kaiser Verlag München, 1963), „daß alles Reden von dem ,Letzten' (Rechtfertigung des Sünders, Glaube, Erlösung, Ewigkeit) unbarmherzig, unwirklich, illusionär sein muß, wenn nicht die ,vorletzten' Dinge unseres Lebens (Recht, Wahrheit, Freiheit, soziale Gerechtigkeit) bedacht und ernst genommen werden". Dem mag man, wenn auch vielleicht nicht in der Schärfe der Formulierung, zustimmen. Denn er meinte damit die verhängnisvolle Geringschätzung dieser ,vorletzten' Dinge innerhalb der protestantischen Kirchlichkeit und wurde so zu ihrem unbequemen Warner und Helfer!
Er war, wie D u d z u s sagt, „ein Mann mit ungewöhnlich wachem Sinn. Er witterte Gefahren, wo andere noch ganz ahnungslos waren ... und gab sich niemals mit nur überkommenen Antworten zufrieden". Er denkt scharf und spart nicht mit Kritik an seinen Glaubensbrüdern, im besonderen auch an den Predigern. Es hat mir gefallen, daß er zum Beispiel zu Markus 10,43 („Wer unter euch will groß werden, der soll euer Diener sein") geschrieben hat: „Der erste Dienst, den einer dem andren schuldet, besteht darin, daß er ihn anhört ... . Christen, beson

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ders Prediger, meinen so oft, sie müßten immer, wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind, etwas „,bieten'. Sie vergessen, daß Zuhören ein -größerer Dienst sein kann als Reden..."
Kompromißlos - konsequent ist sein Widerstand gegen H i t I e r und das Regime, an dem er sich aktiv durch die Unterstützung der Vorbereitungen seines Schwagers Hans v o n D o h n ä n y i und dessen Chef Oberst Oster zu einem Staatsstreich beteiligt hat, und zwar als Agent des Geheimdienstes bei Auslandsreisen. Den Wagemut und die Kraft, die damit verbundenen Gefahren für Leib und Leben auf sich zu nehmen, schöpfte er aus seinem unbeirrbaren Glauben an die Heilsbotschaft Christi. Für sie ist er in den Tod gegangen.
Selten hat mich ein Buch von der menschlichen Seite her so ergriffen wie die „Brautbriefe Zelle 92 - Dietrich B o n h o e f f e r - Maria von W e d e m e y e r 1943-45", die 1993 in zweiter Auflage von Marias Schwester Ruth-Alice v o n Bismarck und Ulrich K a b i t z herausgegeben und von Dietrichs Freund Eberhard Bethge mit einem Nachwort versehen worden sind. In einem Brief aus dem Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, in das ihn die Gestapo nach 1 '/Z-jähriger Haft in Zelle 92 des Tegeler Gefängnisses gebracht hatte, schreibt Dietrich an seine „liebste Maria" am 19. Dezember 1944, in den letzten Abenden seien ihm „ein paar Verse" eingefallen, die der Weihnachtsgruß für sie, die Eltern und Geschwister seien. Die vielzitierte letzte Strophe dieses Gedichtes hat dazu beitragen können, die depressive Not mancher meiner Patienten, denen ich sie vorlas, zu lindern: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiß an jedem neuen Tag."
Ob Gott auch bei Dietrich B o n h o e f f e r war, als er am frühen Morgen des 9. April 1945 an den Galgen gehängt wurde? Er hat es fest geglaubt. Payne B e s t , ein englischer Häftling des Konzentrationslagers Flossenbürg, hat dem Bischof von Chichester, George B e I I , mit dem Dietrich seit seiner Pfarramtszeit in London 1933 eng befreundet war, seine an ihn gerichteten Abschiedsworte übermittelt: "This is the end, for me the beginning of life."
Hitler hatte ihn hinrichten lassen, weil ihm kurz zuvor, am 5. April, berichtet worden war, die Tagebücher des Admirals C a n a r i s hätten sich zufällig gefunden. Sie lieferten die Beweise für die konspirativen Pläne der Gruppe

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um C a n a r i s , zu der auch Dietrich gehörte. Als H i t I e r zugleich die neuesten Fronteinbrüche gemeldet wurden, hatten in seinen Augen jene Verräter ihn in diese katastrophale Lage gebracht. „Dafür sollte mit ihnen kurzer Prozeß gemacht werden." (Aus Brautbriefe Zelle 92).

Zurück zu meinem Kampf gegen die Beschlagnahme unserer Leipziger Wohnung. Das dritte Argument erwies sich als das wirksamste: Erhaltung der Wohnung im Interesse der Universität zur Weiterführung wissenschaftlicher Arbeiten! Rektor war inzwischen Hans-Georg G a d a m e r geworden, Schüler H e i d e g g e r s . Er stellte mir eine schriftliche Bescheinigung aus, mit der die Notwendigkeit, in meiner Wohnung unter Benutzung meiner Fachbibliothek arbeiten zu können, so überzeugend begründet war, daß die „Russenzentrale des Wohnungsamtes" dem nichts entgegenzusetzen hatte. Vor deutscher Wissenschaft bekundeten die Russen ganz allgemein ebenso viel Respekt wie im besonderen vor der Medizin! Später kam ich G a d a m e r persönlich näher durch sein Doktorandin, die meine Patientin wurde, Frau Dr. Freia K r u s e . Sie selbst war auch Schülerin von Prof. Bruno B a u c h in Freiburg gewesen, aus dessen Privatbesitz ich mehrere philosophische Werke übernehmen konnte. Sie ist nach dem Kriege früh in Freiburg gestorben, nachdem sie uns in Ilten besucht und sich dabei, immer noch nationalsozialistisch, einem polnischen Arzt gegenüber unfreundlich geäußert hatte. Sie gehörte zu den wenigen philosophisch begabten Frauen, hatte die Fähigkeit, begrifflich scharf zu denken, von ihrem Vater, einem bedeutenden Hygieniker geerbt, der mit dem Japaner S h i g a als Entdecker des Ruhr-Bacillus in die Geschichte der Medizin eingegangen ist. Ihre - maskulin akzentuierte - wissenschaftliche Begabung kontrastierte mit femininen Zügen, die es ihr erschwerten, freundschaftliche Gefühle für Antonia aufzubringen. Sie war eine interessante, innerlich zerrissene Persönlichkeit, der ich eine erste Annäherung an das Denken H e i d e g g e r s zu verdanken habe. G a d a m e r erinnerte sich an das „arme, kranke Mädchen", als ich mit ihm bei einer Tagung der Hölderlin-Gesellschaft in Tübingen über sie und seine Hilfe bei meinem Kampf um die Wohnung sprach, für die ich ihm heute noch dankbar bin. G a d a m e r sprach damals 1982 - in freier Rede über die „Gegenwärtigkeit Hölderlins", nachdem Albrecht G o e s und Stephan H e r m I i n ihre Beiträge „Von Hölderlin getroffen" und „Hölderlin 1944" gele

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sen hatten, im Alten Lesesaal der Tübinger Universitäts-Bibliothek an der Wilhelmstraße eine Sternstunde europäischen Geistes!
G a d a m e r wurde 1947, kurz bevor er einem Ruf nach Frankfurt folgte und danach Nachfolger von J a s p e r s in Heidelberg wurde - er hatte das Rektorat gerade dem Staatsrechtler Erwin J a c o b i übergeben - abends in seiner Wohnung verhaftet und hat vier Tage in dem gleichen Gefängnis verbracht, in das man auch mich eingesperrt hatte. Er ist von mehreren höheren russischen Offizieren verhört und zuletzt einem Scheinverhör unterzogen worden, bis sich herausstellte, daß er das Opfer einer Denunziation geworden war! Der Vorsitzende des Verhörkomitees, ein General, erklärte schließlich, es habe sich um ein Versehen, einen „Übergriff der deutschen Polizei" gehandelt, der zu bedauern sei! In der Denunziation habe gestanden, daß G. sich "mehrmals unvorsichtig geäußert hätte". Nachdem ich selbst von der „Kollegin" denunziert wurde, habe ich G a d a m e r aufgesucht und um seinen Rat gebeten. Dieser Rat lautete: „Verlassen Sie Leipzig so schnell wie möglich. Die Frau ist gefährlich, und die Universität hat keine Möglichkeit, Sie zu schützen!" Ich habe seinen Rat befolgt. Dazu später.
Im Umgang mit den Russen lernte ich zwei ihrer Eigenschaften kennen: Das Mißtrauen und die Dankbarkeit. Zum Einen: Wenn sie merkten, daß man ihnen ängstlich und unsicher begegnete - was bei vielen Deutschen der Fall war - , wurden sie mißtrauisch. Ein „Polit-Offizier" sagte mir:; „Hat ein Deutscher Angst vor uns, wir wissen, er hat schlechtes Gewissen, und wir trauen ihm nicht!" Zum Anderen ein Beispiel aus meiner poliklinischen Praxis: Ein russischer Major erscheint zur neurologischen Untersuchung zusammen mit seinem „Burschen" (das gab es in der „klassenlosen" Gesellschaft genau so wie in der alten deutschen Armee!). Die Diagnose war ebenso einfach wie die Therapie: Ein tetanisches Syndrom (charakteristische Muskelkrämpfe „Pfötchenstellung" der Finger - durch Calciummangel bei Unterfunktion der Nebenschilddrüse). Ich injizierte dem Offizier eine Calciumlösung intravenös. Kurz vor Beendigung der Injektion sinkt er kollabierend zusammen. Zugleich wird sein Bursche ohnmächtig und kollabiert ebenfalls. So sah ich „zur Rechten und zur Linken je einen Russen niedersinken!" Ganz wohl war mir nicht dabei. Aber es war klar, daß der Doppel-Kollaps nicht durch die Injektion selbst und durch das Caicium hervorgerufen, sondern durch die psychische Wirkung der Einspritzung

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und deren Anblick ausgelöst wurde! Major und Bursche erholten sich entsprechend schnell und verließen fluchtartig die Ambulanz. Ich blieb zurück mit dem unbehaglichen Gefühl, einem peinlichen Verhör durch die Kommandantur entgegensehen zu müssen. Das geschah nicht. Statt dessen erschien der „Bursche" am nächsten Tage in meiner Poliklinik - ich untersuchte gerade eine Patientin - und legte wortlos ein dickes, in Zeitungspapier gewickeltes Paket auf den Schrank. Es enthielt ein großes Stück Speck, auf dem sich die Buchstaben der Zeitung abgedruckt hatten! Ich glaubte daraus schließen zu können, daß der Patient von seiner Tetanie befreit war und daß es sich herumgesprochen hatte, es gebe in der Universitätsklinik einen Arzt, der das Kunststück fertigbringt, mit einer Spritze zwei russische Vaterlandsverteidiger „umzulegen". Das hatte sie nicht etwa mißtrauisch, sondern dankbar gemacht und ihnen anscheinen sogar imponiert!
Im Januar 1947 fragte mich Theodor L i t t - er hatte sich 1937 auf eigenen Wunsch emeritieren lassen, nach dem Zusammenbruch des NS-Systems 1945 aber wieder sein Ordinariat für Philosophie und Pädagogik übernommen - , ob ich interessiert sei, an einer geistes- und naturwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft teilzunehmen. Ich war ihm durch die Behandlung seines Sohnes Rudolf, der im Kriege eine Nervenschußverletzung des Armes erlitten hatte, näher gekommen und hatte mir schon 1944 nach Gesprächen mit ihm sein Buch „Kant und Herder als Deuter der geistigen Welt" (1930 bei Quelle und Meyer, Leipzig) besorgt. Das Geschichtliche und das Philosophische - diese beiden Problemkreise, die mich mehr und mehr beschäftigten und bis heute nicht Ioslassen, sah ich durch L i t t s vertiefte, oftmals verschlungene, aber meisterhaft klare und sprachlich elegante Gedankenführung in den Gegensätzen zwischen Kants und H e r d e r s Denken dargestellt, eine schwierige, aber bereichernde Lektüre. Durch sie ist mir, wenn auch nur annähernd, deutlich geworden - ich habe es nicht geschafft, das ganze Buch zu lesen - , daß die Gegensätze zwischen dem „weltumspannenden Enthusiasmus" H e rd e rs und der „kritischen Selbstbescheidung" Kants sich in einem Punkte treffen: Im Begriff des „Menschen", bei H e r d e r als Idee der Humanität, bei K a n t im Begriff eines „vernünftigen Wesens überhaupt". Diesen fast banal erscheinenden Gedanken geistvoll, auch unter psychologischen Gesichtspunkten, begründet zu sehen, bedeutete bei aller Schwierigkeit der Lektüre hohen Genuß. Im Ge

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spräch mit L i t t und bei den Diskussionen in seinem Arbeitskreis - deren geistiger Mittelpunkt er war - fiel immer wieder seine bei Universitätsprofessoren nicht gerade häufig anzutreffende Begabung auf: Seine Fähigkeit, aus dem Stegreif auch kompliziertere Gedankengänge druckreif darzustellen. Als ich einmal mit ihm darüber sprach, sagte er: „Ja, die Gedanken liegen natürlich immer bereit und warten nur auf ihre Formulierung. Die kommt dann von selbst, ohne daß ich sie mir überlegen oder etwa mit ihr ringen muß. Ich nenne das meinen ,Sprechanismus'!"
Bei der ersten Zusammenkunft der Arbeitsgemeinschaft, an der ich teilnahm, sprach der Sinologe E r k e s über „Tao als persönliche Gottheit". Es war mir neu, daß der so schwer faßbare, ins Deutsche kaum übersetzbare Inhalt des Begriffes „Tao" („Weg", "Sinn") mit der Vorstellung des „Persönlichen" verbunden werden könnte. Das Überpersönliche, Unpersönliche schien mir gerade das Wesen von "Tao" zu sein. Leider erinnere ich mich nicht, wie E r k e s das von ihm gewählte Thema im einzelnen begründet hat. Er hatte lange in China gelebt und wirkte in einem langen mantelartigen Gewande, mit seinen verschränkten Armen und gemächlich - langsamen Bewegungen selbst wie ein alter Chinese. Er erwähnte die gegenseitige Toleranz in den Beziehungen der einzelnen Religionen und Weltanschauungen in China. Beim Begräbnis eines Chinesen könne es sein, daß hinter dem Sarge der Tao-Priester, ein Buddah-Mönch, ein Konfuzianer, vielleicht auch ein Christ einträchtig miteinander einhergehen.
Zu der Arbeitsgemeinschaft gehörten auch Dedo M ü I I e r (Praktische Theologie, Ethik), von Jan (Romanistik), Hermann B e e n k e n (Kunsthistoriker), Ludwig L e n d l e (Pharmakologe), J a c o b i (Staatsrechtler) und natürlich G a d a m e r mit seinem Schüler Volkmann-Schluck als Philosophen. Mit B e e n k e n verband Antonia und mich bald, mit Lendl e später ein freundschaftliches Verhältnis. Volkmann -Schluck zum Beispiel sprach über den Substanzbegriff aus philosophischer und naturwissenschaftlicher Sicht, und die nachfolgende Diskussion zeigte, wie wichtig und fruchtbar die Auseinandersetzung zwischen der geisteswissenschaftlichen mit der naturwissenschaftlichen Denkweise sein kann. L i t t s geschliffene Rhetorik war so bestechend, daß man versucht schien, Probleme für gelöst zu halten, bevor sie an ihrem Kern angefaßt waren. Diesen Kern sah L i t t in einer kla

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ren Absage an den Anspruch der Naturwissenschaft, aus ihren Erkenntnissen metaphysische Schlüsse zu ziehen. Ich versuchte, auf die notwendige Unterscheidung zwischen dem für die naturwissenschaftliche Forschung geltenden Begriff der „Richtigkeit" und dem der „Wahrheit" hinzuweisen, der den Bereich des Geistigen konstituiert, eine Unterscheidung, die ich G u a rd i n i s Schriften verdanke. Was hätte L i tt wohl zu der Überschreitung der durch die Atomphysik gewonnenen neuen Richtigkeiten in der Richtung auf die Frage nach philosophischer Wahrheit gesagt? So weit ging die Diskussion damals noch nicht. Aber sie war, wie alle folgenden höchst lebendig und anregend.
17. Januar 1947 :Ich spreche im Leipziger Kulturbund über „Psychisch-nervöse Störungen unter dem Einfluß des Zeitgeschehens", bin aber nicht ganz zufrieden mit mir, habe das Gefühl, keinen rechten Kontakt mit den zahlreichen, meist nicht-ärztlichen Hörern zu finden. Trotzdem war man interessiert und stellte anschließend viele Fragen. Reizvolles, wenn auch schwieriges Thema, fast zu aktuell, als daß es mit dem nötigen Abstand behandelt werden könnte.
Januar - Februar 1947 (Tagebuch-Auszüge): Neurologischen Teil des Neurochirurgischen Kapitels in dem von Prof. H e I I e r herausgegebenen Lehrbuch überarbeitet. Mühsam! Liegt mir nicht so recht. Konnte Heller aber nicht absagen. Sein Dank war knapp. An dem Erlös des Buches beteiligte er mich nicht.
Lektüre: Thomas von Aquin : Summa theologica. J a s p e r s :Die Schuldfrage (wichtig, klärend!): Der Begriff "Wahrheit" bestimmt das Grundthema der „Vorlesungsreihe über die geistige Situation in Deutschland", die J a sp e r s im Wintersemester 1945 - 46 in Heidelberg gehalten und in der er die Schuldfrage gesondert behandelt hat. „Jeder für sich wirke an seiner Stelle mit, daß Wahrheit offenbar werden." Für uns Deutsche bedeute das: Wir tragen die politische Verantwortung für unser Regime und seine Taten. Moralische Schuld liegt immer nur im einzelnen Menschen, wenn er sein Gewissen befragt. Kriminelle Schuld trifft nicht das deutsche Volk, sondern einzelne wegen bestimmter Verbrechen angeklagte Deutsche. Ihnen steht das Recht auf Verteidigung zu. Kollektivschuld können wir nur fühlen: Wir fühlen uns als Deutsche mitbetroffen von allem, was aus dem Deutschen erwächst, das heißt: Wir tragen alle eine Mitschuld dafür, daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens, in unserer Überlieferung die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime (!).

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Dieses Gefühl einer nicht greifbaren Mitschuld ist nach J a s p e r s die Bedingung einer "Wiedererneuerung des Menschseins aus dem Ursprung", Bedingung der Aufgabe, „nicht deutsch zu sein, wie man nun einmal ist, sondern deutsch zu werden, wie man noch nicht ist, aber sein soll!" Metaphysische Schuld ist „der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen" ... "Diese Solidarität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen ..." „Wir haben es vorgezogen, leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nichts helfen können." ... „Daß wir leben, ist unsere Schuld!
Der Weg der Reinigung von Schuld führt über die Klärung der Schuld, und das heißt: über die Wahrheit. „Die Reinigung macht uns frei". »Erst aus dem Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne die Freiheit nicht möglich ist." „Demut und Maßhalten ist unser Teil." Mit diesem Satz schließt J a s p e r s seine Gedanken zur Schuldfrage. Viel wäre zu ihnen zu sagen, auch Kritisches und Abweichendes, zum Beispiel zum Problem der Kollektivschuld". Steckte wirklich nur in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens und in seiner Überlieferung die Möglichkeit, ein totalitäres, tyrannisches Herrschaftssystem hervorzubringen? Theodor H e u s s hat treffender von Kollektiv-Scham gesprochen. Der Begriff „Metaphysische Schuld" wird den meisten Menschen etwas wirklichkeitsfremd erscheinen, sie werden ihn auf sich nicht angewandt wissen wollen. Er berührt sich mit dem, was D o s t o j e w s k i seinen Staretz Sossima aussprechen läßt: „... in Wahrheit ist jeder vor allen für alle schuldig, nur wissen es die Menschen nicht. Wenn sie es aber wüßten, so wäre sofort das Paradies auf Erden."
Interessant, wenn auch nicht neu ist ein Faktum, von J a s p e r s betont, das Kollektiv- wie metaphysische Schuld im Deutschen trotz aller Menschenrechtsverletzungen durch H i t I e r und sein Regime gar nicht erst aufkommen ließ oder zumindest abgeschwächt hat: Alle Staaten erkannten das Hitler-Regime an: "Man hörte Stimmen der Bewunderung". In einem offenen Brief C h u r c h i I I s an H i t I e r in der Times 1938 kamen Sätze vor wie dieser: „Sollte England in ein nationales Unglück kommen, das dem Unglück Deutschlands 1918 vergleichbar wäre, so werde ich Gott bitten, uns einen Mann zu senden von Ihrer Kraft des Willens und des Geistes ..."(!!) (Zitiert nach R ö p k e ).

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Eines erscheint mir noch wichtig, weil ich selbst Soldat, allerdings als Arzt und Reservist, war: J a s p e r s unterscheidet zwischen der soldatischen Ehre und dem politischen Sinn: „... das Bewußtsein soldatischer Ehre bleibt unbetroffen von allen Schulderörterungen. Wer in Kameradschaftlichkeit treu war, in Gefahr unbeirrbar, durch Mut und Sachlichkeit sich bewährt hat, der darf etwas Unantastbares in seinem Selbstbewußtsein bewahren. Dies rein Soldatische und zugleich Menschliche ist allen Völkern gemeinsam. Hier ist Bewährung nicht nur keine Schuld, sondern, wo sie unbefleckt durch böse Handlungen oder Ausführung offenbar böser Befehle wirklich war, ein Fundament des Lebenssinnes..."
Weitere Lektüre im Januar 1947: Otto, „Die Götter Griechenlands", Victor v o n W e i z s ä c k e r : „Der Gestaltkreis° (nur zum Teil verstanden!) R i I k e „Stundenbuch" (Teile aus ihm Antonia vorgelesen). „Malte Laurids Brigge« über den kleinen und den großen Tod. Plan, etwas über eine „Zeitgeschichtliche Psychopathologie des Suizids" zu schreiben. B o I I n o w : „Existenzphilosophie°, „Das Wesen der Stimmungen".
Dichter Georg Maurer bei B e e n k e n s kennengelernt. Besonderer menschlicher und geistiger Gewinn. M. unverbildet, rein, naiv (im guten Sinne), erfreulich „unmodern" und doch mitten in der Zeit stehend und über sie hinausweisend. Zum 30. März 1947 schrieb er für Antonia „Zur Erinnerung an den von Ihnen, liebe gnädige Frau, so entzückend geplanten und durchgeführten Vor-Ostern-Vormittag ein Gedicht, Befreiung`:

„Ich, nach all dem Schmerz sammi' ich Tau der Gnade, drin ich nun mein Herz wie im Frühling bade.
Unbewegt quillt Regen, der die Erde weicht. Von dem vollen Segen ist mir seltsam leicht.
Alle Reifen springen, die die Selbstsucht legt. Und nun kann es singen tief aus mir bewegt.
Habe weggeschoben, ach! Das liebe Ich. Und nun drängt nach oben alles Gute sich.
Ist es noch so klein, spüre ich es glänzen in dem goldnen Schein flutend ohne Grenzen.

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Wie im Äther schwimmt jedes Stäubchen golden, das als Sonne glimmt an den Sternendolden.
Liebe streift durchs All, zündet da und dorten in den Weltensaal Licht an allerorten."


Später schrieb er in unser Gästebuch „In allerherzlichster Dankbarkeit" die Verse: Bevor das Ungewisse sich noch teilte, dem Vorhang gleich und dem bewegten Meer, daraus ersehntes Land erscheint - enteilte die Zeit, die drohend schwere, minder schwer in all der Herzlichkeit, die uns umfangen in diesem Haus, das immer gastlich war. So hegen wir ein einziges Verlangen: bewahren und stets erneuernd dessen zu gedenken, was einzig aufrecht hielt in dunklen Jahren, Mit freier Menschlichkeit sich zu beschenken.
Eva und Georg Maurer ."


Im Februar 1947 kam es zu einem Rencontre mit der „braun-roten" Nervenärztin Frau Dr. B e n d r a t , das den Anstoß zu meiner unfreiwilligen Emigration aus der Deutschen „Demokratischen" Republik bildete: Mitarbeiter berichteten mir, daß Frau Dr. B. ohne mein Wissen klinische Visite gemacht und einige meiner therapeutischen Anordnungen abgeändert habe. Ich bat sie daraufhin zu mir ins Dienstzimmer und sagte ihr, ich sei gerne bereit, mit ihr zusammenzuarbeiten, aber nur unter der Bedingung, daß dabei die Regeln kollegialer Fairness gewahrt blieben. Dies sei leider nicht der Fall gewesen, wenn sie, ohne sich mit mir zu besprechen, meine Anordnungen korrigiere. Damit überschreite sie nicht nur ihre Befugnisse, da sie nicht meine Dienst-Vorgesetzte sei, sondern sie mindere auch meine ärztliche Autorität den Patienten gegenüber, die durch unterschiedliche therapeutische Maßnahmen und Ansichten nur verunsichert werden. Ich müsse sie daher bitten, in Zukunft entweder gemeinsam mit mir Visite zu machen oder mich zuvor wissen zu lassen, daß sie in meiner Vertretung allein Visite machen wolle! Es war natürlich höchst kühn von mir, als ehemaliger Pg und „aus dem Staatsdienst entlassener" Oberarzt, dessen weiteres Verbleiben im Dienst nur von Monat zu Monat verlängert wurde, derart entschieden gegen eine in roter Gunst stehende, nach akademischen Weihen strebende Polit-Ärztin aufzutreten.
Ihre Reaktion bestand aber nicht etwa in einem Hinweis auf diese Unsicherheit meiner Stellung, sondern in - Tränen! Tränen, die sie mir nie verziehen

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hat. Wir schieden zwar nach dem Gespräch in beiderseitigem Einvernehmen sie akzeptierte meine Bedingungen für gute Zusammenarbeit - , aber die Rache kam später!
Tagebuch: Abends zu Gast bei L e n d I e , unserem bedeutenden Pharmakologen und derzeitigen Prorektor, der über sein wissenschaftliches Fachgebiet weit hinaus vielseitig gebildet und geistig ungemein lebendig ist. Gespräch über D o s t o j e w s k i und Probleme unserer Zeit.
Geistig und menschlich gewinnreicher Abend bei Dr. theol. Becker , dem katholischen Studentenseelsorger von Leipzig, einem Schüler G u a rd i n i s , mit dem katholischen Pfarrer Kraft aus Braunsberg, der auch am dortigen Gymnasium Hosianum Abitur gemacht hat, und mit Georg M a u r e r .
Weiter: Unerhörte Dauerkälte! Erschreckende Mortalität! Katastrophale Unterkühlung der Krankenräume! Arbeit sehr erschwert. Füße angefroren. Rasanter Betrieb in der Klinik. Schwierige Fälle.
Berufung in den Psychiater-Beirat der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in Berlin.
An den Sonntagen Lektüre über das Problem der Wahrheit ( Kierkegaard , Heidegger , Platon (Höhlengleichnis), Thomas , G u a r d i n i . Gespräche mit Martin D o e r n e , Professor für praktische Theologie, im besonderen Homiletik (Predigtlehre), interessanter Mann, aus eigenem Erleben Verständnis für Persönlichkeitsprobleme. Diskussion über Psychopathologie und Zeitgeschehen. Gebe ihm meinen Vortrag über dieses Thema zur Durchsicht. Wolodja L i n d e n b e r g hat Lizenz für neue Monatsschrift für Medizinische Psychologie und Neurologie erhalten, in der mein Vortrag veröffentlicht werden soll.
Dr. K o n i t z e r , Dezernent für das Gesundheitswesen in der Zentralverwaltung, verhaftet! Gründe unbekannt. Neue Denazifizierungswelle? K. war aber nie Parteimitglied.
1. März 1947: Mancherlei Verdruß, auf den ich - bei Kalorienmangel mit leichten Hungerödemen! - überempfindlich, fast paranoid reagiere. Überbewertung von Alltagsärgernissen aus dem Gefühl der Existenzunsicherheit. Zum Teil unnötige, wenn auch motivierbare Befürchtungen. Bei Einladung eines dankbaren Patienten, des Antiquitäten- und Kunsthändlers Karl-Heinz W i e I a n d , idealistischer Kommunist und daher bei den Russen höchst angesehen, zum Essen

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in seinem Hause: Ungewohnt üppige, fettreiche Darbietungen, dazu Alkohol, Coffein, Nikotin - ich muß plötzlich das Speisezimmer verlassen und stürze im Flur wie ein gefällter Baum der Länge nach auf den Boden, bin für Sekunden bewußtlos, werde von Antonia und dem Gastgeber emporgehoben, kann wieder - schwankend - stehen und erlebe in hellwacher Wahrnehmung die körperliche Erschlaffung, den Blutdruckabfall mit dem Gefühl der Blutleere im Kopf. Zugleich entlädt sich in einem enthemmten Aussprachebedürfnis alles, was sich an Befürchtungen und Verdrießlichkeiten angestaut hatte. Interessante Selbstbeobachtung: Gegenspiel von körperlicher Erschlaffung und emotionalgedanklicher Übererregbarkeit als kompensatorische Selbstbefreiung von der langen seelischen "Einpanzerung". Nach dem Collaps folgt der Ausatmung eine anormal lange Atempause. Dadurch Anreicherung des Blutes mit Kohlensäure, mit Reizwirkung auf das Atemzentrum und vertiefte Wiedereinatmung, also eine wunderbare Schutzreaktion des Organismus! Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr, Erinnerungslücke durch die vorübergehende Sauerstoffverarmung des Gehirns.
Der gute Karl-Heinz W i e I a n d litt an einer Sehnervenatrophie und war fast völlig blind geworden. Seine kommunistische Weltanschauung hinderte ihn nicht, durch Handel mit Orientteppichen, Porzellanen, Bronzen, Gemälden, China- und Japankunst ein höchst wohlhabender Mann zu werden und einen erfolgreichen Rennstall mit dem berühmten Rennpferd „Birkhahn" zu unterhalten. (Er hat mir am 12. Dezember 1948, als wir schon in Ilten waren, geschrieben, er „freue sich riesig, daß wir beiden Lieben nun endlich im Westen Ruhe gefunden haben°. Professor P f e i f f e r , den er nach meinem Weggang in Anspruch genommen habe, habe ihn „durch die Spritzerei so kaputt gemacht", daß er mit „Angst und Schrecken daran zurückdenke." Er habe das Vertrauen zu der Klinik nach meinem Fortgang verloren, und er bitte mich um Ratschläge zur Erhaltung seines Augenlichtes. Leider habe ich ihm auch nicht zur Verbesserung seiner hochgradig herabgesetzten Sehfähigkeit verhelfen können.)
Leipziger Messe. Viel Besuch. Zwei große Konzerte: Sergiu C e I i b i d a c h e mit den Berliner Philharmonikern, Nachfolger des politisch belasteten (?) F u rtw ä n g I e r . Tänzerisches Element der Kunst des Dirigierens. Faszination auf Kosten des geistigen Gehaltes, der Innerlichkeit des Werkes. Mitreißende Farbigkeit, besonders be i R a v e I . S c h u m a n n s Vierte Symphonie

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nicht geglückt. Deutsche Romantik, Faustisches Ringen liegt nicht in der musikalischen Welt des Rumänen. Aber große Begabung! Auch Mathematiker!
K e i I b e rt h mit den Dresdener Philharmonikern. Großartige Leistung. Ideale Einheit von Vitalität und Geistigkeit, auch bei R e g e r s Hiller-Variationen. H i n d e m i t h s Violinkonzert mir unverständlich.
Lektüre: Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz . Ernst Jünger: Gärten und Straßen. Unterschied zwischen Nihilismus und Anarchie. (Gespräch mit seinem Bruder): Der Nihilismus kann sich ausgedehnte Ordnungsformen zu eigen machen. Sichtbare Ordnungen müssen im selben Maße wachsen, in dem die innere Harmonie verloren geht. So wächst die Zahl der Ärzte im gleichen Maße, in dem die Heilkraft sich verliert ... Durch den Darwinismus wird die Schöpfung wie mit dem Stahlstift nachgezogen. Friedrich Georg J ü n g e r: „Die Tiere gleichen dort den Blumen, die aus Zinkblech nachgebildet sind." Schopenhauer habe in seinen Ausführungen über die Vergleichende Anatomie alle derartigen Versuche schon vor ihrem Entstehen entkräftet." (?)
L a B r u y e r e : „Ein wenig mehr Zucker im Urin, und der Freigeist geht in die Messe." In der Tat beginnen wir zu glauben, wenn es uns schlechter geht. (Der atheistische Kommunist Dr. S c h ö I m e r i c h , ursprünglich katholisch, bekreuzigte sich im Luftschutzkeller!)
... "Das Geheimnis liegt darin, daß das Leiden höhere, heilende Kräfte erzeugt." ... „Es gibt keine verkannten Genies. Jeder findet im Leben den ihm angemessenen Platz. Wir werden genau mit dem soziales Potential geboren, das wir verwirklichen."
 

Denunziert
 

August 1947: Ich sage im Kreise meiner Mitarbeiter, in Gegenwart der Frau Dr. B e n d r a t : „Die Methoden des jetzigen „Vierten Reiches" unterscheiden sich von denen des Dritten dadurch, daß sie nicht unter einem braunen, sondern unter einem roten Etikett angewandt werden", und ich führe einige konkrete Beispiele an. Einige Tage danach wird Antonia von Frau Dr. Z a n d e r , Assistentin der Universitäts-Frauenklinik, angerufen - ich befand mich in der Klinik - und gebeten, sich mit ihr an einer Straßenbahnhaltestelle zu treffen. (Frau Dr. Z. war Mitglied der in die SED übergeführten Sozialdemokratischen Partei). Dieser Treffpunkt war nötig, da mit dem Abhören eines Telephonats

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gerechnet werden mußte. Denn: Frau Dr. Z. teilte Antonia - streng vertraulich mit, daß ich bei dem Betriebsrat der SED-Gewerkschaft an der Universität denunziert worden sei und Leipzig so schnell wie möglich verlassen müsse. Von dem Betriebsrat gebe es einen direkten Draht zum NKDW, zum Sowjetischen Geheimdienst!
Bevor ich Leipzig verließ, was ich denn doch nicht Hals über Kopf tun wollte, begab ich mich nacheinander zum Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. H u e c k , zum Prorektor, Prof. L e n d I e , zum Rektor, Prof. G a d a m e r , und schließlich zu meinem Freunde Dr. Wladimir L i n d e n b e rg, dem von der Sowjetischen Administration eine Art Staatsekretärstelle bei der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in Berlin übertragen worden war. Alle sagten mir übereinstimmend, sie bewunderten meinen Mut, mit dem ich mich so kritisch über das SED-Regime geäußert habe (mich müsse wohl "der Hafer gestochen haben"!), und sie ständen moralisch natürlich hinter mir, aber weder die Fakultät, noch der Rektor noch die Zentralverwaltung könnten mich praktisch stützen und verhindern, daß Fr. Dr. B.. ("Die Frau ist gefährlich!") mich dem NKDW ausliefert und nach Sibirien oder Workuta verschicken läßt. Wolodja meinte noch - er hoffe, in seinem Berliner Dienstzimmer nicht abgehört zu werden -: „An Deiner Stelle würde ich Leipzig lieber heute als morgen verlassen!" Alle Genannten sind dann auch wenig später selbst in den Westen emigriert, Wolodja aus dem Sowjetischen in den Französischen Sektor von Berlin.
 

Flucht aus der "DDR"
 

Nun mußte es schnell gehen: Ich telefonierte mit einer Ärztin am Krankenhaus in Gleicherode am Harz, meiner ehemaligen Doktorandin, und ihrem dortigen Kollegen, einem früheren Patienten, und bat sie, mir ein Telegramm mit der Bitte um ein dringendes Consilium zu schicken, zu dem auch als Internist der Oberarzt der Medizinischen Klinik, Dozent Dr. H a u ß , hinzugezogen werden solle. Mit Hilfe dieses Telegramms konnte ich für ihn und für mich ein Taxi mieten, mit dem wir über Halle nach Bleicherode fuhren, das dicht vor der Grenze noch auf ostzonalem Gebiet liegt. Unser Start am 13. August 1947 war mit Schwierigkeiten verbunden: Der Wagen erschient erst nach mehrfachem Nachfragen zwei Stunden später, es fehlten Brennstoff und ÖI, beides mußte

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gegen Tapeten aus einer Fabrik, die Angehörigen von Werner H a u ß gehörte, eingetauscht werden, dreimal hatten wir Reifenpanne. Alles zusammen kostete uns Stunden, während deren ich jeweils Antonia anläutete, um ihr mitzuteilen, daß wir noch in Leipzig seien! Als wir endlich, an mehreren russischen Militärkolonnen vorbei, in Bleicherode landeten, taten wir so, als ob wir die vermeintliche Patientin im Inneren des Krankenhauses untersuchten, während der Taxi-Chauffeur draußen wartete. Nach etwa einer Stunde ging ich zu ihm und sagte, die Patientin sei so lebensbedrohlich krank, daß wir es nicht verantworten könnten, sie zu verlassen. Wir bedauerten daher, ihn bitten zu müssen, zunächst nach Leipzig zurückzufahren, bis wir uns wieder melden würden, damit er uns aus Bleicherode abholt. Er wartet heute noch auf diesen Abruf. Wir entlohnten ihn reichlich und verbrachten bei gastfreier Aufnahme einen angenehmen Abend im Krankenhaus, ich schwamm in einem nahegelegenen Waldbad und schaute dankbar zum bestirnten Nachthimmel empor. Von ferne erklang leise Musik.
Am nächsten Morgen fuhren wir in dem Mercedes meines früheren Patienten, des Bleicheroder Assistenzarztes, bis in die Nähe der Grenze. Ein Grenzpolizist bot sich als Führer an, lehnte die 250,- Mark, die wir ihm anboten, ab und übergab uns zwei Lotsen („Fluchthelfer"), die uns durch dichten Wald bis zu dem Stacheldraht führten, der damals die Grenze bildete. Im Walde ertönten Schüsse, die offenbar nicht uns, sondern dem Wild galten, das von Russen gejagt wurde. Es war nicht schwer, den niedrigen Stacheldrahtzaun zu überklettern, Werner mit Aktenmappe und Radioapparat, ich mit Köfferchen und Aktenmappe. Der Augenblick, in dem ich meinem Fuß auf den Boden der Englischen Zone setzte, gehört zu den glücklichsten meines Lebens!
Der Schatten auf diesem Glücksstrahl: Antonia mußte zurückbleiben und die Risiken einer möglichen „Sippenhaftung" auf sich nehmen, die Gefahr, wegen der "Republikflucht" ihres Mannes bespitzelt, „registriert" oder gar verhaftet zu werden. Aber es gab keine Alternative. Wir wollten nicht unsere gesamte Habe in Leipzig zurücklassen, sondern zu retten versuchen, was zu retten war. Das ist Antonia später, im Oktober, auch gelungen in einer abenteuerlichen Flucht, die noch zu schildern sein wird. Immerhin: Ich war in Freiheit! Frau Dr. B e n d r a t hatte sich als ein „Teil von jener Kraft" erwiesen, die „stets das Böse will und stets das Gute schafft."

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Neues Leben im Westen


Das Gute bestand zunächst darin, daß wir über Osterhagen mit der Bahn nach Göttingen gelangten und dort von der Tochter Irmgard meines Lehrers B o s t r o e m und von Professor S c h o e n (Ordinarius der Inneren Medizin), Bach man n (Anatom) und Kornmüller , einem der Wegbereiter der Elektrenkephalographie ("EEG", Gehirnstromschreibung) gastfrei und hilfsbereit empfangen wurden. Nach Abschied von Werner H a u ß , der nach Frankfurt ging und dort Oberarzt bei dem berühmten Internisten V o l h a r d werden konnte, fuhr ich am 15. August nach Hannover, angenehm berührt von dem positiven Urteil Kornmüllers über meine Epilepsiearbeiten (»Konstitution und Krampfbereitschaft bei Epileptikern" usw.), aber noch im Ungewissen über die Aussichten, als Chefarzt in Ilten eine neue Existenz gründen zu können. Hier hatte der nahezu unbegrenzt hilfsbereite Corpsbruder Dr. jur. Bernhard B e h r e n d t eine Verbindung zu den Geschwistern W a h r e n d o rf f eingefädelt, indem er mich zu Rechtsanwalt S t i s s e r in Sehnde bei Hannover brachte, dessen Frau mit Frau Erika C o r n e I s e n , geb. Wahrendorff, befreundet war. Herr S t i s s e r verhielt sich zunächst betont kühl und zugeknöpft, taute aber bald auf, zumal seine Frau sich bei Frau C o r n e I s e n nach dem Stande der Sache erkundigen wollte und sich erbot, meine Fürsprecherin zu sein. („Gute Beziehungen schaden nur dem, der sie nicht hat!")
Mit Ministerialrat Dr. med. B u u r m a n n vereinbarte ich telefonisch ein Gespräch im Niedersächsischen Sozialministerium über die Frage, ob und wann Prof. Willige , der derzeitige Chefarzt der Wahrendorffschen Anstalten, sich pensionieren lassen würde - er berief sich auf einen für seine Lebenszeit geltenden Anstellungsvertrag! -, und wie das Ministerium über meine Nachfolge denkt.
Am 16. August fuhr ich nach Bremen, um unseren Freund Dr. Klaus J e n s c h mit seiner Frau Cécile, einer Litauerin, Ärztin, charmant, klug, französisch gebildet und sprechend, zu besuchen. Einladung zur Familie Dr. Dr e ß I e r , einem Industriellen der Bierbranche - Blick in eine für mich neue Welt: Wohlhabender, kultivierter Haushalt, üppiges Essen, vielerlei Getränke, reichlicher Alkoholkonsum, lebhafte, etwas oberflächliche Gespräche - nein ana

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chronistisches Fettauge auf der mageren Bouillon des ausgepowerten Deutschland" trug ich in mein Tagebuch ein! Am Schluß dieses Abends kam es zu einem Mißklang zwischen zwei Gästen, der uns zu vorzeitigem Verlassen des gastlichen Hauses veranlaßte.
Am 18. August morgens ohne Fahrkarte auf dem Puffer des letzten Wagens eines Zuges nach Hamburg, unrasiert und geschwärzt wie ein Schornsteinfeger vom Rauch der Lokomotive - vorschriftsmäßiger Habitus eines Ostflüchtlings! Von den Freunden M u m m e in Flottbek reizend aufgenommen, eine Stunde lang im Bad des Hauses verbracht. Abends bei Arthur und Ilse J o r e s in Othmarschen. Wohltuende Wiederbegegnung. Einklang mit Beiden.
19. August 1947: Zu Prof. Mauz , dem Nachfolger B o s t r o e m s , jetzt Ärztlicher Direktor des großen Hamburgischen Staatskrankenhauses der Psychiatrie in Langenhorn, der mich mit offenen Armen empfängt und mir die Erste Oberarztstelle anbietet, zweites Eisen im Feuer, falls ich länger auf Ilten warten müßte. ( Mauz war von den Alliierten in ein Internierungslager bei Marseille - wie auch J e n s c h - gesteckt und erst vor kurzem freigelassen worden!) Abends Bummel über die Reeperbahn, deren Glanz verblaßt ist.
20. August 1947: Nach Hannover. Gespräch mit Ministerialrat Dr. B u u rm a n n , einem weißblonden Ostfriesen, offen und sympathisch, anscheinend mir wohlgeneigt. Stellungnahme der Ärztekammer müsse aber noch abgewartet werden. W i I I i g e scheine seine Chefarztposition nicht freiwillig räumen zu wollen! Abends nach Bremen zu Klaus und Cécile J e n s c h
21. bis 24. August 1947: Mit Klaus und Victor, Céciles Bruder, im Wagen an die Nordseeküste nach Nesmerssiel, von dort mit Motorboote auf die Insel Baltrum, von Cäcile und Alice (Victors Schwester) freudig empfangen. Herrliches Bad in der See! Labsal! Entschlackung! Am 22. mit Dampfer nach Norderney, unvergeßlich schöne Fahrt, Wunsch, später einmal Urlaub auf einer der Ostfriesischen Inseln zu verbringen. Jetzt endlich ruhiges Atemholen nach den Spannungen der letzten Zeit. Tagsüber am Strand. Sonnenbrand mit nächtlichem Fieber. Wehmütiger Abschied vom lieben Inselchen. Zurück nach Bremen. Kampf um die künftige Existenz steht noch bevor.
25. August 1947: Nach Bielefeld zu S c h o r s c h s (Chefarzt der Betheler und Bodelschwinghschen Anstalten). Da ich erst am späten Abend in Bethel eintraf und das Ehepaar Sch. nicht stören wollte, übernachtete ich in einer Epileptiker

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Abteilung mitten unter den Kranken. Für einen Psychiater kann es ganz nützlich sein, selbst zu erleben, was es heißt, nicht als Arzt über den Patienten zustehen, sondern mit ihnen die Gemeinschaft in einem Krankensaal zu teilen! Gerhard Sch. gab mir einen Brief zu lesen, den Prof. W i I I i g e an ihn geschrieben hat, um ihn zu beschuldigen, mit mir eine „Stellenbesetzungsaktion" betrieben zu haben, mit der er nicht einverstanden sein könne. (Er wünschte sich einen Bundesbruder, den Göttinger Dozenten Dr. T r o s t d o r f , zum Nachfolger!) Der Brief war offenbar unter dem Einfluß von W i I I i g e s damaligem Oberarzt Dr. S e r n a u , einem schon recht betagten Kollegen, zustandegekommen. Später erfuhr ich, daß W i I I i g e sich hinter die Ärztekammer gesteckt und zu bedenken gegeben hatte, daß nur ein politisch Unbelasteter Chefarzt werden solle! Er selbst war Mitglied der NSDAP gewesen! Es wurde also mit der „politischen Keule" gegen mich intrigiert.
Gute Gespräche mit den freundschaftlich-hilfsbereiten Schorschs und mit dem Jenaer, auch in den Westen emigrierten Dozenten Dr. Schulte .
Ich notierte mir die Anrede Anselm von C a n t e r b u r y s an den „Creator spiritus": „...der Du im Glücke die Seele wahrest und in der Not ihr Bestand bist, der Du von Missetaten reinigest und Wunden heilest, Du Lehrer der Demütigen und Richter der Hoffärtigen, Du Hoffnung der Armen, Du Labung der Matten, Du Stern auf dem Meere, Du Hafen im Schiffbruch!"
26. August 1947: Frühmorgens nach Dissen im Teutoburger Wald zu Herrn Hugo H o m a n n und seiner Frau Emmy, geb. Wahrendorff. H. H., Inhaber der gleichnamigen Margarinewerke und einer mit ihnen verbundenen Nahrungsmittelindustrie, ist der für die Besetzung des Chefarztpostens in Ilten maßgebende Sprecher der Wahrendorffschen Kommanditgesellschaft, der Gerhard S c h o r s c h um Vorschläge für die Nachfolge W i I I i g e s gebeten hatte. Im Gespräch waren auch die noch aus ihren Ämtern entfernten Professoren Bürger-Prinz , Hamburg und Störring , Kiel gewesen. Schorsch hatte mich vorgeschlagen. Ehepaar H o m a n n empfing mich sehr freundlich, und Frau Emmy, mit der ich im großen Mercedes nach Bielefeld zurückfuhr, versicherte mir, wenn ihr Mann etwas als richtig erkannt habe - und das sei meine Wahl zum Chefarzt -, dann setze er es auch durch. H o m a n n hat dann einige Tage danach mit seinem Schwager, dem Leiter der Niedersächsischen Staatskanzlei Dr. v o n C a m p e , gesprochen, der den Ministerialrat

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Dr. B u u r m a n n bitten wolle, als neutraler Mittelsmann über den Ärztekammerpräsidenten Dr. S i e v e r s auf. Prof. Willige einzuwirken, er möge die von H o m a n n angebotenen günstigen Bedingungen (Pension, Wohnung, Hirnverletztenabteilung in llten) annehmen und sich mit dem 70. Lebensjahr pensionieren lassen. Anderenfalls müßte ein Schiedsgericht entscheiden, was aber nach Möglichkeit vermieden werden solle.
Mir erschien dies alles höchst verzwickt und wenig behaglich, und die kapitalistische Welt mit ihren privaten Interessen und Verflechtungen kam mir nach über zwei Jahren Leben im Sozialismus seltsam vor. Aber ich fügte mich, denn es ging um meine künftige berufliche Existenz und um die reizvolle Aufgabe, eine große psychiatrisch-neurologische Einrichtung, die höchst reformbedürftig war, zu übernehmen und so weit wie möglich zu modernisieren. B u u r m a n n hatte mir gesagt, die Mißstände in llten seien dem Ministerium bekannt und hätten ein Ausmaß erreicht, das zum Politikum, das heißt, zum Gegenstand einer Anfrage beim Niedersächsischen Landtag zu werden drohe! Das Ministerium habe die Hoffnung und setze das Vertrauen in mich, daß es mir gelinge, in absehbarer Zeit eine Sanierung zu erreichen. Wenn das nicht möglich sein sollte, müsse die Wahrendorffsche Erbengemeinschaft mit der Verstaatlichung der Anstalten rechnen! Das wollten H o m a n n und die Familienmitglieder natürlich vermeiden, und das wurde für mich - mit dem Ministerium als Aufsichtsbehörde im Hintergrund - später zum Druckmittel auf die Kommanditisten, wenn ich Investitionsmittel für die dringend notwendige Erhöhung der Zahl an Ärzten und Krankenpflegepersonal, Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen Methoden, bauliche Sanierungsmaßnahmen usw. fordern mußte. Insoweit war ich ein „teurer Knabe" für die Familie Wahrendorff. Aber ich versuchte sie davon zu überzeugen, daß eine Nichtbewilligung dieser Mittel bedeutet hätte, die Anstalten auf dem Niveau einer bloßen „Bewahranstalt" zu belassen und das Risiko einer Verstaatlichung einzugehen. H o m a n n unterstützte mich dabei konsequent und soll später zu den Kommanditisten, die mein forsches Vorgehen kritisierten, gesagt haben: Ein schnelles Pferd könne man zügeln, aber einen lahmen Gaul nicht antreiben!
Ich greife jetzt vor. Vorerst waren noch weitere Schwierigkeiten zu überwinden. Zunächst tauchte ich in meinem Flüchtlings-Asyl bei Adalbert und Vera C o n n o r in Billerbeck im Münsterland unter und schlief mich zwei Tage lang

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endlich aus, schrieb viele Briefe und besuchte, von den Connoren rührend betreut, mit Adalbert seinen Freund, den Bergwerksdirektor Bergassessor Rudolf W a w e r s i k in Recklinghausen und mehrere westfälische Bauernhöfe. An Antonia, die in Leipzig Zurückgebliebene, konnte ich auf Postkarten nur schreiben, als ob ich ihre Schwester Vera wäre. Ich wagte es aber, ihr auch Briefe zu schreiben in der Hoffnung, daß sie nicht geöffnet wurden. Sie sind zum großen Teil erhalten geblieben. Am 28. August 1947 ( G o e t h e s Geburtstag) versuchte ich ihr tapferes Ausharren - angesichts unseres Hochzeitstages am 6. September - im Geiste des Wortes „Einer trage des Anderen Last" zu sehen und sie fühlen zu lassen, daß ich mit ihr die Belastungen und Prüfungen, die uns auferlegt sind, als ein Schicksal verstehe, das wir nicht als etwas Fremdes oder Feindliches empfinden dürfen, sondern uns zu eigen machen müssen: "Es gehört zu unserem gemeinsamen Leben und wir sollten ,Ja!' zu ihm sagen, ganz gleich, was es uns bringt. Die Kraft zu diesem Ja gibt uns die Liebe, die uns verbindet, und die Gewißheit, daß allem, auch dem Schweren und Widrigen, ein Sinn innewohnt, der uns innerlich reifen läßt und unserem Dasein die eigentliche Tiefe verleiht. Vielleicht gelingt es uns dann sogar, unser Schicksal zu lieben (,Amor fati'!) Gott schütze und erhalt' uns Beide!"
Inzwischen erhielt ich eine Einladung zu dem ersten westdeutschen Psychiaterkongreß in Tübingen unter dem Präsidium Ernst K r e t s c h m e r s . Meine Teilnahme war aber von der Bewilligung eines Interzonenpasses abhängig, den ich mit Hilfe eines Dolmetschers der englischen Kommandantur über eine Befürwortung durch das Landratsamt in Coesfeld von der Militärregierung in Münster erhielt, und zwar innerhalb von zwei Tagen, was als Rekord galt! Für die Fahrt mit dem D-Zug von Dortmund nach Stuttgart brauchte ich noch eine Sondergenehmigung für den Übergang von der englischen zur französischen Zone! Sie wurde von Connors Freunden E n g e I (Leni und Friedrich Wilhelm, Vorsitzender des Vorstandes der H o e s c h - Werke in Dortmund) besorgt. Deutschland war zu einem "Interzonesien" geworden . Die drei westlichen Zonen nannte man „Trizonesien"!
Ehepaar E n g e I bewirtete mich gastfrei und großzügig im Kasino der HoeschWerke in Dortmund. Im Mittelpunkt des Tübinger Kongresses stand natürlich der große Ernst K r e t s c h m e r . Mit seinen Hauptwerken »Der sensitive Beziehungswahn" und „Körperbau und Charakter" - 1947 in 20. Auflage

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erschienen! - hatte er Weltruf errungen. Seine Bedeutung, ja Genialität lag in einer ungewöhnlich fruchtbaren Verbindung von wissenschaftlichem Scharfsinn mit künstlerischer Intuition und der Gabe lebendig-anschaulicher Darstellung. Seine Forschungen über die Beziehungen zwischen Konstitution, Temperament und Charakter und deren Zusammenhänge mit dem manisch-depressiven und dem schizophrenen Formenkreis sind aus der Geschichte der Psychiatrie und medizinischen Psychologie nicht mehr wegzudenken. Sein weiter Bildungshorizont und seine kulturhistorischen Interessen erwiesen sich auch in seinem geistvollen Buch „Geniale Menschen", das zu lesen auch heute noch ein Genuß ist. Daß er sein klinisch-analytisches Denken mit philosophischen Fragen zu verbinden wußte, zeigte sich in dem Vortrag, mit dem er die Tübinger Tagung einleitete und in einen das rein Fachlich übergreifenden Rahmen stellte; das Thema lautete, soweit ich es in Erinnerung habe: Konstitutionstypologische Forschung aus erkenntnistheoretischer Sicht. In seinem Aussehen wirkte er eigentlich ernüchternd schlicht-bürgerlich, seine Gesichtszüge waren eher unbedeutend, die Gesichtsform rundlich in weichen Umrissen. Erst später erfuhr ich durch Mauz , der sein Lieblingsschüler war, daß er an manischsubdepressiven Stimmungs- und Vitalitätsschwankungen litt, deren konstitutionelle Grundlagen er so meisterhaft herauszuarbeiten vermochte. Die großartige und vielseitige Forscherleistung, die die Psychiatrie und medizinische Psychologie ihm zu verdanken hat, war nach seinen eigenen Worten "Gestähltes Endprodukt innerer Hochspannung". K r e t s c h m e r hat die Gefahren, die das wissenschaftlich-empirische Fundament der Psychiatrie und Psychotherapie durch ein Auseinanderfallen in eine biologische, somatisch orientierte und einseitig psychogenetisch verstandene Richtung bedrohten, frühzeitig vorausgesehen und beide Aspekte durch sein Konzept der „mehrdimensionalen Diagnostik und Therapie" zu verbinden gesucht. Ich habe das Prinzip der Mehrdimensionalität einem Beitrag in der Festschrift zu K r e t s c h m e r s 60. Geburtstag "Zum Ursachenproblem bei traumatischen Hirnschädigungen mit psychisch-reaktiven Manifestationen", 1948, zugrundegelegt. Das „Entweder-Oder" -Denken mit der Tendenz zur Totalisierung des einen oder des anderen Standpunktes hat mir nie gelegen, und deshalb fand ich in K r e t s c h m e r s Arbeiten eine überzeugende Bestätigung. In einem späteren Festschriftbeitrag anläßtlich seines 70. Geburtstages habe ich versucht, K r e t s c h m e r s typologischen Konstituti

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onsbegriff durch die Dimension des Geschichtlichen, der Person des Menschen, zu erweitern und das Individuelle, Einmalige, Nicht-Typisierbare personalen Erlebens in den Vordergrund zu rücken - ein Schritt, der über den Bereich der Konstitutionstypologie hinausführen und dem Ziel einer Verbindung naturwissenschaftlicher mit geisteswissenschaftlicher Forschung dienen sollte.
Der Tübinger Kongreß brachte mir willkommene Wiederbegegnungen mit Peter B a m m , Werner Wagner , Margarete K e ß l e r (Mitassistentin aus der Königsberger und Leipziger Zeit), anregende Gespräche und das wohltuende Gefühl, der beklemmenden Atmosphäre Leipzigs entronnen und endlich wieder ein Freier unter Freien zu sein. K r e t s c h m e r kannte meine Arbeiten und hat, wie auch Wagner und die Professoren Bürger-Prinz, Mauz , Nonne und Pette - Hamburg durch ein Zeugnis dazu beigetragen, daß ich die Chefarztstelle in llten und später den Professor-Titel an der Hamburger Universität erhielt. Auf der Rückfahrt machte ich in Koblenz Halt, um unseren alten Freund Herbert Lorenz. ("Lorenzo") mit seiner ihm erst vor kurzem angetrauten französischen Frau Madeleine in Winningen an der Mosel zu besuchen. Wir genossen das Wiedersehen nach den Kriegsjahren, aus denen er als Kommodore eines Kampfgeschwaders mit dem Leben davon gekommen war. Ursprünglich Jurist hatte er sich bei der Luftwaffe aktivieren lassen und anfangs noch an den Sieg Deutschlands geglaubt. Sein Entschluß, Flieger zu werden, begegnete der Besorgnis seiner Mutter, die ihm den ebenso wohlgemeinten wie gefährlichen Rat gab: „Mein Jungchen, flieg' nur immer schön langsam und nicht so hoch!" Seine Frau Madeleine gestand mir, daß sie auf Antonia immer etwas eifersüchtig gewesen sei, wozu sie jedoch nicht den geringsten Anlaß hatte. Aber sie meinte, alle französischen Frauen neigten zur Eifersucht und es gebe in Frankreich keine nichterotischen Freundschaften zwischen Mann und Frau. Lorenzo genoß das Vertrauen der französischen Besatzungsmacht und wurde später Bürgermeister von Saarburg. Uns verbindet eine über fünf jahrzehntelange, ungetrübte Freundschaft. Er war, nicht nur aus Liebe zu Madeleine, sondern auch aus Überzeugung zum katholischen Glauben übergetreten.
Auf der Weiterfahrt am Rhein entlang erklärte mir Helmut S e I b a c h , wissenschaftlich hochbegabter Schüler von K r e t s c h m e r , später Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der West-Berliner Universität, die Ge

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schichte der Burgen und Städte des Rheinlandes, dem er entstammte. Als ich noch ohne neue Existenz und eigene Wohnung war, bot er mir an, in seinem Dienstzimmer der Marburger Klinik unterzukommen und an seinen Gutachteneinnahmen zu partizipieren, damit ich mich wenigstens notdürftig über Wasser halten konnte. Ich bin ihm heute noch dankbar für diese spontane Hilfsbereitschaft.
Von der Rückfahrt nach Münster habe ich in einem Brief an Antonia vom 16. September 1947 folgende knappe Notizen hinterlassen: "Remagen: Wir sind in Remagen, dem Ort der historischen Nicht-Sprengung der Rheinbrücke, die den Übergang der Amerikaner im März 1945 ermöglicht hat. Grenze zwischen französischer und englischer Zone. Milde Grenzkontrolle.
Bonn: Innenstadt ziemlich zerstört. Ob Theodor Litt inzwischen hier landen konnte? Köln: Grauenhaftes Ausmaß der Zerstörungen! Nur der Dom ragt einsam als ein Dokument der Zeitlosigkeit und Unzerstörbarkeit des Geistes aus den niedrigen Trümmern in den Himmel. Bei Neuß über die Brücke auf das rechtsrheinische Ufer. Düsseldorf: Trümmerhaufen! Aber viel Leben in den Ruinenstraßen. Duisburg. Mülheim, Essen, Dortmund: Hier bin ich zum erstenmal in meinem Leben. Entsetzliche Zerstörungen! Thyssen, Krupp, Hoesch - gespenstisches Gewirr von verbogenen Eisenträgern der früheren Werkhallen. Selbstzerstörung der Technik durch die Technik des modernen Krieges. Herr E n g e I gehört zu den Männern, die mit Mut, Energie und Geschick zu verhindern suchen, daß die rheinisch-westfälische Industrie am Boden liegen bleibt. Er verhandelt zäh mit den Vertretern der Allierten-Kontrollkommission, namentlich auch mit dem französischen Wirtschaftspolitiker Jean M o n n e t , dem Begründer der Montan-Union, um die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft und Industrie zu ermöglichen."
Am 17. September war ich wieder „daheim": In meinem Billerbecker Refugium bei den lieben Connors, mit einigen Mitbringseln versehen: Für Olaf ein Stoffhündchen von Steiff, für beide Kinder Klebmasse, für Julchen einen Schwarzwälder Holzbaukasten und ein Stoff-Vögelchen, für alle vier Bouteillen Moselwein und frische Weintrauben, die dank der langen Trockenheit besonders süß waren - 1947 versprach eines der exzellentesten Weinjahre zu werden! - und für Adalbert ein großes Photo vom Königsberger Schloßteich, an dessen Ufer unser Littuania-Corpshaus gestanden hatte.

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„Olaf und Juliane sind reizend und liebevoll, legen mir ausgehungertem Ost-Flüchtling beim Essen immer noch mehr auf den Teller. Zum Dank habe ich ihnen zwei niedliche Bauernhöfe aus Bilderbögen ausgeschnitten, geklebt und bemalt, mit denen sie eifrig spielen. Die Tuschkästen, die ich ihnen mitgebracht habe, sind ihr ganzer Stolz. Die Freude an den Kindern ist ein bißchen Ersatz für eigenen Nachwuchs. Olafchen, der Kleine, von bezauberndem Charme: Er betätschelte Verachen an der Brust, umhalste sie und sagte: „Du süße, schöne, kleine Busenfrau!" (Er hatte von Freund Schulze , im Kriege Unterseeboot-Kommandant, das Wort „Busenfreundin" gehört!). Julchen ist oft launenhaft und „gnatzig", scheint sich aber nicht ganz gesund zu fühlen und muß zu einem Erholungsaufenthalt an den Titisee geschickt werden."
Inzwischen erfuhr ich, daß in Leipzig Frau Dr. B e n d r a t und der politisch opportunistische Klinik-Inspektor Dietrich mit kleinen Giftpfeilen nach mir geschossen haben sollen. Mich störte das wenig. Ich hatte mich aus der Schußlinie begeben und interessierte mich nicht für die "Kollegialitäten" oder Bürokratismen böswilliger Leute, für die ein "Republikflüchtling" ein Verräter am Aufbau des „Sozialismus" war. Kleinliche und törichte Rachegelüste aus Ärger darüber, daß ihnen wieder einer entgangen war, mögen mitgesprochen haben. "Es gibt soviel Gutes und Kluges in der Welt, daß es nicht lohnt, sich mit Törichtem und ,Miesem' zu beschäftigen" schrieb ich aus Billerbeck an Antonia in Leipzig. Über Prof. P f e i f f e r als „Kliniker" hörte ich von kompetenten Persönlichkeiten in Tübingen, Göttingen und Hamburg nur Negatives. Seine Bedeutung als Hirnforscher bleibt davon aber unberührt.
Mit Antonia blieb ich in enger brieflicher Verbindung, bei der es auch um die schwierige Frage ging, ob und wie unsere Möbel, die Bücher, der Steinway-Flügel und alles andere in den Westen transportiert werden könnten. Antonia hatte schon mit einem Spediteur Krok in Berlin Kontakt aufgenommen und begonnen, Kisten mit Büchern zu packen und abzuschicken. Dabei half ihr der Chef meiner dankbaren jüdischen Patientin Gertrud B o g n i t z e r , die es dann selbst auch fertig bekam, einen illegalen Transport über die Grenze zu arrangieren. Als Antonia sie fragte, welche Leute dieses riskante Unternehmen ausführen sollten, sagte sie: "Zwei ehemalige SS-Männer - absolut sichere, zuverlässige Leute!!" Allmählich wurde mir das Geld knapp, obwohl ich mich um größtmögliche Sparsamkeit bei meinen Reisen bemüht hatte und vielfach ein

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geladen wurde. Meine Gedanken gingen nach Leipzig zurück. Ich war beruhigt, daß Antonia nicht allzuviel allein sein mußte, sondern von Freunden besucht wurde: von Ruth P i p e r ,(wir nannten sie nach dem gleichnahmigen Buch des Alten Testaments "Die Ährenleserin"), die dann den Inhaber der Blüthner-Flügel-Fabrik Rudolf B l ü t h n e r- H a e ß l e r heiratete - sie hatte ihn durch Anton ia kennengelernt -, von Wolodja L i n d e n b e r g , Georg M a u re r , von Professor S u t e r , Kunsthistoriker wie Hermann B e e n k e n , einem großen, dürren Schweizer mit schütterem rötlichen Spitzbart, Junggesellen, skurrilen, liebenswerten Gelehrten, dem Antonia ein Küßchen auf die strubbelighaarige Wange gedrückt hatte - Der erste Bart meines Lebens!" - . S u t e r war uns durch Bern C a r r i e r e s Mutter Ragna und durch Hermann B e e n k e n nahegekommen, der sich inzwischen auch entschlossen hatte, dem Kommunismus den Rücken zu kehren. Er besuchte Connors, als ich in Tübingen war. Adalbert entfernte seinem Söhnchen Jan (von Vater Hermann nach einem der Brüder V a n E y c k , über die er ein Buch verfaßt hatte, so getauft) die stark gewucherten Rachenmandeln, was er auch sonst wegen der damals aktuellen Lehre von der Bedeutung der „Herd-Infektion" für die Entstehung zahlreicher Erkrankungen so oft wie nötig und möglich tat, so daß man von ihm sagte, er habe die halbe Bevölkerung Westfalens „entmandelt".
 

Hermann B e e n k e n
 

Zu Hermann B e e n k e n s Flucht in den Westen hatte sein abgemagerter Zustand beigetragen, an dem auch Antonias Fürsorge - er verzehrte einmal bei uns 13 Teller der Mehlsuppe hintereinander, die unser Hauptnahrungsmittel geworden war! - nichts Wesentliches zu ändern vermochte. B. erkrankte später an einer Lungen-Tuberkulose und ist 1952, erst 56 Jahre jung, bei einer Studienund Vortragsreise in Madrid gestorben. Die Freundschaft mit ihm und seiner Frau Lieselotte (» Lo"), geborenen v. B r e d o w , gehört zu dem besonderen menschlichen und geistigen Gewinn unserer Leipziger Zeit. Damals erfreute sich Jean-Paul Sartres "L´^Etre et le Néant" -das grandiose Mißverständnis der H u s s e r I schen Phänomenologie! - und mit ihm natürlich auch Hei d e g g e r s Sein und Zeit", größter Aktualität, und unsere Gespräche bewegten sich gewöhnlich um das Sein und das Nichts. Die Damen hörten geduldig

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und nachsichtig zu. Aber einmal meldete sich Lo B e e n k e n doch zu Wort und meinte: "Hermannchen, warum macht Ihr es Euch so schwer mit dem Sein und dem Nichts. Das ist doch ganz einfach: Wenn wir Kartoffeln haben, dann ist das das Sein, und wenn wir keine haben, dann ist das das Nichts! Das stimmt doch. Oder nicht?" Darauf Hermann: „Lo, das ist ja grausig!"
Ich habe der Freundschaft mit Hermann B e e n k e n geistige Anregungen zu verdanken, die heute noch nachwirken. Er war nicht nur einer der bedeutenden Kunsthistoriker seiner Zeit, sondern auch ein philosophischer Kopf, seine Fragestellungen und Untersuchungen richteten sich immer auch auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Kunstwerke und Kunststile, die er mit großer Gelehrsamkeit, aber immer klar und anschaulich darzustellen und zu interpretieren wußte. Neben seinen Büchern über die Brüder V a n E y c k und den »Meister von Naumburg" - „für uns Deutsche in dem langen Zeitraum zwischen Antike und Neuzeit der Größte, der schöpferischste Genius unter den abendländischen Bildhauern" - galt als sein Hauptwerk „Das neunzehnte Jahrhundert in der deutschen Kunst" (bei F. Bruckmann, München, „im Spätsommer des Kriegsjahres 1943 abgeschlossen"!. In diesem - schon in seinem Umfang von 541 Seiten! - imponierenden, mit reichem Bildmaterial ausgestatteten Buch (er hat es dem Maler Ludwig v o n H o f m a n n , einem Vorfahren Bern Carheres , gewidmet) wollte er nicht eine Darstellung der deutschen Kunst dieses Zeitalters geben, sondern das Zeitalter selbst untersuchen, „wie es sich in der deutschen Kunst und ihren Erscheinungen spiegelt". Das Werk bereichert den geistesgeschichtlich interessierten Leser durch eine Fülle von Gedanken und Analysen zu Themen, die das Neuartige und Besondere, den „Geist des Jahrhunderts" im Sinne H e rd e rs , kennzeichnen und sich im „Stil" des Kunstwerkes ausprägen - wohlgemerkt: des deutschen Kunstwerkes!
Es sind Themen wie „Baugesinnung und Bauaufgaben", „Der Historismus", ,Um die Freiheit der Kunst", »Natur und Mensch", „Das Erleben des Todes", ,Das Ende der christlichen Bildkunst", »Gesellschaft und Gemeinschaft", "Das Bild des Menschen", »Denkmäler", schließlich »Das 19. Jahrhundert als geistesgeschichtliche Einheit".
Unter den Einzelheiten findet sich manches zeitgeschichtlich Interessante, zum Beispiel im Abschnitt Freiheit der Kunst" eine Äußerung Kaiser W i I h e I m s II. zur modernen Kunst, mit der er deren »Grenzenlosigkeit, Schran

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kenlosigkeit und Selbstüberhebung" tadelt und die Künstler ermahnt, „... durch ihre Arbeit das Volk in allen seinen Schichten aus dem Getriebe des alltäglichen Lebens zu den Höhen der Kunst zu erheben und das den germanischen Stämmen besonders eigene Schönheitsgefühl und den Sinn für das Edle zu hegen und zu stärken!" B e e n k e n bemerkt dazu, unter der Flagge eines solchen Programmes werde aber leicht jede Art patriotischen Kitsches segeln. „Man sah die Siegesallee und konnte über diese Art künstlerischer Volkserziehung nur hohnlachen". Jedenfalls seien die vom Kaiser geförderten Kunstinteressen von denen des „reinkünstlerischen Prinzips", den Repräsentanten der künstlerischen Moderne auf das schärfste bekämpft worden.
B e e n k e n selbst schien von der Neigung zur Idealisierung der deutschen Kunst nicht ganz frei zu sein, und der patriotische Zug in seiner geistigen Haltung äußerte sich am Schluß des Buches in der Erwartung, daß sich "der heute währende Krieg und die harte Zeit, die ihm folgen wird, als die unerbittlichen Prüfer der Völker erweisen werde." »Das Bedrohtsein eines Volkes in seiner ganzen physischen und geistigen Existenz", einer „rings in der Welt von Haß umbrandeten Gemeinschaft", der „deutschen Nation, die wir vertreten und vertreten wollen," , werde etwas ganz Neues, ein modernes Front- und Gefahrbewußtsein" hervorbringen, wie es sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 nur eben als nein hauch des unbekannten eingefühls" (Stefan G e o r g e) angekündigt habe. An jedem einzelnen von uns vollziehe sich die Prüfung, "ob das Bewußtsein dieser Gemeinschaft zur Leistung, zur Tat und zum Opfer herausfordert und das Volk bis in das Mark hinein umwandeln kann." .. „Eine neue Idee und ein Glaube, die eben erst kräftigere Wurzeln zu schlagen begonnen hatte, sind - allzu früh fast, durch diesen Krieg auf die letzte Bewährungsprobe gestellt.."
Dies schrieb der Idealist Hermann B e e n k e n , und es hat ihm nach 1945 sicherlich politisch geschadet. Er wurde zu Unrecht - er war ein viel zu unpolitisch denkender Gelehrter, als daß er ein „Nazi" hätte sein können - in die Nähe der NSIdeologie gerückt, und das mag dazu beigetragen haben, daß sein so bedeutendes Hauptwerk, soweit ich es beurteilen kann, heute kaum noch beachtet und, wenn überhaupt, nur noch von Wenigen gelesen zu werden scheint. Gesprochen haben wir darüber nicht. Aber ich empfand es als ein Zeichen des Versuches, sich von dem kränkenden Verdacht einer intellektuellen

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Komplizenschaft mit dem Hitlerismus zu befreien, daß er sich nach dem Kriege ganz auf übernationale, geisteswissenschafltich-philosophische Themen konzentrierte. Er tat es in drei Abhandlungen: Die Frage nach den Möglichkeiten", „Zur Begründung der Werte" und „figura cuncta videntis".
In der erstgenannten untersucht B e e n k e n , von Heinrich W ö I f f ! i n s Wort: „Es ist nicht alles zu allen Zeiten möglich" ausgehend und den Gedanken Jakob v o n U e x k ü I I s von der Eigenwelt des Tieres, seiner spezifischen Merkwelt" und seiner spezifischen "Wirkwelt" aufnehmend, die Frage nach der Strukturverwandschaft zwischen der stilistischen Ordnung in der abendländischen Kunst, namentlich der Baukunst, und den morphologischen Ordnungsprinzipien der Tierwelt, zwischen dem historischen und dem biologischen Ordnungsbereich. (Er hätte auch die Kunstformen in der Pflanzenwelt erwähnen können!). Ohne etwa die Gefahr unwissenschaftlicher Analogieschlüsse von naturwissenschaftlichen auf geisteswissenschaftliche Methoden (Oswald S p e n g I e r !) zu verkennen, sieht er hier eine Möglichkeit, die Welt des Geistes nicht mehr als etwas in sich Abgesondertes und Absolutes, der Natur grundsätzlich Fremdes gegenüberzustellen, sondern eine Koordinierung geistigund naturwissenschaftlicher Forschung anzubahnen. Es gehe um die Frage nach den Möglichkeiten im Dienste einer neuen Verständigung von Wissenschaft zu Wissenschaft.
Der zweite Aufsatz (,Dem Freunde H.-W. J. mit Dank und Gruß!") behandelt die alte, aber in einer deutschen geistigen Neubesinnung neu zu stellende Frage nach den Werten, vor allem nach dem Absolutheitscharakter der „solange in verhängnisvoller Weise in Frage gestellt gewesenen" ethischen Werte. Auf gedanklich verzweigten Wegen gelangt B. zu der Auffassung, daß es erst vom Standpunkte der Metaphysik oder von dem der Religion selber her gestattet sein mag, Wertelehre und Ethik gleichsam nur als das Vorfeld eines Eigentlicheren und Wesentlicheren, eines inneren, heiligen Bezirks anzusehen und sich im Grunde alles doch auf Gott bezogen und" von ihm als der personifizierten (? Fragezeichen von mir!) Weltvernunft und Weltordnung seine Rechtfertigung empfangend zu denken". Der Aufsatz schließt mit einem Hinweis auf Max S c h e I e r s Vorarbeit zur Begründung einer Lehre von den Werten in unserem eigenen Zeitalter und auf dessen Bezug zu Edmund Husserl, dem »tiefsten und umfassendsten Denker unserer Epoche" (Martin H e i d e g -

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g e r s Lehrer). „Auch diese Ausführungen wollten im Sinne H u s s e r I s phänomenologische sein."
In seiner dritten Nachkriegsarbeit greift Hermann B e e n k e n den Begriff der "figura cuncta videntis" des N i c o I a u s v o n C u e s in der für die Mönche von Tegernsee verfaßten Schrift „de visione Dei" auf („Das göttliche Sehen ist zugleich Gottes Liebe, Güte und Wirken") und entwickelt aus ihm eine eigene geistesgeschichtliche Phänomenologie des Blickes. N i c o l a u s von C u e s versucht seinen Begriff an Bildern anschaulich und verständlich zu machen - sie sind alle nicht erhalten! -, auf denen der gemalte Blick, das Auge eines Antlitzes (Christi), mit dem Betrachter mitwandert, aber sich zugleich auf alles Andere richtet. „Gottes Sehen" umschließt, losgelöst von jedem an Raum und Zeit gebundenen Standpunkt, alle Weisen des Sehens. Es ist nicht nur dem Ganzen, sondern auch dem Einzelnen zugewendet und damit stets auch Liebe und Barmherzigkeit. Das Sein der Geschöpfe ist sowohl Gottes Sehen wie sein Gesehenwerden. Gott (als der Deus absconditus) bleibt selbst aber immer auch unsichtbar. Er ist jenseits der unersichtlichen Sicht, der "Mauer der coincidentia oppositorum. An der subtilen Analyse einzelner Bildwerke des frühen Christentums, der byzantinischen Kunst und der spätmittelalterlichen Malerei (Jan v o n Eyck , Rogier van der Weyden , Masaccio ) stellt H.B. die „Verdiesseitigung" der figura cuncta videntis dar: So, wie sie uns in den neuen Bildern begegnet, nimmt sie Stellung zu uns und unserer Welt . ... Sie ist ein objektives Gegenüber für uns und erschließt sich als solches dem Menschen der Renaissance und des Barock durch sein individuelles Stellungnehmen die Welt. In der zentralperspektivischen Bildprojektion wird sie als sichtbare Welt meßbar, berechenbar, genau wie später in der Projektion des naturwissenschaftlichen Experiments auch die physikalische Welt meßbar und berechenbar wurde. „Für die Menschen unseres eigenen Zeitalters hat die Weit aufgehört, ein objektives Gegenüber zu sein. Das zentralperspektivische Sehen ist zum Sehen des photographischen Apparates geworden, nicht mehr Sehen des Menschen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung der figura cuncta videntis völlig gewandelt. ,Figurae cunctae videntiu'" sind in Bildern Caspar David Friedrichs die Rückenfiguren von Landschaftsbetrachtern, die nicht mehr dem Einzelnen und Individuellen in der Natur zugewandt sind, sondern andachtsvoll dem Allgemeinen in ihr. Diese Gestalten sind nunmehr Pro

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jektionen unseres eigenen Ichs in die Welt des Bildes hinein, Vorwegnahmen und Verkörperungen unseres subjektiven Gefühls." „Die Welt wird nicht mehr objektiv gespiegelt, sie ist zum subjektiven Erlebnis geworden."
„Geistesgeschichtlich gesehen sind beide (die ideale Projektionsebene des zentralperspektivischen Sehens wie die Projektionsebene des naturwissenschaftlichen Experiments) ähnlich wie die Vorstellungen der figura cuncta videntis zeitgebundene Phänomene der schöpferischen Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt, die sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende von Epoche zu Epoche in folgerichtigem Ablauf vollzieht. Diese Phänomene und dieser Ablauf haben ihre festen Strukturen, die zu erkennen und zu beschreiben unsere Aufgabe ist, sofern wir die Kunstgeschichte als Spiegelung einer Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes begreifen wollen."
Hermann B e e n k e n s Gedanken zur „figura cuncta videntis" scheinen sich, wenn auch nur entfernt, zu berühren mit dem Wort aus Rilkes Archaischer Torso Apollos". „...denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern," mit Heideggers Hinweis auf P a r m e n i d e s , der im Menschen das „vom Seienden angeschaute Wesen sieht" (in: Die Zeit des Weltbildes" in den „Holzwegen") und mit Goethes : „Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken; Läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?"
B e e n k e n hat nach seiner Emigration aus Leipzig als Ordentlicher Professor der Kunstgeschichte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen gewirkt. Er ist in seiner Heimatstadt Bremen beigesetzt worden. Antonia und ich trauern ihm nach.
Mit N i c o l a u s v o n K u e s verbindet mich, ungeachtet seiner konfessionsgebundenen Anschauungen, die Einheit von Philosophie und Frömmigkeit, die das Denken und Handeln dieses großen Geistes bestimmt hat.
Oktober 1947: Endlich - nach langem Bangen - Antonias Flucht aus Leipzig in den Westen! Der Exodus in die Freiheit vollzog sich so abenteuerlich, daß seine Schilderung immer noch abendfüllend bleibt!

 

Antonias Flucht aus Leipzig in den Westen

 

Zunächst mußten die Bücher in Kisten verpackt werden. Das Zunageln - mit

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Hilfe Frau Elfriede W i I k e s - hatte möglichst unauffällig zu geschehen, da die Hammerschläge bei den Nachbarn Verdacht auf Fluchtabsichten erwecken konnten. Verhandlungen mit Spediteuren waren vorausgegangen. Der Chef meiner Patientin Frau Gertrud B o n i t z e r , Herr P f e i f f e r (nicht zu verwechseln mit dem „Waldschrat" Pf.!) half dabei. Gefahr drohte, als Antonia bei einer amtlichen Stelle Lebensmittelkarten für mich beantragte und meine Anschrift im Westen angeben sollte. Die Beamtin verschwand, eine neben Antonia stehende fremde Frau flüsterte ihr zu: „Verschwinden Sie!", was sie auch umgehend tat. Ihr hätte sonst die schon von den Nazis praktizierte Sippenhaft" gedroht. Sie telefonierte mit Frau B o n i t z e r , bat vertraulich um Fluchthilfe. Frau B.: „Ich besorge Ihnen zwei Männer, die Sie für 15 000,- Mark über die Grenze bringen!" Auf Antonias Frage, wer die Männer seien: „Ganz zuverlässige Leute. Frühere SS-Männer!" (Seite 342!) Um die 15 000,- Mark zu beschaffen, mußte Mamchens goldene, mit Brillanten besetzte Uhr und weiterer Familien schmuck verkauft werden. Eines Morgens erschien ein offener Lastwagen mit den beiden Gangstern" vor der Störmthalerstraße 5, die Möbel wurden mit Hilfe einiger abgemagerter Männer, von Antonia mit einem Topf Kartoffelsalat gestärkt, heruntergetragen, und es ging Ios. Plötzlich: Ein Wagen fährt hinter ihnen her, überholt sie und hält vor ihnen. Sein Fahrer: „Ein Sessel hat sich gelöst, schleift hinter ihnen her! Ich wollte Ihnen das nur sagen!" Aufatmen! Ein Risiko war das Passieren der Grenze zwischen dem früheren Freistaat und der Provinz Sachsen (bei Halle). Zum Glück keine Kontrolle. Abends Rast in einem Gasthof, bei der Einfahrt Tor umgerissen. Antonia aufgeregt, Herzklopfen. Primitive Unterkunft. Nicht geschlafen. Ein Fest wurde gefeiert, Antonia hinzugebeten, neben einen Pfarrer gesetzt. Am nächsten Tag zu den Eltern eines der beiden SS Männer. Der Vater betrachtete begehrlich das goldene Armband Mamchens, das Antonia noch trug. Die SS-Männer baten sie in ein Hinterzimmer und forderten die 15 000,- Mark. Antonia lehnte ab, gab ihnen die Hälfte und stellte die ganze Summe bei der Ankunft in Hannover in Aussicht, womit man einverstanden war. Am nächsten Tag in aller Frühe weiter nach Niedersachswerfen. Barcken, primitives Gasthaus. Antonia von den SS-Männern alleingelassen, verpflichtet, mit niemand zu sprechen. Am Nebentisch ein Mann, der ihr seine ganze Lebensgeschichte erzählte, von seiner Frau verlassen war. Antonia sei
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die passende Frau für ihn! Antonia bedauerte, sie sei glücklich verheiratet. Darauf packte er aus einem Behälter einen riesigen Hering aus, schenkte ihn ihr und blieb traurig zurück. Die beiden "Gangster" kamen wieder, waren böse, weil Antonia sich nicht an das Sprechverbot gehalten hatte, wollten den Heringsmann zurückdrängen, der ihr nur noch Gute Reise" wünschen konnte. Es ging weiter, der Grenze entgegen, vor der man mehrere Stellen abfahren mußte, um die günstigste Obergangsmöglichkeit zu erkunden. Auf einer Anhöhe ein Russe: Er richtete sein Gewehr auf sie und gab mehrere Schüsse ab! Wildes Hin- und Herfahren, um aus der Sichtweite des Russen zu gelangen, rückwärts einen Berg hinunter, ganz knapp an Häusern vorbei auf einen anderen Weg. Durch einen Wald auf schmalster Schneise, knackende Zweige, schwankender Wagen, ängstliche „Gangster", über eine Wiese, die von den Russen einzusehen war, dann vor ihnen zwei Grenzstangen, über die erste, sie durchbrechend, hinweg, die zweite hochgehoben - auf englischer Seite in Freiheit! Antonia war übel geworden, mußte erbrechen (in den Hut eines der "Gangster"!). Ein englischer Militärwagen stoppte sie, verlangte Papiere, Antonia wurde von Taschenlampe angeleuchtet. Angst! Engländer aber: "O.K.!" Erklärung des Vorfalls: Die „Gangster" wollten am nächsten Tage eine englische Spionin über die Grenze bringen, deren Papiere sie besorgt hatten. Antonia wurde für diese Spionin gehalten! Gegen 12 Uhr nachts Ankunft in Hannover auf dem Hof der Spedition Walterstein. Antonia völlig allein mit den ausgeladenen Möbeln. Kalte Nacht, drei Mäntel. Eine ganze Flasche Kognak ausgetrunken, um sich zu wärmen, auf einem Sofa sitzend. Keine Spur betrunken. Am Morgen erscheinen Arbeiter und Herr Walterstein. Koffer mit allen Kleidern ist gestohlen worden. Macht fast nichts. Hauptsache: Antonia ist da! Noch am selben Tage liegen wir uns in den Armen!
Zeitgeschichtlich anmerkenswerter Rückblick auf Antonias abenteuerliche „Schweinefahrt" 1944: Opi H e I I w i c h , aus der Tilsiter Niederung nach Sachsen geflüchtet, hatte als Kenner der Landwirtschaft erklärt: "Kinderchen, auf diesem mageren Boden verhungert Ihr!" Also wurde beschlossen, ein Schwein zu „organisieren". Das konnte nur in der heimatlichen Niederung geschehen. Also zurück nach Skaisgirren, solange Ostpreußen noch nicht verloren ist! Am 4. Dezember 1944 fuhren Opi und Antonia zum letzten Mal nach Skaisgirren zurück. Dort war schon der Kanonendonner der nahegerückten so

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wjetischen Armee zu hören. Antonias Elternhaus war vom z. Stab einer deutschen Division besetzt. Ein Offizier trug gerade eine Biedermeier-Uhr unter dem Arm mit der Bemerkung zu Antonia: „Die können Sie ja doch nicht mehr retten!" Antonia nahm sie ihm weg mit den Worten: „Ich werde sie doch retten!" (Später mußte sie allerdings gegen Lebensmittel verkauft werden!) Übernachten mußte man auf unbezogenen Betten im gegenüberliegenden Hotel Krause. Das Schwein sollte von einem Kleinbauern namens E rz b e rg e r beschafft werden. Er war Kommunist und hoffte daher, von den Russen verschont zu bleiben, täuschte sich aber und wurde von ihnen erschossen. Für das Schwein verlangte er einen horrenden Preis, da Verkauf und Schlachtung von der Wehrmacht streng verboten waren. Da Opi gerade nicht aufzufinden war und alles schnell gehen mußte, fuhr Antonia - bei strömendem Regen - mit Erzberger mit, um das Schwein zu holen, und zwar wegen der Geheimhaltung in tiefer Dunkelheit. Antonia, "naß wie eine Katze", aber von einem Bisampelz erwärmt, saß auf einem glitschig-nassen Brett des Wagens und rutschte auf den holperigen, verschlammten Wegen hin und her. Der Schweinebeschaffer wurde zudringlich, legte seinen Arm um ihren Hals und versuchte, in den Busen zu greifen. Antonia verbat sich das, aber „Herr" Erzberger meinte, er sei doch ein Mann und müßte eine solche Situation ausnutzen! Als er dies erneut versuchte, drohte Antonia, sie werde ihrem Vater berichten, was er sich erlaubt habe. Erzberger: „Dann fahre ich alleine weiter!" Antonia stieg vom Wagen, fiel in einen Graben und torkelte in der Dunkelheit umher, ohne zu wissen, wo sie war. Zwei deutsche Soldaten leuchteten sie mit der Taschenlampe an und fragten, woher sie komme und wohin sie wolle, brachten sie zu ihrem Vater, der inzwischen eingetroffen war und denn Schweinekerl" zu erschießen drohte. Antonia riet davon ab, weil das Schwein wichtiger sei als ein toter Erzberger. Opi sah das ein, eilte zu Erzberger, und das Schwein wurde streng geheim - geschlachtet, in Stücke geschnitten, dick mit Salz bestreut, auf ein Pferdefuhrwerk geladen und nach Labiau zur Bahn gebracht.
Aber es dauerte runde vier Monate, bis es - sehnlichst erwartet -, im Güterwaggon gefroren, dann aber aufgetaut, in Großweitzschen eintraf. Frau Elfriede Wilke , unsere kartenlegende "Pythia", hatte schon prophezeit: "Das Schwein ist in Eurer Nähe!" Der Bahnhofsvorsteher des Bestimmungsortes fragte unseren Opi, ob die eingetroffene Kiste vielleicht Leichenteile enthielte. Denn aus ihr

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lief die konservierende Salzlake heraus! Das Schwein wurde von Omi sachgerecht zerlegt, von den Eltern, Vera, den Kindern und uns nach und nach aufgegessen und hat uns Allen das Leben gerettet! Es war zum Glücksschwein geworden!
Nun waren wir im Westen Deutschlands angelangt, aber die Zukunft lag noch dunkel vor uns, schwach erhellt durch die Aussicht auf eine neue Existenz in llten. Wir hausten als Flüchtlinge in Connors Billerbecker schönem Mietshaus ,Auf dem Berge 1" - mit dessen egoistischem Inhaber Adalbert großen Ärger hatte -, schliefen zu Sechst (mit Adalberts Schwester Lottchen, der Pianistin und Klavierlehrerin) auf engem Raume, Antonia auf einer zusammenbrechenden Chaiselongue, ich auf einer zu ebener Erde liegenden Matratze, und wurden von den Connoren liebevoll betreut. Ilten schien wegen der gegen mich eingefädelten Intrigen in weiter Ferne zu liegen, wir hatten keine Wohnung und - kein Geld. Antonia wünschte sich nur ein kleines, bescheidenes Dachkämmerchen, eine Behausung, in der wir unbehauste Menschen uns allein und geborgen fühlen konnten. Trost und Ermutigung suchten wir bei Rilke und Hölderlin: Aus den „Briefen an einen jungen Dichter": „Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf waren, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will..." Mit den „Drachen" und dem „Schrecklichen" konnte auch das Ungewisse der Zukunft, das „Geworfensein" in eine ungesicherte Existenz gemeint sein, dachte ich damals. Und immer wieder dachte ich dem tiefen Bildgedanken H ö I d e r I i n s nach: „Des Lebens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn ihr der alte, stumme Fels, das Schicksal, nicht entgegenstände!"

 

Intermezzo Hamburg 1947 - 48

 

Zunächst mußte ich noch um meine „Entnazifizierung" (entsetzliches Wort!) kämpfen. Sie war die Voraussetzung für eine Anstellung in HamburgLangenhorn, mit der ich, dem Angebot Professor M a u z' folgend, die Wartezeit bis zur Obernahme Iltens zu überbrücken hoffte. (Seite 334!) Das war schwierig, da ich zunächst nur in die Gruppe 4 eingestuft wurde, obwohl mehrere, zum Teil eidesstattliche Erklärungen meine Gegnerschaft zum NS-System

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bekundet hatten. (Da sie zeitgeschichtlich interessante Dokumente bilden, seien sie hier als Photokopien eingefügt). Erst am 1. Februar 1949 wurde meiner Berufung gegen den „Einreihungsbescheid" der Militärregierung vom 22.11.1947 stattgegeben und meine politische Entlastung mit der Einstufung in die „Kategorie V" vom Berufungsausschuß in Celle beschlossen. Vorsitzender dieses Ausschusses war der frühere Regierungspräsident von Lüneburg, Herr von L e n t h e , ein vornehmer Mann, dem ich mich durch Vermittlung eines Herrn N a t h , Treuhänders der britischen Militärregierung, persönlich vorgestellt hatte. Es bedurfte weiterer Vermittlungen, die ich u.a. einem Assessor E v e rtz in Nottuln/Westfalen und Evchen M o m m s e n verdanke, um an ein Mitglied der Hamburger Bürgerschaft und den Gesundheitssenator, Herrn S c h m e d e m a n n , einen ehemaligen Eppendorfer Krankenpfleger, heranzukommen und schließlich zu erreichen, daß ich als „hospitierender Arzt" an der psychiatrischen Abteilung des Hamburger Allgemeinen Krankenhauses Langenhorn tätig sein durfte. Ende Februar 1948 kam ein Telegramm aus Hamburg an: „Anstellung und Unterkunft geregelt. Erwarte Sie so bald wie möglich. M a u z." Es war soweit. Am 1. März zog ich mit Antonia von Billerbeck nach Hamburg. Uns wurde in Zimmerchen mit Balkon innerhalb des Anstaltskomplexes zugewiesen, und ich arbeitete ohne Gehalt, für „freie Station" mit der Möglichkeit, ein paar Mark durch Gutachten zu verdienen. Aber ich war glücklich und dankbar, in M a u z einen menschlich schätzens- und liebenswerten, klinisch und wissenschaftlich hervorragenden „Chef` und mit der Übernahme einer etwa 150 Betten großen, neu aufzubauenden Frauenabteilung ein selbständiges und interessantes Arbeitsfeld gefunden zu haben.
Wir nahmen es daher in Kauf, in dürftigen Verhältnissen leben zu müssen, zumal wir hoffen durften, in absehbarer Zeit - trotz aller Hemmnisse - in Ilten eine gesicherte Existenz zu finden. Bei der Währungsreform am 20. Juni 1948 erhielt Jeder ein „Kopfgeld" von 40,- neuer D-Mark, aber die waren rasch verbraucht, und wir hatten keinerlei Reserven. Bevor einige Gutachteneinnahmen „kleckerten", besaßen wir kein Geld, um das Porto für Briefe bezahlen zu können! Die Anstaltsverpflegung war äußerst dürftig, sie bestand aus Haferflockensuppe am Tage und einem Stück stinkenden Käse zum Abendbrot. Als Antonia die Fleischmarken, die uns zustanden, einlösen wollte, erklärte ihr der zuständige Verwaltungsbeamte, die Fleischrationen seien leider nur für die Familien der

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Senatoren bestimmt. Er würde sich strafbar machen, wenn er Fleischportionen an Andere abgeben lassen würde. Er müßte dann sogar damit rechnen, daß er seine Stelle verliert! Das wollte Antonia natürlich nicht, und wir verzichteten auf die Fleischration. Da unser Zimmerchen nicht mit Blumen geschmückt war, wollte Antonia aus der Anstaltsgärtnerei ein Alpenveilchentöpfchen kaufen. Auch hier bedauerte man, erklären zu müssen, daß die Ausgabe von Blumen ausschließlich an Senatsbeamte erfolgen dürfe, und der Anstaltsgärtner bat Antonia eindringlich, auf die Blumen zu verzichten, weil er sonst seine Stelle verlieren würde. Auch das wollte sie nicht, und unser Zimmer blieb blumenlos. Als Trost erwies sich indes die Hilfsbereitschaft des in unserer Nähe wohnenden Corpsbruder-Ehepaars Peter und Fränze O r I o w s k i . Eines Morgens, als wir bei trockenem Brot und Bliemchenkaffee frühstückten und feststellten, daß es uns eigentlich noch nie so kümmerlich gegangen sei, klopfte es an der Tür und Hannchen, Orlowskis Tochter, überbrachte uns einen großen Brathering! Vater Peter hatte auf den Feldern um Hamburg Kartoffeln „geklaut" und unseren Kalorienbedarf mit ihnen wenigstens partiell gestillt. Wir werden ihnen das nie vergessen! Inzwischen waren Antonias Schuhsohlen so durchgetreten, daß sie stellenweise auf den Strümpfen laufen mußte. Ein Patient mit Beziehungen zum Schuhgeschäft erbot sich, uns preiswerte Schuhe zu besorgen. Wir konnten von dem Angebot keinen Gebrauch machen, weil uns das Geld fehlte!
„Reich ist man nicht durch das was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß!"
Die Wahrheit dieses Kant -Wortes galt auch für uns, wenngleich der Begriff „Würde" etwas zu hoch gegriffen erscheinen mag. Es war ganz einfach die Notwendigkeit des Verzichtes, die sich aus der damaligen Situation ergab. Antonia hat sich hier vorbildlich bewährt. Ohne ein Wort der Klage hat sie die äußere Einschränkung unseres damaligen Lebens hingenommen. Erst drei Jahre, nachdem ich Ilten übernommen hatte, konnte sie sich ein neues Kleid kaufen. Wir lebten von einem Bruttogehalt von 1000,- DM und mußten davon die Eltern Hellwich, meinen Patensohn Gerhard R i e d e i und drei verarmte Corpsbrüder unterstützen. Wer weiß heute in unserer Wohlstandsverwöhnungs-Gesellschaft noch etwas vom Gebot und der „Tugend" des Verzichts? Wenn wir an unsere Hamburger Zeit zurückdenken, erscheint sie uns sogar als eine glückliche. So arm wir waren, so dankbar sind wir für das, was sie uns an Berei

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cherungen gegeben hat. Wie schön war es, wenn wir im Sommer 1948 auf unserem geräumigen Balkon unter freiem Himmel schliefen, über uns als Mückenschutz Antonias Brautschleier, den sie seltsamer Weise .gerettet hatte. Oder ein Abend, zu dem wir 13 Gäste eingeladen hatten, darunter einen Kunsthistoriker, der gerade über P i c a s s o arbeitete, und andere interessante Leute, mit denen es, auf engem Raum zusammengepfercht, zu höchst lebendigen Gesprächen mit viel Munterkeit kam. Jeder mußte etwas zum Essen mitbringen, und Antonia bereitete uns auf einer Kochplatte unter dem einzigen Fenster unseres Zimmers einen köstlichen Eierkuchen! Eiweiß war gut gegen meine noch eindrückbaren Leipziger Hungerödeme an den Füßen!
Zu den positiven Seiten der Langenhorner Zeit gehörte neben der ebenso anregenden wie harmonischen Zusammenarbeit mit M a u z und den für mich als klinisch orientierten Universitätspsychiater neuen und wichtigen Erfahrungen in der Anstaltspsychiatrie auch die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit. Ich schloß die schon im Hirnverletztenlazarett Berlin-Reinickendorf begonnene Arbeit über das Kausalitätsproblem bei traumatischen Hirnschädigungen mit psychisch-reaktiven Manifestationen ab. Da ich nun mehr Zeit hatte, überfrachtete ich den Text mit etwas zu verfeinerten Begriffsanalysen, so daß er nicht ganz leicht zu lesen war. Er wurde dann in der Festschrift zu K r e t s c h m e r s 60. Geburtstag veröffentlicht. Außerdem beschäftigte ich mich mit experimentellen Untersuchungen zur Differentialdiagnostik bestimmter psychopathologischer (depressiver, schizophrener, neurotischer) Phänomene mit Hilfe der (für den Patienten unschädlichen) intravenösen Injektion eines Weckamin-Präparates (Pervitin) und entwickelte damit die von mir so genannte „Weck-Analyse". Ungefähr zur gleichen Zeit war von anderen Autoren die „Narkoanalyse" erfunden worden, die dem Zweck dienen sollte, mit einem Barbitursäurederivat, also einem Schlafmittel, ebenfalls intravenös injiziert, eine Trübung oder Einengung des Bewußtseins herbeizuführen, durch die ins „Unbewußte" verdrängte oder auch vergessene Erlebnisse und Konfliktstoffe hervorgeholt und sowohl diagnostisch wie psychotherapeutisch verfügbar gemacht werden konnten. Diese auch unter der laienhaften Bezeichnung „Wahrheitsserum" bekannt gewordene, auch zu kriminalistischen Zwecken angewandte Methode erfreute sich damals einer geradezu sensationellen Aktualität. Sie war von Anfang an umstritten und ist bald wieder verlassen worden. Bei meinen Weckaminversuchen kam es im

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Unterschied zur Narkoanalyse nicht zur Trübung, sondern zur Aufhellung, nicht zur Einengung, sondern zur Erweiterung des Bewußtseins, so daß der Patient nicht „umdämmert", sondern völlig klar und wach das verbalisieren konnte, was ihm zuvor aus welchen Gründen auch immer - nicht präsent gewesen war. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen habe ich in der Zeitschrift „Nervenarzt" 1949 als Beitrag zur Festschrift für Professor Cr e u t z f e I d , Ordinarius der Psychiatrie in Kiel, zusammengestellt und veröffentlicht. Meinen Weckanalyse" hat auch ihren Platz in dem Wörterbuch der Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete" von H a r i n g und L e i c h e r t , F. H. Schattauer Verlag, Stuttgart-New York, 1968 gefunden. Aber auch ihr war, soweit ich weiß, keine lange Lebenszeit beschieden.
Über meine Versuche habe ich in einem Vortrag „Zur diagnostischen Verwertbarkeit der Weckaminwirkung in der Psychopathologie" bei dem Psychiaterkongreß in Marburg, September 1948 ' berichtet. Bürger-Prinz und M a u z hatten inzwischen Erfahrungen mit der Narkoanalyse gesammelt und publiziert. Da M a u z für seine klinischen Beobachtungen immer eine besonders anschaulich-lebendige, zuweilen leicht blumig getönte sprachliche Ausdrucksform zu finden wußte, hörte ich auf dem Marburger Kongreß, daß man ihn, spöttelnd und unzutreffend, den „Narkoanalyriker" nannte. Damit tat man ihm Unrecht, und es fiel mir nicht schwer, für ihn einzutreten, weil ich wußte, daß hinter seinem leicht eingängigen Sprach- und Schreibstil ein feines Gespür, ein "biegsames" Einfühlungsvermögen für das Innere seiner Patienten stand und mit klarer begrifflicher Präzision verbunden war. Dabei schwang auch sein ausgeprägter „Eros therapeutikos" mit, der meiner eigenen Neigung entsprach und mich mehr, als es der kühlere B o s t r o e m vermocht hätte, für die „Kunst" dessen öffnete, was er schlicht „das ärztliche Gespräch" nannte. Ein kleines Beispiel hierfür war seine Gewohnheit, die damals übliche Behandlung der Depressionen und Schizophrenien mit Elektrokrämpfen (fälschlich „Elektroschocks") zu behandeln, abschwächend als „Durchblutungen" (mit elektrischen Stromstößen) zu bezeichnen. Er hoffte damit offenbar dem Patienten die Angst vor dem sehr harten Eingriff in Funktionen und Strukturen des Gehirns wenigstens verbaliter zu nehmen. Des zarteren M a u z robusterer Antipode Bürger-Prinz bespöttelte diese Beschönigung und meinte, man dürfe dem Patienten nichts vormachen und müsse ihm offen sagen, daß es sich um eine zwar

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therapeutisch wirksame, aber harte und nicht ganz risikolose Maßnahme handele. Ich selbst habe - allerdings nur vereinzelt - Knochenbrüche, einmal auch den Bruch eines Brustwirbelkörpers durch die elektrisch ausgelöste starke Muskelverkrampfung bei einem Patienten erlebt. Später ließ sich diese Gefahr durch vorher injizierte muskelrelaxierende Mittel vermeiden. Aber nicht zu vermeiden waren partielle Gedächtnisausfälle durch die Stromschläge. Mit der Einführung der antidepressiv oder antipsychotisch wirkenden „Psychopharmaka" ist die Elektrokrampfbehandlung mit Ausnahme besonders schwerer, therapieresistenter Psychosen überflüssig geworden. Ich habe sie schon seit den fünfziger Jahren nicht wieder angewandt.

 

Ilten

 

Am 1. Oktober 1948 zogen wir in Ilten ein. Uns wurde eine Wohnung in dem alten Amtshaus zugewiesen, die wir auch bei bescheidenen Ansprüchen als unzumutbar empfinden mußten: Nicht renovierte, ungemütlich hohe Zimmer, primitiver Baderaum, keinerlei Nebengelaß, kein Balkon, kein Gärtchen usw. Dies alles als Kontrast zu den komfortablen Einzelhäusern, in denen die Kommanditisten innerhalb des großen, schönen, von dem dendrologisch kundigen Gründer, dem Geheimen Sanitätsrat Dr. med. Ferdinand Wahrendorff geschaffenen Parkgeländes wohnten. Keine der in Ilten und dem Außenbereich der Anstalten lebenden Wahrendorff -Enkeltöchter, Frau Marlise Starke , Frau Maria Chreutzmann , Frau Erika Cornelsen und Frau Ingrid C o r n e I s e n war vom Bombenkrieg und vom Flüchtlingsschicksal betroffen. Alle hatten ihren Besitz behalten und waren wirtschaftlich in vorzüglicher Assiette. Es war daher auch nicht zu erwarten, daß sie besonderes Verständnis für Menschen aufzubringen vermochten, die ihre Heimat, ihre Wohnung, ihren Besitz verloren hatten. Ich hätte als Chefarzt die mir zustehende Wohnung in dem sogenannten „Professor-Haus" beanspruchen können. Ich tat es nicht, weil dann mein Vorgänger, Professor W i I I i g e , seine Wohnung hätte räumen müssen. Wie wir später von der Witwe des engsten Mitarbeiters des Gründers, Geheimrat Dr. med. H e s s e , erfuhren, hatte W i I I i g e , als er die ärztliche Leitung von Ilten übernahm, verlangt und durchgesetzt, daß H e s s e s ihre Wohnung räumen mußten, damit er sie übernehmen konnte.

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Ich wollte meine Beziehungen zu Willige nicht von vornherein belasten, indem ich mich der gleichen Praxis bediente. Bei aller Dankbarkeit für das Glück, nicht mehr als Asylanten leben zu müssen, baten wir um eine Wohnung in den leerstehenden Zimmern der Privat-Abteilung der Klinik. Sie wurde uns gewährt, da sich nur noch zwei Privatpatienten dort befunden hatten. Bevor die neue Wohnung bezogen werden konnte, logierten wir in zwei Krankenzimmern und ließen uns von Martchen N e u m a n n , einer aus Berlin stammenden und daher mit Humor und Schlagfertigkeit ausgestatteten Schizophrenie-Patientin, betreuen. Sie hatte zuvor im Hause meines Vorgängers geholfen und soll mit der autoritären Art seiner Frau, der „Königin-Mutter" von Ilten, nicht recht einverstanden gewesen sein. Sie machte bei uns zunächst nur probeweise die einander gegenüberstehenden - Betten. Antonia trug damals zwei goldene Haarnadeln, die sie morgens immer wieder suchen mußte. Eines Tages sagte sie zu Martchen, die Haarnadeln hätten in ihrem Bett gelegen haben müssen, worauf Martchen erwiderte: „Nee, ick habe sie im Bett Ihres Mannes gefunden! Ick weeß, wie schön es beim Mann ist!" Darauf meinten wir Beide: „Die ist richtig, die behalten wir!" Und so blieb es fast dreißig Jahre lang, bis kurz vor ihrem Tode, vor dem sie, verwirrt und zeitlich desorientiert, noch aus Bissendorf in die Iltener Klinik gebracht werden mußte. Wir trauern ihr heute noch nach. Ihre Aussprüche, eine höchst originelle Mischung von trockenem Berliner Humor, treffsicherer Menschenkenntnis und schizophrener Skurrilität, habe ich in einem "Roten Buch" zusammengestellt und zu ihrer eigenen Freude unseren Gästen, meinen ehemaligen Mitarbeitern, zum Abschied von llten vorgetragen. Martchen, nicht ich, sollte im Mittelpunkt dieses Abschiedsfestes stehen, und sie war es, die am lautesten über ihre eigenen Geschichten lachte. Man darf nie über einen psychisch Kranken, aber soll so oft wie möglich mit ihm lachen! Es war gewiß im Sinne Martchens, daß ich nach der Trauerfeier an ihrem Grabe bei der Kaffeetafel in unserem Bissendorfer Hause einige Auszüge aus dem „Roten Buch" vorlas - alle Trauergäste, auch die Pastorin F u c h s , haben herzlich gelacht, und Martchen hätte es sicherlich auch getan!
Sie war unser „Familienpflegling" geworden, dem später der Ostpreuße L e s s i n g und bis 1996 die Ermländerin, aus dem Kreise Braunsberg stammende Annchen S c h a c h t und der Harburger Paulchen G o y folgten. Martchen und Lessing hatten noch zu den inzwischen ausgestorbenen

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„Originalen" psychiatrischer Anstalten gehört. Der zeitgemäße Zug zur konformistischen Einebnung individueller Eigenarten und die persönlichkeitsnivellierende Wirkung der modernen Pharmakotherapie psychischer Krankheiten haben den alten „Originalen" den profilierenden Nährboden entzogen. Auch den kauzigen, versponnenen, von seinen Patienten „nur durch den Besitz des Schlüssels" unterscheidbaren Typus des Psychiaters gibt es heute nicht mehr. Ich selbst habe bekennen müssen, daß ich mich von dem Ideal der äußeren Erscheinung eines "Irrenarztes" entfernt habe, das von dem einstmals berühmten Psychiater J. Ch. A. H e i n rot h (1773-1843) folgendermaßen beschrieben wurde: "Seine Rede sei kurz, bündig und lichtvoll. Die Gestalt des Körpers komme der Seel zu Hülfe und flöße Furcht und Ehrfurcht ein. Er sei groß, stark, muskulös, der Gang majestätisch, die Miene fest, die Stimme donnernd!" Für diesen frühen Wortführer einer moralistisch-theologisierenden „romantischen Psychiatrie" - als Dichter nannte er sich „Treumund Wellenreiter"! - war die Geisteskrankheit - und das erklärt seine strengen Forderungen - eine durch Sünde hervorgerufene „Unfreiheit der Seele", die durch Abschreckung oder auch Gewalt rückgängig gemacht werden müsse!
Die Iltener psychiatrische Familienpflege war von Dr. Ferdinand Wahrendorff als neue Form einer sozialtherapeutischen Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter außerhalb der Anstalt aufgebaut und zu einer mustergültigen Einrichtung entwickelt worden. Er vertrat von Anfang an das Prinzip einer so weitgehend wie möglich freien Behandlung der Kranken, wie sie zuvor schon die englischen Psychiater Gardner Hill (1829), John C o n o I I y (1847), der Deutsche Christian Roller (1861) und mit besonderem Nachdruck und genauer organisatorischer Gliederung auch der genial vorausschauende Leiter des „Irren-Asyls" der Berliner Charité, Wilhelm G r i e s i n g e r (1867) gefordert hatten. G r i e s i n g e r - als Verfasser des Lehrbuches „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten" (1845) und wissenschaftlicher Begründer der Theorie, seelische Krankheiten seien Gehirnkrankheiten, der Wegbereiter der modernen Psychiatrie - fügte dem Erfahrungssatz Rollers, viele„ Irre" könnten viel mehr Freiheit ertragen als man gewöhnlich annimmt, die Worte hinzu: „... Können sie sie aber ertragen, so müssen sie sie haben!" Auch „die prachtvollste und bestgeleitete Anstalt der Welt" könne den Kranken niemals das ersetzen, was die „familiäre Verpflegung" ihnen gewähre,

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nämlich „die volle Existenz unter Gesunden, die Rückkehr aus einem künstlichen und monotonen in ein natürliches soziales Medium, die Wohltat des Familienlebens."
Wahrendorff hat wahrscheinlich einen Vortrag G r i e s i n g e r s im Jahre 1865 bei einer Sitzung der Psychiatrischen Sektion der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Hannover gehört und mag durch dessen kühne Reformvorschläge auf den Gedanken der Familienpflege gelenkt oder in ihm bestärkt worden sein. Eine bescheidene private Familienpflege hatte es bereits seit 1921 in dem Dorfe Ellen bei Rockwinkel in der Nähe Bremens gegeben. Aber erst Wahrendorff ist als der eigentliche Vater der Familienpflege in Deutschland" in die Geschichte der Psychiatrie eingegangen. Er hat die schon von dem großen französischen Psychiatriereformer Philippe P i n e I (1745 - 1826) gerühmte „Urzelle der Familienpflege" in dem Belgischen Dorfe Gheel besucht, dabei aber auch die Schattenseiten dieses „Paradieses der Wahnsinnigen" erkannt: Sie bestanden in dem Weiterleben des dämonologischen Kultes zu Ehren der um das Jahr 600 n. Chr. vor den Inzestversuchen ihres heidnischen Vaters nach Gheel geflüchteten irischen Königstochter Dymphna, der Schutzheiligen der Wahnsinnigen. Da sie den teuflischen Gelüsten ihres Vaters widerstanden hatte und dafür enthauptet wurde, galt sie als Märtyrerin. Ihr zu Ehren sind noch 1874 Exorzismen "in optima forma" ausgeübt worden. 1861 hatte der Hildesheimer Anstaltsdirektor Geheimrat S n e I I , dem Wahrendorff die Erweiterung seiner psychiatrischen Kenntnisse verdankte, in Gheel vier Patienten gesehen, die in der mit Eisenring, Ledergürtel und anderen Fesselungsvorrichtungen versehenen „Zeken- oder Ghekenkammer" der „Neuvaine", einer neuntägigen Teufelsaustreibung, unterzogen wurden. Erst 1883 konnte unter einem neuen Chefarzt, Dr. P e e t e r s , mit den alten Mißständen aufgeräumt und eine gründliche Reform des ärztlichen Dienstes in Gheel erreicht werden. Die ersten Schritte zu einer Befreiung psychisch Kranker von den bisher üblichen inhumanen Zwangsmaßnahmen sind auch nicht dem Einfluß der christlichen Kirchen, sondern dem der Französischen Revolution zu verdanken. Philippe P i n e I war es, der im Jahre 1795 im Pariser Hospital Bicêtre und in der Salpetrière den Kranken die Ketten abnahm. Man hatte ihn gewarnt, dies zu tun, weil der erste Kranke, den er befreien wollte, ein englischer Hauptmann, der seit 40 Jahren angekettet war, als „der fürchterlichste

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aller Irren" betrachtet wurde und einem der Pfleger mit einem Schlag seiner Handschellen einen tötlichen Schlag auf den Kopf versetzt hatte. P i n e I näherte sich ihm, ermahnte ihn, vernünftig zu sein und niemandem Böses zu tun. Er versprach ihm dafür, ihn von seinen Ketten zu befreien und ihm einen Spaziergang im Hof zu gestatten. Der Hauptmann hört die Worte ruhig an, während seine Ketten fallen. Kaum ist er frei, stürzt er an die Sonne und schreit in Ekstase: „Wie schön das ist!" Er hat niemand mehr etwas zu Leide getan!
Zwar hatten auch der englische Quäker William T u k e 1796 in York ein kettenfreies, ländliches Privatasyl („Retreat") gegründet und der Italiener Vincenzo C h i a r u g i (1759 1820) im Hospital San Bonifacio in Florenz haus wissenschaftlich-mutiger Geisteshaltung" die Abschaffung unnötiger Quälereien erreicht. Aber dies waren Fortschritte aus privater, nicht kirchlicher Initiative.
Zurück - oder vielmehr voran - zu Ilten: Auch in Ferdinand Wahrend o rf f war, völlig selbständig, ein, wie er schreibt, „unbewußter, mächtiger, fast magnetischer Zug" gereift, dem sein „Lieblingswunsch" entsprang, das ihm immer vorschwebende Ideal freiester Irrenbehandlung selbsttätig zu verwirklichen" und ein „Asyl" für psychisch Kranke in Ilten bei Hannover zu gründen. Nach seinem Medizinstudium in Göttingen hatte er sich in Ilten als Praktischer Arzt niedergelassen und sich autodidaktisch in einer fünfmonatigen Hospitantenzeit an der damals modernen Anstalt in Prag unter einem Privatdozenten Dr. F i s c h e I und einem Studienaufenthalt an der dortigen und der Wiener Hochschule die nötigsten psychiatrischen Kenntnisse angeeignet. Erst 1866 wurde an der Landesuniversität Göttingen ein Lehrstuhl für Psychiatrie - einer der ersten in Deutschland! - unter Professor Ludwig M e y e r eingerichtet (dem Vater meines ersten psychiatrischen Lehrers Ernst Meyer in Königsberg). Ludwig Meyer hatte bereits 1862 im Krankenhaus Hamburg St. Georg alle Zwangsmittel abgeschafft, was Wahrendorff zu seinem Wagnis, in Ilten ein „no-restraint"- System zu realisieren, ermutigt haben mag. Am 24. Juni 1862 nahm er den ersten Patienten, einen geistig hilfsbedürftig gewordenen ehemaligen Hannöverschen Offizier, in seine Privatwohnung im Iltener Amthause auf. Nachdem sich allerdings gezeigt hatte, daß „ein harmonisches oder auch nur erträgliches Zusammenleben mit mehreren Geisteskranken in der Familie" ohne Verbindung mit einer „noch so kleinen Anstalt ... zu den Unmöglichkeiten gehört", erbaute Wahrendorff 1864 ein eigenes Anstaltsgebäude, dem

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weitere Neu- und Ausbauten folgten. In diesem Hause wohnten wir bis 1962, und hier hatte ich mein Dienstzimmer, das Vorzimmer für die Sekretärin und das Wartezimmer für die Privatpatienten.
Nach dem Tode Ferdinand Wahrendorffs 1898 übernahm sein Sohn Rudolf Dr. med., später Sanitätsrat, eine vielfältig gegliederte, räumlich weit ausgedehnte, arbeitstherapeutisch mit einem großen Landwirtschaftsbetrieb, mit Werkstätten, Gärtnereien usw. gut durchorganisierte Anstalt mit 635 Kranken und einem Personalbestand von 145 Mitarbeitern. In der Iltener Familienpflege lebten und arbeiteten seit ihren Anfängen im Jahre 1880 inzwischen 134 männliche Kranke, wie der Gründer in seinem zweiten Anstaltsbericht 1895 mitteilt. Sie hätten darin „eine neue Heimat gefunden, die sie der früheren Pflege in der geschlossenen Anstalt bei weitem vorgezogen haben". Außer nur wenigen unumgänglichen geschlossenen Abteilungen gab und gibt es in Ilten-Köthenwald keine restriktiven Einrichtungen, keine Mauern, keine Gitter vor den Fenstern, keine „Gummizellen" (die ich während meiner gesamten psychiatrischen Tätigkeit nirgends gesehen habe und nur vom Hörensagen kenne).
Inzwischen ist die Iltener Familienpflege leider bis auf wenige Patienten, darunter unsere Annchen und Paulchen, geschrumpft, und zwar durch die wesentlich kürzer gewordene Verweildauer der Patienten, durch die Rationalisierung der Landwirtschaft und die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung, psychisch Kranke oder geistig Behinderte in die eigene Familie aufzunehmen. Dafür sind andere, neue Formen der sozialtherapeutischen Versorgung außerhalb des Anstaltsgeländes geschaffen worden: "Komplementäre Einrichtungen", Wohngemeinschaften, beschützende Werkstätten, tages- und nachtklinische Möglichkeiten mit arbeits- und beschäftigungstherapeutischen Maßnahmen und dem Ziel der beruflichen und sozialen Rehabilitation. Über die weitere Entwicklung der Wahrendorffschen Krankenanstalten - sie nennen sich heute „Kliniken" habe ich in einer Abhandlung „Hundert Jahre Ilten - Hundert Jahre Psychiatrie" (Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Band 2, 1984, S. 147-203) berichtet. Der zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Wahrendorffschen Anstalten am 24. Juni 1962 vorgetragene, bis zum Jahre 1984 erweiterte Text bildet zugleich einen Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie seit ihrem ersten Aufschwung zu einem erfahrungswissenschaftlich begründeten Bereiche der Heilkunde.

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Das persönliche Lebenswerk Ferdinand Wahrendorffs gehört zu den großen Pionierleistungen der „Gründerjahre". Es verdankt seine Bedeutung der glücklichen, damals noch möglichen Verbindung von gleichermaßen psychiatrischer, organisatorische und wirtschaftlicher Begabung in einer Person, aber auch dem Mut zum Risiko und dem Selbstvertrauen, ohne das kein Wagnis gelingen kann. Dieses Selbstvertrauen gründete sich auf die intuitive Oberzeugung, mit der Gründung einer „humanen Heil- und Pflegeanstalt für das gestörte Gemüts- und Geistesleben" nach dem Grundsatz der von Zwangsmitteln freien Behandlung einen notwendigen und richtigen Weg zu beschreiten. Wahrend o rf f verschweigt aber auch nicht, daß er für seinen Entschluß, ein solches „Asyl" zu schaffen, „von Bekannten, Freunden, ja selbst Verwandten gar wenig Ermutigung erhalten" habe und daß ihm „Seelenkämpfe nicht erspart geblieben" seien: Die Frage, ob für diese neue Lebensaufgabe seine Begabung, seine Willensenergie, überhaupt seine Individualität ausreiche und geschaffen sei, hat in strenger Selbstprüfung sein Gewissen belastet. Aber 25 Jahre nach der Gründung konnte er, drei Jahre vor seinem Tode, den zweiten Teil seiner Anstalts-Chronik mit den Worten schließen: „Und wenn ich nun das große Glück hatte, für die Unglücklichsten aller Leidenden Helfer und Pfleger sein zu können und manchem Leidenden sein Los erträglicher zu gestalten, wenn ich somit vorgesetzte schöne Ziele erstrebe, in humanen und idealen Richtungen meine schwachen Kräfte betätigen durfte, so darf ich an dieser Stelle wohl mit dem nicht zu egoistischen Wunsche schließen, daß das Glück auch ferner unserem Asyle treu bleiben, und seine Wirksamkeit in gleichem Geiste auch ferner sich fortsetzen möge. Das walte Gott!"
Interessant ist, daß er als Gründer und Besitzer eines großen Krankenhauses in privater Trägerschaft erwähnt, er habe „nie der Reklame bedurft°, ja sie sogar grundsätzlich vermieden, „weil eine gute Sache sich selbst Bahn bricht sie gedeiht unter Gottes Segen".
Der Geist der Freiheit und die Idee der Familie waren die prägenden Elemente des Wirkens Ferdinand Wahrendorffs, seiner Nachfolger und der Mitarbeiter - sie Alle bildeten eine große Familie. Sie entsprachen auch meinem eigenen Wesen und meiner ärztlichen Haltung, und sie haben es mir erleichtert, die schwierige Leitung des „größten privaten Psychiatrie-Krankenhauses Europas" zu übernehmen und den Problemen und Widerständen zu begegnen, die

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mich erwarteten. In einer Ansprache bei der Betriebsversammlung kurz nach meinem Dienstantritt habe ich mich mit einigen Gedanken zu dieser neuen Aufgabe vorgestellt:

Ansprache anläßlich der Übernahme der ärztlichen Leitung der Dr. Wahrendorffschen Privat-: Heil- und Pflegeanstalten Ilten bei der Betriebsversammlung am 6. Oktober 1948

Sehr verehrter Herr Professor!1)

Meine lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

Wenn die ärztliche Leitung der Wahrendorffschen Anstalten nunmehr von Ihnen, sehr verehrter Herr Professor, auf mich übergeht, so ist das für uns Alle, die wir uns hier zusammengefunden haben, ein bedeutsames Geschehnis. Für Sie, sehr verehrter Herr Professor, bedeutet dieser Wechsel den Abschluß Ihrer Lebensaufgabe, die Sie drei Jahrzehnte lang in verdienstvoller und erfolgreicher Arbeit der Anstalt gewidmet haben. Der Übergang in den Ruhestand schließt für eine zeitlebens so tätige, mit Ilten und seinen Menschen so eng verbundene Persönlichkeit wie Sie einen schmerzlichen Verzicht ein. Deshalb freue ich mich, Ihnen die Schwere dieser Umstellung dadurch etwas erleichtert haben zu können, daß Ihnen ein bestimmter Tätigkeitsbereich noch weiterhin verbleibt. Damit werden Sie, Ihrem persönlichen Wunsche entsprechend, statt eines "otium cum dignitate° - einer „Muße mit Würde" - mehr eine „dignitas sine otio" - eine „Würde ohne Muße" - genießen. Ich glaube in dieser nicht gerade alltäglichen Form der Aufeinanderfolge zweier Ärztegenerationen den Ausdruck unseres inneren Einvernehmens trotz des äußeren Altersunterschiedes sehen zu dürfen.
Es ist nun einmal ein historisches Gesetz, daß die jüngere Generation es in vielem anders macht als die ältere, und es ist eine psychologische Grundregel, daß sie meint, es besser zu machen. Und dies mag auch hingehen, sofern dieser Anspruch der Jüngeren von ernsthaftem Bemühen um Fortschritt und von echter Begeisterungsfähigkeit getragen wird, die nicht auf persönliche Geltung, sondern auf sachliche Leistung gerichtet ist. Aber der Fortschrittsfreudigkeit, mit der die jüngere Generation an ihre Aufgabe herangehen muß, steht eine sehr


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ernste Seite gegenüber: Einmal der Umstand, daß wir in allem, was wir denken und tun, „auf den Schultern derer stehen, die vor uns waren", wie G o e t h e sich in seiner Pietät vor den Werken unserer geistigen Väter - sinngemäß ausdrückte. Das andere ist der Preis an Mühen, Zweifeln und Rückschlägen, mit dem je der Fortschritt erkauft werden muß! Diese beiden Tatsachen allein sind geeignet, uns Jüngere nachdenklich und bescheiden zu machen und uns davor zu bewahren, daß wir unsere Leistungen über und die der Generation vor uns unterschätzen! Wenn sich die scheidende und die kommende Generation in diesem Geiste die Hand reichen, dann, glaube ich, werden sich die oft so heiklen Gegensätze von Tradition und Entwicklung am ehesten ausgleichen lassen.
Für mich persönlich bedeutet die Wahl zum Nachfolger eines so verdienstvollen und weithin angesehenen leitenden Arztes eine schöne und große Aufgabe. Ich freue mich darauf, meine klinischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Erfahrungen hier verwerten zu dürfen, die ich in meiner Tätigkeit an den Universitätskliniken in Königsberg und Leipzig, als Universitätsdozent und Vertreter des Klinikchefs, namentlich bei der Weiterführung der Leipziger Nervenklinik nach deren Zerstörung im Jahre 1943, sowie bei der Umorganisation und Modernisierung der psychiatrischen Abteilung des Staatskrankenhauses Hamburg-Langenhorn sammeln konnte. Aber ich gebe mich auch keinen Illusionen über die Schwierigkeiten hin, mit denen die Nachkriegsbedingungen und die besonderen Verhältnisse einer großen Privatanstalt wie Ilten mich nicht verschonen werden. Wann und wieweit es mir möglich sein wird, die Fülle von Aufgaben und Plänen, vor denen ich stehe, zu verwirklichen, dies allerdings wird nicht von mir allein, sondern ganz wesentlich auch von der Mitarbeit aller, die zu Ilten gehören, abhängen. Es ist mir darum zu tun, daß bei der Einzelarbeit, die Jeder von Ihnen zu leisten hat, der Wille zur Zusammenarbeit für das Ganze lebendig und wirksam bleibt. Wir werden nur vorankommen, wenn die ärztliche Leitung mit allen an der Anstalt Tätigen und Interessierten, mit den Besitzern, mit der Verwaltung und dem Betriebsrat unter Berücksichtigung der jeweiligen Sonderaufgaben und Sonderinteressen ein einheitliches Ganzes zum Wohle der Kranken bildet. Von Ihnen, meinen Mitarbeitern, erfordert mein Dienstantritt eine Umstellung und eine Anpassungsbereitschaft, welche denen, die in jahre- und jahrzentelanger Arbeitsgemeinschaft mit der Anstalt verbunden sind, - darüber bin ich mir im Klaren - nicht immer ganz leicht fallen wird. Ich gehöre zwar nicht

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zu denen, die eine Reform nur um des Reformierens willen anstreben. Ich will in meinen neuen Arbeitsbereich weniger hineinstürmen als hineinwachsen. Es kommt mir aber darauf an, die Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die ich praktisch und wissenschaftlich erprobt und als richtig erkannt habe, unter Ausnutzung aller erreichbaren Möglichkeiten anzuwenden. Das Gleiche gilt für sanitäre, bauliche und soziale Einrichtungen, soweit sie in den Bereich der ärztlichen Verantwortung fallen. Ich weiß, daß dies alles nicht von heute auf morgen gehen wird, sondern einer geduldigen, zähen, einer sorgsamen und planvoll aufbauenden Arbeit bedarf. Ich setze bei Jedem von Ihnen den guten Willen zur Mitarbeit an dieser Aufgabe voraus. Alles Weitere wird sich, so hoffe ich, ergeben, wenn wir einander mit Verständnis, Offenheit und Vertrauen begegnen. Es wird mir besonders viel daran liegen, zwischen den Interessen der Einzelnen, soweit es irgend geht, ausgleichend zu wirken. Ich kann das aber nur, wenn Sie sich mit allen Anliegen, die sich nicht durch Rücksprache mit Ihren unmittelbaren Vorgesetzten regeln lassen oder nicht rein verwaltungsorganisatorischer Art sind, an mich wenden. Tragen Sie etwaigen Ärger nicht unausgesprochen mit sich herum, fressen Sie einen Verdruß nicht in sich hinein, scheuen Sie ein offenes Wort nicht, üben Sie Kritik, wenn sie sachlich begründet ist - und wir werden bald eine lebendige Arbeitsgemeinschaft bilden!
Bei aller Bereitschaft zum Ausgleich halte ich es aber für meine Pflicht, Sie über Eines nicht im Unklaren zu lassen: Für alles Neue, das ich vorhabe, und für alles Alte, das bestehen bleiben soll, wird immer nur das Wohl der Kranken den Ausschlag für meine Entscheidungen geben! Die Interessen des einzelnen Mitarbeiters werden von mir immer nur soweit gewahrt werden können, als sie nicht im Widerspruch zu dem Gesamtinteresse der Kranken stehen! Denn es sind nicht die Kranken für uns da, sondern wir sind für die Kranken da! Wenn wir auch noch so viel für unsere Kranken getan zu haben glauben, so bleiben wir ihnen doch immer noch etwas schuldig. Wir können nie genug für sie tun, denn wir, die Gesunden, schulden ihnen die Hilfe, die sie sich selbst nicht geben können!
Was wir unseren Kranken zu geben bemüht sein müssen, das zeigen uns eindringlich die Erfahrungen mit der Arbeitstherapie, die ja gerade hier in Ilten dank der Vorarbeit des Gründers der Anstalt, Geheimrat W a h r e n d o rf f s , ihre segensreiche Wirkung entfalten konnte. Sie lehren uns in besonderer Wei

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se, daß nicht ein Kranker wie der andere ist, sondern daß jeder seine individuelle Eigenart hat. Diese Tatsache bedeutet, daß wir die Kranken nicht nach ihrem bloßen Nutzwert als Arbeitsmaschinen ., verwenden" dürfen, sondern nach ihrem Eigenwert als Menschen behandeln sollen, die den Anspruch erheben können, in der Arbeit einen Sinn und eine Befriedigung zu sehen. Die Arbeit ist es, die der scheinbaren Sinnlosigkeit des schweren Schicksals seelisch Kranker einen sichtbaren Sinn gibt, der ihr Dasein zu erfüllen vermag. Und dieser Sinn ist mehr und etwas ganz anderes als der unmittelbare Nutzen, der von der Arbeit der Kranken jeweils erwartet wird. Der Sinn alles dessen, was wir am seelisch Kranken zu tun versuchen, liegt - nicht nur in der Arbeitstherapie, sondern überhaupt - etwa darin: In dem Allgemeinen, das wir als bestimmte Krankheitsform (Schizophrenie, Epilepsie, Schwachsinn usw.) vorfinden, das Individuelle, von dem dieses Allgemeine mitgeformt wird, aufzusuchen. Denn gerade in diesem Individuellen, tritt uns das eigentlich Menschliche und damit zugleich auch das Heilbare. Gesundgebliebene im Kranken entgegen. Auch in dem seelisch Kränksten und im geistig Zerfallenen lebt oft noch mehr von diesem Menschlichen, Gesundgebliebenen, als man bei oberflächlicher Betrachtung erkennt. Der seelisch Kranke wird noch nicht dadurch gesund oder in seinem Zustand gebessert, daß man einfach das unpersönliche Kranke in ihm durch Schocks und Medikamente zu beseitigen sucht, sondern es muß auch das Gesundgebliebene, Individuelle in ihm angesprochen und entfaltet werden! Darauf richtet sich ganz wesentlich unser Bemühen in der modernen Therapie der Psychosen.
Meine lieben Mitarbeiter! Die eigentliche Not unserer Zeit liegt im Grunde darin, daß sie so arm an echter Liebe geworden ist. Hier, in dem engen Bereich unserer Arbeit für die Kranken, haben wir die Möglichkeit, dieser Not entgegenzuwirken. In der großen, namentlich in der politischen Welt gelten heute wie ehedem die Scheinwerte: Herrschaft, Macht und Unterwerfung. Setzen wir doch diesen Formen des Machtstrebens die echten Werte: Lieben und Dienen entgegen! Jeder einzelne Kranke soll in seiner seelischen Not oder Hilfsbedürftigkeit Mahnung und Auftrag sein, die Welt an Liebe zu bereichern! "Liebe und Diene!": Dies waren die Leitworte, die der Psychiater R o I I e r vor genau 100 Jahren (1848) der von ihm gegründeten Anstalt Illenau in Baden auf ihren Weg mitgab. Es mag kein Zufall gewesen sein, daß es gerade dieser Hausspruch von Illenau war, der mir zuerst vor die Augen kam, als ich unlängst in einem

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Sammelwerk über die deutschen Heil- und Pflegeanstalten nach Angaben über die Anstalt Ilten suchte. Möge sich der tiefe Sinngehalt dieser Leitworte an dem neuen wie auch an dem alten Geiste lltens erfüllen: Wir wollen unsere Kranken lieben, um der Idee des Leidens willen, das uns in ihnen entgegentritt, und wir wollen ihnen dienen um der Idee des Helfens willen, zu dem uns ihr Schicksal verpflichtet. Mit diesem Gelöbnis will ich mit Ihnen Allen gemeinsam an die Arbeit gehen!

Hans-Werner J a n z
Dozent Dr. med. Habil.

1) Prof. Dr. med. Hans W i I I i g e , Leitender Arzt von 1918 bis 1948

Auch mir blieben „Seelenkämpfe nicht ersparte, als ich feststellen mußte, daß ich mit den Anstalten Ilten und Köthenwald eine veritable „Schlangengrube" übernommen hatte. Ich habe meine Reaktion in der Chronik j00 Jahre Ilten 100 Jahre Psychiatrie" nur etwas anders formuliert: n... die Abteilungen für die ,Fürsorgepatienten' hatten durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse einen Zustand erreicht, der wenig geeignet erschien, dem Leitenden Arzt zu einem ruhigen Schlaf zu verhelfen ...": Seuchenhygienisch unverantwortliche Verhältnisse, zweistöckige Betten, Patientinnen auf zum Teil verjauchtem Stroh liegend, einige von ihnen neurologisch nicht untersucht, sodaß z.B. bei einer Kranken erst durch die Lumbalpunktion eine nicht erkannte und behandelte Paralyse festgestellt werden konnte, die Frauen ohne Binden, Zahnbürsten nicht vorhanden, ihr Gebrauch unbekannt, zerissene Kleider auf der Erde herumliegend, zerschlagene Fensterscheiben durch Holzplatten ersetzt, alles in allem unbeschreiblich und heute unvorstellbar! Ich habe es vermieden, die ärztliche Leitung dafür verantwortlich zu machen, konnte aber nicht verschweigen, daß der damalige Verwaltungsdirektor die für die nötigsten Sanierungsmaßnahmen erforderlichen Gelder für die Geschwister Wahrendorff "gehortet" hatte, getreu dem Versprechen, für sie sorgen zu wollen, das er ihrem Vater, dem Sanitätsrat Dr. Rudolf W., geben mußte.
Nur dadurch, daß diese Mißstände offen, auch den Aufsichtsbehörden gegenüber, zugegeben wurden, konnte etwas Wirksames zu ihrer Beseitigung geschehen. Ein solches Eingeständnis entsprach auch ganz dem Grundsatz Ferdinand Wahrendorffs, der niemals Scheu getragen hat, den jedes

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maligen Stand der Anstalt den kritischen Blicken der Fachgenossen und der revidierenden Behörden vorzuführen". Mein Bemühen, die hier nur angedeuteten Mängel Schritt für Schritt zu beheben, wurde gleich zu Anfang erleichtert durch die Freigabe von zwei größeren Abteilungen, die bis dahin als Lazarett der ehemaligen Wehrmacht gedient hatten (und in einem ramponierten Zustand hinterlassen wurden!). Damit konnte eine erste Renovierung vorgenommen und die viel zu große Belegungsdichte aufgelockert werden. Meine Planung richtete sich auf das Ziel, zu verhindern, daß die „Fürsorgeabteilungen" endgültig den Charakter einer reinen „Bewahranstalt" annahmen. Sie sollten vielmehr nach und nach zu Einrichtungen entwickelt werden, die den Erfordernissen einer modernen Anstaltspsychiatrie entsprechen. Darüber hinaus wollte ich einen Teil der Anstalten auf den Stand einer Klinischen Psychiatrie für die Diagnostik und Therapie akuter und subakuter psychischer Krankheiten und neurologischer Krankheitszustände umstellen. Die Ausweitung und Differenzierung der nervenärztlichen Aufgaben durch die Zunahme der Behandlungsbedürftigkeit neurotischer Erkrankungen, durch die Folgen der Kriegsverletzungen des Nervensystems, durch das Anwachsen der Depressionen und nervösen Erschöpfungszustände erforderte auch in den so genannten „Heil- und Pflegeanstalten" - so nannten sich die Wahrendorffschen Anstalten damals die Anwendung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden; die bisher den Kliniken vorbehalten waren. Die instrumentellen, baulichen und personellen Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Aufgaben zu schaffen, ohne die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Anstalt ernstlich zu gefährden, sah fast nach einer Formel für die „Quadratur des Kreises" aus. Der Wirtschaftsdirektor Herr Willi Meyer , (genannt „Kassen-Meyer") hatte es denn auch für erforderlich gehalten, in einem ausführlichen Exposé Herrn H o m a n n zu erklären, daß man mit mir nicht die richtige Wahl getroffen habe! Ich wolle aus Ilten eine „Psychiatrische Universitäts-Klinik" ,zur Fortbildung der Ärzte und zum Wohle der leidenden Menschheit" machen. Denn ich sei ja „der typische Wissenschaftler und sehne mich mit jeder Faser (!) nach einer Professur an einer Universität". Wörtlich: „Dieses wissenschaftliche Arbeiten und das Schaffen der Voraussetzungen für eine Professur des Herrn Dr. Janz zahlen letzten Endes nur die Kommanditisten!" Man sei mit mir „von einem Extrem ins andere gefallen!" „Wenn vorher ärztlich wenig geleistet wurde, so wird jetzt des Guten zuviel getan, aber das sind Dinge, die man als Laie

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einem Arzt, und vor allem einem tüchtigen und strebsamen Arzt, wie Herr Dr. Janz es ist, nicht gut sagen kann, den eines steht vollkommen fest, über die wissenschaftliche Qualifikation und über das ärztliche Können des Herrn Dr. Janz ist überhaupt kein Wort zu verlieren. Er steht in dieser Hinsicht über bisher in Ilten dagewesenen Ärzte. Aus diesem Grunde ist auch der ärztliche Ruf der Anstalt schon ein ganz anderer als früher und trotzdem wird dies alles zu teuer erkauft ...".
Und nun kommt es: „Wenn wir einen durchaus tüchtigen früheren Oberarzt einer Heil- und Pflegeanstalt, der moderne Grundsätze in ärztlicher Betreuung mit der größtmöglichen Sparsamkeit in allen Aufwendungen vereinigt, als leitenden Arzt genommen hätten, würde die Leistungsfähigkeit der Anstalt auf ärztlichem Gebiet und damit der ärztliche Ruf derselben auch gehoben worden sein, ohne daß wir die Anstalt in eine der modernsten Kliniken Deutschlands umwandeln müssen. Diese von Herrn Dr. Janz beabsichtigte Aufnahme-Abteilung für akute Psychosen, die zwar für ihn und seine Herren Wissenschaftler (ich hatte zwei habilitierte Fachärzte eingestellt) außerordentlich wertvoll sind, die aber wirtschaftlich nichts einbringen, im Gegenteil vielleicht noch Geld kosten, hätten wir m. E. ruhig den Universitätskliniken und evtl. den Landesanstalten ... überlassen sollen, aber Herr Dr. Janz kann hierauf nicht verzichten. Er wird Ihnen ohne weiteres sagen, daß die modernen psychiatrischen Behandlungsmethoden in ganz Deutschland gegenwärtig eingeführt werden, daß diese Entwicklung längst noch nicht abgeschlossen ist, daß man von dem reinen Verwahrsystem in den Pflegeanstalten immer mehr zu modernen Behandlungssystemen übergehen wird und daß die Anstalt in diesem Punkte auf keinen Fall zurückstehen könnte, wenn sie nicht altmodisch und rückständig bleiben wollte."
Damit hatte Herr M e y e r genau den richtigen Punkt getroffen! Und dies war auch das Argument, mit dem ich den merkantilen Tendenzen der Kommanditgesellschaft Wahrendorff - die Geschwister sprachen von der Firma"! - am ehesten begegnen konnte, unterstützt von dem weitsichtig denkenden Hugo H o m a n n und dem Niedersächsischen Sozialministerium. Namentlich der Dezernent für die Psychiatrischen Krankenhäuser, Dr. K ü h n e I , selbst Psychotherapeut und Schüler von K r e t s c h m e r , stellte sich mit Nachdruck hinter mein Konzept, mit der der geradezu „himmelschreiende" Kontrast zwischen der baulich gepflegten Privatabteilung und den verwahrlosten „Fürsorge"

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Abteilungen so weit wie möglich überwunden werden sollte. Ich hatte K ü h n e I schon in Hamburg bei M a u z kennengelernt, und er hatte mich betont frostig begrüßt, weil er annahm, ich sei als Verwandter der Wahrendorffs zum Chefarzt erkoren worden. Als ich diesen Irrtum berichtigte, hellte sich sein Antlitz schlagartig auf, und wir haben in den folgenden Jahren vertrauensvoll zusammengearbeitet. Auch mit Willi M e y e r verband mich später eine ungetrübte Vertrauensbeziehung. Von seinem kritischen Exposé an H o m a n n wußte ich nichts, bis er es mir nach meiner Pensionierung zu lesen gab! Er sah aber seine Bedenken gegen mein „unwirtschaftliches" Sanierungs- und Modernisierungsprogramm nach und nach ausgeräumt. Denn inzwischen war es mir gelungen, den Tagespflegesatz für die „Fürsorge"- (chronischen) Patienten, der am 1. Oktober 1948 2.80 DM (!) betragen hatte, in beharrlichen Verhandlungen mit den Kostenträgern, dem Land Niedersachsen und den Kommunen, Schritt für Schritt zu erhöhen und die Einstufung der Wahrendorffschen Anstalten in die Gruppe 1 der Krankenhäuser Niedersachsens zu erreichen. Hinzu kam die Erhöhung der Einnahmen durch den Aufbau klinischer Abteilungen, für die die Krankenkassen den auch für die Behandlung körperlich Kranker geltenden höheren Tagespflegesatz zahlten. Damit begann sich meine zunächst so riskante, die wirtschaftliche Existenz der Anstalten vermeintlich gefährdende Reformpolitik so zu rentieren, daß wir bis zum Ende meiner Tätigkeit Finanzmittel in Höhe von etwa 28 Millionen DM für Sanierungen und Modernisierungen investieren konnten, ohne - außer einem zinsverbilligten kurzfristigen Kredit für den Neubau einer geriatrischen Frauenabteilung - eine Landesbeihilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Daß nach meiner Pensionierung (1976) und dem Ausscheiden des getreuen „Kassen-Meyer" riesige Schulden (weit über 100 Millionen DM!) entstanden
sind, die zu einem Vergleichsverfahren, zu einem Liquiditätsdefizit mit langdauernder Nichtauszahlung der Betriebsrenten und -pensionen sowie zu staatsanwaltlichen Ermittlungen geführt haben, steht auf einem Blatt der Geschichte des „Klinikums Wahrendorff' (heutiger Name), das nicht mehr zu meiner persönlichen Biographie gehört.
Schon ein Jahr nach meinem Dienstantritt, am 23. November 1949, konnte im Besichtigungsprotokoll der "staatlichen Besuchskommission", einer Exekutive der Aufsichtsbehörden, festgestellt werden, es seien „gegenüber dem Befund bei der letzten Besichtigung am 9. April 1948 Verbesserungen in nennenswer

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tem Umfange vorgenommen worden", darunter: Vermehrung der Zahl der Ärzte von 6 auf 11, Neueinstellung von 16 Schwestern und Pflegerinnen, Einrichtung einer Insulinstation im modernisierten Haus 2 in Köthenwald, einer Neurologischen und HirnverletztenAbteilung mit Röntgenlaboratorium und klinischem Labor, Anstieg des Aufwandes für medikamentöse Behandlungen von monatlich 900,-- DM auf 3.400,-- DM im Durchschnitt, im Jahr 48.000,-- DM. (1975 betrug er, wobei allerdings der allgemeine Preisanstieg zu berücksichtigen ist: 678.569,71 DM!), Neubeschaffung von Krankenkleidung, Wäsche, Eßgeschirr, Schuhwerk, Hygieneartikeln, Verbesserung der sanitären Anlagen, Renovierung des Küchengebäudes und weiterer Häuser in Köthenwald, Beseitigung der Strohlager und doppelstöckigen Betten, Auflockerung der Belegungsdichte usw. usw.
Der Krankenstand, der im Jahre 1937 1022 betragen hatte, erhöhte sich nach 1949 auf 1232 im Jahre 1962. Die »Jahres-Rotationsziffer", d.h. die Zahl der Aufnahmen und Entlassungen stieg von 1377 im Jahre 1948 auf 2208 im Jahre 1957. Sie betraf durchweg die krankenkassenversicherten Patienten der neuen Neurologischen und Klinischpsychiatrischen Abteilung, während die Frequenz der Privatabteilungen mit durchschnittlich 500 Aufnahmen und Entlassungen im Jahr seit 1949 konstant geblieben, aber wesentlich höher als in den Vorjahren war.
In dem Protokoll der staatlichen Besuchskommission vom 7. August 1970 heißt es dann: „Dank der ärztlichen und wirtschaftlichen Initiative hat die Entwicklung der Wahrendorffschen Krankenanstalten einen Stand erreicht, der den Erfordernissen der modernen Krankenhauspsychiatrie voll entspricht. Die Wahrendorffschen Krankenanstalten können damit als vorbildlich für die psychiatrische Krankenhausplanung im Land Niedersachsen gelten."
Dieses Urteil war nun schon fast zu wohlwollend. Denn am Ende meiner Tätigkeit blieb noch Vieles zu verbessern übrig. Ein so großes Krankenhaus ist ein schwerfälliges Gebilde und läßt sich nicht in kurzer Zeit grundlegend reformieren. Immerhin hatten wir erreicht, daß die von der „Enquete-Kommission zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin" (der ich angehört habe) geforderten „Humanisierungsmaßnahmen" zur Versorgung psychisch Kranker in wesentlichen Teilbereichen bereits realisiert worden waren. Das Schwergewicht dieser Fortschritte hatte ich in drei Punkten gesehen:

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1. Ausbau und Reform der Milieutherapie,
2. Erweiterung der Sozialtherapie und
3. Förderung der wissenschaftlichen- und Öffentlichkeitsarbeit.

Zu 1.) Das traditionelle Milieu einer psychiatrischen Anstalt war gekennzeichnet durch therapiefeindliche Einflüsse, die von den „Total-Institutions" ausgehen, wie der amerikanische Psychiatriekritiker G o f f m a n sie bezeichnet hat. Er meint damit die autoritäre Macht des Anstaltspersonals, der Ärzte und Pflegekräfte, die den Kranken in einen Zustand der Abhängigkeit versetzt, wie er im Leben draußen nicht zu bestehen pflegt. Er wird von dem Kranken, der aus seinen normalen Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen herausgelöst und in eine „Marginalsituation" versetzt worden ist, als erzwungen, als unnatürlich empfunden. Die unerwünschten Folgen dieser Situation äußern sich in Rebellion, innerer Isolierung, Realitätsentfremdung oder Resignation, Apathie, Abstumpfung. Der englische Psychiater F re u d e n b e rg hat dieses „Anstaltssyndrom" einer genaueren Analyse unterzogen. Ähnliches gilt auch für orthopädische und Lungenheilstätten, Waisenhäuser, Gefängnisse usw. Im Gleichmaß des Tagesablaufs lassen Initiative und Spontaneität nach, bei der Arbeit in Gruppen entwickelt sich eine Art von „Kolonnen-Hospitalismus". Hingegen kann in dem Widerstand gegen ein Leben unter Kranken der Ausdruck eines durchaus gesunden, vernünftigen Selbstschutzes gegen das Leben unter Kranken gesehen werden. Unser Familienpflegling Martchen sagte zum Beispiel auf die Frage, warum sie von einer anderen Kranken so unfreundlich behandelt worden sei, : „Wissen Se, ick bin der zu normal!" Damit sprach sie etwas aus, was in der früheren Psychiatrie viel zu wenig beachtet worden ist, die Tatsache nämlich, daß im psychisch Kranken, gerade auch im Langzeitkranken, so gut wie immer noch Persönlichkeitsbereiche gesund geblieben, vom Krankheitsprozeß nicht betroffen sind. Lange vor den erwähnten Veröffentlichungen zum Problem der "Total Institutions" und des „Anstaltssyndroms" hatte mich ein anderes Wort Martchens sehr nachdenklich gestimmt: „Nee, ick bin eben keen jeborener Anstaltsmensch!" Sie hatte recht: Sie gehörte nicht in eine Anstalt überlieferten Stiles und vertrat damit die Notwendigkeit einer in größerem Umfange zu entwickelnden psychiatrischen Versorgung außerhalb des Anstaltsbereiches („extramural") in Form der Familienpflege oder komplementärer Einrichtungen; oder, wenn dies aus diagnostischen oder organisatorischen Gründen nicht an

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gebracht oder möglich ist, in einer den berechtigten Interessen des Patienten entsprechenden Verbesserung der „Milieutherapie", des „therapeutischen Klimas" in der Anstalt.
Dieser Aufgabe dienten neben einer Erweiterung der schon von dem Gründer eingeführten und gut durchorganisierten Arbeitstherapie (in der Landwirtschaft, den Gärtnereien, Werkstätten, Wirtschafts- und Küchenbetrieben) deren Ergänzung und Differenzierung durch die Beschäftigungstherapie (heute "Ergotherapie" genannt). Im Jahre 1953 habe ich im Rahmen der ersten Staatlichen Schule für Beschäftigungstherapie in Deutschland an der Orthopädischen Heil- und Lehranstalt „Annastift" in Hannover und der Zusammenarbeit mit deren Chefarzt Professor Dr. L i n d e m a n n und der dortigen Ausbildungsleiterin Frau Annemarie B o I I eine beschäftigungstherapeutische Abteilung aufgebaut. Die damit ermöglichte Ausbildung der - meist weiblichen - Schüler in der Psychiatrie, Neurologie und medizinischen Psychologie bildete die Voraussetzung dafür, daß die Schule 1956 von der "World Federation of Occupational Therapists" anerkannt und der neu geschaffene Berufsverband staatlich anerkannter Beschäftigungstherapeuten der Bundesrepublik Deutschland e.V." auf dem 2. Weltkongreß dieses Verbandes in Kopenhagen 1958 als Mitglied aufgenommen wurde. Ich habe an diesem wie auch an dem vorangegangenen Internationalen Kongreß in Edinburgh teilgenommen und außer mehreren Einzelpublikationen den Band II des Lehrbuches der Beschäftigungstherapie mit einem einführenden Beitrag „Beschäftigungstherapie in der Psychiatrie - Grundlagen, Aufgaben, Ziele, Wirkungen und Grenzen" herausgegeben (in dritter, neubearbeiteter und erweiterter Auflage 1979 im Georg Thieme Verlag Stuttgart er schienen).

 

Beschäftigungs- (Ergo-) Therapie

 

Unter „Beschäftigungstherapie" verstehe ich eine therapeutische Hilfe mit Betätigungen, die einem ästhetischen Sinngehalt dienen und die Möglichkeiten künstlerischer oder kunsthandwerklicher Gestaltungsfähigkeit, das „schöpferische Unbewußte" im Kranken, wecken und entfalten sollen. Im Unterschied zur resozialisierenden Wirkung der Arbeitstherapie hat die reindividualisierende bei der Beschäftigungstherapie den Vorrang. Mit dem „bildnerischen Gestalten" (Malen, Zeichnen, plastischem Formen, Schnitzen

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usw.) wird der individuellen, freien Phantasie ein Spiel-Raum gelassen, der an bestimmte Form- und Farbgesetze gebunden sein sollte. Der Unterschied zwischen „Beschäftigung" in diesem Sinne und „Arbeit" sei an folgendem Beispiel verdeutlicht: Ein Stück Holz wird in der Arbeitstherapie in zahlreiche Teile zersägt oder zerspalten, die für den reinen Nutzzweck des Verheizens bestimmt sind. Das Holz ist hier das „Material" der Arbeit. In der Beschäftigungstherapie wird ein Stück Holz zu einem einzigen Gebilde geschnitzt, das einem ästhetischen Sinn dienen, also „schön" sein soll. Hier bildet das Holz den Stoff der Beschäftigung. Im ersten Falle ist der Patient mit dem Gegenstand nur durch das zeitlich begrenzte Gesetz des praktischen Zweckes verbunden, aber von ihm durch das Instrument, das er benützt - Säge oder Axt - getrennt. Das Material ist nichts als das Objekt seines Tuns. Im zweiten Falle hingegen besteht eine weit „innigere" Beziehung zwischen dem Patienten und dem Holz: Es wird nicht nur von dem Schnitzmesser be-"arbeitet", sondern auch von der anderen Hand getastet, gedreht, vom Auge betrachtet und geprüft, also in einer sich wandelnden Form „wahrgenommen" (Aisthesis" heißt Wahrnehmung) gestaltet und erlebt. Dabei wirkt das Holz zugleich unsichtbar lenkend auf die Bewegung der Hände und Augen zurück: Es ist als gestalteter „Stoff` nicht nur Objekt, sondern wird so auch zum Subjekt der Tätigkeit des Patienten - eine Verwandtschaft mit dem Wesen des Spiels, von dem B u yte n d i j k (in ,Wesen und Sinn des Spiels". Der Neue Geist, Wolff, Berlin 1933) sagt, daß „nicht nur einer mit etwas spielt, sondern daß auch etwas mit dem Spieler spielt". Wir können den gestalteten Stoff - im Unterschied zum Material - auch mit K a n d i n s k y („Über das Geistige in der Kunst", 4. Aufl. Bümplitz, Bern 1952) als ,Wesen mit eigenem Leben" verstehen, dessen Formen und Farben die „Saiten" des „Klaviers" der Seele in Schwingung versetzen. Ähnliches gilt für die seelische Wirkung der Farben beim Malen. So kann bildnerisches Gestalten sowohl innerseelische krankhafte, nicht verbalisierte Vorgänge zum Ausdruck bringen wie auch positive Wirkungen auf das Gefühlsleben, die Stimmung, die Antriebsdynamik des Kranken ausüben, also diagnostisch wie therapeutisch hilfreich werden.
Beim Nachdenken über den Unterschied zwischen der Bearbeitung eines „Materials" und der Gestaltung eines „Stoffes" lag es nahe, sich an Schillers Gedanken zu den zwei Grundtrieben zu erinnern: dem Sachtrieb und dem

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Formtrieb (In: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. Schillers philosophische Schriften und Gedichte, hrsg. von E. K ü h n e m a n n , Philosophische Bibliothek, Bd. 103, Meiner, Leipzig (o.J.). Der Sachtrieb entspreche der körperlichen, sinnlichen Natur des Menschen, er richte sich auf die Vielheit der Materie, schaffe Veränderliches und gebe so der Zeit einen Inhalt. Indem er Begrenzungen setzt, binde er den Geist an die Sinnenwelt und bleibe so dem Wechselnden am Menschen, seinem Zustande verhaftet. Der Formtrieb hingegen gehe aus von der "vernünftigen Natur" des Menschen, er ziele hin auf Freiheit, auf Harmonie und Einheit in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, erhöhe das Sinnliche zum Geistigen, hebe die Zeit, den Wechsel auf und behaupte so das Unveränderliche am Menschen, seine Person. Diesen beiden Trieben stellt S c h i I I e r einen dritten gegenüber, in welchem sie miteinander verbunden wirken: den Spieltrieb. Er vereint das Sinnliche mit dem Geistigen, das Wechselhafte mit dem Bleibenden, er hebt alle Zufälligkeiten wie allen Zwang auf, indem er den Menschen körperlich und moralisch in Freiheit setzt. Während für S c h i I I e r der Gegenstand des Sachtriebes das „Leben", des Formtriebes die „Gestalt" ist, wird der Gegenstand des Spieltriebes, weil er beides vereint, zur „lebenden Gestalt" und damit zu einem Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung „Schönheit" nennt, zur Bezeichnung dient. Schiller selbst fragt hier: „Wird aber nicht das Schöne dadurch, daß man es zum bloßen Spiel macht, erniedrigt und den frivolen Gegenständen gleichgestellt, die von jeher im Besitze dieses Namens waren?", und er antwortet: „Nein!" Denn „Spiel" bedeutet nicht Einschränkung, sondern Erweiterung, da es eben den Sachtrieb mit dem Formtrieb vereint. Mit dem Ideal der Schönheit fordert er auch ein Ideal des Spieltriebes, „das der Mensch in allen seinen Spielen vor Augen haben soll". Mit anderen Worten: „Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen", und ... "um es endlich auf einmal herauszusagen: Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt".
Nun - im Alltag des beschäftigungstherapeutischen Wirkens wird weder S c h i I ! e r s Ideal der Schönheit noch das des Spieltriebes zu erreichen sein. Aber seine Gedanken vermitteln uns doch ein geistiges Leitbild für das, was mir als Wesensmerkmal der Beschäftigungstherapie vorgeschwebt hat, nämlich für

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ihren Spielcharakter in seiner Beziehung zur Idee der Schönheit und der Freiheit. Ich wollte damit den „homo faber" der Arbeitstherapie ergänzen durch den „homo ludens" der Beschäftigungstherapie, den Huizinga in seiner berühmten Schrift: "Homo ludens" (2. Aufl., Köln 1938) so definiert hat: „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des Andersseins als das gewöhnliche Leben."
Dies alles hat nichts mit „Spielerei" oder gar „Verspieltheit" zu tun. Ich habe mir vielmehr gedacht, mit einer so verstandenen psychiatrischen Beschäftigungstherapie den Formtrieb und den Spieltrieb im Patienten anzusprechen und ihm damit zu helfen, sich zu lösen von seiner Gebundenheit an krankhafte Veränderungen des Antriebes, der Stimmung, des Gefühlslebens, der Motivation, der Willensimpulse, des Denkens und des Sozialverhaltens. Mit dieser lösenden, befreienden Wirkung soll sie dazu beitragen, daß er aus seiner pathologischen Selbstentfremdung (im Französischen ist der psychisch Kranke ein "aliéné", ein sich selbst und der Mitwelt Entfremdeter!) wieder zu sich selbst zurückgeführt wird, daß sich ein Wandel von der krankhaften Geteiltheit, der Dividualität der Persönlichkeit in der Depression, der Schizophrenie, der Neurose zur gesunden Einheit, der „Unteilbarkeit", der In-dividualität anbahnt oder vollzieht. Friedrich Theodor V i s c h e r hat einmal gesagt ("Das Schöne in der Kunst", Berlin, 1898), das Schöne habe die Kraft, aus dem geteilten Menschen den Ganzen wieder herzustellen, und dies sei gleichbedeutend mit dem Gesunden!
Im Geiste der Elemente des Schönen, des Siels und der Freiheit haben wir versucht, innerhalb der Anstalt eine therapeutische Gemeinschaft als Gemeinschaft der Individualitäten, nicht als „Kolonne", aufzubauen, in der die Beschäftigungstherapie ihren angemessenen und aus dem Repertoire psychiatrischer Hilfen nicht mehr wegzudenkenden Platz hat. Zu dieser Gemeinschaftsordnung gehört die vom Kranken selbst mitzugestaltende Pflege alles dessen, was ihn nach innerer und äußerer Gelöstheit im sinnvollen Wechsel mit Spannung streben läßt. Im einzelnen sind dies: Bewegungsspiele, sportliche und rhythmische Übungen, Gesellschaftsspiele, Denk- und Ratespiele, Schachspielgruppen (Dr.

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N i c o l a u s ), Puppenspiele (Marionettentheater), Theateraufführungen, Bewegungs- und Ausdruckspädagogik mittels des Klanges und Rhythmus (Artur C o b u r g e r ), Stegreifspiele, Volks- und Gesellschaftstanz, Gruppensingen, Musizieren (mit neu eingestellten Musikerzieherinnen!), Patienten-Orchester, bildnerisches Gestalten nach Vorlagen oder als frei improvisiertes, auch durch Musik angeregtes Malen und Zeichnen (Frau Irmela H e i n i s c h e n ), therapeutisches Gruppenwandern (Dr. T h i e m a n n ), pädagogisch orientiertes Rollenspiel, das Morenosche „Psychodrama", „Bibliotherapie", festliche Veranstaltungen, wie sie auch früher schon üblich waren: Ernte, Sommer-, Weihnachts-, Faschingsfeste. Auch die Pflege des Sinns für Heiterkeit und Humor, dieses unentbehrlichen Ferments eines Einklanges des Menschen mit sich selbst und dem Mitmenschen, sollte dabei nicht zu kurz kommen. So hofften wir, und es ist uns auch mehr oder weniger gut gelungen, einen Hauch von Freude in die ernste Situation des seelisch Kranken und geistig Behinderten hineinwehen zu lassen.
Ich habe Wert darauf gelegt, daß zwischen Beschäftigungs- und Arbeitstherapie kein Wert-, sondern nur ein methodischer Unterschied gemacht wird. Beide Arten des helfenden Umgangs mit dem seelisch Kranken oder geistig Behinderten müssen gleichrangig neben- und miteinander wirken und sich wechselseitig ergänzen. Beide dienen gemeinsamen Wirkungszielen: Sie sollen den natürlichen Betätigungstrieb ansprechen, der auch in einer schizophrenen depressiven oder manischen Erkrankung oder nicht zu schweren geistigen Behinderung nicht erloschen zu sein pflegt, sie zielen auf den gesunden Wunsch, Werte zu schaffen und Freude am Selbstgeschaffenen zu empfinden, das Selbstwertgefühl durch eigene Leistung zu stärken, diese nach Möglichkeit noch zu verbessern, mit dem Mitmenschen zu wetteifern, ohne daß Neidgefühle geweckt werden, Selbstvertrauen mit Gemeinschaftsgefühl und Mitverantwortung für den Anderen zu verbinden, sie sollen alles das, was an Interessen und Fähigkeiten im Kranken erhalten oder zumindest als Möglichkeit angelegt ist, aber vom Krankheitsprozeß, von der Einförmigkeit des Alltages, vom Hang zur Trägheit, Müßiggang, Bequemlichkeit verschüttet wurde oder zu werden droht, zu wecken, anzuregen und zu entfalten suchen. Daß dies auch eine erzieherische Aufgabe für die Beschäftigungstherapeutinnen, die Ärzte, das Pflegepersonal und andere nichtärztliche Helfer bedeutet, bedarf keiner Betonung. In einem

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fortschrittlich geführten psychiatrischen Krankenhaus wird daher auch eine pädagogisch orientierte Förderung der Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit der Patienten, z.B. durch den Aufbau eines „Patientenparlaments" und einer demokratischen Selbstverwaltung, der Gewinnbeteiligung an der Produktion usw. von besonderem Gewicht sein müssen!
Natürlich gibt es Überschneidungen zwischen arbeits- und beschäftigungstherapeutischen Komponenten, etwa bei gärtnerischen Arbeiten, bei der Kunstweberei und -tischlerei, beim Flechten von Bastzöpfen, Holzarbeiten usw. Eine ordnende Gestaltung der Form und Farbe im Geiste des "Schönen" ist nicht möglich ohne Mühe, Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit, also ohne Arbeit. Franz Marc hat dazu in seinen „Briefen aus dem Feld" gesagt (Rembrandt, Berlin, 5. Aufl. 1959): „... daß die Form von selber kommt ... das scheint mir nicht wahr. Beständige Meditation über die Form, beständigen Willen zur Form, den man immer wieder korrigiert, verwirft, neu ansetzt ... ohne das geht's nicht. Bloß auf die Form warten wie die Blumen auf den Frühling, das war und ist nie produktive Kunst. Das Werk freilich muß den dornenvollen Weg ganz vergessen machen." Der arbeitstherapeutische Nutzzweck hat zwar gegenüber dem ästhetischen Sinngehalt in der Beschäftigungstherapie nicht den Vorrang. Aber er sollte auch in ihr nicht vernachlässigt werden. Daß jedem kunstnahen Tun eine Nützlichkeit, freilich eine Nützlichkeit besonderer Art, innewohnt, sagt uns August Rodin mit dem schönen Gedanken („Die Kunst". Gespräche des Meisters, gesammelt von P. G s e I I . Wolff, Leipzig 1937): „Ich nenne alles nützlich, was uns in einen glücklichen Zustand versetzt. Nun gibt es auf der Welt nichts, was uns glücklicher macht als Vergeistigung und Phantasie. Das vergißt man heute gar zu sehr."
Von diesem Sinn der Vergeistigung und Phantasie mag etwas, sei es auch nur ganz schlicht und angedeutet, in der Beschäftigungstherapie spürbar werden, wenn sie ihrer Aufgabe im Rahmen einer reformierten „Milieutherapie" in der Psychiatrie in rechter Weise dienen soll!

 

Therapeutische Modernisierungen

 

Es war die schon von dem Gründer des „Asyls Ilten" dankbar betonte „Gunst der Zeit", die es auch mir ermöglichte, die sich allgemein anbahnende

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Weiterentwicklung der psychiatrischen „Anstalten" zu Fachkrankenhäusern mit zu vollziehen: Es waren die jüngsten Fortschritte der psychiatrischen Pharmakotherapie und es war die Einführung individual- und gruppenpsychotherapeutischer Methoden in die Behandlung der Psychosen, der man früher - bis auf die Anwendung von Narkotika, Schlafmitteln, „Dämmerschlaf"-, oder „Elektrokrampf" („Schock"-) - Verfahren verhältnismäßig hilflos gegenübergestanden hatte. Skeptiker sprachen vom „therapeutischen Nihilismus" in der Psychiatrie. Die neuen „Psychopharmaka" (Neuroleptika, Antidepressiva, Tranquilizer) bedeuteten zwar geradezu eine Revolution es gab keine Jobstationen", keine Dauerbäder mehr, man konnte auf mechanische Zwangsmittel verzichten. Aber die chemische Ruhigstellung, die Aggressionsdämpfung der Patienten drohten so etwas wie eine „Friedhofsruhe" in den Krankenstationen entstehen zu lassen.
Wie jeder Fortschritt, so hatte auch dieser seine Kehrseite: Die neuen psychisch wirksamen Medikamente waren nicht frei von unerwünschten, zum Teil sogar über die Anwendungszeit hinaus bestehenden Nebenwirkungen, und sie verführten durch die psychomotorische Ruhigstellung des Patienten zur Passivität des ärztlichen und nichtärztlichen Helfers. Man neigte dazu, ihn sich selbst, d.h. der Wirkung des Mittels, zu überlassen. Aber bei genauerer Beobachtung zeigte sich, daß sie zu Reaktionen führen konnten, die ich als „neuroleptische Wirkungsdissoziationen" bezeichnet habe, zum Beispiel zu einem Mißverhältnis zwischen dem chemisch erzeugten körperlichen Schwere- und Lahmheitsgefühl und dem klar bleibenden Bewußtsein, mit dem diese Wirkung vom Kranken als „Vergrößerung!", „Verkörperlichung" der Persönlichkeit und damit als etwas unnatürlich Einengendes, Freiheitswidriges empfunden wird. Dies bedeutet, daß der Patient eines besonderen Verständnisses für die Unvermeidbarbeit, aber auch die medikamentöse Beherrschbarkeit störender Nebeneffekte und einer entsprechenden persönlichen Zuwendung und Führung bedarf. Ich habe auf diese und andere Risiken einer „Chemisierung der Seele" frühzeitig hingewiesen: In einem Referat unter dem Titel „Medikamentöse Beeinflussung der Psyche - ein Problem unserer Zeit", zu dem ich vom Deutschen Ärzteverlag anläßlich des Internisten-Kongresses in Wiesbaden 1959 aufgefordert worden war (Ärztliche Mitteilungen - Deutsches Ärzteblatt Nr. 23, B. Juni 1959), in einem Vortrag „Über neuroleptische Wirkungs-Dissoziationen" bei einer französisch

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deutschen Tagung in Lyon, 21./22. November 1959 (In: Entretiens Franco-Allemands sur la Therapeutique Psychiatrique, La Revue Lyonnaise de Medecine, Sonder-Nr., September 1959) und in einem Beitrag zum Symposion „Neurolepsie und Schizophrenie", veranstaltet von der Universitäts-Nervenklinik Mainz am 23. Und 24. März 1962 in Bad Kreuznach (Thieme Verlag Stuttgart 1962).
Nach dem erstgenannten Referat bei einem Presse-Empfang des Deutschen Ärzteverlages in Wiesbaden kam es nicht nur zu zustimmenden, sondern auch zu vehement-polemischen Besprechungen in der Fach- und Laienpresse, unter anderem von Ludwig M a rc u s e in der „Zeit", der sich darüber empörte, daß ich es wagte, ihm den Gebrauch seiner geliebten Schlafmittel „madig zu machen", die er so nötig brauche und auf die er nicht zu verzichten gedenke, um sich seine geistige Produktivität am nächsten Tage zu erhalten. Dabei hatte ich gar nicht vor einem vernünftigen Gebrauch, sondern nur vor einem Mißbrauch der angst- und spannunglösenden und schlafanstoßenden „Tranquilizer" wegen ihres Gewöhnungs- und Abhängigkeitspotentionals gewarnt. Die bei psychischen Krankheiten - an einer solchen litt L.M. offenbar nicht - angewandten Pharmaka, die Neuroleptika und Antidepressiva, führen nicht zu süchtigen Abhängigkeiten! Leider haben sich meine Bedenken gegen einen nicht genügend reflektierten Fortschrittsglauben an die Perfektibilität der psychiatrischen Pharmakotherapie im Laufe der Jahre bestätigt.
Abgesehen von den unbezweifelbaren praktischen Erfolgen dieser neuen Behandlungsverfahren - man sprach von einem „Ereignis" in der Geschichte der Heilkunde - haben sie eine Fülle von neuro-chemischen, psychopharmakologischen, pathophysiologischen Forschungsimpulsen und -richtungen ausgelöst und den Grundlagen einer biologisch orientierten Psychiatrie als Gegenentwurf zu der ebenfalls aktuellen soziologischen Psychopathologie die Wege geebnet - beides jeweils mit der Gefahr der Einseitigkeit und Verabsolutierung! Ich habe versucht, einige Probleme, die sich aus der Doppelfrage: "Was macht das Medikament mit der Persönlichkeit?" und: ,Was macht die Persönlichkeit mit dem Medikament?" ergeben unter klinischen, medizin, geistes- und zeitgeschichtlichen, erkenntniskritischen, anthropologischen und verhaltensphysiologischen („ethologischen") Aspekten in einer Monographie zu erörtern: „Psyche und Pharmakon-Ergebnisse und Probleme der Phamakotherapie seeli

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scher Störungen" (Verlag für Psychologie Dr. C.J. Hogrefe, Göttingen 1963). Das kleine Buch schließt mit dem Satz: „Wir stehen hier vor der wahrscheinlich problemreichsten und empfindlichsten Art aller Therapie überhaupt: Vor der Aufgabe, dem seelisch Kranken und dem existentiell gefährdeten Menschen unserer Zeit mit stofflichen Mitteln zu helfen, ohne daß die Rücksicht außer acht gelassen werden darf, die der unstofflichen Eigenart und Einmaligkeit seiner Persönlichkeit gebührt."
Im Jahre 1951 haben wir eine neurologische und Hirnverletzten-Abteilung eingerichtet, zu deren Einweihung ich Professor N o n n e , den damals 90jährigen Altmeister der Neurologie, eingeladen hatte. N o n n e hielt nicht allzuviel von der Psychiatrie. Der einzige Psychiater, den er gelten ließ und sogar schätzte, war mein Lehrer B o s t r o e m , und daraus ergab sich eine freundliche Beziehung zu mir. (Nur eines hat er B o s t ro e m übelgenommen: Daß er nicht seine einzige Tochter Clara geheiratet hat!). Bei der Besichtigung unserer Neurologischen Abteilung wunderte er sich, daß wir die Stufen und Türschwellen nicht begradigt hatten. Das wäre doch nötig gewesen, um zu verhindern, daß die Tabiker (Patienten mit Gleichgewichtsstörungen durch eine syphilitische Erkrankung des Rückenmarks) stolpern und hinfallen. Ich sagte ihm, das sei nicht nötig. Denn es gebe keine Tabiker mehr! (Die Tabes dorsabis war dank der modernen Lues-Therapie so gut wie ausgestorben). N o n n e war erstaunt und ich glaubte ihm anzumerken, daß das Forschungsgebiet, um das er sich so große, international anerkannte Verdienste erworben hatte, die syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems, um einen wichtigen und interessanten Teilbereich ärmer geworden war. Beim Abendessen hielt er eine kleine Dankesrede, zu deren Abschluß er einen Apfel vom Nachtisch in die Hand nahm, um ihn als Königssohn „Paris" einer der drei anwesenden Töchter W a h re n d o rf f , Marlise Starke oder Maria Creutzmann oder Erika Cornelsen überreichen zu wollen. Alles wartete gespannt, wer die Erwählte wohl sein würde, „Hera", „Athene" oder „Aphrodite°. Da er offenbar in keiner der statiösen Töchter eine Aphrodite sah (der respektlose Schwiegersohn Werner S t a r k e hatte sie einmal zu Antonia als „Denkmäler" bezeichnet), schnitt er den Apfel in drei Teile und bedachte jede der drei Göttinnen galant mit einem Drittel! Am nächsten Morgen gerieten wir in einige Bedrängnis, weil wir mit unseren Gästen nachts, leicht beschlürft zum Drei-Tage-Rennen nach Hannover gefahren waren

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und erst am frühen Morgen zurückkehrten. Wir wußten, daß N o n n e bereits um 7 Uhr zu frühstücken pflegte, und erfuhren, daß er sich kurz davor im lltener Park unserer Wohnung bedrohlich näherte. Antonia mußte in äußerster Eile den Frühstückstisch decken, und es gelang ihr mit Mühe und Not, das Ehepaar N o n n e noch rechtzeitig zu empfangen und den Unmut des für seine minutiöse Pünktlichkeit berüchtigten Altmeisters abzuwenden. Beim Abschied versammelten wir uns mit unseren Gästen um ihn herum, er bewegte seine Hand über Antonias und meinen Kopf als Zeichen des Segens und sagte: "Bei meinen Pppatienten (er stotterte leicht) nehme ich dafür 20 Mark, bei Ihnen mache ich es umsonst!" Als ich ihn zum Auto begleitete, verabschiedete er sich mit den Worten: „Es hat mir bei Ihnen sehr gut gefallen. Ich werde Ihnen zum Dank auch alle meine Privatpatienten überweisen. Leider habe ich kkkeine mehr!"
Schon ein Jahr zuvor hatten wir eine Abteilung für 50 geistig hochgradig behinderte, schulbildungsunfähige Knaben eingerichtet, um auf Bitte des Niedersächsischen Sozialministeriums und Landessozialamtes dem Notstand in der Versorgung behinderter Kinder als "Landesaufgabe" abzuhelfen. Wir übernahmen damit eine besonders schwierige Aufgabe, die an die Mitarbeiterinnen und den Abteilungsarzt ungewöhnliche, zum Teil methodisch neuartige Anforderungen stellte. Alles, was hier, namentlich auch durch die Jugendleiterin Frau S c h u m a n n und den Abteilungsarzt Dr. H i I I e r s , in mühevollem, aufopferndem, unendlich geduldigem Bemühen um die Weckung und Entfaltung unentwickelt gebliebener, einfachster Möglichkeiten des Menschseins, zum Beispiel einer geordneten Bewegung im Raum, des Spiels, des Musikhörens, bei Sprachunfähigen auch der Ansätze zu sprachlicher Lautbildung, erreicht werden konnte, gehört zu den therapeutisch-psychagogischen Erfolgen, auf die wir glauben stolz sein zu dürfen. Einige Anregungen für diese Arbeit verdanke ich meinen Besuchen ähnlicher Einrichtungen in England und den Niederlanden.
Als ich Nonne durch unsere Schwerstbehinderten-Kinder-Abteilung führte, meinte er, es wäre doch wohl besser, diese bedauernswerten Wesen durch einen „Gnadentod" zu erlösen als sich eine derartige Mühe mit ihnen zu machen. Ich erwiderte, daß einen Euthanasie" unvereinbar mit den ethischen Grundlagen des Arzttums wäre. Je hilfsbedürftiger ein Mensch ist, desto größter müßten die Anstrengungen sein, ihm zu helfen, auch dann, wenn diese Hilfe zu

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keinem praktischen Nutzen für die Gesellschaft führe. N o n n e s Antwort: "Ich achte Ihre Ansicht, aber ich teile sie nicht!"

 

Zum Problem der ..Euthanasie" in der deutschen Psychiatrie

 

Natürlich bin ich, wenn auch erst sehr spät, gefragt worden, was ich von den Auswirkungen der „Euthanasie"-Aktion im NS-Staat auf die Wahrendorffschen Anstalten wüßte. Ich wußte nichts Konkretes. Als früherer Universitätskliniker war ich von den damaligen Tötungsaktionen an psychisch Kranken und geistig Behinderten persönlich nicht betroffen, und in Ilten wurde über dieses düstere Thema nicht gesprochen. Es vergingen überhaupt viele Jahre, bis die deutsche Psychiatrie sich mit den als Gemeinnützige Kranken-Transport-AG" zynisch getarnten Mord-Maßnahmen auseinanderzusetzen begann. Erst durch eine von Joachim Ernst M e y e r , Psychiatrie-Ordinarius in Göttingen, dem Sohn meines Königsberger Doktorvaters, angeregte Arbeit seines Doktoranden S ü s s e ist Genaueres über das bekannt geworden, was auch in Ilten-Köthenwald während der NS-Zeit geschehen ist. Meyer hat hierüber in einer Festrede zur 125-Jahr-Feier der Wahrendorffschen Anstalten 1987 berichtet: Zur Amtszeit meines Vorgängers, Professor W i I I i g e , 1940, „trafen dort die ersten Meldebögen ein, deren Ziel die Tötung psychisch Kranker war": Bis zum Ende der „offiziellen Euthanasie-Aktionen" im Herbst 1941 sind ihnen insgesamt mindestens 70 000 Kranke zum Opfer gefallen. „Der Widerstand der Kirchen, vor allem auch die Rede des Bischofs von Münster, Graf G a I e n , und die wachsende Beunruhigung der in der Nähe der Tötungsanstalten wohnenden Bevölkerung veranlaßte H i t I e r , im Herbst 1941 die ,T4Aktion offiziell zu beenden. Die Tötung der Kranken wurde aber - besonders auch in den Anstalten in den von deutschen Truppen besetzten Ostgebieten - fortgesetzt. Bei dieser ,wilden Euthanasie' sind mindestens noch einmal 70 000 Kranke getötet worden. „.."Professor Willige hat - zusammen mit Dr. W e r t h und dem Oberpfleger Fischbach - in großem Umfang die Diagnosen gefälscht, vor allem aber die Angaben zur Arbeitsfähigkeit der Kranken, so daß wegen zu weniger Meldungen Ende 1941 eine Ärztekommission aus Berlin eintraf, um die Kranken persönlich zu untersuchen." Dabei gelang es Willige und Fischbach , einen Teil der Schwerstkranken (also nicht arbeitsfähigen)

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nicht vorzustellen. Schließlich waren 300 Patienten zur "Verlegung" vorgesehen, von denen 70 im Oktober 1941 von der „Gemeinnützigen Kranken-Transport-AG" zum Bahnhof und von dort mit dem Zug nach Regensburg abtransportiert wurden. Herrn Fischbach gelang es trotzdem, einen Teil dieser Kranken zurückzuholen (darunter unser „Manchen"!). „Unterstützt von Landesrat A n d r e a e von der Hannoverschen Provinzialverwaltung wurde es so möglich, viele Patienten der Wahrendorffschen Anstalt vor der Tötung zu bewahren." „1944 sollte dann liten-Köthenwald als Ausweichkrankenhaus für Hannover geräumt werden. Diesmal war es Werner S t a r k e , Schwiegersohn von Rudolf Wahrendorff , dem es unter großem persönlichen Einsatz gelang, die Räumungsaktion zu stoppen. Noch kurz vorher, im November 1944, wurden 90 Männer und 53 Frauen nach dem - wegen der Tötungsaktionen gegen Ende des Krieges besonders gefürchteten - Kaufbeuren verlegt, über deren Schicksal nichts mehr bekannt wurde." Soweit Joachim Ernst Meyer
Die Vorgeschichte des Euthanasieproblems in seiner Bedeutung für die deutsche Psychiatrie geht weit zurück: Im Jahre 1920 haben der Leipziger Strafrechtslehrer B i n d i n g (Vater des heute fast vergessenen Dichters Rudolf. G. B.) und der Freiburger Psychiatrie-Ordinarius H o c h e eine Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" veröffentlicht, in der die Tötung „unheilbar Blödsinniger" oder „geistig Toter" empfohlen wurde, wobei B i n d i n g sich mit Vorschlägen über die Frage befaßte, wie die Freigabe durch eine Staatsbehörde erfolgen könne! H o c h e sprach von „leeren Menschenhülsen" und „Ballastexistenzen". Ihnen mit Mitleid zu begegnen, sei Zeichen eines „Denkmangels". In seinem 1934 erschienenen Altersrückblick Jahresringe Innenansicht eines Menschenlebens" (mit einem geistvollen „Vorwort zu jeder Selbstdarstellung") schreibt er (Seite 290): „... ich lehne den Standpunkt ab, daß der Arzt die bedingungslose Pflicht hat, Leben zu verlängern ...: es gibt Umstände, unter denen für den Arzt das Töten kein Verbrechen bedeutet ..." In der bereits ein Jahr später erschienenen zweiten Auflage der damals viel gelesenen Autobiographie H o c h e s ist diese Passage weggelassen worden! Er hätte sie ruhig stehen lassen können, da sie heute wieder höchst aktuell geworden ist und die sogenannte aktive Euthanasie, das heißt die Tötung eines Schwerkranken durch den Arzt von dem deutschen Chirurgen H a c k e t h a I und holländischen Ärzten für berechtigt gehalten und auch praktiziert wird. H o c h e ,

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der mit einer Jüdin verheiratet war, hat später, 1940, die unter Berufung auf seine und B i n d i n g s Ansichten erfolgten Tötungsmaßnahmen des NS-Staates aufs schärfste mißbilligt! Ihm war vor kurzem die Asche einer Verwandten zugeschickt worden, die man wahrscheinlich der „Euthanasie" »unterzogen" hatte! Es waren sozialdarwinistische Argumente, mit denen H o c h e und dann H i t I e r und seine Gefolgsleute die Ermordung der „Ballastexistenzen" als Befreiung von einer unerträglichen Belastung der Volkswirtschaft nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, in den zwanziger Jahren und im Beginn des Zweiten Weltkrieges zu rechtfertigen gesucht hatten. Interessant ist, daß es, wie Joachim Ernst Meyer nachweisen konnte, an einer offenen Auseinandersetzung mit den Thesen B i n d i n g s und H o c h e s in den deutschen psychiatrischen Zeitschriften und Publikationen in den Jahren 1920 bis 1932 gefehlt hat. „Die Mehrzahl der deutschen Psychiater war nicht vorbereitet, dem NS-Regime in dieser Frage rechtzeitig Widerstand zu leisten." ,
Der Göttinger Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. Volker Z i m m e r m a n n hat in einem Beitrag im Niedersächsischen Ärzteblatt (19/1992, Seite 31-32) berichtet, daß aus der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt in insgesamt vier Transporten 238 Patienten im Jahre 1941 der »Euthanasie" zum Opfer gefallen sind. Professor Ewald , der Leiter der Anstalt, zugleich dortiger Psychiatrie-Ordinarius, konnte 129 zum Transport vorgesehene Patienten durch Zurückstellung retten. Ewald zählte ungeachtet seiner positiven Einstellung zum ,Dritten Reich" zu den wenigen deutschen Ärzten, die persönlich und beruflich Widerstand gegen dieses medizinische Verbrechen leisteten". An die Universitätskliniken, also auch an unsere Leipziger Klinik, wagte man sich nicht heran, zumal in ihnen nicht chronisch, sondern akut oder subakut Kranke behandelt wurden. Ich erinnere mich, daß B o s t r o e m im August 1940 uns kurz berichtete, er sei „zur Erörterung dringender kriegswichtiger Maßnahmen auf dem Gebiet des Heil- und Pflegewesens" nach Berlin eingeladen worden, und habe an einer Sitzung am 15. August in der Tiergartenstraße 4 (daher die Bezeichnung „T4" für die Berliner Euthanasie-Zentrale!) teilgenommen. Was dort besprochen worden ist, sagte er nicht. Er war, wie die anderen Gesprächsteilnehmer, zum Stillschweigen verpflichtet. Wir hatten ja auch keine „Meldebögen" zu erwarten. Es war H i t I e r daran gelegen, die Euthanasieaktion unter strenger Geheimhaltung schnell und unbürokratisch" ohne Einschaltung staatlicher

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Stellen durchführen zu lassen. Zu diesem Zweck hatte er bereits im August 1939 dem Reichsleiter B o u h I e r und seinem Begleitarzt Brandt , die beide schon mit der „Kindereuthanasie" befaßt waren, den zunächst mündlichen, dann mit dem 1. September 1939 datierten schriftlichen Auftrag in folgen dem Wortlaut erteilt: „Adolf H i t I e r Berlin 01.09.1939 Reichsleiter B o u h I e r, Dr. med. B ra n d t sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. Adolf Hitler"
Für dieses Schreiben war ein Privatbogen Hitlers aus dessen Privatkanzlei verwendet worden. "Um nach außen hin jede Verbindung zwischen ,T'" und der ,Kanzlei des Führer'" zu verschleiern, benutzten führende ,T4-Mitarbeiter'" Decknamen, soweit sie bei der Tötung in Erscheinung traten." (nach Gerhard K n e u k e r , Wulf S t e g I i c h : "Begegnungen mit der Euthanasie in Hadamar", Psychiatrie-Verlag, Rehburg-Loccum 1985). Die Tötungen erfolgten in sechs dazu besonders eingerichteten Anstalten: Grafeneck in Württemberg, Bernburg in Anhalt, Sonnenstein bei Pirna, Hartheim bei Linz, Brandenburg und zuletzt in Hadamar in Hessen. In Hadamar sind allein in acht Monaten zwölftausend Kranke ermordet worden. Zur Verbrennung des zehntausendsten Patienten im Sommer 1941 wurde in Hadamar einen Feier" für das Personal mit Bier veranstaltet! Ermordet wurde anfangs mit tödlichen Injektionen (Veronal, Luminal, Scopolamin-Morphium), später in einem als „Duschraum" bezeichneten Vergasungsraum.
Auf den Protest des Bischofs H i I f r i c h , des evangelischen Pastors Braune , des Württembergischen Landesbischofs Wurm und Anderer wurden die Mordaktionen in Grafeneck eingestellt. Aber sie gingen in Hadamar mit „bestem geschultem und eingespieltem Personal" weiter!
Durch die mutige Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von G a I e n angeregt, hat sich der gefeierte Kriegsheld Oberst M ö I d e r s , ein gläubiger Katholik, zu Wort gemeldet und gegen die Ermordungen protestiert. Er soll dadurch erreicht haben, daß Hermann Göring selbst bei H i t ! e r protestierte. Die Hadamarer Hauptverantwortlichen, der Verwaltungsleiter K I e i n , der Oberpfleger R u o f f und der Pfleger W i ! I i g sind im

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März 1946 „durch Befehl Nr. 4 der Militärkommission des Befehlshabers der Siebenten Armee der Vereinigten Staaten" durch Erhängen hingerichtet worden.
Die früheste Dokumentation der von Ärzten begangenen Verbrechen ist Alexander M i t s c h e r I i c h und Fred M i e I k e zu verdanken („Das Diktat der Menschenverachtung Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen", Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, März 1947). Es ist eine grauenhafte Dokumentation, in der der Gegenstand der Anklage vor dem amerikanischen Militärgericht Nr. 1 festgehalten wird: Experimente an Menschen (Unterdruckversuche, Unterkühlungsversuche mit „biologischer" Wiedererwärmung durch Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück (!), Fleckfieberund Sulfonamidversuche, Euthanasieprogramm für "unheilbare Kranke", Massensterilisationen). Angeklagt waren 23 SS-Ärzte und Wissenschaftler, darunter 9 Universitätsprofessoren und eine Ärztin, Frau Dr. med. Hertha O b e r h e u s e r . Hitlers Begleitarzt, Prof Dr. med. Karl Brandt , Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Generalleutnant der WaffenSS, Hauptangeklagter, berief sich auf „übergeordnetes staatliches Interesse, dem sich der Arzt zu unterwerfen habe!" Er ist zum Tode verurteilt und durch Erhängen hingerichtet worden. Als er mich zur Besichtigung meiner Sanitätseinheiten in Rußland besuchte, wußte ich nichts von der verhängnisvollen Rolle, die ihm von H i t I e r übertragen worden war. Er fühlte sich auch an seine Schweigepflicht dem „Führer und Obersten Befehlshaber" gegenüber gebunden.
Ich erwähnte schon, daß das Problem der „Euthanasie" inzwischen wieder aktuell geworden ist. Um jenes anrüchig gewordene Wort zu vermeiden (man spräche richtiger von „Kakothanasie"), heißt es jetzt „Sterbehilfe". Nach Meinungsumfragen bejahen fast 80% der Bevölkerung Deutschlands den Gedanken, daß unerträglich, sinnlos oder unnütz gewordenes Leben von Ärzten beendet werden sollte. ( D ö r n e r , Deutsches Ärzteblatt, 48, 1987). Eine umfangreiche, zum Teil emotional und kontrovers geführte Diskussion ist im Gange. 1980 hat sich eine „Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben e.V." konstituiert, deren Gründer und Vorsitzender Atrott sich zur Zeit (1993) allerdings in Untersuchungshaft befindet. Ihm wird - neben Steuerhinterziehungen - vorgeworfen, Cyankali zu überhöhten Preisen zum Zwecke der Selbsttötung verschickt zu haben. Seine Nachfolge hat mein Göttinger Fachkollege Prof. P o h I m e i e r übernommen. Das wichtigste Ziel dieser Gesellschaft ist die
391 Reform des § 216 Strafgesetzbuch mit der Forderung, daß Tötung auf Verlangen straffrei werden soll. Dies wäre unvereinbar mit der grundsätzlichen Schutzwürdigkeit des Lebens, die auch, für den Arzt ethisch verpflichtend ist. Hingegen erscheint berechtigt, daß in einem in den USA bereits weit verbreiteten „Patiententestament" der Wunsch nach Vermeidung einer künstlichen Lebensverlängerung festgelegt werden kann.
Ich habe mich zum Thema „Sterbehilfe" in der Zeitschrift „Medical Tribune Internationale Wochenzeitung, Ausgabe für Deutschland" (Jahrgang 11, Nr. 21, 21. Mai 1976) an Hand praktischer Beispiele geäußert und in einem Vortrag bei der Tagung der religionspädagogischen Arbeitsgemeinschaft Sehnde am 17.12.1975 meine Ansicht in fünf einfachen „Thesen" zusammengefaßt:
1. Alleinige Aufgabe und Verpflichtung des Arztes ist es, Leiden zu lindern und Leben nach Möglichkeit zu erhalten.
2. Dem Arzt steht kein Urteil über den Wert oder den Unwert des Lebens eines ihm anvertrauten Kranken zu. Menschliches Leben ist grundsätzlich schutzbedürftig und schutzwürdig.

3. Aktive „Euthanasie", Tötung eines Kranken ist mit den ethischen Grundlagen
des Arzttums unvereinbar, auch dann, wenn der Kranke sie wünscht! Beihilfe zur Selbsttötung sollte strafbar sein!

4. Passive Sterbehilfe kann ärztlich gerechtfertigt und auch geboten sein, um Leiden unheilbar Kranker, dem Tode geweihter Menschen zu lindern. Wenn mit dieser Sterbehilfe (man sollte eher von „Lebenshilfe" sprechen) durch medizinische Maßnahmen eine Verkürzung der Lebensdauer verbunden ist, kann und muß dies als unvermeidbar in Kauf genommen werden.
5. Die Beendigung eines nur noch mit technologischen Mitteln aufrecht zu erhaltenden, rein vegetativen Lebens durch Abschaltung des Beatmungsgerätes ist ärztlich nur dann verantwortbar, wenn mit absolut zuverlässiger Methodik der irreversible Hirntod des Kranken nachgewiesen ist.

Für die Entscheidung des Arztes in Grenzfällen gibt es keine allgemeinverbindlichen Richtlinien. Sie kann nur nach strenger Prüfung seines Gewissens unter Berücksichtigung aller medizinischen Gesichtspunkte getroffen werden. Die Last der Verantwortung trägt er alleine!

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Psychiatrie im Umbruch

 

Eine psychiatrische Einrichtung wie Ilten ist in ihrer Entstehung, Struktur und Entwicklung nicht nur ein Abbild des jeweiligen Standes der Seelenheilkunde, sondern auch der gesellschaftlichen und geistigen Einflüsse der Zeit, ihrer Wandlungen und Krisen. Ebenso wie Kultur und Gesellschaft befindet sich heute auch die Psychiatrie in einem tiefgreifenden Umwandlungsprozeß. Er nimmt überall da ein krisenhaftes Gepräge an, wo die Gegensätze zwischen dem überstürzten Fortschreiten wissenschaftlicher, technologischer, ökonomischer Entwicklungen und dem Stehenbleiben auf überlieferten Ordnungen und Anschauungen sich verschärfen. Von der Problematik dieser Situation wird jede Analyse des Milieus eines psychiatrischen Krankenhauses und damit auch jede Überlegung, wie es künftig zu gestalten sei, auszugehen haben. Das heutige Anstaltsmilieu - dies gilt nicht nur für Ilten - ist noch weitgehend von der beunruhigenden Tatsache geprägt, daß neuen Erfordernissen der Unterbringung und Behandlung psychisch Kranker veraltete Organisationsformen gegenüberstehen: z.B. dem wachsenden Bedarf an psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten die Raumnot durch Überfüllung der Anstalten, der Notwendigkeit eines individuell gelenkten Umganges mit dem einzelnen Kranken, die Zusammenballung größerer Patientenzahlen in wartesaalähnlichen Schlaf- und Tagesräumen, dem therapeutischen Vorzug kleinerer Krankengruppen der Mangel an Pflegepersonal usw.
Zu diesen Hemmnissen, die eine Verbesserung des Anstaltsmilieus erschweren, kommen beim Kranken selbst als Kind seiner Zeit psychologische Besonderheiten, die uns vor neue schwierige Fragen und Aufgaben stellen und uns täglich vor Augen führen, daß die Psychiatrie von heute nicht mehr die von gestern ist: Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Umstrukturierung in unserem technologisch-ökonomischen Zeitalter und der damit einhergehenden Änderung des Lebensgefühls und Lebensstils, der Erwartungen und Ansprüche haben sich die Entstehungsbedingungen wie auch die Erscheinungsformen seelischer Krankheiten gegen früher geändert und kompliziert: Berufliche, eheliche, familiäre Konflikte, zeitgeschichtlich bedingte Entwurzelungs- und Vereinsamungssituationen,
393 soziale Milieuschäden können die Bereitschaft zu psychischen Erkrankungen entstehen lassen oder verstärken und zur Ausformung ihrer Symptomatik beitragen. Dies gilt nicht nur für neurotische Entwicklungen und Suchtkrankheiten, sondern auch für depressive und schizophrene Psychosen. Manche psychische Krankheiten weisen daher ein anderes Gepräge auf als zu Zeiten unserer psychiatrischen Vorfahren. Depressionen und Suchtkrankheiten sind häufiger geworden. Abhängigkeitskrankheiten (krankhafte, süchtige Abhängigkeit von Alkohol, psychotropen Medikamenten oder illegalen Drogen) bilden heute an psychiatrischen Krankenhäusern den größten Anteil der Aufnahmeraten und -frequenzen. Allein diese Entwicklung ist zu einer Herausforderung ersten Ranges für die klinische Psychiatrie geworden, zumal Suchtkranke als die „ungeliebten Kinder der Psychiatrie" gelten. Bei den Abhängigkeitskrankheiten steht der Alkoholismus weitaus an erster Stelle. Ich habe mich, wie viele meiner Fachkollegen, daher - mehr nolens als volens - empirisch und wissenschaftlich mit dem Komplex der Abhängigkeitskrankheiten in Vorträgen, Vorlesungen und zahlreichen Publikationen beschäftigen müssen. Über das für uns Psychiater völlig neue Thema des Rauschmittelmißbrauches bei Jugendlichen, dem wir anfangs ziemlich hilflos gegenüberstanden, habe ich Anfang der siebziger Jahre alleine 74 Vorträge gehalten. Ich sah in den jugendlichen Drogenabhängigen keineswegs „ungeliebte Kinder", sondern eben Kranke, die der Hilfe bedürfen, bin dafür aber auch oft genug bitter enttäuscht worden. Wir mußten erst lernen, mit den Risiken der moralischen Depravation unserer jugendlichen Drogenabhängigen, ihrer Unglaubwürdigkeit, ihrer Unfähigkeit, ein in sie gesetztes Vertrauen zu rechtfertigen, kritisch umzugehen.
Bei den depressiven und schizophrenen Psychosen galt es, den traditionellen Begriff des „Endogenen", Anlagebedingten, einer Relativierung zu unterziehen und den psychosozialen, zeitgeschichtlich akzentuierten Komponenten ihrer Entstehung einen angemessenen Stellenwert zuzuerkennen.
Daß sich mit dem Wandel des „Zeitgeistes" auch die Symptomatik psychischer Krankheiten wandelt, läßt sich an folgenden Beispielen ablesen: Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist der früher sehr häufige Versündigungs- und Verarmungswahn bei depressiven Erkrankungen deutlich hinter hypochondrischen Krankheitsbefürchtungen zurückgetreten, ein Vorgang, der nach statistischen Erhebungen in den USA mit der ständig wachsenden Massenkommunikation- und
394 Informationsflut zusammenhängt. Bei schizophrenen Psychosen wähnen die Patienten nicht mehr, wie noch in früheren Zeiten, Gott oder Christus zu sein, sondern von der Gestapo oder GPU (NKWD) bespitzelt oder von „Atom"- oder „Laser"-Strahlen beeinflußt zu werden usw.
Mit der Einführung der psychiatrischen Pharmakotherapie hat sich auch ein neuer Typus von Kranken herausgebildet: Er umfaßt Patienten, deren psychischer Zustand zwar durch die medikamentöse Behandlung bis zur Entlassungsreife, aber noch nicht bis zur Fähigkeit, im freien Leben selbständig zu bestehen, gebessert werden konnte. Sie bedürfen meist der Weiterbehandlung mit psychisch wirksamen Medikamenten unter ärztlicher Überwachung. Daran fehlt es aber häufig, und es ergeben sich Schwierigkeiten der Wiedereingliederung in die Familie, den Beruf und die Gesellschaft. Erschwerend wirkt hier auch die fehlende Bereitschaft, einen teilgesundeten, auf verständnisvollen, geduldigen Umgang angewiesenen Angehörigen in den Familienverband aufzunehmen. Nicht selten werden psychisch Kranke oder geistig Behinderte von ihren Familien „abgeschrieben"!! Wir haben es erlebt, daß die Schwägerin unserer Annchen es ablehnte, sich nach unserem Tode um sie zu kümmern, mit der Begründung: „Dann liegt sie uns nur auf der Tasche!"
Die Zahl der aus psychiatrischen Krankenhäusern Entlassenen beträgt in Deutschland jährlich mehr als die Einwohnerzahl einer Großstadt! In nur etwa einem Drittel gelingt die Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit. Für die anderen zwei Drittel müssen daher Möglichkeiten einer neuen sozialtherapeutischen Übergangsform zwischen Anstalt und freiem Leben geschaffen werden. Das sind die auf Seite *** erwähnten „Komplementären Einrichtungen".
Der Versuch, im Großraum Hannover eine Familienpflege aufzubauen, ist gescheitert. Nur im Bereiche des Landschaftsverbandes Rheinland ist es dank der Initiative des Chefarztes der Rheinischen Landesklinik für Psychiatrie in Bonn, Dr. Thilo H e I d , gelungen, nach französischem Muster eine psychiatrische Familienpflege, allerdings mit hohem personellem und finanziellem Aufwand, zu entwickeln. Überhaupt können wir von Erfahrungen im Ausland manches lernen: Lange vor uns hat es in der Sowjetunion, in den USA und in England Nacht- und Tageskliniken" gegeben, die sich außerordentlich bewährt haben: Teilgesundete Kranke schlafen in der Anstalt und werden von ihr ärztlich versorgt, sie arbeiten tagsüber in handwerklichen oder industriellen Betrieben 
395 und erhalten eine ihrer Leistung entsprechende Entlohnung oder sie werden am Tage therapeutisch versorgt und können zu Hause oder in einem Wohnheim schlafen. In der Sowjetunion hat man, soweit ich weiß, zuerst neue Wege zu einer „sozialen Rehabilitation durch Leistungssteigerung" in der Psychiatrie beschritten: Stufenweise erhöhte Anforderungen, zunächst noch in der Anstalt, dann versuchsweise in Werkstätten und Industriebetrieben, schließlich in freier Arbeit, aber bei Fortdauer der ärztlichen Behandlung.
Der allgemeinen Trend" lautet: Heraus aus den Anstalten, hinein in die Gemeinde! Stichwort! „Gemeindepsychiatrie"! Das mit ihm korrespondierende Schlagwort heißt: „Gesundschrumpfung". Damit ist die größtmögliche Verkleinerung der traditionellen „Mammut"-Anstalten gemeint, zu denen auch Ilten-Köthenwald gehört, wenn es auch aus zwei einzelnen Bereichen besteht. Reformatorische Heißsporne wie der italienische Psychiater B a s a g I i a haben sogar - auch aus ideologischer Motivation - die völlige Auflösung der psychiatrischen Anstalten gefordert. Daß dies eine zwar gutgemeinte, aber gefährliche Utopie ist, beweisen die Erfahrungen in Italien selbst: Die ohne soziale und ärztliche Betreuung aus der psychiatrischen Anstalt in Triest entlassenen Kranken streunten in Mailand und anderen Städten als arbeits- und erwerbsloses Proletariat umher. In den USA sind die Betten in den State Mental Hospitals um etwa 50% reduziert worden mit dem Ergebnis, daß diese chronisch Kranken heute meist in heruntergekommenen Hotels oder Heimen leben müssen. Auch in Deutschland hat man, um die Anstalten zu verkleinern, Langzeitpatienten in Heime verlegt und erfahren müssen, daß die "Gesund"- eher eine „Krank"-Schrumpfung war: Die meisten chronisch Kranken wurden in ein therapeutisch und soziales Vakuum ausgegrenzt und gerieten in außerpsychiatrischen Behinderteneinrichtungen ins Abseits der Psychiatriereform, wie der Chefarzt der Landesanstalt Merxhausen, Heinrich K u n z e berichtet hat (zitiert nach Joachim Ernst M e y e r in seinem Festvortrag zum 125. Jubiläum der Wahrendorffschen Kliniken).
In Ilten ist dieser Fehler vermieden worden. Aber die chronisch Kranken sind und bleiben wenn nicht das Stief-, so doch das Sorgenkind der Psychiatrie! Bei allen Reformbestrebungen sollte nicht vergessen werden, daß bereits im Jahre 1868! von Wilhelm G r i e s i n g e r , dem genialen Wegbereiter der neueren Psychiatrie, Maßnahmen gefordert worden sind, die zum Reformprogramm
396 der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung einer Enquete über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin 1975 gehören: Abbau der Überfüllung in psychiatrischen Krankenhäusern, Gemeindenähe (!), Entflechtung in Kliniken, kleinere städtische und größere ländliche „Asyle", grundsätzliche Gleichstellung der psychiatrischen mit hallen übrigen Kliniken", Abwehr der Hospitalisierungsschäden durch Liberalisierung des Umganges mit den Kranken und durch Arbeitstherapie, Einrichtung psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, ambulante Dienste, wissenschaftliche Erforschung der Psychopathologie Langzeitkranker, wirtschaftliche Hilfen für sozial Schwache, "flankierende" Einrichtungen („Freie Colonien"). G ri es i n g e r hat diesen Wünschen die beherzigenswerte Mahnung hinzugefügt: „Nur auch hier keine Pedanterie und keine sogenannten Systeme, die alles über einen Leisten schlagen!" Es ist eben nicht alles „modern", was sich so nennt!
Die wirklichkeitsfremde Utopie einer Abschaffung der psychiatrischen Krankenhäuser oder auch ihrer radikalen Verkleinerung ohne komplementäre Einrichtungen gehört zum Glück ebenso der Vergangenheit an wie die Absurditäten einer „Antipsychiatrie", für die es nur eine kranke Gesellschaft, aber keine psychisch Kranken gibt. Allein das geschichtlich Gewachsene, ideologisch vorurteilsfreie, durch Erfahrung kritisch und selbstkritisch Überprüfte bleibt der zukunftsträchtige Boden, auf dem das erwachsen kann, was „Fortschritt" genannt zu werden verdient - eine Herausforderung nicht nur an die Psychiater, sondern auch an die politisch Verantwortlichen!
Als Vorstufe zu einer „Außentherapie" in Form komplementärer Einrichtungen haben wir 1975 eine „Sozialtherapeutische Abteilung" geschaffen, in der die Patienten auf die Entlassung vorbereitet werden sollen; und zwar nach den Grundsätzen der therapeutischen Gemeinschaft mit Arzt, Klinischer Psychologin, Sozialpädagogin (grad.), einem Fachtherapeuten für Alkoholkranke, einer Beschäftigungstherapeutin und Krankenpflegediensten unter Mit-Verantwortung und Mitbestimmung der Patienten. Wir hatten schon lange vorher gute Erfahrungen mit der Beteiligung von Kranken an Diskussionen über Probleme des Lebens in der Anstalt gemacht. Es ermutigte uns zum Ausbau des Mitverantwortungs- und Mitbestimmungsrechtes der Kranken, als wir feststellen konnten, daß die Frauen in unserem völlig veralteten, heruntergekommenen Frauen-Pfleghaus durchaus vernünftige und realisierbare Vorschläge für Verbesserungen
397 vorbrachten. Mein Mitarbeiter Dr. L a p p hat mit Hilfe der von J. L. M o re n o , dem Begründer der gruppentherapeutischen Methode des „Psychodramas", entwickelten Soziometrie die Gruppenstruktur und -dynamik dieser Frauen-Abteilung analysiert und Verbesserungen der Plazierung und des Zusammenlebens der Patientinnen ermöglichst. Diese soziometrischen Analysen dienten zugleich dem Zweck, die Patienten nach Möglichkeit zum Gedankenaustausch über allgemein interessierende Themen anzuregen, das Bewußtsein ihrer Mitverantwortung zu wecken, ihre Kommunikationsfähigkeit zu fördern und mit alledem das therapeutische Milieu anzuheben. Unsere Erfahrungen mit diesen Methoden - auch in ihrer Bedeutung für die Beschäftigungstherapie - sind von Dr. Lapp in der Zeitschrift „Der Nervenarzt" (1959), „Gesundheitsfürsorge" (1960) und in der amerikanischen Zeitschrift „Group Psychotherapy" (1961) veröffentlicht worden. In dem früheren Frauen-Pfleghaus, nach dem Neubau „Luise-Wahrendorff-Haus" benannt, mit 84 Plätzen, davon 39 Plätzen für gerontopsychiatrische Patientinnen, wurden 1963 außer Räumen für die Beschäftigungstherapie und Tagesräumen mit Fernsehen, eine Verkaufsstelle für Lebensmittel und Bedarfsartikel für Patienten (gegen „Patientengeld" im Wert 10:12) auch ein Frisiersalon und eine Cafeteria für Patienten und ihre Besucher eingerichtet. Für die Erfordernisse und Möglichkeiten einer Mitbestimmung der Kranken war es wichtig, zu fragen und zu wissen, wie sie selbst ihre Krankheit und die Wirkung der Therapie erleben. Diese subjektive, die eigentlich „phänomenologische" Seite ist in der früheren Psychiatrie zu Gunsten der einseitig objektiven Feststellung der Symptomatik vernachlässigt worden. Ich habe daher Wert darauf gelegt, die Patienten zu befragen, wie sie auf die Art und Dosierung der jeweils verordneten Psychopharmaka reagieren, um sie damit auch - in den gebotenen Grenzen! - im ärztlichen Gespräch über die medikamentöse Behandlung mitbestimmen zu lassen. Inzwischen (1993) haben Hornung und B u c h k r e m e r an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Münster 797 ambulant behandelte, „erfahrene" Patienten (Schizophreniekranke) nach ihren Erfahrungen im Umgang mit den verordneten Neuroleptika befragt. Ergebnis: Die Meisten hatten ihre Medikation auf eigene Faust geändert und sowohl die Steigerung wie auch die Reduzierung der Dosis als überwiegend vorteilhaft erlebt. Hingegen hatte sich das eigenmächtige Absetzen der Medikamente als ungünstig erwiesen. („Nervenarzt", Bd. 64, S. 434). Die Hälfte der in Münster 398 untersuchten Kranken will künftig eigenständiger mit den Mitteln umgehen! Die beiden Autoren empfehlen daher, die berechtigten Wünsche der Kranken nach mehr Selbstbestimmung zu erkennen und zu fördern. So könne eine Zusammenarbeit entstehen, in der die Kranken in die Behandlung einbezogen werden und dazu beitragen, die „oft als unberechenbar erlebte Krankheit zu bewältigen" (FAZ 6. Oktober 1993, Nr. 232). Nach meiner Ansicht sollte aber diese Zusammenarbeit grundsätzlich gemeinsam mit dem behandelnden Arzt erfolgen und damit auch der Sicherung und Festigung des beiderseitigen Vertrauensverhältnisses dienen.
Unerläßlich für die Verbesserung der therapeutischen Hilfen war die Umschulung des Pflegepersonals von den früheren „Wärtern" zu fachlich aus- und weitergebildeten Krankenpflegern. Im vorigen Jahrhundert hatte es noch. Anstalten gegeben, in denen ehemalige Soldaten Wärterdienste nach militärischem Drill verrichteten, den Kranken Kommandos erteilten und sie mit Holzgewehren exerzieren ließen! Das ist in llten zwar nicht geschehen, aber der Oberpfleger F i s c h b a c h in Köthenwald führte dort lange Zeit ein strenges Regiment. Mit meinem Dienstantritt änderte sich dies. Der Krankenpfleger Karl S c h i m m e r hat hierzu in der Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum der Wahrendorffschen Kliniken 1987 folgendes geschrieben: „Ein Jahr, nachdem ich angefangen hatte, bekamen wir mit Prof. Dr. Janz einen neuen Chefarzt. Das brachte für meine Kolleginnen und Kollegen und mich eine Reihe gravierender Änderungen mit sich. Janz führte ein - das klingt aus heutiger Sicht wahrscheinlich unglaublich -, daß jeder Patient eine Zahnbürste bekam. Einschneidender war noch sein Einfluß auf unser Verhalten den Patienten gegenüber. Wir wurden ja zu jener Zeit noch Wärter genannt, und von dieser Vorstellung war auch unser Verhältnis den Patienten gegenüber bestimmt. Die Patienten galten damals für viele - auch außerhalb der Anstalt als Menschen zweiter Klasse. Janz verlangte von uns, wir sollten mit ihnen wie mit gleichberechtigten Personen umgehen, auf ihre Wünsche und Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Dieses Ansinnen war für uns damals ein schwerer Brocken."
Wir haben 1960 eine staatlich anerkannte Krankenpflegeschule eröffnet und ein Wohnheim für Schwesternschülerinnen und Krankenpflegehelferinnen neu erbaut. Mit diesen beiden Einrichtungen, die für die Zukunft unserer Anstalt lebensnotwendig geworden waren, hofften wir dem bedrohlich werdenden
399 Mangel an Schwesternnachwuchs begegnen zu können. Es konnten dann auch laufend Lehrgänge nach dem Krankenpflegegesetz vom Jahre 1957 durchgeführt und Prüfungen von der staatlichen Kommission mit gutem Ergebnis abgehalten werden.
Diese und zahlreiche weitere Neubauten und Einrichtungen wären nicht zustandegekommen, ohne das Verständnis und die Initiative des Generalbevollmächtigten der Wahrendorffschen Erbengemeinschaft, Cornelsen. Es gehörte für mich auch zur „Gunst der Zeit", daß sich mit der Rückkehr des Schwiegersohnes Dr. Rudolf Wahrendorffs , des Forstmeisters Robert Cornelsen, aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1950 eine Zusammenarbeit zwischen den wirtschafts-, finanz-, bau- und verwaltungsorganisatorischen Planungen und der ärztlichen Leitung ergab, mit der die Verschiedenartigkeit dieser Bereiche bei aller notwendigen Begrenzung der Kompetenzen und Selbständigkeiten sich in glücklicher Weise zum Dienst an einer gemeinsamen Verpflichtung und Zielsetzung verbinden konnte. Die ärztlichen Erfordernisse fanden bei Robert Cornelsen ein dankenswertes Verständnis, und so ließen sich Personal- und Sachprobleme mit unbürokratischer Großzügigkeit auch da lösen, wo in einem Staatsbetriebe Hemmnisse durch Etats- und Zuständigkeitsfragen zu erwarten gewesen wären. Überhaupt konnte die familiäre, offenherzige, von gegenseitigem Vertrauen bestimmte Atmosphäre des Zusammenwirkens - Roberts Frau Erika nannte uns „die Dioskuren" - manche Schwierigkeiten des Ineinandergreifens von ärztlichen und administrativen Befugnissen vermeiden helfen - ein Vorzug der Tradition Iltens, von der Ferdinand W a h r e n d o r f f gesagt hatte, „der familiale Charakter sei dem Asyle unverändert erhalten geblieben"! Das war einmal!
Der Vorsitzende des Betriebsrates Werner H o r n schrieb hierzu in der Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Wahrendorffschen Kliniken 1987: „Als bisher letzte patriarchalische Vertreter im positiven Sinne können der wirtschaftliche Leiter Forstmeister Cornelsen und Prof. Dr. J a n z als Chefarzt angesehen werden. Von deren Fürsorge und Verständnis für die Nöte der Beschäftigten kann man heute noch viel hören. Beide waren es aber auch, die den Grundstock zur heutigen Entwicklung gelegt haben, indem sie sich als Kaufmann und Arzt ideal ergänzten." Es ist im wesentlichen der vorausschauenden Planung Robert Cornelsens zu verdanken, daß insgesamt Häuser
400 mit 740 Plätzen neu gebaut und Häuser mit 256 Plätzen renoviert und saniert worden sind, außerdem ein Gemeinschaftshaus als Sozialzentrum, eine Zahnstation und ein Frisiersalon in Köthenwald, ein Lehrlingsheim, eine Gutshof-Station (in der ich zusammen mit Frau Marlise W a h r e n d o r f f sehr praktische Nachtschränke nach Mustern, die wir in englischen Psychiatrie-Kliniken gesehen hatten, von unserer Tischlerei einbauen ließ). Hinzu kam der Neubau einer Wäscherei mit Nähstube, in der weibliche Kranke arbeitstherapeutisch tätig sind. Von einem Ersatzneubau des Hauses 2b und der Renovierung der Häuser 3 und 3a in Köthenwald hieß es im Protokoll der amtlichen Besuchskommission vom 14. Juli 1969: „Beide Häuser bedeuten für das Gesamt-Krankenhaus eine wertvolle Bereicherung. Damit haben 244 Betten des Gesamt-Krankenhauses eine grundlegende und sehr zu begrüßende Modernisierung erfahren."
Eine der letzten und wichtigsten Neubauten zu meiner Zeit war die am 15. August 1972 eröffnete Klinische Aufnahmeabteilung in Köthenwald mit je 45 Plätzen für männliche und weibliche Kranke mit Wachstation, offener Abteilung, Funktionsräumen für Beschäftigungstherapie, klinischem Zentrallaboratorium, Räumen für physikalische Therapie unter Leitung eines Masseurs und medizinischen Bademeisters (Bewegungstherapie, Massage, Wärmebehandlungen, elektrische Bäderbehandlung, Gegenstromanlage, Hallenbad, Kneipp-Anwendungen, Sauna) sowie einer Cafeteria. „Der Gesamtbau dieser Klinischen Aufnahmestation muß als vorbildlich bezeichnet werden." (aus dem Protokoll der amtlichen Besuchskommission vom 6. November 1972).
Besonders am Herzen lag mir auch die Einführung musiktherapeutischer Methoden in die Behandlung von Langzeit- und klinisch Kranken durch die Einstellung einer Musiktherapeutin (1973). Diese Neuerung hatte sich aus unseren guten Erfahrungen mit dem ergeben, was ich „psychiatrische Ausdruckstherapie" genannt habe. In Verbindung mit einem von meinem Mitarbeiter Arthur C o b u r g e r gemeinsam mit der argentinischen Ergotherapeutin Lila Pena
(Anm: mit span. Circumflex) angewandten, bewegungstherapeutischen Verfahren, der „Rhythmischmusikalischen Erziehung", konnte erreicht werden, daß Patienten mit schweren, chronifizierten Schizophrenien, die weder mit psychopharmakologischen Mitteln noch mit Arbeitstherapie zu beeinflussen waren, bis zur Vorstufe der beruflichen Re-Integration gefördert wurden. Der Verlauf dieser neuen Therapieform ist in 401 einem Dokumentarfilm eindrucksvoll veranschaulicht worden, der zuerst bei dem Weltkongreß der Psychiatrie in Madrid 1968, später auch in Wien, Rio de Janeiro und anderen Städten gezeigt wurde. In einem Vortrag auf der 22. Jahrestagung der Chilenischen Gesellschaft für Neurologie, Psychiatrie und Neurochirurgie in Santiago de Chile 1965 und in einer Vorlesung vor der Medizinischen Fakultät der Universidad Nacional de Cuyo in Mendoza (Argentinien) 1965 habe ich über Grundlagen, Praxis und Ergebnisse unserer „Psychiatrischen Ausdruckstherapie" an Hand von Farbdiapositiven bildnerischer Gestaltungen psychisch Kranker berichtet (in spanischer Sprache) und eine lebhafte Diskussion ausgelöst. An der Erarbeitung der therapeutischen Methodik hatten außer Herrn C o b u r g e r und Frau P e n a meine Mitarbeiter Fritz H i I I e r s und Hans L ü t z e n k i r c h e n , sowie Frau Dr. Oda K e i t e I mitgewirkt. Professor Armando R o a , Catedrático (Ordinarius) für Psychiatrie an der Katholischen Universität in Santiago de Chile, den ich bei meinem Freunde Prof. Francisco L I a v e r o in Madrid kennengelernt hatte, ließ sich von meinen Gedanken zu einer neu konzipierten Beschäftigungstherapie zur Einladung nach Santiago und einem Beitrag in der Zeitschrift Rev. Psiquiat. Clin Cantiago de Chile 2 (1963) Nr. 2 anregen („Hans-Werner Janz y algunos conceptos sobre Terapia Ocupacional y Laborterapia"). Mit Armando R o a und Professor Herrera , dem Psychiatrie-Ordinarius im westargentinischen Mendoza, verband mich eine freundschaftlich-kollegiale Beziehung, die durch eine glückliche geistige und menschliche Übereinstimmung mit dem Philosophie-Ordinarius Espinosa und seiner deutschen Frau Ingrid in Mendoza erweitert wurde. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligte und finanzierte Reise nach Chile und Argentinien führte mich mit unseren lieben Freunden Ursula und Ottilio K ü s t e r m a n n in Buenos Aires und Moron zusammen. Ulla war meine Apothekerin in Ilten gewesen und hatte ihren Ottolio bei einem Rosenmontagsfest in unserer Wohnung kennen und lieben gelernt. Wir feierten Weihnachten unter dem Kreuz des Südens im Freien - dort ist es dann Sommer - bei Asado, Rotwein und argentinischen Liedern.
Musik als Therapeutikum haben wir in Ilten-Köthenwald gefördert durch den Aufbau von Sing- und Instrumentalgruppen, zwei Patientenorchestern, durch Tanznachmittage und Schallplattenabende, Teilnahme der Patienten an Konzerten. Leider sind diese musiktherapeutischen Aktivitäten nach meinem
402 Weggang nicht fortgesetzt worden. Dafür hat mein Nachfolger Dr. Jan C o r n e I s e n die Idee des schöpferischen Gestaltens mit einem von der Niedersächsischen Landesregierung geförderten Mal- und Theaterprojekt, der „AuE-Kreativschule" seit 1989 erfolgreich beleben und weiterentwickeln können. Das „schöpferische Unbewußte" im psychisch Kranken geweckt und in deren bildnerischem Gestalten dargestellt zu haben, ist das Verdienst Hans P r i n z h o r n s . Er hat an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik etwa 6000 Bildund Textzeugnisse, Skulpturen und textile Arbeiten von rund 500 Patienten aus psychiatrischen Kliniken und Anstalten aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden gesammelt und nicht nur als Krankheitssymptome, sondern auch als Ausdrucksformen einer epochalen "Entfremdung der Wahrnehmungswelt" interpretiert. Zahlreiche Künstler wie Hans A r p , Paul K I e e , Max E r n s t , ließen sich dadurch inspirieren, und für die Surrealisten wurde P r i n z h o r n s Untersuchung zu einer Art „Bibel". Eine Heidelberger Bürgerinitiative hat neuerdings den Bau eines „Prinzhorn-Museums" gefordert, ohne bei dem Wissenschaftminister des Landes Baden-Württemberg auf finanzielle Gegenliebe gestoßen zu sein. Eine ständige öffentliche Präsentation könnte, wie Thomas W a g n e r in der FAZ vom 7. Juli 1993 schreibt, „das Bewußtsein wachhalten, daß Kreativität unteilbar ist" und damit „der noch immer vorhandenen Tendenz zur Stigmatisierung und Ausgrenzung psychisch Kranker entgegenwirken". Aber Geld hat heute Vorrang vor kulturellen und sozialtherapeutischen Aufgaben! Der neue Besitzer der Wahrendorffschen Kliniken, Dr. med. W i I k e n i n g hat die dortige „Kreativschule für Ausdruck und Erleben" („AuE") stillegen lassen, weil sie ein zu teueres „Freizeitvergnügen" für die Patienten sei!
Das von P r i n z h o r n angestoßene Thema „Psychopathologie und Kunst" ist in seinen diagnostischen und therapeutischen Aspekten, auch in sei ner Beziehung zur modernen Kunst von zahlreichen Autoren aufgegriffen und vertieft worden (Bader, von Baeyer und Häfner, in der Beeck, Birnbaum, Delay und Volmat, Gauger, Hellpach
Irene Jakab, Lemke, Lieser, Morgenthaler, Richard Arved Pfeiffer (Leipzig), Rennert, Spoerri, Winkler u.A. Nicht vergessen werden sollte, daß Karl Jaspers, dervon1909 bis1915 als Volontärassistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg tätig gewesen ist, mit seinen Studien über Van Gogh, Strindberg  
403 und Nietzsche die Grundlagen für eine wissenschaftliche Pathographie geschaffen hat.
Ich erinnere mich übrigens, daß mein Braunsberger Schulkamerad und späterer Freund Ernst L i c h t e n s t e i n mir erzählte, er habe - ich glaube, es war 1923 - in Heidelberg den inzwischen zum Ordinarius für Philosophie ernannten Karl J a s p e r s mit Begeisterung gehört und in ihm den kommenden großen Philosophen gesehen. Erst viel später, aber noch bevor ich mich dem Denken H e i d e g g e r s öffnete, habe ich die philosophischen Arbeiten von J a s p e r s und dann vor allem auch sein fundamentales Werk Allgemeine Psychopathologie" gelesen, die Frucht seiner Heidelberger Psychiatrie-Zeit.

 

Anstaltspsychiatrie und Forschungsarbeit

 

Wenn ich auch als vielbeschäftigter leitender Arzt der - für nur einen Chefarzt erheblich zu großen Wahrendorffschen Anstalten nie aufgehört habe, wissenschaftlich zu arbeiten, so hätte ich mich auf Karl J a s p e r s berufen können, der in seiner „Allgemeinen Psychopathologie" sagt: „... die Anstaltspsychiatrie ist ihren Mitteln und ihrem Material nach jedenfalls berufen zu einer wissenschaftlichen Arbeit, die an Bedeutung ihrer ruhmvollen Vorzeit nichts nachzugeben braucht. Sie allein kann in dem engen, regelmäßigen Zusammenleben mit den Kranken durch lange Zeiten hindurch die psychiatrischen Persönlichkeiten bilden, die auf Grund ihrer reichen Anschauung feiner beobachtete Biographien Kranker liefern, ein tiefer in die seelischen Zusammenhänge des Kranken eindringendes, nacherlebendes Einfühlen entwickeln." Er fügt hinzu: „Es sind Stimmen laut geworden, daß Anstaltspsychiater nichts Wissenschaftliches mehr leisten können. Hier wie immer handelt es sich darum, ob Persönlichkeiten da sind, die von sich aus die Initiative zu eigener wissenschaftlicher Arbeit ergreifen. Dann geht es immer."
Dem füge ich hinzu: Wer aber annehmen sollte, wissenschaftliche Durchdringung psychopathologischer Phänomene könne schwer vergleichbar mit ärztlichem Helfen sein, dem ließen sich die Worte Wilhelm G r i e s i n g e r s zur Eröffnung der Psychiatrischen Klinik an der Berliner Charité entgegenhalten: „Meine Herren! Glauben Sie nicht, daß die menschliche Teilnahme erlöschen müsse, wo die wissenschaftliche Forschung beginnt."
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Es gehört zu den „Spiral-Bewegungen" in der Geschichte der Psychiatrie, daß die Forschung, die von der Anstaltspsychiatrie ausgegangen war und sich seit G r i e s i n g e r allmählich in die Universitätskliniken verlagert hatte, wieder in ihre Ursprungssstelle zurückkehrt. Diese Entwicklung ist schon deshalb zu begrüßen, weil allein die neuen pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlungsmethoden eine solche Fülle von Fragen aufgeworfen haben, daß sie von den Kliniken alleine nicht untersucht werden können. Zudem verfügen die Anstalten über ein Krankengut, das sich in seiner Vielseitigkeit, im besonderen in dem großen Anteil an Langzeitpatienten, von den überwiegend akuten und subakuten Erkrankungen an den Kliniken unterscheidet. Die Langzeitpsychiatrie ist eine andere als die Kurzzeitpsychiatrie. Auf das Gesundgebliebene im psychisch Kranken bin ich überhaupt erst durch täglichen Umgang mit meinen Langzeitpatienten aufmerksam geworden. Neue Möglichkeiten für das interessante Studium des Stilwandels psychotischer Symptome ergeben sich erst durch vergleichende Untersuchungen an Anstaltspatienten, die vor Jahrzehnten und solcher, die erst vor kurzem erkrankt und deren Wahninhalte von dem Wandel der geistes- und gesellschaftlichen Entwicklung geprägt sind. Zu einer Auseinandersetzung der konstitutionstypologischen Lehre Ernst Kretschmers und dem Versuch, die Dimension des Geschichtlichen in die psychopathologische Phänomenologie einzuführen, bin ich erst durch meine Arbeit in Ilten angeregt worden.
Nicht nur in der Klinik, auch im psychiatrischen Krankenhaus, der „Anstalt" muß die Forschung der Praxis und die Praxis der Forschung dienen. Es soll mit wissenschaftlichen Methoden an der Vervollkommnung diagnostischer und therapeutischer Praktiken, im besonderen auch an einer Verbesserung der Versorgung der Sorgen- und Stiefkinder, unseren Langzeitkranken, gearbeitet werden; und die klinische Beobachtung der Symptomatik und des Verlaufes psychischer Krankheiten soll zu theoretischen Überlegungen anregen, die dann wieder Impulse für neue Erkenntnismöglichkeiten geben können. Dieser geistige Kreislauf wurde auch von uns in Ilten-Köthenwald angestrebt und in einer Reihe von Veröffentlichungen meiner Mitarbeiter erreicht. Editha v. Borcke, Bern Carrière, Lothar Habel, Fritz Hillers, Egon Höhnke, E. Jahnke und E. Le Beau, Bernhard Knick, Ernst-August Lapp, Francisco Llavero, Klaus Lührs, Wolfgang Quensel, Klaus
405 Römer, Emil Thiemann, Hans W i e h I e r . Von mir selbst sind in meiner Iltener Zeit (1949-76) insgesamt 103 Arbeiten, darunter mehrere Lehr- und Handbuchbeiträge, publiziert worden. Die Zahl der Vorträge, die ich in Deutschland und im europäischen und außereuropäischen Ausland gehalten habe, habe ich nicht im Kopf. Angaben hierzu finden sich in mehreren Ausgaben von Kürschners Deutschem Gelehrtenkalender von "Wer ist Wer - Das deutsche Who is who", von „Who is who in Germany" und in „Who's Who in Europe", Edition 1 1964-65 Bruxelles. Die schriftliche Fixierung solcher wissenschaftsbiographischer Angaben ist immer mit dem unbehaglichen Gefühl der narzißtischen Selbstdarstellung verbunden, dessen man sich um so weniger erwehren kann, je älter man wird. Aber man soll „sein Licht auch nicht unter den Scheffel stellen". Nach meiner Pensionierung, im "wohlverdienten" Ruhe"-Stand, habe ich außer den angegebenen noch weitere 13 Arbeiten veröffentlicht.
Hier muß ich dankbar meiner fruchtbaren Zusammenarbeit mit Professor Francisco L I a v e ro , Catedràtico (Ordinarius) für Psychiatrie, dem führenden, inzwischen weltbekannten Repräsentanten der spanischen Psychiatrie, gedenken. L I a v e r o hatte in München bei B u m k e und in Zürich bei dem Physiologen und Nobelpreisträger H e s s gearbeitet und war auf meine Arbeit „Psychopathologische Reaktionen der Kriegs- und Nachkriegszeit" aufmerksam geworden. Er schrieb mir, und ich lud ihn zu einem „Wochenendgespräch" in Ilten ein. Er kam sofort, und das Wochenende dauerte zwei Jahre. Sein Ertrag war eine bedeutende wissenschaftliche Leistung, das im Thieme-Verlag 1953 erschienene Buch „Symptom und Kausalität - Grundfragen der Neurologie und Psychiatrie", und eine enge, über 40 Jahre anhaltende und ungetrübt gebliebene Freundschaft. Francisco („Paco" oder „Tio", auch unser „Tiochen") wurde in den Nach-Iltener Jahren zum kämpferischen, auch publizistisch äußerst produktiven Wegbereiter einer Reform der Psychiatrie und des Hochschulwesens in Spanien, Ehrenmitglied des Weltverbandes der Psychiatrie und Präsident bei den Weltkongressen der Psychiatrie in Athen und Rio de Janeiro mit grundlegenden Beiträgen zu seinem Konzept einer „Anthropologischen Psychiatrie". Bei meiner offiziellen, öffentlichen Verabschiedung am 27. Oktober 1976 hielt er eine von meinem ehemaligen Mitarbeiter und späteren Freund Bern C a r r i e r e in Deutsch vorgetragene Rede, die er mit einer Laudatio auf Antonia abschloß:
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„... Mit Absicht stelle ich an den Schluß meiner Ausführungen die Erwähnung einer Frau mit angeborener Sympathie und gutem Geschmack, eine große und kluge Persönlichkeit, voller Menschenkenntnis, mit feinem und sicherem Instinkt, die allen sie umgebenden Personen das Leben angenehmer zu gestalten wußte und auch jetzt noch weiß, eine Persönlichkeit, die alle diese Tugenden mit einem lebhaften Temperament vereinigt: Es handelt sich um die unermüdliche Frau Professor Janz. In liebevoller Erinnerung an meinen Aufenthalt hier, bei dem mir so viele Erleichterungen für meine Arbeit geboten worden sind, bleibt mir zum Abschluß nur noch übrig, aus vollem Herzen Dank zu sagen und meine große Dankbarkeit für alles an Alle zum Ausdruck zu bringen..."
Mit der Belebung des ärztlichen Tuns in einer Psychiatrischen Anstalt" al ten Gepräges durch wissenschaftliche Arbeit läßt sich der Gefahr entgegenwirken, daß dieses Tun im Gleichmaß und in der Routine des Alltags erstarrt. Man sagte früher, - wenig zartfühlend, aber nicht ganz unzutreffend - von Mittag an beginne die Anstaltsdemenz" ! Durch wissenschaftliche Bemühungen kann so der Obergang von der früheren Anstaltsatmosphäre zu einer „Klinik der Anstaltspsychiatrie" ermöglicht werden, wie der frühere Leiter der- Westfälischen Landesanstalt Gütersloh und spätere Ordinarius der Psychiatrie in Tübingen, Walter Schulte , den neuen Typus des Psychiatrischen Krankenhauses genannt hat. Auf diese Weise ließe sich auch die Kluft zwischen der Kliniks- und der Anstaltspsychiatrie wenigsten teilweise überwinden. .

 

Psychiatrie Kritik und Vorurteil

 

Die Forschungsimpulse, die sich heute in den Anstalten regen, könnten überdies beitragen zum Abbau der teils berechtigten, teils unberechtigten Vorurteile gegen die Psychiatrie im allgemeinen und gegen die Anstaltspsychiatrie im besonderen.
Not- und Mißstände in Psychiatrischen Anstalten sind, auch von Patienten selbst, zur Genüge und bisweilen in verzerrenden Verallgemeinerungen, angeprangert worden (Ernst K I e e , „Psychiatrie-Report", Fischer Taschenbuchverlag 1978, Frank F i s c h e r , „Irrenhäuser - Kranke klagen an", Verlag Kurt Desch 1969) psychiatrische Anstalten wurden als „furchtbare Ghettos" bezeichnet, (Jan P o h I Süddeutsche Zeitung Nr. 1/1978 ) usw. Vieles an berechtigter
407 Kritik des „Elends der Psychiatrie" und an veralteten Einstellungen der Psychiater selbst teile ich. Anderes aber bedarf selbst schärfster Kritik, etwa Ernst Klees Worte: „Früher wurden sie vergast, heute ..." oder „die herrschende Psychiatrie ist antipsychiatrisch, in Lehre und Praxis ..." oder wenn er vom „Niederknüppeln psychischer Leidenserfahrung mit der Pillenkeule" spricht. So braucht es nicht zu verwundern, wenn ich mir von intelligenten gebildeten Angehörigen eines Patienten vor dessen Aufnahme in unsere Klinik sagen lassen mußte, er habe eine panische Angst vor dem Irrenhaus", weil er fürchte, die Türen der „Klapsmühle" würden sich für immer hinter ihm schließen, die „Wärter" könnten ihn mit Lederriemen oder Stöcken schlagen - und sie, die Verwandten, teilten seine Befürchtungen! Ein Zeitungsreporter fragte mich einmal ganz offenherzig, ob unsere Pflegern "bewaffnet" seien!
Vorurteile dieser Art beruhen nicht alleine auf tatsächlichen Mißständen, sondern auch auf irrationalen Nachwehen dämonologischer Vorstellungen aus dem Mittelalter, die in seelisch Kranken vom Teufel Besessene sahen und sie mit Verbrechern zusammen in »Zucht-, Tob- und Narrenhäusern" einsperren ließen. Auch die unheilvolle Erinnerung an die organisierten Massenmorde an psychisch Kranken und geistig Behinderten im "Dritten Reich" mag noch nachwirken, wie man an Klees scharfer Formulierung sieht.
Bei aller notwendigen Selbstkritik des Psychiaters steht ihm aber auch das Recht zu, vor sachlich unbegründeten, zum Teil ideologisch motivierten Anschuldigungen oder Verdächtigungen geschützt zu werden. Dazu kann er selbst beitragen, indem er Vertreter der Presse und der Massenmedien einlädt, sich über die schwierigen Probleme der Unterbringung und therapeutischen Versorgung psychisch Kranker sachgemäß, auch an Ort und Stelle, zu informieren und der Öffentlichkeit darüber zu berichten. Kritisieren ist leicht, Bessermachen schwer! Mehr denn je hat die Psychiatrie heute auch eine öffentliche Aufgabe. Ihrem Zweck dienen Vorträge vor Laien über praktische und wissenschaftliche Themen aus dem Gesamtgebiet der Psychiatrie, Vorlesungen in Volkshochschulen, Jugendgruppen und in den Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Veröffentlichungen in kulturpolitisch, geistes- und gesellschaftswissenschaftlich orientierten Zeitschriften, in der Laienpresse und im Fernsehen. Durch Zusammenarbeit mit Medizinjournalisten kann die von manchen Ärzten zu Unrecht gescheute Popularisierung der Wissenschaft gefördert und ihre vermeintliche
408 Degradierung zur „Demimonde des sciences" am ehesten vermieden, unsachgemäß entstellenden Presseberichten vorgebeugt und die Öffentlichkeit zum Verständnis für die mühevolle Arbeit des Psychiaters motiviert werden. Leider sind die Reformvorschläge der 1975 vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlichten „Psychiatrie-Enquete" (1800 Seiten!), in deren Zwischenbericht 1973 es hieß: „Die Lage der psychisch Kranken ist teilweise noch menschenunwürdig und unmenschlich", im Ganzen gesehen bisher noch Utopie geblieben. Ich habe dieser Expertenkommission für den Bereich der Abhängigkeitskrankheiten selbst angehört. Auch hier konnte vor allem in der Vorbeugung, der Gesundheitserziehung und der Nachsorge mit gesundheitspolitischen Reformvorhaben noch nichts Entscheidendes erreicht werden. Ich bin mir manchmal wie ein Don Quichote oder ein Prediger in der Wüste vorgekommen, wenn ich einen „gemäßigten staatlichen Dirigismus" für die Aufgaben einer wirksameren Abwehr des gesundheits- und sozialpolitischen Notstandes der Alkoholgefahren gefordert habe. Besonderen Wert habe ich auf den Austausch mit Erfahrungen ausländischer, auch außereuropäischer Psychiater gelegt, aus denen ich bei Vortrags- und Kongreß- oder Studienreisen und durch die Tätigkeit von Gastärzten viel lernen konnte.

 

Der psychisch Kranke als "Irrer"

 

Als ärgerliches Hemmnis der Aufgabe, die Öffentlichkeit sachgemäß über das Wesen psychischer Krankheiten und die Bemühungen der Psychiater zu informieren, empfinde ich den noch weit in unser Jahrhundert hinein gebräuchlichen, heute von manchen Journalisten im abwertenden Sinne gemeinten Ausdruck „Irrenhäuser", "Irre", „Irrenärzte". Die abfällig klingende Bedeutung des Wortes mag auf einer uneingestandenen Angst beruhen, selbst „irre", also Gegenstand psychiatrischer Observanz, zu werden oder, wie man nicht selten hört, als Gesunder in einer „Irrenanstalt" zu verschwinden. Immer wieder habe ich versucht, dieser Angst entgegenzuwirken - Angst macht dumm! - , indem ich betonte, daß ein seelisch Kranker unser Mitmensch und kein Mensch minderen Wertes sei, daß er nicht mehr „irre" oder „verirrt" ist als ein Gesunder, sondern daß er nur auf andere Weise als ein „Irrender" oder „Verirrter" verstanden werden müsse. Man brauche deshalb keine Angst vor ihm oder vor dem Psychiater 409 zu haben. In meiner Dankesrede zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes habe ich erwähnt, auf nichts sei ich so stolz wie auf die Äußerung eines früheren Patienten, ich hätte ihm „die Angst vor dem Psychiater genommen".
Es entsprach daher ganz meinem Verständnis von der Person des psychisch Kranken, daß der frühere Hamburg-Eppendorfer, spätere Gütersloher Psychiater Klaus D ö r n e r und die Psychologin Ursula P I o g ein sehr gescheites, im besten Sinne modernes und dazu gut lesbares Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie unter dem etwas waghalsigen Titel „Irren ist menschlich" veröffentlichten. (Psychiatrie Verlag Rehburg-Loccum, völlig neubearbeitete Ausgabe 1984). Der Titel, so schreiben die Autoren, soll „daran erinnern, daß die Psychiatrie ein Ort ist, wo der Mensch besonders menschlich ist, d.h. wo die Widersprüchlichkeit des Menschen oft nicht auflösbar, die Spannung auszuleben ist: so das Unmenschliche und Übermenschliche, das Banale und Einmalige, Oberfläche und Abgründige, das Kranke und Böse, Weinen und Lachen, Leben und Tod, Schmerz und Glück, das Sich-Verstellen und Sich-Wahrmachen, das Sich-Verirren und Sich-Finden."

 

„Sozialpsychiatrie"

 

In diesem Buch fehlt übrigens der inzwischen gängig gewordene Begriff „Sozialpsychiatrie". Die Verfasser halten ihn zu Recht für überflüssig, für eine Tautologie. Denn „Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder sie ist keine Psychiatrie". Gleichwohl haben wir einer unter diesem Namen institutionalisierten Orientierung der Psychiatrie an sozialen Aufgaben, auch im Sinne der von der Psychiatrie-Enquete empfohlenen Reformvorhaben seit etwa 1960 wesentliche Fortschritte zu verdanken. Ich nenne nur die Namen F i n z e n , K i s k e r , Kulenkampff , Bauer , Häfner , Bosch , Wulff . Besondere Verdienste um eine Annäherung an die Ziele einer verbesserten Versorgung psychisch Kranker und Behinderter und damit auch um die Förderung der Information und eines größeren Interesses der Bevölkerung, auch als Appell an die Verantwortung der Politiker, hat sich die von dem Bundestagsabgeordneten der CDU Walter P i c a r d gegründete und von ihm und Prof. Caspar K u I e n k a m p f f vertretene „Aktion psychisch Kranke" erworben.
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Also: Es ist schon einiges auf den Weg gebracht worden. Aber der Weg ist mühselig und das Ziel ist fern! Eines der schwersten Probleme der Krankenhaus-Psychiatrie ist und bleibt die Versorgung der Langzeitpatienten. Es wird geschätzt, daß je ein Drittel von ihnen voll rehabilitierbar oder zu bessern ist, daß aber ein Drittel hospitalisierungsbedürftig bleibt. Etwa 200 000 Menschen müssen jährlich in der Bundesrepublik Deutschland von psychiatrischen Kliniken, Krankenhäusern und Abteilungen aufgenommen und behandelt werden!
Vieles blieb bei meinem Weggang aus Ilten 1976 noch zu tun übrig, und ich machte mir einen Satz, den Ferdinand W a h re n d o rf f in dem Schlußwort seines zweiten Anstaltsberichtes im Jahre 1895 niedergeschrieben hat, Wort für Wort zu eigen: „Niemand kann mehr als ich selbst der Unvollkommenheiten des Geschaffenen und der eigenen Unzulänglichkeit sich bewußt sein und fühlen, wie weit dieses Geschaffene hinter dem Gewollten und Gesollten noch zurückblieb, wie viel den nach mir Kommenden zum Ausbau des unfertigen Gebäudes zu tun übrig bleiben wird."
Aber es hat seinen Sinn, daß wir nichts Vollkommenes schaffen können. Das Unvollendete, „Imperfekte", ist ein Merkmal des Lebens. „Perfekt", abgeschlossen ist nur der Tod. Wäre alles, was wir schaffen, vollkommen, gäbe es nichts zu erstreben und zu erhoffen. Ohne die Unzulänglichkeiten, vor die uns das Leben stellt, ohne die Möglichkeiten, die es offen läßt, gäbe es kein Fortschreiten auf dem Wege zum Besseren. Ein wirklicher Fortschritt aber ist nur möglich, wenn der Sinn für Tradition lebendig bleibt.

 

Besinnung auf Tradition

 

Besinnung auf Tradition heißt nicht, auf ihr stehen zu bleiben, sondern eine neue Tradition vorzubereiten, heißt aber auch Achtung vor dem, was unsere Vorfahren geschaffen haben, „auf deren Schultern wir stehen", wie G o e t h e gesagt hat. Sie schützt uns vor Überschätzung der eigenen Leistung, vor dem selbstzufriedenen Irrtum, jetzt, mit den Nachfahren, beginne erst der eigentliche Fortschritt. Sie kann uns auch bewahren vor Irrtümern und Irrwegen, die früher begangen worden sind. Aber das Bewußtsein einer lebendigen Verbundenheit mit dem, was vor uns geleistet und uns überliefert worden ist, enthält noch mehr als einen pädagogisch-pietätvollen Sinn für das geschichtlich Gewordene: Es ist 411 eine Bedingung aller Kultur. Gabriel M a r c e l hat den Begriff Tradition als unser geistiges Erbe mit den Begriffen Gnade und Dankbarkeit verbunden, die das Französische in dem Doppelsinn des Ausdrucks „action de grâce" vereinigt. Traditionslosigkeit bedeute daher auch Danklosigkeit. „Darum können wir jemanden als Enterbten betrachten, der nicht mehr die Kraft der Dankbarkeit besitzt." Wir dürfen somit sagen: Das Schwinden der Dankbarkeit in unserer Zeit ist ein Merkmal jenes Typus des Menschen, der nicht sein geistiges Erbe, sondern nur noch sein Ich kultiviert, für den es nur Ansprüche, keine .Gnade' mehr gibt "
Wir, die Nachfahren, habe ich in meiner Schrift .100 Jahre Ilten - 100 Jahre Psychiatrie" von meiner Generation geschrieben, wollen nicht zu den ,;Enterbten" gehören, sondern denen danken, ohne deren Schaffen unser eigenes Wirken und Weiterstreben nicht möglich wäre. „Im Namen unserer Kranken sei jedem gedankt, der bemüht war und ist, ihnen im Geiste des Gründers zu helfen! Denen aber, die künftig hier tätig sein werden, sei gewünscht, daß es ihrer Arbeit gelingen möge, unserem Ilten-Köthenwald den alten Ruf einer Heimstatt des Helfens zu bewahren und das überlieferte zu neuen, verbesserten Formen des Dienstes am seelisch kranken oder gefährdeten Mitmenschen zu entfalten!"
Nebenbei sei erwähnt, daß der jetzige Besitzer des „Klinikums Wahrendorff`, Dr. med. W i I k e n i n g , die Büste des Gründers aus dem Amtshaus, der Keimzelle des „Asyls Ilten", hat entfernen lassen!
Was unter meinem Nachfolger Dr. med. Jan C o r n e I s e n an Neuerungen geschehen und geplant ist, habe ich im Einvernehmen mit ihm in einem „Nachtrag und Ausblick" zu „100 Jahre Ilten - 100 Jahre Psychiatrie" für die Zeit von 1976 - 1984 dargestellt.
Das allgemeine Ziel einer künftigen Psychiatrie bleibt das, was es bei allen Unzulänglichkeiten, Irrwegen und Rückschlägen seit jeher gewesen ist: „Den sich selbst und seiner Mitwelt entfremdeten Kranken (den `Aliéné') von seiner teils krankheits-, teils gesellschafts-, teils auch institutionsbedingten Isolierung oder ,Ausgrenzung' so weit wie möglich zu befreien und ihn gemeinschaftsfähig werden wie ihn zu sich selbst zurückfinden zu lassen. Ich füge hinzu: Ohne seine personale Individualität soziozentrischen Dogmen und hypertrophierenden Gruppenpraktiken zu opfern!"
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So mag dieser Rückblick und Ausblick in eine psychiatriegeschichtliche Erinnerung münden: in die Worte, die Wilhelm G r i e s i n g e r im Jahre 1868 an seine Hoffnung knüpfte, „die große Reform in der praktischen Psychiatrie, das Werk des unsterblichen C o n o I I y , möge dazu führen, daß „mehr und mehr die Zahl der freien Colonisten die Zahl der Bewohner der geschlossenen Anstalt überwiegen wird"! „Es ist dies aber eine Frage der Zukunft, der wir dann getrost auch Etwas zu tun überlassen dürfen, wenn wir selbst in der Gegenwart das Unsrige tun." Vielleicht sollte man sich auch an den Gedanken eines Schweizer Psychiaters aus dem 19. Jahrhundert erinnern: Der Zustand psychiatrischer Einrichtungen sei ein Maßstab für das kulturelle Niveau eines Landes!
Ich hätte für Ilten, meine Lebensaufgabe, nichts tun und bewirken können ohne meine ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mir geholfen haben, eine zuverlässige, von gegenseitigem Vertrauen getragene Arbeitsgemeinschaft aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Trotz der Zweiteilung in den Iltener und den Köthenwalder Bereich bildeten wir, was auch Robert C o r n e l s e n immer betonte, eine große Familie. Mit Dr. Josef W e r t h , der sich schon unter meinem Vorgänger, Prof. Willige , hervorragend bewährt hatte, konnte ich einen Oberarzt übernehmen, der mich in die - für mich fast völlig neue - Arbeit mit den Köthenwalder Langzeitpatienten einführte und mit deren praktischen Problemen (Bekleidung, Essen, Arbeit usw.) vertraut machte. Josef W e rt h war ein Arzt, der vornehme Gesinnung mit gütiger Haltung, klarem Urteil, leisem Humor und musischem Geist verband - ein Glücksfall für die Wahrendorffschen Anstalten! An seinem Grabe - er starb 1992 nach langem, qualvollem, vorbildlich ertragenem Leiden, von seiner Frau Annelore bewundernswert betreut - habe ich versucht, in wenigen Worten seiner zu gedenken: „Von einem Freunde, wie unser Josef W e rt h es war, Abschied nehmen zu müssen, ist besonders schwer. Er war der Freund seiner Kranken. Jeden einzelnen hat er gekannt. Er war der gute Geist von Köthenwald. Er hat den Geist eines Arzttums vorgelebt, von dem wir nur wünschen können und hoffen dürfen, daß er beispielgebend nachwirken möge! Dafür haben wir Alle ihm zu danken. Ich danke ihm im Namen der Kranken, die ihm anvertraut waren. Ich danke ihm im Namen seiner ehemaligen Mitarbeiter, der ärztlichen und der nichtärztlichen. Ich selbst werde ihm immer dankbar bleiben für das, was er mir
413 in jahrzehntelanger vertrauensvoller und freundschaftlicher Zusammenarbeit bedeutet und gegeben hat!"
Schon in meiner ersten Iltener Zeit hatte ich das Glück, fachlich hochqualifizierte, erfahrene, darunter zwei habilitierte Kollegen, K ü h n und Q u e n s e I , und einen jugendund kinderpsychiatrisch vorgebildeten Arzt, zugleich DiplomPsychologen, H i l I e r s , gewinnen und dann auch jüngere, befähigte, für psychiatrische und neurologische Aufgaben meist passionierte Ärzte einstellen zu können. Von den vielen Mitarbeitern, die nach ihnen gekommen sind und Dankenswertes für unsere Kranken geleistet haben, nenne ich namentlich nur die, mit denen sich im Laufe der Jahre eine freundschaftliche Verbundenheit mit mir entwickelt hat. Ihr Vertrauen und ihre Treue bedeuten mir ein Geschenk, das mein spätes Leben bereichert. Bern und Jutta C a r r i e r e , Günther und Helga C i c h o n , Lothar H a b e l , Egon H ö h n k e , Eugen Sturm , Rolf- Vahlbruch , Hans Wiehler.
Daß ich auch einige menschlich schwerwiegende Enttäuschungen erleben mußte, gehört zur allgemeinen Lebenserfahrung und verdient nicht näher erwähnt zu werden.
Aber ich muß noch der jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit Frau Marlise Wahrendorff gedenken, deren bei Neuerungen bisweilen unbequeme Sparsamkeit durch ihren Humor gemildert wurde. Das Letzte, was wir miteinander - wohlgelaunt - erlebten, war eine Studienreise zu psychiatrischen Einrichtungen in „Leningrad°, dem heutigen St. Petersburg, und Moskau im Jahre 1975. Frau Marlise, passionierte Jägerin, starb auf der Fahrt zur Jagd, deren Ergebnis als Festessen für die Feier ihres 75. Geburtstages vorgesehen war, durch einen Autounfall.

 

Vortrags- und Vorlesungstätigkeit

 

Mein Debüt in der Öffentlichkeit gab ich mit zwei Vorträgen über „Psychopathologische Probleme der Daseinkrisis unserer Zeit" im Außeninstitut der Technischen Hochschule Hannover und im Außenstitut der Bergakademie Clausthal-Zellerfeld im Januar und Juli 1949.
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In einer Rezension der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung war - rühmend - zu lesen: „... In sehr kluger und treffsicherer Weise behandelte Dr. Janz als Arzt und Philosoph, erkenntniskritisch und gefühlsmäßig zugleich, die ,Krankheit unserer Zeit', ging ihren vielfältigen Ursachen und Wirkungen nach - sie sind nach ihm das Endergebnis einer längeren, bereits nach der Jahrhundertwende oder noch früher einsetzenden, zur Vermassung, Entpersönlichung und Entgötterung neigenden, verhängnisvollen Entwicklung - und vergaß schließlich auch nicht, Wege zur Überwindung der vielfachen ,Fehlreaktionen' anzudeuten. Wohlabgewogenheit des Urteils, die dem Einzelwesen wie auch der Zeit, der Persönlichkeit wie der Geschichte ihren Anteil an dieser Entwicklung zuteilt, war ein hervorstechendes Merkmal des weitgespannten Vortrags..."
Ausführlicher, unter dem etwas mißverständlichen, von Georg B e r n a n o s entlehnten Titel „Krisis des schlechten Gewissens" wurden meine Gedanken von Professor U r b a c h in der gleichen Zeitung besprochen. „Der bekannte Psychiater" habe gesagt, die Merkmale der „Daseinskrisis unserer Zeit" seien etwa zu umreißen als Abfall von Gott, Fehlen einer klaren Idee als allgemein verbindlicher und wirksamer Glaubenskraft, Abkehr von der Innenwelt zur Außenwelt, Dasein ohne Wesensmitte, Nivellierung, -Versachlichung und Entseelung, schroffes Nebeneinander von Triebgebundenheit und Rationalität, neben dem intelligenten Machtmenschen mit seinem expansiven Geltungs- und Leistungsstreben ohne geistige und ethische Ziele, der Kollektivmensch mit seinen entfesselten vitalen Triebkräften (Sex, Suchten, Sensationsgier). Die Sinn-Entleerung des Daseins führe zu Angst, Mißtrauen, Unwahrhaftigkeit. Die angestauten Ängste äußerten sich in Neurosen, Depressionen, Häufung der Suizide, vegetativen Herz- und Magenfunktionsstörungen. Die seelischen Belastungen des Zweiten Weltkrieges hätten ein kälteres Bewußtsein geschaffen, aus dem die großen Gefühle, der innere Schmerz, die tiefe Trauer, der heilige Anruf des Todes verdrängt und geschwunden seien. Aber wir müßten uns zu den nihilistischen Ursprüngen dieser Gefahren, zu unserer unbewältigten Daseinsangst bekennen, um aus der allgemeinen und der individuellen Krisis zu uns selbst zurückzufinden.
So ungefähr hat der Rezensent versucht, den Inhalt meines Vortrages wiederzugeben. Ich besitze kein Manuskript mehr, habe das Thema in seinen vielfältigen Aspekten in meinen Hamburger Vorlesungen zu behandeln versucht,
415 aber nie zum Abschluß gebracht. Es wuchs mir, wie manches andere, über den Kopf. Die Entwürfe liegen in meinen Schubladen. Unter dem gleichen Titel habe ich noch einmal auf Einladung des Außeninstitutes der Bergakademie Clausthal-Zellerfeld am 5. Juli 1949 gesprochen und bei den dortigen Studenten und Dozenten eine höchst lebendige Diskussion ausgelöst. Überhaupt fand ich in Clausthal ein ungemein anregendes geistiges Klima vor, und ich freundete mich schnell mit Professor Dr. E. P i e t s c h an, dem Direktor des Instituts für anorganische Chemie und Grenzgebiete der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Er hatte mich zu dem Vortrag eingeladen und schenkte mir mit einer dankbaren Widmung die in Buchform 1949 erschienenen Beiträge einer auf hohem Niveau stehenden Arbeitstagung seines Institutes »Naturwissenschaft, Religion, Weltanschauung", in die er selbst mit Gedanken zum Problem "Vernunft und Glaube" eingeführt hatte. Er schließt mit einem Zitat von Max P I a n c k : "Gott steht für die Religion am Anfang, für die Naturwissenschaft am Ende des Denkens. Wohin und wie weit wir blicken mögen: Zwischen Religion und Naturwissenschaft finden wir nirgends einen Widerspruch. Wissenschaft und Religion sie bilden in Wahrheit keinen Gegensatz, sondern sie benötigen einander in jedem ernsthaft nachdenkenden Menschen zu gegenseitiger Ergänzung."
Nach mir sprach in Clausthal der Kölner Kunsthistoriker Heinrich L ü tz e l e r , ein durch hochgradige Wirbelsäulenverkrümmung erschreckend kleinwüchsiger Mann, über Edvard M u n c h , mit dem Kopf gerade noch über das Katheder herausragend, aber sprühend vor Geist und Temperament. (Nebenher hat er ein köstliches Büchlein über den Kölner Humor verfaßt.) Zu dem Gesprächskreis um Prof. P i e t s c h gehörten auch ein bulgarischer Philosoph Dr. Georgi S c h i s c h k o f f und eine enthusiastische "Jüngerin" des berühmten Verfassers des „Reisetagebuchs eines Philosophen" Graf Hermann K e y s e r l i n g . („Als Gottes Atem leiser ging, schuf er den Grafen Keyserling.") S c h i s c h k o f f , mit Prof. Eduard M a y , Berlin, Herausgeber des „Philosophischen Literaturanzeigers", eines Referate-Organs für die Neuerscheinungen der Philosophie und ihrer gesamten Grenzgebiete, das ich damals eifrig gelesen habe, war dem kommunistischen Bulgarien entflohen wie ich der „Deutschen Demokratischen Republik". Als ich ihn fragte, wie er die Leute des
416 Regimes in Sofia beurteile, gab er die einfache Antwort: „Alles Verbrecher!" Lebhafte Diskussionen folgten.
Auch mein Vortrag in Hannover führte zur Anbahnung persönlicher Beziehungen. Gleich ein erstes Gespräch mit Professor Walter S c h e e I e , dem Begründer und Leiter des Institutes für Kautschukchemie an der Technischen Hochschule (später „Universität") und Dirigent des dortigen „Collegium Musicum", stieß bei ihm auf lebhafte Resonanz zum Problem der „Daseinsangst" des heutigen Menschen. Er selbst hatte unter ihr zu leiden, ohne daß ihm dies recht bewußt geworden wäre, bevor er durch mein Vortragsthema blitzartig" seine eigene innere Problematik erkannte. Später erst wurde mir klar, daß sie mit dem Tode seiner geliebten Schwester Meta zusammenhing: Sie, eine kochbegabte Literaturwissenschaftlerin, Verfasserin eines bedeutenden Werkes über Rembrandt, war als Schizophreniekranke ein Opfer der »Eu"-Thanasie im NS Staat geworden. Walter wie auch seine Frau Hanna - mit uns verband sie später eine herzliche, durch gemeinsame Interessen, Humor und Munterkeiten beschwingte Freundschaft - versuchten ihre tiefsitzende Angstbereitschaft durch zwei haltgebende Kräfte zu kompensieren: Durch die Liebe zur Natur und zur Musik. In jedem Urlaub fuhren sie an den Ratzeburger See, dessen stille Schönheiten sie innig liebten - er dirigierte das Orchester der Technischen Hochschule - wir erlebten ein herrliches Gastkonzert unter seiner Stabführung im Celler Schloßtheater -, und Hanna war eine konzertreife Liedersängerin. Auch mit der Zuneigung zu Bierchen und Schnäpschen wußten sie ihre inneren Ängste erfolgreich im Zaum zu halten. Diese brachen aber durch bei der Begegnung mit allem Technischen, auch mit baumlosen Straßen, mit hohen Gebäude und steinernen Denkmälern. Als Walter sich auf einer Vortragsreise in den Vereinigten Staaten von Amerika befand, wurde er von einer geradezu panischen Angst vor den Riesengebäuden in New York erfaßt, die sich, wie er sehr eindrucksvoll pantomimisch darstellte, darin äußerte, daß er immer wieder zu seiner Brusttasche griff, um sich zu vergewissern, ob die Rückfahrkarte nach Europa noch da war. Erst, als er auf dem Schiff stand und sich wieder den heimatlichen Wäldern und Seen näherte, konnte er tief aufatmen. Auch die Boulevards in Paris, der Eiffelturm, die Monumente der Stadt lösten Ängste in ihm aus.
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Ich habe versucht, dieses Hin- und Hergeworfensein zwischen Technik und Stein auf der einen und Natur und Musik auf der anderen Seite ontologisch zu interpretieren: Dort Unbewegtheit, Gemachtes, Abgeschlossenes („Per-fectum") als Gleichnis des Todes hier Melodie und Rhythmus, Bewegtheit, Unabgeschlossenes als Merkmal des Lebens. Also Angst vor Technik und Stein gleich Angst vor dem Tode, Liebe zu Natur und Musik gleich Hang zum Leben. Eine Bewältigung des „Geworfenseins" zwischen Todesangst und Lebenshang gelang den lieben Scheeles nicht, da es ihnen am festen Halt im Glauben an eine transzendente Mitte fehlte, die Tod und Leben in dem Geheimnis einer irdischen und überirdischen Einheit verbindet.
Zu den Gegensätzen - nicht Widersprüchen! - im Wesen Walter Scheeles , eines namentlich in der Kautschuk-Chemie international hochangesehenen, auch mathematisch begabten Gelehrten, gehörte seine kindliche Freude an Albernheiten, die er mit mir teilte. Wir hatten z.B. eine „Dummensprache" erfunden, die aus sinnlosen, unartikulierten Lautbildungen bestand, die in wechselnder Modulation, mit Betonungen und Abschwächungen, scheinbaren Fragen und Antworten so vorgetragen wurde, daß sie einen sinnvollen Inhalt und eine gegenseitige Verständigung vortäuschte und unsere Zuhörerinnen und -hörer sehr erheiterte. Nach einem „Gespräch" in unserer Dummensprache war es gar nicht leicht, wieder zur Normalsprache zurückzukehren.

 

Hamburger Vorlesungen

 

Nach der Umhabilitation von Leipzig nach Hamburg mußte ich für meine Vorlesungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik als Gast-Dozent bei Prof. B ü r g e r- P r i n z Themen wählen, die nicht zum Pflichtpensum und zur Examensvorbereitung der Medizinstudenten gehörten, sondern „Für Hörer aller Fakultäten" bestimmt waren: Studenten, auch ältere Semester der Psychologie, Pädagogik, Philosophie, Sozialwissenschaften, unter ihnen auch ein Schweizerischer Ethnologe, Dr. phil. C a s p a r . Er hatte zwei Jahre als einziger Europäer unter den Tu pari, einem zwischen Brasilien und Bolivien noch im weit vortechnischen Entwicklungsstadium lebenden Indianerstamm, verbracht und seine hochinteressanten ethnopsychologischen Beobachtungen in Buchform veröffentlicht. Auf meine Einladung sprach er darüber auch anschaulich und lebendig 418 vor meinen Mitarbeitern und Patienten in Köthenwald, und wir kamen diesem gescheiten und sympathischen Mann auch persönlich näher. Er erzählte übrigens, daß er der Aufforderung des Stammeshäuptlings, seine Tochter zu heiraten und Stammesmitglied zu werden, nur mit Müh' und Not, fast unter Lebensgefahr, entgehen konnte. Seine Weigerung wurde als Beleidigung verstanden. Die Tupari pflegten sich nur in größeren zeitlichen Abständen bei rituellen Anlässen kollektiv mit einem bierähnlichem Gebräu zu betrinken. Individuelles Trinken und Alkoholismus gab es ebensowenig wie Diebstahl, Mord und sonstige kriminelle Handlungen. Die Tupari sind nach C a s p a r s Zeit durch die Masern, die anscheinend von Händlern oder Missionaren eingeschleppt wurden, nahezu ausgerottet worden. Sie hatten keine Immunabwehr gegen diese dort zum erstenmal aufgetretene Infektionskrankheit entwickeln können. Das übrige scheint ähnlich wie bei den nordamerikanischen Indianern - der Whiskey geschafft zu haben.
Meine Hamburger Vorlesungen hatten Seminarcharakter, und den anschließenden Colloquien habe ich selbst - docendo discimus - durch kritische Fragestellungen meiner Hörer manche Anregungen zu verdanken. Nach den kulturell mageren Kriegsjahren bestand in der Nachkriegszeit ein lebhafter geistiger Hunger, der nach Sättigung auf Gebieten verlangte, die außerhalb des reinen Fachstudiums lagen. Meine Hörer folgten daher auch interessiert neuen Fragestellungen, mit denen die engeren Kompetenzen ihrer und meiner Fachbereiche überschritten wurden. Für sie erforderte dies ein konzentriertes Mit- und Nachdenken, für mich eine intensive Vorbereitung auf jede Vorlesung, die ich nach altem Stil im wörtlichen Sinne vor-las als Einleitung zu der nachfolgenden Diskussion. Im Laufe der Jahre ließ dieses fachübergreifende Interesse der Studenten allmählich nach, und sie beschränkten sich mehr und mehr auf die Vorlesungen, die sie für ihre Examina brauchten. Dies und die Anstrengung, alle 14 Tage nach Hamburg fahren und am Nachmittag eine Doppelstunde Kolleg halten zu müssen, waren die Gründe, aus denen ich auf das Angebot Professor Karl Peter K i s k e r s , des neuen Psychiatrie-Ordinarius an der jungen Medizinischen Hochschule Hannover im Jahre 1967, hier eine Honorarprofessur zu übernehmen, bereitwillig einging. Mit Karl Peter und Frau Christa K i s k e r hat uns eine enge, geistig überaus anregende und durch spätere Nachbarschaft sehr lebendige Freundschaft verbunden.
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Nun zu den Themen der Hamburger Vorlesungen: Ich begann zunächst mit einer Einführung in allgemeine Fragen einer „Psychosomatischen Medizin" und ging dann über zu „Beiträgen zur psychopathologischen Anthropologie des (modernen) technisierten Krieges." Im Winter 1954-55 folgte eine Vorlesungsreihe über „Geistesgeschichtliche Hintergründe psychopathologischer Phänomene", mit der ich die Einführung der Dimension des „Geschichtlichen" in die Psychopathologie, eine „HistorioPsychopathologie" zu begründen suchte. Ich wagte mich damit auf ein Forschungsfeld, das zum erstenmal in der Frühzeit der Psychiatrie als Wissenschaft, Anfang des 19. Jahrhunderts, von den Franzosen Calmeil , Pinel , Esquirol und von den Deutschen Ideler und J a c o b i betreten worden war, dann aber unter dem Einfluß der naturwissenschaftlichen Orientierung unseres Fachgebietes wieder verlassen wurde. Karl J a s p e r s widmete diesem wichtigen Bereich in der letzten Auflage seiner "Allgemeinen Psychopathologie" nur die kurze Bemerkung: "Eine Geschichte der (psychischen) Krankheiten ist als eine Geschichte im Rahmen der Sozialund Geistesgeschichte denkbar ... Leider gibt es nur wenig solches Material."

 

"Historiopsychopathologie"

 

Wenn geschichtliche Fragestellungen bisher nur „Randzonen" der Forschung waren, so gehören sie nach meiner Ansicht zu deren „Kernzonen". Denn die Frage nach der Bedeutung geschichtlicher Entwicklungen und Situationen für die Erscheinungsformen und Entstehungsbedingungen psychischer Krankheiten zielt auf das Eigentliche des Menschseins: auf den Menschen als geschichtliches Wesen. Unter „Geistes"-Geschichte wollte ich verstanden wissen die Geschichte des menschlichen Geistes als eines „tätigen", schlechterdings lebendigen "Bewusstseins von sich selbst", etwa im Sinne H e g e I s
Die Phänomene, deren Analyse und Therapie Aufgabe des geschichtspsychopathologisch denkenden Psychiaters ist, können den Geist einer Epoche, denn Zeitgeist" zwar bis zum Krankhaften übersteigert und verzerrt, aber gerade damit besonders scharf profiliert hervortreten lassen. Häufig enthüllt erst eine seelische Störung das, was der Gesunde hinter rationalen oder konventionellen Masken verbirgt. In dieser demaskierenden Wirkung des Pathologischen liegt eine noch unausgeschöpfte Quelle neuer Einsichten. Ihre Bedeutung für die
420 Geistesgeschichte als einen Weg zum Selbstverständnis des Menschen und für die Psychopathologie als ein Mittel zur Erhellung seines geschichtlichen Daseins wird nur dann hinreichend erkannt werden können, wenn das wissenschaftliche Gesichtsfeld nicht durch die traditionellen Schranken zwischen den Fachgebieten eingeengt bleibt. Freilich bedarf es hierzu, wenn die jeweiligen Kompetenzen nicht auf Kosten strenger wissenschaftlicher Erkenntnis überschritten werden sollen, der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Forschungsgebieten, in erster Linie der Psychopathologie und der geistesgeschichtlichen Forschung vorerst noch eine utopische Vision!
Nach allgemeinen Vorbemerkungen zum Gesundheitsbegriff des A r i s t o t e I e s („Gesundheit als Logos in der Seele, ärztliche Kunst als Logos der Gesundheit, das Gesundmachen des Arztes als Wiederherstellung der rechten „Mitte" - "Mesótes") und zum Begriff der Krankheit des Geistes" „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten" nach G r i e s i n g e r - und zu psychischen Krankheiten - »Krank ist nur, wer körperlich krank ist" nach Kurt S c h n e i d e r - ging ich von drei Fragestellungen aus:
1. Was wissen wir von den Erscheinungsformen psychischer Krankheiten aus der vorchristlichen Antike, aus dem christlichen Mittelalter, aus der neueren und der neuesten Zeit?
z. Was ergibt der Versuch eines Vergleiches zwischen den wichtigsten Erscheinungsformen psychischer Gesundheitsstörungen in diesen Epochen der Geistesgeschichte?
3. Welche Schlüsse lassen sich aus einem solchen Vergleich auf die Bedeutung des jeweiligen geistesgeschichtlichen Hintergrundes für die Gestalt und den Wandel psychopathologischer Phänomene ziehen?

Damit hatte ich mich auf ein äußerst schwieriges und wissenschaftlich unsicheres Gebiet begeben, das mir ein mühsames, aber höchst interessantes Studium der verfügbaren Literatur abverlangte. Hierzu gehörten nicht nur die Schriften antiker und spätantiker Ärzte (Hippokratische Schule, Cornelius C e l s u s , A r c h i g e n e s aus Apameia, S o r a n o s von Ephesus, A I e x a n d r o s aus Tralleis, A r e t a i o s von Kappadokien, G a l e n o s und Anderen), sondern auch die Gestalten des „Wahnsinns" in der griechischen Mythologie bei A i s c h y I o s , Euripides , Homer . Viel habe ich
421 außer den erwähnten französischen und deutschen Psychiatern des 19. Jahrhunderts dem dänischen Autor H e i b e r g zu verdanken. So erfahren wir über die Formen des Wahns aus der Vor- und frühchristlichen Antike (in Stichworten):
Wahn als akute schwere Erregung („Raserei" = mainesthai, davon abgeleitet der heutige psychiatrische Begriff „Manie") mit Verkennung der Wirklichkeit ( A i a s wird durch gekränkten Ehrgeiz in Raserei versetzt und tötet eine Schafherde, die er für seinen Rivalen O d y s s e u s hält, und A g a m e m n o n , dessen Urteilsspruch ihn verletzt hat, oder wir hören von Verfolgungs- und Vergiftungswahn, auch von stillem Wahn, krankhafter Traurigkeit (Melancholie) mit Angst, Menschenscheu und Todeswünschen, auch von krankhafter Heiterkeit (die wir heute als „Manie" bezeichnen) mit einem Selbsterhöhungswahn (Gott, Redner, Schauspieler zu sein). Es gab den Tierverwandlungswahn (Hahn, Nachtigall, Schlange, Wolf, Hund usw. zu sein), den DingVerwandlungswahn (in Lehm, Leder, Erde verwandelt zu sein) und den Liebeswahn, und man kannte die motiv- und inhaltlose Angst, heute das Merkmal neurotischer Persönlichkeitsstrukturen.
Christliches Mittelalter und neuere Zeit:
Besessenheitswahn (Teufels-, Dämonen-, Hexen-, Massenwahn, Flagellanten, Kinderkreuzzüge), krankhafte Ängste und Schrecknisse (Zerreißen der Kleider, Umherirren auf Gräbern), Erotomanie (besonders in der ritterlichen Zeit nach den Kreuzzügen), religiöse Melancholie (namentlich seit der Reformation) in Verbindung mit Dämonomanie, Begnadungs- und Erlösungswahn: Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert profaner Verfolgungswahn (Polizei usw.). Wir wissen, daß es im antiken Griechenland der historischen Zeit keine Epidemien religiösen Wahnsinns gegeben hat, wie sie im Mittelalter den Occident heimgesucht haben. Der Alkoholismus hat in der griechischen und römischen Antike im Gegensatz zur neueren Zeit und in der Gegenwart eine äußerst geringe Rolle gespielt.
Neunzehntes Jahrhundert bis zur Gegenwart (hierzu habe ich mit meinem Mitarbeiter Dr. H i I I e r s eine große Zahl von Krankengeschichten durchgesehen, in denen die Inhalte des Wahns und der Halluzinationen beschrieben sind und je nach den Jahrgängen miteinander verglichen werden können) Selbsterhöhungs- (Größen-)wahn: Kaiser, König, Prinz, Fürst usw.) Zahlen- und
Besitzwahn 422 noch im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, dann mehr und mehr technische, im besonderen elektrotechnische, chemische, naturkundliche, auch stoffwechselpsysiologische Themata. Mit der Ausbreitung der totalitären Gesellschafts- und Staatssysteme politischer Verfolgungswahn (Gestapo, NKWD, CIA).
Es ist nun geistes- wie psychiatriegeschichtlich fesselnd, zu beobachten, wie nahezu sprunghaft -innerhalb der letzten 100 bis 150 Jahre - ein Wandel der bisher vorherrschenden Wahnthemata von mythisch-magischen und christlich-religiösen Vorstellungen zu technisch-ökonomischen Denkmodellen vollzogen hat. An die Stelle einer für den glaubensfesten Christen gültigen Wirklichkeit über- oder unterirdischer, himmlischer oder höllischer Mächte, denen der Mensch unterworfen ist, setzt sich eine irdische, mit dem Verstand erfaßbare Wirklichkeit, die vom Menschen beherrscht wird. Die Wirklichkeit der unmeßbaren, unwägbaren und überzeitlichen Transzendenz Gottes wird abgelöst von der meßbaren, wägbaren und zeitlichen Immanenz der Technik. In der krankhaften Verzerrung und Übersteigerung des psychotischen Erlebens wird es drastischer und plastischer als im gesunden Geistesleben deutlich, mit welcher Vehemenz der Säkularisierungsprozeß das Weltbild des abendländischen Menschen verändert hat. Wir sehen dies an der auffallenden Häufung des Selbsterhöhungswahns (nicht nur beim Größenwahn der Paralytiker, sondern auch der Schizophrenen!) im Laufe des 19. Jahrhunderts und in der gleichzeitig zunehmenden Bedeutung riesiger Zahlen, beides als Ausdruck des Anspruchs des Menschen auf irdische Macht und größtmöglichen Reichtum anstelle der Andacht und Demut vor der Macht Gottes. Zugleich zeigt sich, daß der psychisch Kranke sich immer weniger von personalen und immer mehr von apersonalen Kräften beherrscht oder überwältigt erlebt. Die schon von C a I m e i I Anfang des vorigen Jahrhunderts angedeutete „Vermenschlichung" der Wahnthemata hat sich mit ihrer Versachlichung, ihre „Humanisierung" mit der „Materialisierung" verbunden. Hierzu nur wenige Beispiele, in denen zum Teil alte Vorstellungen neben neuen stehen: »Gott spricht zu mir mittels der Eisenbahn". „Im Jahre 1878 hat sich mir die Königin von Ägypten elektrisch offenbart." „Ich bin Kaiser Wilhelm und muß eine Hofjagd in Springe veranstalten. Meine Großmutter ist die Gräfin von Donnersmarck." "Ich besitze ein Orlog-Schiff Santa Katharina mit 14 000 Kanonen und habe außerdem 14 000 Schiffe." eich bin gewissermaßen krank. Die Physik
423 stimmt nicht." „Der Stoffwechsel in den Räumen mit vielen Menschen stiftet Unfrieden." „Chloroform wird ins Zimmer geworfen." „Ich habe den Weltschmerz Byrons elektrisch gemacht."
Der neuzeitliche Säkularisierungsprozeß hat sich in seinem Einfluß auf den Wandel der Wahnthematik in Frankreich etwa um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert abgezeichnet. E s q u i r o I schreibt dazu: „Die Indifferenz für die Religion ist in Frankreich so groß, daß bei uns keine Geisteskrankheiten mehr durch religiösen Fanatismus oder Mystizismus hervorgerufen werden ... so sehen wir auch nicht mehr die Dämonomanie, die drei Jahrhunderte hindurch eine Plage der civilisierten Welt war." ... Auch die Liebe, die so oft die Erotomanie ... verursacht, hat ihre Macht in Frankreich verloren, die Indifferenz hat sich der Herzen bemächtigt, die verliebten Leidenschaften haben weder die Exaltation noch die Reinheit, die ehemals den erotischen Wahnsinn hervorriefen.
Diese Beobachtungen lassen sich auch für Deutschland nur bestätigen. Einen echten Liebeswahn habe ich bei Schizophreniekranken nur noch ganz vereinzelt gefunden.
Es würde die Leser dieser „Memorabilien" ermüden, wollte ich jetzt auf die Unterschiede zwischen Wahn und Irrtum, Wahnsinn und Irrsinn, echtem Wahn und „überwertiger Idee" und auf die Unterschiede zwischen erlebnisreaktiven Wahnformen (wie den mittelalterlichen und neuzeitlichen Massen-Wahn-Epidemien und dem primär anlagebedingten psychotischen Wahn) eingehen. Die Wahn-Inhalte eines Schizophrenen können durchaus verstehbar aus seiner Lebensgeschichte und bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Auffassungen sein, ohne daß ihre Entstehung verstehbar ist. Sie beruht nach allem, was wir wissen, auf körperlichen, hirnstoffwechselpathologischen Bedingungen, mit denen etwas Neues, qualitativ Anderes, Fremdartiges, die Sinnkontinuität des Lebens Unterbrechendes, eben Unverstehbares in die Persönlichkeit des Kranken einbricht. Auch der Unterschied zwischen „Entwicklung" und KrankheitsProzeß, den J a s p e r s zuerst herausgearbeitet hat, soll hier unerörtert bleiben. Ich habe auch immer vermieden, von Geistes"-Krankheiten zu sprechen, da Geistiges als etwas Immaterielles nicht erkranken kann. Krank werden können immer nur leibliche Bedingungen, unter denen sich geistiges Leben manifestiert. Ob auch die „Seele" selbst erkranken kann, ist eine eher metaphysische als wissenschaftliche Frage. Bei den Neurosen, den „abnormen Erlebnis
424 oder Konfliktreaktionen", den psychosomatischen Syndromen liegt die Annahme nahe, daß das seelische Gefüge der Persönlichkeit nicht "in Ordnung" oder außer Ordnung geraten ist, wobei man aber auch nicht weiß, ob körperliche, vegetative, endokrine, stoffwechselbedingte Störungen mitsprechen. Ich will damit nicht etwa das Leib-Seele-Problem berühren, das richtiger ein Leib-Seele-Geist-Problem heißen müßte.
Es ging mir bei den Hamburger Vorlesungen und es geht mir auch heute noch nur um den Versuch, in der geschichtlichen Betrachtungsweise nach dem Sinn psychopathologischer Phänomene, im besonderen des „Wahn-Sinns" zu fragen. Sowohl lebensgeschichtlich wie geistesgeschichtlich gesehen läßt sich in ihm ein Sinn erkennen, in dem sich der Geist einer Epoche, der "Zeit eist" eindrucksvoll widerspiegelt, wie z. B. in dem neuzeitlichen Wandel vom theozentrischen zum anthropozentischen Weltbilde, vom mythologisch-religiösen Erleben zum technisch-ökonomischen Denken.
Die Texte dieser Hamburger Vorlesungen lagern immer noch in meinen Schubladen. Veröffentlicht sind sie, in stark fragmentarisierter Fassung, nur in französischer und spanischer Sprache unter den Titeln „Histoire de I'esprit et Psychopathologie" in: La Table ronde, Librairie Plon, Paris Nr. 134, Fevr. 1959 und „Historia del Espiritu y Psicopatologia" in: Punta Europa, Madrid Nr. 39, 57 (1959).
Als mein Freund Francisco L I a v e r o von llten in seine spanische Heimat zurückgekehrt war, arrangierte er mehrere Vortragsreisen für mich, die uns nach Madrid, Cadiz, Lissabon, Salamanca und Zaragoza führten. Von den Direktoren der Psychiatrischen Universitätskliniken in Zaragoza und Barcelona wurde ich später auch allein zu Vorträgen eingeladen. Die Themen lauteten: „Daseinsangst, Technizismus und Neurose", „Psychopathologische Probleme der Krisis unserer Zeit", „Nihilismus und Neurose" und „Neue Probleme der psychiatrischen Pharmakotherapie".
Wenn ich heute die Manuskripte dieser Vorträge aus den Schubladen, in denen sie noch ruhen, heraushole und durchsehe, erscheinen mir die Texte vielfach gedanklich so differenziert, zum Teil auch etwas schwerfällig und begrifflich so befrachtet, wie ich sie, älter geworden, nicht mehr zu Papier bringen und vortragen würde. Es gehört zu den Vorzügen des Alters, daß man lernt, sich kürzer zu fassen und auf das Wesentliche zu beschränken. Gleichwohl
425 fand ich bei meinen spanischen und portugiesischen Hörern eine wohl nicht nur höfliche, sondern auch wirklich verständnisvolle Resonanz, wobei auch mitsprach, daß ich den Inhalt jeweils in spanischer Sprache vortragen konnte. Die Manuskripte waren zuvor in Madrid ins Spanische übersetzt worden, eine Arbeit, die bei Worten wie „Dasein", „Sein", „Seiendes" auf Schwierigkeiten stieß. (ich pflegte damals noch unter dem persönlichen Einfluß des „Meisters von Todtnauberg" zu "heideggern"!). Spanisch hatte ich bei einem Sprachlehrer zu lernen versucht - mit mäßigem Erfolg. Im Umgang mit meinen spanischen Gesprächspartnern im Landes selbst lernte ich dann, mich zu unterhalten und an Diskussionen in Spanisch zu beteiligen.
Vor meinem ersten Vortrag im „Ateneo Literario, Artistico y Cientifico" in Cadiz ereilte mich ein Mißgeschick, das dieses Debüt fast zum Scheitern gebracht hätte: Um mich ungestört auf das Vorlesen des Textes einzustimmen, fuhr ich allein mit der Straßenbahn vom Hotel zum Strand des Atlantik, legte das fertig übersetzte, mit zahlreichen roten Unterstreichungen und Randstrichen versehene Manuskript zusammen mit meinen Kleidern in vermeintlich gehöriger Entfernung vom Wasser auf den Strand und schwamm wohlig weit hinaus in den angenehm temperierten Ozean. Das muß ziemlich lange gedauert haben, denn als ich ans Land zurückkehrte, waren Manuskript und Kleider, auch die Schuhe inzwischen von der herangenahten Flut ergriffen worden, in der sie weit verteilt herumschwammen. In äußerster Eile raffte ich alles zusammen, dessen ich habhaft werden konnte, Kleider, Schuhe und vor allem die völlig auseinander geratenen, durchnäßten Manuskriptblätter. Ich hatte Glück - sie waren vollzählig da, wenn auch zerknüllt und mit verlaufenen roten Unterstreichungen, jedoch noch lesbar. Als ich zum Hotel zurückkam, müssen sich meine davor sitzenden Freunde in meinem durchnäßten, zerknitterten Anzug für einen aus Seenot geretteten Matrosen gehalten und nicht erkannt haben, denn sie nahmen von mir keinerlei Notiz. Inzwischen kleidete ich mich rasch um und konnte noch rechtzeitig mit Francisco („Paco") im kleinen Hörsaal des „Ateneo" erscheinen. Er saß neben mir, und wir hatten vereinbart, daß er mir leicht auf den Fuß treten würde, wenn ich stecken bleiben sollte. Er wollte dann an meiner Stelle weiterlesen. Etwa in der Mitte des Vortrages schien es so weit zu sein. Denn das erste Ablesen des spanischen Textes hatte mich doch recht angestrengt. Aber dann packte mich der Ehrgeiz, ich schob seinen Fuß von meinem herunter und las
426 tapfer und ziemlich flüssig das ganze Manuskript zu Ende. Schon hier in Cadiz wie auch bei den folgenden Vorträgen fiel mir auf, mit welchem Interesse die Hörer gerade auch den philosophischen Einsprengseln meiner Gedanken folgten und wie gut sie über die deutsche Existenzphilosophie, namentlich über H e i d e g g e r und J a s p e r s , Bescheid wußten - besser als manche gebildete Deutsche!
Am nächsten Tage hatten wir Muße, uns an Cadiz zu erfreuen, das schon afrikanische Züge trägt und von den Spaniern „La tacita de Plata", dien silberne Tasse" genannt wird. In der Capilla de Santa Maria entdeckten wir einige schöne M u r i I I o s und in dem kleinen städtischen Museum mehrere kostbare Z u r b a r a n s , die ich zum ersten Male sah. Im nächsten Jahr konnten wir auf der Weiterfahrt vom Internationalen Neurologenkongreß in Lissabon etwas südlich von Cadiz zum ersten Male die afrikanische Küste erblicken, was mich zu dem begeisterten Ausruf "Aaafrika, Aaafrika!" veranlaßte, aber meine beiden landeingesessenen Mitfahrerinnen Antonia und Vera nicht besonders enthusiasmierte. In Cadiz hatten wir zufällig einen ebenso wohlbeleibten wie kinderreichen Gynäkologen wiedergetroffen, der mich von meinem Vortrag her kannte. Er lud uns dreimal hintereinander zum Essen ein. L I a v e ro hatte uns gesagt, eine spanische Einladung sei erst ernst gemeint, wenn sie dreimal erfolgt. Also nahmen wir an und ließen uns die „Entremeses" = Vorspeisen so trefflich munden, daß wir annahmen, sie seien das Hauptgericht, für das dann nicht mehr viel Appetit übrig blieb. Der Hausherr wedelte sich während des opulenten Mahles mit einem großen Fächer frische Luft zu. Seine liebenswürdige Frau war Deutsche, die sich in Cadiz so wohl fühlte, daß sie nie wieder in ihr Heimatland zurückkehren wollte.
Aber nun - möglichst kurz - zu den einzelnen Vortragsthemen. Auch der zweite Vortrag, am 16. Mai 1953 im Ateneo Literario, Artistico y Cientifico zu Madrid, eingeführt von unserem späteren Freund Professor Raphaei C a I v o S e r e r , Catedrático für Neuere Geschichte und Geschichtsphilosophie an der dortigen Universität, handelte von der auf den ersten Blick vielleicht befremdenden Trias „Daseinsangst. Technizismus und Neurose". Was berechtigte einen Psychiater, diese drei, verschiedenen Forschungsgebieten zugehörigen, Begriffe miteinander zu einem Thema zu verbinden? Es war der Versuch, zu fragen ob zwischen der Angst als einer Grundbefindlichkeit des Daseins, von der
427 die Menschheit in unserem Krisenzeitalter beherrscht zu sein scheint, mit der Herrschaft der Technik und der offenkundigen Häufung der sogenannten „Neurosen" ein innerer Zusammenhang bestehen können. Auf gedanklich vielfach verschlungenen Wegen - ich würde heute alles einfacher darstellen - bemühte ich mich, möglichen gemeinsamen geistesgeschichtlichen und metaphysischen Ursprüngen der Gefährdung des Menschen unserer Zeit auf die Spur zu kommen. Zunächst ein Beispiel aus meiner fachlichen Tätigkeit: Ein ursprünglich religiös gläubiger, später atheistisch gewordener Mann gerät in einen selbstverschuldeten ehelichen Konflikt, den er durch rationale Bagatellisierungs- und Rechtfertigungsversuche verdrängt, anstatt zu versuchen, ihn mit Hilfe tieferer Gewissenserforschung und der vergebenden Kraft des Glaubens als Weg zur inneren Reifung zu verarbeiten und zu bewältigen. Die mit "nihilistischer Nonchalance" unterdrückte heilsame Gewissensangst wandelt sich um in eine zwanghafthypochondrische Angst, sich venerisch infiziert zu haben: Ein neurotisches Symptom hat sich an die Stelle des verdrängten Gewissens gesetzt!
11 Nicht mehr die von Sigmund Freud und seiner Schule dogmatisierte Verdrängung der „Libido" durch die Zensur der elterlichen Autorität und der gesellschaftlichen Tabus, des „Über Ichs", braucht heute noch zu neurotischen Entwicklung zu führen. Viel eher ist es die „Verdrängung" der Kräfte des Glaubens, der Verantwortung gegenüber einer höheren Macht, die mit der Stimme des Gewissens zu uns spricht. Nicht die triebhaften Sinne werden unterdrückt, sondern die höheren Regungen des Herzens. Dies bedeutet auch, daß die Ängste, die mit einem schuldhaft entstandenen Konflikt einhergehen, nicht mit den erlösenden Hilfen des Glaubens, der Hoffnung, des Gebetes bewältigt werden können, sondern in die „Kanäle" eines wieder nur Angst erzeugenden neurotischen Symptoms „abfließen".
Das tertium comparationis von Angst und Neurose glaubte ich - überraschend - im Wesen des Technizismus sehen zu können: So wie die Neurose eine „Flucht in das Symptom" bedeutet, so ist das technizistische Denken und Tun als, eine "Flucht in den Apparat" zu verstehen. Mit beidem wähnt der heutige Mensch sich von seiner Angst durch Gegenständliches, diesseitig - Dingliches hier das Symptom dort den Apparat entlasten zu können, ohne der Hilfe immaterieller, geistiger, religiöser Kräfte zu bedürfen. Mit beidem aber bleibt er ein Gefangener im Bannkreis der Angst. Für das Verständnis des Zusammenhanges
428 zwischen Angst, Technisierung des Lebens und neurotischen Fehlentwicklungen ist es geistesgeschichtlich interessant, daß kurze Zeit, bevor N i e t zs c h e sein Wort vom „Tod des alten Gottes" verkündete, der amerikanische Nervenarzt B e a r d über die außerordentliche Zunahme „nervöser Schwächezustände", von ihm „Neurasthenia" bezeichnet, berichtet hat, die er auf die Einflüsse der Industrialisierung, den Lärm und die Hast des Großstadtlebens zurückführte. Im Mittelpunkt ihrer Symptome standen die verschiedenen Formen der Angst, die wir heute zu den Angst- oder Zwangsneurosen zählen würden, darunter auch eine „Angst vor der Angst" eine „Phobophobie". Vielleicht sei dies, so sagte ich, eine Angst „aus Nichts" und „vor Nichts", die der tiefenpsychologisch oft nicht analysierbaren und verstehbaren primären Angstbereitschaft neurotischer Menschen als Selbstunsicherheit, Minderwertigkeitsgefühl, Ressentiment zugrunde liegt?
Der neurotische (oder der depressive) Mensch weiß oft nicht, warum und wovor er eigentlich Angst hat. Er möchte lieber körperlich krank sein, etwas medizinisch Objektivierbares, Greifbares nachgewiesen haben, anstatt sich vor der Unbestimmtheit und Unheimlichkeit dieser nihilistischen Angst" ängstigen zu müssen. Er will nicht wahrhaben, daß ein unverarbeiteter Konflikt, eine unbewältigte Lebenssituation, ein Schuldproblem ihn angstkrank werden ließen, und er klammert sich daher an ein Symptom, das er mit den Techniken der modernen medizinischen Diagnostik und Therapie festgestellt und beseitigt wissen möchte.
Daß der Umgang mit technischen Geräten Angst zu verdrängen oder zu kompensieren vermag, zeigt eine banale Erfahrung: Es gibt ängstlich-„nervöse" Menschen, die sich angstfrei, ruhig und sicher fühlen, sobald sie sich an das Steuer ihres Automobils setzen und - vielleicht unbewußt - vor ihrer Angst davonfahren oder -rasen. Das Machtgefühl und Erfolgserlebnis, das ihnen die Beherrschung des motorisierten Vehikels verleiht, die Geschwindigkeit, das überholen eines anderen Wagens, die Konzentration auf die Fahrsituation - alles dies verhilft ihnen zur Entlastung vom Druck ihrer Ängste und Besorgnisse. Ich rate daher manchen angstneurotisch gefährdeten oder „nervösen" Menschen häufig sind es Frauen -, zur Angstentlastung und Festigung ihres Selbstwertgefühls den Kraftfahrzeug-Führerschein zu erwerben (ohne daß damit natürlich eine gezielte psychotherapeutische Hilfe ersetzt werden könnte!).
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Auf der anderen Seite wissen wir, daß der Neurose wie auch der Technik ein Zug zur Deformierung und Selbstzerstörung innewohnt. Beiden Phänomenen unserer Zeit fehlt es, soweit dieser Vergleich erlaubt ist, an einem „Schwerpunkt des Menschseins", der das Herausfallen aus einer gleichgewichtserhaltenden „Mitte" in ein Extrem verhindern kann. Bei der Technik ist es das Extrem der Erhöhung des Menschen zum Herrscher über die Natur und seiner Erniedrigung zum Diener des technischen Werkzeugs (er „bedient" die Maschine!), bei der Neurose der Widerspruch zwischen der Neigung zur Selbstüberschätzung, zum Geltungsbedürfnis und zur Selbstentwertung, zum Ressentiment. Eine maß- und haltgebende „Mitte" zwischen diesen Extremen suchen wir in den Kräften der Liebe, des Gewissens, der Verantwortung für den Dienst am Heiligtum des Lebens. Ihr Mangel führt zur lebensfeindlichen Selbstzerstörung.
Die Trümmer und Materialverbiegungen eines abgestürzten Flugzeuges oder verunglückten Automobils erinnern mich immer an die selbstzerstörerischen Sucht- und Suizidtendenzen, an die Desintegration und innere „Zerspaltung" einer neurotischen Persönlichkeit. Die Deformierung und Zerstückelung des Menschenbildes, wie etwa P i c a s s o sie dargestellt hat, wäre vor dem Zeitalter der Technik, der Angst und der Neurosen nicht möglich gewesen. Es ist auch die mit der Technisierung einhergehende einseitige Verlagerung auf das Verstandesdenken, die „Kopfgesteuertheit" des heutigen Menschen, die ihn keineswegs nur selbstsicherer, sondern auch unsicher, ängstlich, „neurotisch" werden läßt. Dem unaufhaltsamen Zuwachs an Bewußtheit, an Wissenschaftlichung des Lebens, an Bedeutung von Analyse und Reflexion steht gewöhnlich eine Verkümmerung des Haltes an transzendenten Kräften und an Gemütswerten gegenüber. Ich denke dabei an den Typus des modernen Intellektuellen, und an den des heutigen Erfolgs- und Machtmenschen: Sein Herz kommt zu kurz, wenn nur der Kopf wissenschaftlich, technologisch, wirtschaftlich oder politisch denkt, plant und herrschen will. Schon Nietzsche hatte das zunehmende Bewußtwerden als „europäische Krankheit" bezeichnet.
Ein an zwanghafter, auf nihilistischer Angst beruhender Grübel- und Zweifelsucht leidender Patient antwortete mir auf die Frage, warum und wovor er eigentlich Angst habe: „ Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Meine Bewußtheit löst die Angst aus!" Er habe im Leben, in der Liebe, im Glauben vergeblich einen
430 festen Halt gesucht, und zwar durch seinen Beruf als Industriephotograph, nach dem exakt-geometrischen Prinzip, mit dem er den Standort herausfinden müsse, von dem aus er die günstigste Bildwirkung erzielen könne. Das Ergebnis dieses Suchens mit der „seelischen Photolinse" nach einem „archimedischen Punkt" seines Lebens war ein gesundheitlicher und sozialer Zusammenbruch, der die Angst dieses gleichermaßen „technisierten" wie neurotisierten Menschen bis zum Krankhaften und Therapiebedürftigen gesteigert hat. „Meine Krankheit ist meine Bewußtheit, meine Not beruht darauf, daß ich das Natürliche, Einfache, die Intuition durch exaktes Berechnen ersetze", so sagte er.
Wir haben hier die psychopathologischen Konsequenzen der geistigen Ahnenschaft G a I i I e i s („Alles Meßbare zu messen und das Unmeßbare meßbar zu machen!) und D e s c a rt e s „doute methodique": „Das einzig Unbezweifelbare ist die Existenz des Zweifels" vor uns. Dieser Patient litt aber nicht nur unter der Angst vor der Dominanz seiner Bewußtheit, sondern auch unter der Angst vor seiner sinnlichen Triebgebundenheit. Eine Partnerschaft in wirklicher Liebe oder echter Freundschaft war ihm versagt geblieben. "Mein Herz ist zu schwach für die Liebe", meinte er (wobei ich auf die in seiner Persönlichkeitsstruktur begründeten Ursprünge dieser „seelischen Herzschwäche" nicht eingehen will). Und so vergleicht er seine innere Situation verzweifelt mit einem defekten Automaten, in dem die Räder des Zweifels und die Räder der Sinne unablässig gegeneinander rotieren, ohne von dem „Differentialgetriebe des Herzens" reguliert zu werden. In seinen Aufzeichnungen fand ich den Vermerk: „Ich lebe nicht, sondern ich werde gelebt."
Erinnert ein solcher „neurotischer Automatismus" nicht an den Mechanismus des Roboters? Als jemand gefragt wurde, wo man sich eigentlich den Sitz des Herzens in der Apparatur einer künftigen Menschenmaschine" vorzustellen habe, gab er die ebenso entlarvende wie törichte Antwort: „ Diesen Körperteil wird der Mensch der Zukunft nicht brauchen!" Er hätte sich auf D e s c a rt e s berufen können, der in den menschlichen Gefühlen nur Quellen des Irrtums und der Täuschung sah und die Liebe zu den Affekten und Leidenschaften zählte, die ihren Ursprung in der „res extensa" des Körpers und ihren Sitz in der Zirbeldrüse des Gehirns haben sollten. Die mechanistische Hypothese, die den Menschen mit einer Maschine verglich oder sogar gleichsetzte - der französische Arzt und Philosoph L a M e t t r i e gab seinem Buch 1748 den Titel „L'homme machine" -
431 führte in ihrer letzten Konsequenz zu dem, was ich die Verlagerung des Schwerpunktes des Menschen von seiner unsichtbaren „Mitte" zum sichtbaren Körper, vom „Herzen" zum „Kopf" nenne. Ein neurotischer Mensch wie der eben erwähnte ist durch die Emanzipation seines Verstandes, der D e s c a rt e s schen „res cogitans" und seiner Triebe - von einer haltgebenden „Mitte" aus dem Gleichgewicht geraten und damit einer unbewältigten Daseinsangst preisgegeben. An die Stelle des „Ich denke, also bin ich" hat sich das „Ich denke, also habe ich Angst" gesetzt. D e s c a rt e s hat die Menschen so denken gelehrt, daß sie die Technik erschaffen konnten. So gesehen ließe sich eine geistesgeschichtliche Beziehung zwischen dem rationalistischen und technizistischen Denken und einer Entstehungsbedingung der Neurotisierung des Menschen unserer Zeit erkennen.
Der Preis für die Anmaßung des Menschen, die Natur durch eine unaufhaltsam fortschreitende Technisierung des Lebens zu beherrschen, war die Weltgefahr einer Zerstörung der Natur und des Lebens durch eben diese Technisierung. Über dem Zeitalter der Atombombe steht das Wort P a s c a I s : „Nichts ist für uns fest. Und das ist unser natürlicher Stand und doch unserer eigentlichen Neigung entgegengesetzt. Wir verbrennen vor dem Wunsch nach Weisheit, nach Sicherheit, nach einem letzten dauerhaften Grund, um auf ihm den Turm in die Ewigkeit zu bauen. Aber dieser Grund kracht ein und die Erde darunter öffnet ihren Abgrund." (Pensées Art. XVII). Eine neurotische Akzentuierung dieser „Angoisse Pascalienne" deutet sich auch an in den zum Teil überrealistisch begründete Befürchtungen weit hinausschießenden massenneurotischen Ängsten vor einer „kurz bevorstehenden" Vernichtung der Menschheit in einem globalen Atomkrieg.
Zum Schluß meines Vortrags habe ich versucht, zu fragen, ob der Daseinsangst, dem Technizismus und der Neurose auch positive Kräfte innewohnen, die uns hoffen lassen können nach dem H ö I d e r I i n schen Wort: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Wir sollten uns erinnern, daß die „große Angst", die Daseinsangst - nicht die kleine Furcht ! - die den Menschen vor das Nichts stellt, und daß dieses Nichts - nach einem Gedanken der Neuplatoniker und H e g e I s mit dem Sein zusammengehört und uns damit erst das Befremdliche, Hinfällige und Unwesentliche des „Seienden" offenbart, das dem Menschen im alltäglichen Leben und in der bloßen Furcht zu entgleiten droht.
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K i e r k e g a a r d erblickte in dieser Angst den „Abgrund des Gewissens", und für H e i d e g g e r erfährt der Mensch in der Angst und in der Sorge das Hinausstehen (ek-sistere) in die Offenheit des Daseins, in welchem „das Sein selbst sich bekundet und verbirgt, gewährt und entzieht". Dieses „Hinausstehen", das Existieren des Menschen aber offenbart ihm das Unveränderliche („Ewige") des Seins im Gegensatz zu den veränderlichen, seienden Dingen des Lebens. Aus der unbestimmten, „unheimlichen" Angst, die er in der Unruhe des Gewissens, in der Not der Schuld oder des Leides erlebt, erwächst dem Menschen die Notwendigkeit, eine existentielle Entscheidung zu treffen, nicht ihr auszuweichen, sondern sie zu bestehen und damit er selbst im eigentlichen Sinne dieses Begriffes zu werden. Dieses ontologische, von der Wahrheit des Seins her gesehene Verständnis der Daseinsangst berührt sich - ohne mit ihr identisch zu sein - mit ihrer sakralen Bedeutung, wie sie im Bußgebet Dav i d s (Psalm 51) ausgesprochen wird: "Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist. Ein geängstet und zerschlagenen Herz wirst Du, Gott, nicht verachten."
Es gibt viel Angst ohne Neurose. Aber es gibt keine Neurose ohne Angst. Die Angst ist "das dynamische Zentrum der Neurose", hat Karen Horne y einmal gesagt. Ich versuche daher im psychotherapeutischen Dialog meine neurotischen Patienten auf die ontologische und die theologische Deutung der Angst hinzuweisen, sie ihnen nahezubringen, ohne sie ihnen etwa aufzwingen zu wollen. Hilfreich pflegt dabei auch das Eingeständnis des Therapeuten zu sein, daß er selbst auch Angst und Ängste aus eigenem Erleben und Erleiden erfahren hat. So habe ich mich - nur ein Beispiel - immer bei drohendem Gewitter zu einem an großer Angst vor Gewitter leidenden Patienten gesetzt, weil er wußte, daß auch ich seit meiner Kindheit an einer solchen Angst zu leiden hatte. So erlebten wir, wenn das Gewitter kam, gemeinsam Angst - und spürten sie plötzlich nicht mehr! Von den Gefährdungen des Menschen im Zeitalter der Technik und der Angst bleibt wie der Patient auch sein Therapeut nicht unberührt, und diese zeitgeschichtliche Schicksalsgemeinschaft kann der personalen Kommunikation zwischen ihnen nur zu gute kommen. Wenn dann im psychotherapeutischen Dialog die Rede von der Technik sein sollte, wäre daran zu erinnern, daß das Wort „Techne" vom Griechischen „Tiktein" abgeleitet ist und ursprünglich „schöpferisches Hervorbringen", künstlerisches oder kunsthandwerkliches
433 Gestalten bedeutet. Als Element der Kunst hat sie in ihrem eigentlichen Sinn der Bereicherung, Verschönerung, Vergeistigung des Lebens zu dienen. Sie tut dies zum Teil sogar heute noch, wenn wir nicht nur an ihre häßlichen, sondern auch an ihre schönen Seiten denken, etwa an die Schönheit von Brückenbauten.
Ortega y Gasset hat in seinen „Betrachtungen über die Technik" (1948) gesagt: „Die ursprüngliche Mission der Technik ist es, dem Menschen die Freiheit zu geben, er selbst sein zu können." Dieser ursprüngliche Sinn der Technik ist zwar durch ihre Herrschaft über den Menschen verdunkelt worden. Er sollte aber nicht ganz vergessen werden, wenn es in der Psychotherapie um die Befreiung des Patienten von den Fesseln seiner Angst und um die Aufgabe geht, ihn zu „sich selbst" zu führen.
In der Neurose selbst schließlich sollten wir Therapeuten nicht nur das Krankhafte, sondern auch etwas im Grunde durchaus Gesundes sehen, nämlich den Ausdruck eines vielleicht unbewußten Protestes, eines Notrufes gegen die Versachlichung und Entpersönlichung unserer technisierten Welt, gegen ihre Verarmunq an Liebe! Der moderne Technizismus (und Ökonomismus) hat einen „Keil" zwischen den Menschen und die Natur, zwischen den Menschen und Gott, zwischen den Menschen und seinen Mitmenschen getrieben. In das Vakuum, das dadurch entstanden ist, strömt die gefährlichste Gegenkraft der Liebe ein, und das ist eben die Angst. „Furcht ist nicht in der Liebe", heißt es im Ersten Brief des Johannes. Das bedeutet nichts anderes, als daß Angst und Liebe sich gegenseitig ausschließen, und damit ist schon ein Grundgesetz der heutigen Neurosenpsychologie vorweggenommen. Aber der „Schrecken der Angst", der in jenes Vakuum strömt, der „horror vacui", verlangt nach Befreiung durch einen festen Halt. Nie hat die Menschheit seit der späten Antike, in der sie auf einen Messias wartete, mehr nach Befreiung von ihrer Angst gedürstet als heute, da die Quellen eines echten Erlösungsglaubens durch die Säkularisierung des Lebens und durch ideologische Religionssurrogate weitgehend versiegt sind. Und gerade dies - scheinbares Paradoxon! läßt uns hoffen: Solange noch Menschen seelisch krank werden können aus ungestilltem Hunger nach Erfüllung des Daseinssinnes, nach Geborgenheit in der Liebe, in der Wärme des Herzens, solange ist die Menschheit nicht verloren!
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Vielleicht zwingt die Angst und die innere Not den Neurosekranken - und der Therapeut sollte ihm dabei helfen - zu der Einsicht, daß er seine Lebensund Konfliktproblematik nur bewältigen kann, wenn er einen höheren Sinn in ihr sieht, wenn sie ihn zur Besinnung auf das Überzeitliche, Ewige, das Göttliche im Menschen aufruft, das ihm die Kraft zu geben vermag, seine Angst zu beherrschen oder wenigstens auszuhalten, auch wenn er sie nicht völlig überwinden kann? Vielleicht läßt er sich an die Wahrheit des Wortes aus dem Zweiten Korintherbrief (4,17-18) mahnen: „Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig."
Wird dieses Wort in einer technisierten und ökonomisierten Welt, die über dem Sichtbaren das Unsichtbare, über dem Zeitlichen das Ewige aus dem Blick verloren hat, gehört und bedacht werden? Wird das Leiden an der Sinnentleerung des Daseins mit ihren Ängsten und seelischen Gefährdungen ein Schmelztiegel sein können, der den Menschen unserer Zeit zu der Erkenntnis läutert: Technokratie kann Theokratie nicht ersetzten!?
Wir können es hoffen. Wir wissen es nicht. So endet unsere Erörterung nicht in beruhigenden Antworten, sondern im unruhigen Fragen.
Mein Vorhaben, diesen ersten spanischen Vortrag in möglichster Kürze wiederzugeben, ist mir mißlungen. Für einen knappen Auszug erschien mir das Thema zu wichtig. Es läßt mich noch immer - nach vierzig Jahren - nicht los. Bei kritischer Durchsicht des Manuskripts würde ich heute - wie gesagt - manches einfacher und auch anders darstellen. Die Beziehung zwischen den drei Problembereichen „Daseinsangst, Technizismus und Neurose" steht erfahrungswissenschaftlich auf etwas schwachen Füßen. Sie beruht zwar, was die- Struktur und Entstehung der Neurosen angeht, auf objektivierbaren klinischen Tatsachen, aber in der Verbindung mit dem Phänomen Technik - ideologisiert zum „Technizismus" - auf Analogieschlüssen und in den an H e i d e g g e r angelehnten seins-geschichtlichen, ontologischen Deutungen auf gedanklichen Kombinationen und Konstruktionen. Heidegger selbst hatte mich bei einem Gespräch in seinem Freiburger Arbeitszimmer gewarnt, sein „fundamentalontologisches" Denken auf wissenschaftliche Erfahrungen „anzuwenden", wie der Psychiater Ludwig B i n s w a n g e r es irrtümlich getan habe. Mein Freund,
435 der Bonner Philosoph Gerhart S c h m i d t , schreibt mir dazu am B. Dezember 1993: „Wenn Heidegger Dir von B i n s w a n g e r s Weg abgeraten hat, so ehrt ihn das sehr. Im übrigen wird er bemerkt haben, daß Du nicht zum Jünger taugst." Gleichwohl können und dürfen wir Psychiater - so denke ich jedenfalls - in unserer ärztlichen Verantwortung für den existentiell gefährdeten oder kranken, den neurotischen oder depressiven Menschen unserer Zeit nicht der Frage ausweichen, warum und wie er die Sinn-Entleerung - oder -verarmung seines Daseins erlebt und auf welchen Wegen ihm zur Überwindung dieser nihilistischen Haltung verholfen werden kann. Dabei geht es um die auf seine individuelle Situation bezogene Frage nach der Wahrheit des Seins", nach dem „Sinn des Leidens" und nach dem „Nichts" in der Verfehlung dieses Sinns. Fragen solcher Art sollen, über die methodisch festgelegte Diagnostik und Therapie hinausweisend, einem tieferen Verstehen der Existenz des Patienten dienen. Aber ich gebe zu, daß sie nicht Jedermanns Sache sind, weder die des Therapeuten noch die des Patienten. Und ich gestehe auch, daß ich es mir selbst und meinen Lesern und Hörern mit der "Sache" nicht ganz leicht mache.
Trotz einer gewissen Umständlichkeit, mit der ich mein schwieriges Thema auszubreiten versuchte, glaubte ich mich nicht zu täuschen, wenn ich den Eindruck gewann, daß der Vortrag eine nicht nur höflich gemeinte Resonanz fand und alleine schon wegen seiner existenz-philosophischen und religiösen Akzentuierungen bei den spanischen Hörern wohlgefällig aufgenommen wurde. Jedenfalls war mein ehrgeiziger Freund L I a v e ro mit ihnen und auch mit mir zufrieden.
Im Anschluß an die Vorträge, die ich über „Daseinsangst, Technizismus und Neurose" im „Ateneo" in Cadiz und Madrid gehalten hatte, flog ich mit L I a v e r o nach Lissabon, um in der dortigen Psychiatrischen Universitätsklinik auf Einladung ihres Direktors, Professor B a r a h o n a F e r n a n d e s , über „Nihilismus und Neurose" zu sprechen. Als wir vor dem Abflug im Flugzeug nebeneinander saßen, ertappte ich meinen Freund, wie er sich heimlich bekreuzigte! B a r a h o n a F e r n a n d e s hatte uns noch ein Telegramm nach Madrid geschickt, in dem er uns als „Eure Exzellenzen" willkommen hieß, Ausdruck traditioneller portugiesischer Höflichkeit.
Das überarbeitete und erweiterte Manuskript ist später, 1963 und 1964 in spanischer und französischer Sprache veröffentlicht worden: „EI Nihilismo
436 moderno como Problema psicopatologico" (Atlantida, Revista del Pensamiento actual. Vol 1, Num 5, Septiembre-Octubre 1963/Madrid) und :"Le nihilisme moderne comme probleme psychopathologique". (La Table ronde, Revue Europeenne des recherche chretien - Nr. 197 - Juin 1964, Librairie Plon, Paris).
Grundgedanke ist auch hier der Begriff des Menschen als eines geschichtlichen Wesens nicht nur in den gesunden, sondern auch in den krankhaften und abnormen Formen seiner Existenz. „Geschichte" sehe ich als einen möglichen Weg zum Selbstverständnis des Menschen und „Psychopathologie" als ein Mittel zur Erhellung seines geschichtlichen Daseins. Das 1799 von Friedrich Heinrich J a c o b i Goethes Freund, in den philosophischen Sprachgebrauch eingeführte Wort "Nihilismus", das von J e a n P a u I auf die romantische Dichtung angewandt wurde, droht heute zum Schlagwort, dem geistigen Suppenwürfel unserer Zeit", wie Werner S o m b a rt es einmal genannt hat, degradiert zu werden. Aber es kennzeichnet immer noch die geistige Umwälzung, die sich seit der Renaissance vollzieht. „Moderner Nihilismus" ist nicht zu verstehen als eine sophistische Doktrin wie die des P r o t a g o r a s oder des G o r g i a s , als erkenntniskritischer Skeptizismus wie der des P y r r h o n oder des H u m e oder als religiöser Pessimismus im Sinne des altbabylonischen G i I g a m e s c h -Epos oder in Teilen des Buches H i o b . Er soll auch nicht identifiziert werden mit Atheismus, Rationalismus, Positivismus, Agnostizismus oder mit dem Pessimismus eines Schopenhauer , - Bah n sen- , L e o p a r d i oder anderen seiner vielfältigen Facetten. In seinem eigentlichen Wesen bedacht ist er eine geschichtliche Macht, deren Entfaltung das Schicksal der Menschheit bestimmen wird. Ihren Vordergrund bildet die radikale, über stürzt fortschreitende Rationalisierung des Lebens, die aus Technizismus, Ökonomismus und Kollektivismus den Menschen mehr und mehr der Natur und dem Geist entfremdet und seine Orientierung nach bisher gültigen Wertmaßstäben und Glaubensordnungen gestört oder aufgehoben hat. Mit dieser Entwicklung geht ein tiefgreifender Wandel des Bewußtseins, des Lebensgefühls und der Erlebnisweise des Menschen einher, ein Wandel, der sein Vitalgefüge, seine leiblichen Funktionen und seelischen Impulse und Reaktionen nicht unberührt läßt und sich in Formen ausprägt, die den Arzt, im besonderen auch den Psychiater zunehmend beschäftigen.
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N i e t z s c h e hat den Nihilismus als „pathologischen Zwischenzustand der Geschichte" bezeichnet. Das berechtigt uns jedoch nicht, in ihm eine Krankheitserscheinung, ein klinisches Phänomen zu sehen. Es wäre begriffskritisch unzulässig, medizinische Kategorien auf geschichtliche Phänomene zu übertragen und von einer „Pathologie des Zeitgeistes" oder gar von einem „schizophrenen Zeitalter" zu sprechen. Aber der nihilistische Grundzug unserer Epoche kann die Manifestation bestimmter seelischer Störungen begünstigen, nicht im Sinne einer Ursache, jedoch als Mitbedingung. Dies gilt im besonderen für „geschichtsnahe" psychopathologische Erscheinungen, zu denen die sogenannten Neurosen" gehören. Ich habe versucht, diese Annahme zu begründen, indem ich einzelne Elemente des Nihilismus in Beziehung zur Entstehung und Struktur der Neurosen setze: Gemeinsames findet sich in dem Fehlen oder der Verneinung einer Sinnerfüllung des Daseins. In dieses existentielle Vakuum strömen Ängste ein, Zeichen des "horror vacui", die Seelenängste der (geschichtlichen) Metamorphose", von denen Teilhard de Chardin spricht. Ein Übermaß an Angst gehört zu den Merkmalen einer epochalen Krisis. Dieses Übermaß an Angst wurzelt in der Gebrochenheit des Menschen zwischen zwei Zeitaltern, der seine innere Heimat nicht mehr im Vergangenen und noch nicht im Kommenden zu finden vermag. N i e t z s c h e sieht darin die Folge der Kopernikanischen Wende: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches N i c h t s ? Haucht uns nicht der I e e r e Raum an? ... Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? Auch Götter verwesen. G o t t i s t t o t . Gott bleibt tot!"
Mit dem „toten Gott" ,meint Nietzsche den christlichen Gott als den „obersten Wert aller Werte". Der Nihilismus sei die Geschichte der Entwertung dieser ..obersten Werte" und ihre Umwertung nach dem Prinzip des „Willens zur Macht" - metaphysisch, nicht politisch verstanden! Dieser „Wille zur Macht" ist durch die nahezu unbegrenzt verfügbar erscheinende Herrschaft über die technischen und ökonomischen Mittel ins Maßlose gesteigert worden. Ihm steht der „Schwindel der Ohnmacht" gegenüber, der den Menschen durch die Entdeckung des K o p e r n i k u s des Haltes in einer übersinnlichen Weit, in der 
438 Transzendenz, beraubt hat. Die übersinnliche Welt ist durch die Vordergründigkeit der Versachlichung und Verzweckung des modernen Lebens verdeckt und entwertet worden. „Sie spendet kein Leben", wie Heidegger in seinen Nietzsche-Interpretationen sagt. Das Schwinden der Kraft, die von der übersinnlichen, transzendenten Welt ausgeht, bedeutet nichts anderes als das Schwinden des Glaubens an „Gott". „Man entfernt sich von Gott nur, wenn man sich von der Liebe entfernt", heißt es in den „Pensées" P a s c a I s . Mit dem Versiegen der Kraft des Glaubens an „Gott" als Transzendenz scheint die Schwächung der Kraft, zu lieben, einherzugehen, beides im Zusammenhang mit der fortschreitenden Rationalisierung des Lebens und Denkens. Treue zu. einem geliebten oder nahestehenden Menschen und der Glaube an ihn oder an eine Idee (nicht Ideologie!), Liebe zu Gott und Mensch sinken in der Skala der Werte. Der Nihilist ist für T u rg e n je w („Väter und Söhne", 1862) nein Mensch, der ... kein Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, mag es so heilig sein wie es will." Juan Donoso C o rt e s sieht (in seinem etwas früher erschienenen Essay über den Katholizismus, Liberalismus und Sozialismus) im Nihilismus einen „geistigen, politischen und sozialen Auflösungsprozeß", der die Werte und Wahrheiten der abendländisch-christlichen Oberlieferung durch rationalistische Doktrinen entleere.
Diesen geistesgeschichtliche Signaturen des modernen Nihilismus entsprechen individuelle-psychopathologische Elemente im Aufbau der Neurosen: Angst („horror vacui") mit dem Schwinden des Haltes in einer transzendenten Welt, Aggressionen nach außen („Wille zur Macht") oder nach innen („Schwindel der Ohnmacht") als - verfehlte Versuche der Abwehr von Angst. Da neurotische Angst und wirkliche Liebe sich gegenseitig ausschließen, (ich erinnere an das Johanneswort „Furcht ist nicht in der Liebe"!) liebt der neurotische Mensch eher sich selbst als einen Anderen. Er wünscht zwar, geliebt zu werden, aber es ihm versagt, sein Ich an diesen Anderen fester zu binden - aus Angst vor dieser Bindung.
Das neurotische Geflecht von Angst, Angstabwehr, Aggressionen nach außen und innen, Sinnverlust oder -verfehlung des Daseins wird deutlich in den Selbstschilderungen von Patienten, zum Beispiel einer 30-jährigen unverheirateten Frau, die durch den subjektiv empfundenen - Mangel an einfühlendem Verständnis der Mutter für ihre konstitutionell gefährdete und verhaltensgestörte
439 Persönlichkeit in eine tiefe „existential-neurotische" Not geraten war: „...Meine Mutter hat mir etwas angepreßt, was mir nicht wesensgemäß ist. Dabei ist mein wahres Gesicht zerbrochen worden. Ich habe die mir aufgepreßte Maske aber nicht abstoßen können. Ich war nicht stark genug dazu. Sie ist nach innen geschlagen und hat mich zur Verkrampfung und Zwanghaftigkeit erstarren lassen. Der Widerstreit meiner Wesenskräfte gegen das mir aufgezwungene Verhalten hat mich seelisch krank gemacht. Ich bin gleichsam in einer Wüste groß geworden. Aber ich habe mich auch selbst verwüstet durch den Haß auf meine Mutter und dann durch den Haß gegen mich selbst. Gehaßt habe ich mich, weil ich es nicht ertragen konnte, meine Mutter zu hassen. Ich bin zwanghaft gegen mich selbst aggressiv geworden ... weil ich die Aggressionen gegen meine Mutter unterdrücken mußte. Ich habe aus meinem Seelenleben eine Hölle gemacht und mich in meiner Selbstquälerei totgelaufen. Ich weiß - alles das ist ein Abfall von Gott."
Und nun folgt das nihilistische Resumée: „Das Netz der Versagungen zog sich immer enger zusammen, alles endete in der Sackgasse der Vergeblichkeit. Dahinter stand die Leere - das Nichts. In mir ist Nichts. Ich bin durchdrungen von Nichts. Das Nichts meiner Vergangenheit macht mir Angst ... Ich habe nicht nur in keiner Gefühlsbindung gelebt, sondern in andauernder, quälender Gefühlsabwehr gegen meine Umgebung (Mutter) gestanden. Auch in der geistigen Entwicklung sehe ich mehr Unterlassungen und Versäumnisse als eine positive Entwicklung, also auch nur Negationen." "Ein Leben, das mir nichts als Versagungen und Leiden aufzwingt, ist für mich auf die Dauer unerträglich und ohne Sinn."

Die verfehlten - weil selbstquälerischen und nur wieder Angst erzeugenden Versuche, die im „Nichts" verborgene Angst abzuwehren, äußerten sich bei dieser Patientin in einer zwanghaften Tendenz zur Selbstzerstörung: Sie mußte sich stundenlang die Haut an den Fingernägeln aufreißen oder abschneiden! Zugleich entwickelte sich bei ihr ein „Verneinungszwang": Beim Lesen blieb sie an Worten mit verneinender Bedeutung hängen, so daß sie nicht weiterlesen oder den Sinn des Gelesenen nicht mehr erfassen konnte! Das Nichts hatte sich an die Stelle ihres Seins gesetzt. Die Sinn-Kontinuität des Daseins ist unterbrochen, seine Geschichtlichkeit zu sinnleerer Punktualität nihilisiert.
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Der moderne entgöttlichte Zeitgeist vermag dem Menschen in nihilistischer Not keine Hilfe zu geben. Das Gebet hilft nicht. Gott hört nicht - er schweigt. „Die Thesen des biblischen Zeitalters nützen uns nichts mehr, sprechen uns nicht an." „Das Leben hat für mich nur Sinn, wenn Gott mir meine tiefsten Wünsche erfüllt. Er hat es nicht getan. Deshalb kann ich nicht mehr an den Sinn des Lebens und auch nicht mehr an Gott glauben. Er ist für mich nicht mehr da. Christus ist nur noch ein wirklichkeitsferner Mythos. Gott und Christus, wo bleiben sie? Wo bleibt ihre Liebe?" So oder ähnlich äußern sich Patienten, gefangen in den Fesseln neurotischer Not. Helfen kann allenfalls noch der sachkundige, erfahrene Arzt, der Psychotherapeut, der damit mehr und mehr an die Stelle des geistlichen Seelsorgers tritt. An die Stelle Gottes setzt sich das Ich. Aber dieses ICH ist „hassenswert",wie Pascal sagt, „weil es sich zum Mittelpunkt von allem macht." „Wo ist Gott? - wir haben ihn getötet", sagt N i etzs c h e , „Ich habe Gott in mir vernichtet und mich zerstörerischen Kräften ausgeliefert", sagt meine Patientin. "L 'homme se fait!" ist der erste Grundsatz des S a rt r e schen Existentialismus. „Das Ich, das sich absolut setzt, darf auch den Anspruch erheben, sich vernichten zu können!", war die rationalistische Folgerung, die ein anderer Patient unter Berufung auf Sartres These aus seinem neurotischen Nihilismus ziehen zu können glaubte. Daß die Totalisierung des Ichs zu seiner Nihilisierung und damit auch zu seiner Kollektivierung führen kann, zeigte sich an einem Patienten, der als Soziologe seine Neurose im Zusammenhang mit dem von David R i e s m a n geprägten Begriff der „außengeleiteten Person" zu verstehen versuchte.: „Da ich mich in der Isolierung meines Ichs weder mit mir selbst noch mit einem Du auseinandersetzen konnte und damit jede Selbstsicherheit verloren hatte, war ich dem Urteil Anderer ausgeliefert, bin ich von ihm krankhaft abhängig, ihm hörig geworden - eine Ka f k a eske Situation"!
Aus dieser Destrukturierung des Ichs ergeben sich die Möglichkeiten einer Verschärfung der Gegensätze des Daseins im Inneren des Menschen und in seinen Beziehungen zur Umwelt zu den neurotischen Ambivalenzen oder Antinomien auf der einen und zu neurotischen Komplexen auf der anderen Seite. Die Gegensätze können sich verschärfen, wenn sie nicht auf höherer geistiger oder religiöser Ebene zu einer Einheit verbunden werden, die N i c o l a u s v o n C u e s als „coincidentia oppositorum" mit dem Gottesbegriff identifiziert
441 hat. Damit entstehen die unverbundenen Gegensätze zwischen übersteigerten Geltungsund Machtansprüchen des Ichs und seiner radikalen Verneinung, zwischen dem Anspruch, geliebt zu werden und dem Unvermögen, wirklich lieben zu können usw. Komplexe entstehen dadurch, daß einer der Pole dieser Gegensätze das Übergewicht über den anderen gewinnt, sich verselbständigt und zu zwanghaften ErlebnisRekapitulationen, Befürchtungen oder Aggressionen fixiert, die sich autonom, gleichsam als „Ersatz-Ich", dem Willenseinfluß der Persönlichkeit, ihrer Vernunft und Selbstveranwortung entziehen und von ihr als etwas Fremdes, Feindliches empfunden werden. Sie können sich äußern in der Form einer Fixierung an einen Elternteil („Ödipus" oder „Elektra"-Komplex) oder in dem Gefühl der eigenen Unter- oder Überwertigkeit (Minderwertigkeitskomplex oder hysterische Geltungssucht) oder in der zwanghaften Angst, einen Fehler zu begehen (anankastischer Perfektionismus) oder auch in zwanghaften (hypochondrischen) Krankheitsbefürchtungen.
Von ihrem nihilistischen Hintergrund her gesehen, lassen sich diese psychodynamischen Vorgänge auf die Formel bringen: Der Nihilismus spaltet das Ganze der Persönlichkeit in desintegrierte Teile, die neurotischen Antinomien oder Ambivalenzen, und er emanzipiert einen dieser Teile zu einem beherrschenden Ganzen, dem neurotischen Komplex.

 

Nihilismus und Neurose

 

Mein Versuch, der Frage nach den Beziehungen des modernen Nihilismus zu neurotischen Entwicklungen nachzugehen, beschränkt sich nicht auf theoretische Erklärungen, sondern läßt sich empirisch begründen mit der auffallenden Häufigkeit neurotischer Komplexformen in unserer Zeit. : Es sind die „Phobien" (Zwangsängste) und anderen Zwangssymptome (Anankasmen), die Suchten und die Suizidtendenzen. „Die Zahl der Anankasten ist Legion" (von G e bs a t t e I ), zumal, wenn man die vielen, noch nicht im klinischen Sinne krankhaften Formen von Zwangserscheinungen hinzunimmt. Victor von G e b s a t t e I hat in der phobischen Fehlhaltung einen „unfreiwillig gelebten Nihilismus" gesehen mit der Tendenz zum „Nicht-sein-können" nach der Weise der „conduite d'échec" (Pierre J a n e t ). Der „Phobische" lebt, wie L ö p e z I b o r sagt, in Bezug auf seine Phobie nicht in der historischen, sondern in 442 einer zyklischen Zeit. Er wird durch die ständige Wiederkehr seiner Phobien scheinbar! gegen jenes Erlebnis der Angst geschützt, das die unaufhaltsam voraneilende Uhr- und Kalenderzeit, die „reißende Zeit", von der H ö I d e r I i n im „Archipelagus" spricht, in uns hervorruft.
In der Analyse der Suchten stoßen wir, soweit sie auf neurotischen Fehlentwicklungen beruhen, ebenfalls auf nihilistische Merkmale: Ängste und Surrogate einer Sinnerfüllung des Daseins. Unbewältigte Konflikte, Enttäuschungen, körperliche oder seelische Schmerz- und Leidenszustände sollen durch die Rauschwirkung des Alkohols oder bestimmter psychotroper Drogen nihilisiert" werden. Wir können darin eine Manifestation des Nichts sehen, die den Menschen in ein B a u d e l a i re ssches „Paradias artificiel" entrückt und ihn zugleich der Selbstzerstörung ausliefert. Denn Suchten sind ..Suizide auf Umwegen". Gottfried B e n n h a t , obwohl er Arzt war, diese Selbstzerstörungstendenz der Suchten in Kauf genommen, wenn er den Zynismus aufbrachte, in der gezielten Verordnung des Suchtmittels Pervitin zur Stimulierung von „Zerebralos-zillationen" bei Schülern die „natürliche Fortführung einer Menschheitsidee" zu erblicken. Er hat sich damit selbst als Kind und Opfer eines nihilistischen Zeitalters entlarvt.
Statistisch erwiesen ist die Zunahme der Selbsttötungen mit dem wirtschaftlichen Aufstieg in der Bundesrepublik Deutschland nach 1948, nachdem die Suizid-Quote in der letzten Zeit des Zweiten Weltkrieges einen in der Vorkriegs Friedenszeit nie beobachteten Tiefstand erreicht hatte! Interessant ist, daß der bisher erkennbare suizidhemmende Einfluß der katholischen Kirche zurückgegangen ist. Nietzsche hat die Selbsttötung als „Tat des Nihilismus" bezeichnet und deren Mißbilligung dem Christentum zum Vorwurf gemacht: In der vergleichenden Analyse der Suizid-Motive stand noch vor 30 Jahren „Liebeskummer" an erster, 1955 an letzter Stelle! In diesem Motivationswandel kommt die zunehmende Versachlichung und Verflachung des Phänomens ,.Liebe" zum Ausdruck. Goethe würde heute seinen „Werther` wohl nicht mehr schreiben. In Césare P a v e s e s „Tagebüchern" finden sich die Sätze: „Die Liebe ist die billigste aller Religionen" und: „All die heiligsten Gefühle sind nichts als eine träge Gewohnheit ". Derselbe P a v e s e - er endete durch Selbsttötung stellte die Frage: „Gibt es etwas Banaleres als den Tod?".
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Eine Antwort auf diese Frage erhalten wir durch die oft erstaunliche Banalität der Motive und die Leichtfertigkeit des Entschlusses zum Suizid bei Erwachsenen und namentlich auch bei Jugendlichen. Nach mißlungenen Suizidversuchen hören wir von ihnen häufig nichts von tiefergehenden Konflikten, sondern Äußerungen wie: „Ich weiß auch nicht, warum ich nicht mehr leben wollte. Es erschien mir alles sinnlos. Ich fühlte mich so einsam. Ich glaubte, keiner könnte mich lieben". Dies gilt nicht etwa nur für Depressionen von Krankheitswert, sondern gerade auch für leichtere Familienzerwürfnisse, beschämende Erlebnisse, Enttäuschungen, Angst vor Strafe für schlechte Zensuren in der Schule. Es ist das unklare Gefühl eines „taedium vitae", das Jugendliche aus der Langeweile oder inneren Einsamkeit ebenso in den Tod treiben kann wie in ein Leben voller Nichtigkeiten und Zerstreuungen, zu denen auch suchtartig sich häufende Diskothekenbesuche gehören: Den Suizid-Motivationen fehlt das eigentlich Tragische. Leben und Tod werden nicht mehr ernst genommen, weil man in beidem keinen Sinn zu sehen vermag. Das Nichts entwertet beides zur Nichtigkeit eines bloßen Kalküls - eine Konsequenz des radikalen Rationalismus. Dessen sinn- und selbstzerstörende Bedeutung kam in den Worten eines meiner neurotischen Patienten zum Ausdruck, der mehrere Selbsttötungsversuche hinter und wahrscheinlich auch noch vor sich hatte: "Es gibt für mich überhaupt keine höheren Werte. Alles ist Einbildung. Auch Gefühle sind Einbildung. Die Seele ist eine Einbildung. Das einzig Wirkliche sind die Grunddimensionen der Physik und Chemie, aus denen das menschliche Leben besteht. Ich kann sie vernichten, wenn ich das für richtig halte."
Die Nihilisierung des Lebens und des Todes prägt sich besonders deutlich aus in der ebenfalls statistisch erwiesenen Zunahme der Suizidversuche. Nach amerikanischen Statistiken entfielen auf 12000 gelungene Suizide 100000 mißlungene Suizidversuche. 50 Selbsttötungsversuchen bei Kindern und Jugendlichen - meist Mädchen! - stand nur eine gelungene Selbsttötung gegenüber. Der „Suizid mit Vorbehalt" ist ein Kompromiß zwischen der Angst vor dem Leben und der Angst vor dem Tode, ein Ausweichen vor beidem in die Entscheidungslosigkeit. Man sielt im Grunde mit dem Leben wie mit dem Tod. Ich habe dieses unernste Schwanken zwischen Sein und Nichtsein symbolisiert gefunden in der Gewohnheit einer schwer neurotischen Patientin, die mehrere „kleine" Suizidversuche unternommen hatte, jahrelang in der Handtasche neben den
444 Liebesbriefen ihres Freundes ein Fläschchen mit Schwefelsäure aufzubewahren!

 

Nihilismus und Depression

 

Auch die statistisch gesicherte Zunahme der Depressionszustände läßt sich als Manifestationsform des nihilistischen Zeitgeistes sehen. Die Depression stellt den Menschen vor die Schuld, die Leere, den Tod und setzt ihn damit, wie L ö p e z I b o r gesagt hat, „plötzlich und grundlos der Drohung des Nichts" aus. Eine Depression läßt den Fluß des personalen Erlebens stillstehen, sie unterbricht den Ablauf der individuellen Lebensgeschichte und bildet eine leere Stelle in deren Sinngefüge. Depressionen hat es zu allen Zeiten, auch in der Antike gegeben. Aber die offensichtliche Häufung depressiver Verstimmungen in Gebieten mit einem hohen Lebensstandard wie in Westdeutschland, dem Lande des „Wirtschaftswunders", läßt keinen Zweifel an ihren besonderen zeitgeschichtlichen Beziehungen zu. Wir haben es heute mit Depressionsformen zu tun, wie ich sie in meiner psychiatrischen „Lehrlings- und Gesellenzeit" nicht gekannt habe: Erschöpfungs-, Entwurzelungs-, Vereinsamungs-, bei Frauen auch Umzugsdepressionen. In ihren Entscheidungsbedingungen sind von Bedeutung: Oberlastungen („Streß") im beruflichen Rivalitätskampf, gehetzte Lebensweise, Schlafmangel, Alkohol-, Arzneimittel-, Nikotinmißbrauch, Vertreibung aus der Heimat, bei Ausländern die neue sprachfremde Umgebung, innere Vereinsamung alleinstehender Frauen im höheren Lebensalter, Trennung von der alten beim Umzug in eine neue Wohnung u.a.m. Wenn auch die sogenannten „endogenen", konstitutionsbedingten Depressionen von den Einflüssen des Zeitgeistes weniger berührt zu sein scheinen, so ist doch der Inhalt - nicht die Entstehung - von dem Säkularisierungsprozeß der neueren Zeit nicht unbeeinflußt geblieben: Versündigungswahn ist in den letzten Jahrzehnten ständig mehr zurückgetreten hinter hypochondrischen-, Insuffizienz- und Kleinheitsideen (v. Orelli).
Ich habe dann noch die psychopathologischen Randzonen des modernen Nihilismus gestreift: Hinter den Masken und Metamorphosen", in denen er sich, wie Hermann R a u s c h n i n g sagt, äußert, verbergen sich bestimmte
445 Menschen- und Verhaltenstypen, von denen sich Verbindungslinien zur Struktur der Neurosen ziehen lassen: Ich meine den Typus des erfolgsbesessenen „Managers", in dessen Persönlichkeit die Verstandes- und die Trieb- und Willenssphäre dominieren und die „Mitte", „Herz, Gemüt, Liebe" zu kurz kommt, den Typus des Funktionärs, des Playboys, des Snobs, des politischen oder ideologischen Fanatikers, des modernen Diktators, des Produzenten obszöner Literatur, des Publizisten, der die Diskriminierung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder die Zersetzung tradierter Werte und Ordnungen zur Maxime erhoben hat - alles dies gehört zu den „fragmentarischen Daseinsweisen", die R a u s c h n i n g , wieichdenke,zuRechtzudenMerkmalenundWerkzeugen des Nihilismus zählt.

 

Erkenntnistherapeutische Möglichkeiten

 

Der moderne Nihilismus stellt uns als Zeitzeugen und als Psychotherapeuten vor die Frage P a s c a I s : „Que deviendra donc l' homme?" Es ist möglich, daß die Voraussagen N i e t z s c h e s oder H e i d e g g e r s eintreffen, der Nihilismus werde zu Weltkatastrophen führen. Wir haben in der Tat nichts anderes zu erwarten, wenn die Menschheit so verblendet sein sollte, dem Wort Malins in W. H. A u den s „Zeitalter der Angst" zu folgen: „Wir lassen uns lieber zerstören als ändern!" Aber: der geschichtliche wie der individuelle Nihilismus birgt nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen: Kein Mensch will bewußt und mit Willen das Nichts herbeirufen, damit es ihn in der Maske der psychischen Krankheit, Störung oder Fehlhaltung beherrscht. Viele Neurosen lassen sich als mißglückter Protest gegen die Verarmung der heutigen Welt an Verständnis und Liebe verstehen. Aufgabe des psychotherapeutisch tätigen Arztes ist es, den inneren Blick des Patienten für die im Grund gesunden, aber brachliegenden Gegenkräfte des Nihilismus zu öffnen. Der Patient soll erkennen, daß das Nichts ebenso zum Dasein gehört wie das Sein. (Er soll versuchen, auch im Sinnlosen noch nach einem Sinn zu fragen, nach einem Sinn nämlich, der den Gegensatz zwischen dem Nichts und dem Sein in einer übersinnlichen Welt aufhebt und zu einer Einheit verbindet. Er soll verstehen lernen, daß sein Dasein sich nicht nach dem Gesetz des „Zufalls" vollzieht und damit des Sinngehaltes entbehrt, sondern von einer sinngebenden Kraft getragen und durch 446
 

drungen ist, die auch alles „Negative", alles „zufällig" und sinnlos" Erscheinende, alle Schuld, alle Verstrickung und Not einschließt. Er soll das Nichts ernst nehmen Heidegger : „Vielleicht liegt das Wesen des Nihilismus darin, daß man nicht ernst macht mit der Frage nach dem Nichts" - und sich seiner Angst vor ihm stellen, sich mit ihr auseinandersetzen, auch wenn sie ihn immer wieder zu überwältigen droht. Er soll versuchen, die Angst vor dieser Angst zu überwinden, weil das Nichts, streng gedacht, selbst nicht schrecklich ist. Es kann nur dann ängstigen, wenn in seinem tiefsten Grund ein ETWAS, ein Böses lauert ( W a n d r u s z k a ). Die Angst darf aber auch nicht bagatellisiert und damit verdrängt werden. Sie ist kein "Bluff der Seele", wie einer meiner. neurotischen Patienten mir nach der Lektüre einer amerikanischen Anleitung zum mühelosen Daseins-Optimismus freudig verkündete. Die Angst offenbart, wie L ö p e z I b o r einmal gesagt hat, „das Innerste der Persönlichkeit und seine Risse". Es ist jenes „Intimum", das für Thomas von Aquin , den „höchsten Rang von Sein und Wesen begründet" - es ist das „geistige Selbst".
Wenn der hilfesuchende Mensch in seiner seelischen Not dies erkennt, wird er einen Weg finden können, in den Gegensätzen und Widersprüchen, in denen er das Dasein erfährt, einen Sinn zu sehen, der ihm hilft, seine Konflikte und Krisen zu verarbeiten und an ihnen zu reifen.
Eine „Erkenntnistherapie" solcher oder ähnlicher Art setzt einen entsprechenden Differenziertheitsgrad des Patienten voraus. Ich sehe in ihr eine Möglichkeit, die Chance, die auch in dem nihilistischen Grundzug seelischer Störungen unserer Zeit liegt, zu nutzen. Der epochale Nihilismus aber wird nicht von Gruppen, Organisationen, Ideologien, sondern zu allererst vom einzelnen Menschen her bekämpft werden müssen und können. Als Kinder ihres Zeitalters sind Patient und Therapeut in einer dialogischen Gesprächs- und Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden.
Nachsatz: Mein Versuch, dem Patienten in neurotisch-nihilistischer Not einen Weg zur Erkenntnis des Sinns seiner Not, des Sinns der Widersprüche des Daseins, des Sinns der Sinnlosigkeit zu weisen, würde von Sigmund F r e u d als Irrweg abgetan, vielleicht belächelt und selbst als therapiebedürftig angesehen werden. Nach ihm gibt es die Frage nach dem „Sinn des Lebens" objektiv überhaupt nicht. Wer sie stellt, „bedarf einer Behandlung mit Mitteln der Psy

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choanalyse, in der diese Frage verschwindet" ( Lü b b e , Hermann: Theodicee und Lebenssinn. Arch. Filosofia 56, 407, 1989).

Wenn sich in der vielleicht zu ausführlichen Wiedergabe dieser Vortragstexte manches überschneidet, zum Teil auch wiederholt, so mag mir zugute gehalten werden, daß ich hier eine wenn auch eng begrenzte Möglichkeit sehe, etwas von dem zu Papier zu bringen, was außer den spanischen und französischen Veröffentlichungen nicht gedruckt worden ist. Psychopathologische Probleme aus zeit- und geistesgeschichtlicher Sicht gehören zu den Themen, die ich wissenschaftlich nur in Ansätzen, nicht in extenso monographisch bearbeitet habe. Vordergründiger, praktisch dringlichere Aufgaben wie das klinische, epidemiologische und sozialtherapeutische Alkohol- und Drogenproblem und die empirische wie theoretische Fundierung der psychiatrischen Beschäftigungs- und Ausdruckstherapie ließen es nicht dazu kommen. Das bleibt unbefriedigend, weil mich die „Historio-Psychopathologie" seit Jahrzehnten beschäftigt und bis heute nicht wieder Iosgelassen hat. Ich erinnere mich, von dem Gedanken des epochalen Nichts" bei einem Spaziergang mit C o n n o rs in den Wäldern nahe den Externsteinen blitzartig getroffen worden zu sein. Seitdem verfolgt er mich auch außerhalb der Psychopathologie und des Zeitgeistes, natürlich belebt und vertieft durch Kierkegaard Nietzsche und H e i d e g g e r . Ich frage nach dem Nichts und denke es mir als eine Gegenmacht des Seins. Es ist für mich nicht „nichts", sondern eine Dimension der Transzendenz, die unaufhörlich in unseren Alltag hineinwirkt und sich im Ereignis des T o d e s äußert wie auch in den Banalitäten des Lebens: In Nichtigkeiten, Gedankenlosigkeiten, in innerer Leere, in  Vergeblichkeiten, Versäumnis sen, in der Langeweile, im Gerede anstelle des Gespräches („blabla"), in allem, was nicht ist.
Aber „Das Nichts ist niemals nichts, es ist ebensowenig ein Etwas im Sinne eines Gegenstandes; es ist das Sein selbst ..." sagt Heidegger in den „Holzwegen" („Die Zeit des Weltbildes", 104). Aber es tritt auf andere Weise in Erscheinung als das Sein, eben in allem Verneinenden. Es spricht in der Sprache zu uns, in den Worten mit verneinender Bedeutung, im „nicht", „nein", „kein". Es gäbe nichts Verneinendes ohne das Nichts, nichts Bejahendes ohne das Sein. Aber wie reimt sich mein Gedanke vom Nichts als der Gegenmacht des Seins zusammen mit H e i d e g g e r s Gleichsetzung des Nichts mit dem 448 Sein? Er unterscheidet das großgeschriebene „Nichts" vom kleingeschriebenen „nihil" (nichts) und meint mit ihm, es besage, daß es "mit dem Sein nichts ist", daß das nihil des Nihilismus das Sein „vergessen" läßt. Die „Seinsvergessenheit" ist die Grundfrage seines Denkens. Nietzsche habe diese Frage, die das Wesen des Nihilismus bestimmt, nie erkannt „so wenig wie je eine Metaphysik vor ihm". (Nietzsches Wort Gott ist tot" in den „Holzwegen", 244).
Für Augustinus aber war das „nihil" doch „Etwas", nämlich das „Böse": Die Bosheit des menschlichen Willens sei nicht aus seinem Natursein zu erklären, sondern daraus, daß die Natur „aus nichts erschaffen ist". Der böse Wille könne nicht aus der Natur entspringen, da die Natur ihrem Wesen nach gut sei. Aus Gutem aber könne nicht Böses entstehen. Daher brauche man nach der Wirkursache des bösen Willens nicht zu forschen. Sie liege nicht im SEIN, sondern im NICHTSEIN, „wie ja auch der böse Wille nicht ein Schaffen, sondern ein Erschaffen" sei... (Vom Gottesstaat, 11,2).
Anders wieder Kierkegaard, der in der Sünde keine Negation sieht, sondern eine Position vor Gott. Das eben sei das positive in ihr. (Die Krankheit zum Tode, z. Abschn. AX1, 210). Dieser Abschnitt beginnt mit den berühmten Sätzen: „Sünde ist, vor Gott oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder verzweifelt man selber sein wollen. Sünde ist somit die potenzierte Schwachheit oder der potenzierte Trotz."
Mit diesen Gedanken Kierkegaards habe ich mich nie ganz anfreunden können.
Wenn er und Augustinus das NICHTS in Verbindung mit dem Begriff „Sünde" bringen, gehen sie mit ihm um, als ob es „Etwas", ein Gegenstand sei. Das aber ist für Heidegger ein Greuel, eine Sinnlosigkeit. „Wer vom Nichts redet, weiß nicht, was er tut ... . Das Reden vom Nichts ist nicht nur völlig denkwidrig, es untergräbt jede Kultur und jeden Glauben. Was sowohl das Denken in seinem Grundgesetz mißachtet, als auch den Aufbauwillen und Glauben zerstört, ist reiner Nihilismus", sagt er auffallend heftig in seiner „Einführung in die Metaphysik" 1, 18 (1953). In der Grundfrage aller Metaphysik : „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" sei der zweite Teil nichtssagend. Mit ihm sei „nicht das Geringste für die Erkenntnis des Seienden zu gewinnen." Das Nichts bleibt grundsätzlich aller Wissenschaft unzugänglich. Wer vom Nichts wahrhaft reden will, muß notwendig unwissenschaftlich werden.

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Aber dies bleibt nur solange ein großes Unglück, als man der Meinung ist, wissenschaftliches Denken sei das einzige und eigentliche strenge Denken, es allein könne und müsse zum Maßstab auch des philosophischen Denkens gemacht werden. „Die Sache liegt aber umgekehrt. Alles wissenschaftliche Denken ist nur eine abgeleitete Form des philosophischen Denkens."
Warum ereifert Heidegger sich so über das .Reden vom Nichts", da er es ja selber tut?, frage ich! Weil er dem Denken in der Philosophie wie auch der echten und großen Dichtung einen höheren Rang, eine wesenhafte Überlegenheit des Geistes gegenüber aller bloßen Wissenschaft zuweist. Das ist es! Deshalb läßt er auch ein wahres Reden vom Nichts" zu, wenn man es nicht in der „billigen Säure eines nur logischen Scharfsinnes zerrinnen" läßt.
Das, was mich an Heidegger immer wieder anzieht und auch von der Frage nach dem Sein und dem Nichts nicht loskommen läßt, ist sein bohrendes, nicht zur Ruhe kommendes „sokratisches" Fragen. „Fragen können heißt: Warten können, sogar ein Leben lang. Ein Zeitalter jedoch, dem nur das wirklich ist, was schnell geht und sich mit beiden Händen greifen läßt, hält das Fragen für ,wirklichkeitsfremd', für solches, was sich nicht bezahlt macht. Aber nicht die Zahl ist das Wesentliche, sondern die rechte Zeit, das heißt der rechte Augenblick und das rechte Ausdauer.. ,Denn es hasset Der sinnende Gott Unzeitiges Wachstum'. ( H ö I d e r I i n , Aus dem Motivkreis der „Titanen", IV, 218). Damit schließt die -„Einführung in die Metaphysik".
Von H e i d e g g e r abweichend versuche ich mein eigenes Fragen in den Gedanken münden zu lassen: Das Sein und das Nichts sind als widerstreitende Daseinsmächte zu einer höheren Einheit verbunden, die ich den „Sinn der Gegensätze" nenne. Er entspricht etwa der „coincidentia oppositorum" des N i c o l a u s v o n C u e s , vielleicht auch dem T a o im Tao te king. Er spricht zu mir als „innere Stimme", als „Stimme des Gewissens", auf die ich -gewissenhaft zu hören habe. Sie sagt mir, was Recht und Unrecht, Gut und Böse in mir ist, und sie unterscheidet auch zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, Wichtigem und Nichtigem, Eigentlichem und Uneigentlichem. Ich denke sie mir identisch mit dem Sokratischen Daimonion. Es ist nicht der ..fragwürdige und bestechliche Verstand", sondern die „STIMME DER VERNUNFT", die den Menschen fähig macht zur rechten Führung des Lebens. „Wer sich seinen Begierden oder dem Ehrgeiz, nach Platon den „unteren, irdischen Teilen der

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Seele", überläßt und „unablässig nur diese beiden Kräfte übt", wird nur den sterblichen Teil in sich großziehen. Wer hingegen sich der Lernbegierde und des Erwerbs wahrhafter Erkenntnisse sich beflissen und die Kraft des Wissens vor allen anderen Kräften seiner Seele geübt hat, der wird ... unsterbliche und göttliche Gedanken in sich tragen und, soweit überhaupt die menschliche Natur der Unsterblichkeit fähig ist, in keinem Teile dahinter zurückbleiben und, weil er stets des Göttlichen wartet und den GÖTTLICHEN SCHUTZGEIST, der in ihm selber wohnt, zur schönsten Vollkommenheit hat gedeihen lassen, vorzüglich glückselig - eudaimon (Anm.: griechische Zeichen) - sein." So steht es im T i m a i o s , (übersetzt von Franz Susemihl in P I a t o n , Sämtliche Werke, Verlag Lambert Schneider, Berlin, 188-189).
Auf die Gedanken P I a t o n s über den Dämon bezieht sich die Abhandlung des Freiburger Philosophen Franz V o n e s s e n über "Das Daimonion des Sokrates in platonischer Sicht" (In: Herbert Kessler (Hrsg.) Sokrates-Gestalt und Idee, SokratesStudien I. Die Graue Edition, Heitersheim 1993,71-95) ,Jeder Mensch, so lehrt P I a t o n , hat einen Dämon." .. ,Der Dämon ist es; der ihn fähig macht, gutes und schlechtes Leben zu unterscheiden und aus den vorhandenen Möglichkeiten immer und überall die beste zu wählen. Für diese Wahl trage allein jeder selbst die Verantwortung .." „Der Dämon ist klüger als wir, er weiß mehr und sieht weiter. Es gehe darum, mit Vernunft zu wählen." ,Mit Vernunft wählen heißt aber, nicht ein Leben wählen, zu dem, als unbeachtete Kehrseite, ein womöglich ,furchtbarer Dämon' gehört, sondern ausdrücklich den Dämon wählen, um ihm die Führung des künftigen Lebens anzuvertrauen." ..."Weil Sokrates seinen Dämon bewußt wählte!, habe er allein auch ein klares, bewußtes Verhältnis zu ihm, und zwar, wie es mehrmals heißt: von Kindheit an. Er hört seine Stimme, während die anderen Menschen nur Ohren haben für die Stimme ihrer Begierden, in denen sich aber ihr Dämon, den sie nie richtig kennenlernen, verbirgt."
Wenn die Stimme des Daimonion, die S o k r a t e s hört, immer nur ab-, niemals zuredet, so ist dieser Widerspruch zum Gewissen, wie wir es kennen, nach der Interpretation V o n e s s e n s damit zu erklären, daß S o k r a t e s als außergewöhnlicher, ja vollkommener Mensch keiner Ermahnung, keines Zuspruchs bedarf. „Sein Gewissen hat keine andere Aufgabe, als ihn in Form

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von Warnungen auf dem Wege zu halten, auf dem er schon ist. Es muß ihn nicht erst dorthin weisen." (Als „vollkommener Mensch" bedürfte er aber auch keiner Warnungen, ließe sich gegen diese Deutung einwenden!)
Hans-Georg G a d a m e r hat in seinem Beitrag zu dem genannten Sokrates-Buch das Daimonion, die innere Stimme, die Sokrates warnte, daher auch als den „Vorläufer des Gewissens" bezeichnet. Das Vollkommenheitsideal des menschlichen Seins ist die areté, die Tugend, die zugleich Wissen ist. Aber mit dem Wissen ist die Grundfrage, die Frage nach dem Guten nicht beantwortet. Was ist das Gute? Wir wissen es nicht. "ist es etwa ähnlich wie das Göttliche und wie das Schöne?" G a d a m e r sucht eine Antwort im späteren Dialogwerk des Platon : in der Lehre vom zweierlei Maß :Dem Maß, mit dem man mißt wie mit dem Maßstab eines Mehr und Weniger, und dem Maß, dem nMetrion", dem „Angemessenen", das man nicht mehr beweisen kann. „Es hängt mit so einem rätselhaften Phänomen zusammen wie etwa mit Takt." Sokrates hat jeden seiner Mitbürger auf die Frage zurückgeworfen, was das Gute ist. „Auf diese Frage hat jeder nur selber die jeweils verantwortliche Antwort zu suchen."- („Sokrates und das Göttliche", a.a.0., 97-108).
Immanuel Kant , in dessen Denken wie in dem des Sokrates DER MENSCH den Mittelpunkt bildet, hat sich zur Frage des Gewissens härter und bestimmter geäußert: „Man muß völlig gewiß sein : ob etwas recht oder unrecht, pflichtmäßig oder pflichtwidrig, erlaubt oder unerlaubt sei. Aufs Ungewisse kann man in moralischen Dingen nichts wagen..." (Vorlesungen über Logik, IX, 69!70) „Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende Vernunft." (Metaphysik der Sitten VI, 400) und „Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen ... ist das Gewissen. - Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese ... in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt: Es folgt ihm wie sein Schatten wenn er zu entfliehen gedenkt Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben ... aber nicht vermeiden dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt..." (Metaphysik der Sitten VI, 438).

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Beim Nachdenken über das Geheimnis der Stimme des Gewissens, der inneren Stimme, in der das Göttliche mit dem Menschlichen in uns ringt, regt sich immer wieder die Frage nach dem Inhalt und dem Sinn meines Daseins. Es ist die „Unruhe des Herzens," das „Mihi quaestio factus sum" des Augustinus, die mich nicht zur Ruhe kommen läßt und zugleich nach Ruhe verlangt. Bei einem Osterspaziergang mit meinem lieben "Tapsy", am Sonntag, dem 3. April 1994, versuchte ich einer Antwort auf diese Frage näher, ja nahe zu kommen in einer Art von
Bekenntnis, das ich - nicht ohne gewisse Scheu niederzuschreiben wage: „Spricht, so spricht, ach, die Seele nicht mehr". Ich bekenne, das Wesentliche meines Lebens in den Dienst zweier Aufgaben gestellt zu haben: In den Dienst des ärztlichen Helfens und in den des wissenschaftlichen Erkennens. Das Helfen sollte auch dem Erkennen, das Erkennen wieder dem Helfen dienen. Das Helfen war durchdrungen von der Liebe zum Menschen, das Erkennen von der Liebe zur Wahrheit, beides im Geiste einer umfassenden Liebe, eines Eros im Platonischen Sinne : Zum Leben, zum Schicksal, zum Sinn des Seins und des Nichts, zur Natur, zu einem Schöpfergeist, zu „Gott" „Name ist Schall und Rauch"!
Kann man denn etwas so Unpersönliches, „Abstraktes" wie das „Schicksal", den „Sinn" oder „Gott" lieben?, ließe sich fragen. Ja, wenn ich in dem, was ich mit diesen Worten zu umschreiben suche, nicht etwas Unpersönliches, Abstraktes, von mir Abgehobenes sehe, sondern etwas auf meine Person Bezogenes, höchst Konkretes, ein „Etwas", von dem mein Dasein bestimmt wird. Ich weiß mich mit ihm verbunden im Sinne des Goethe -Wortes "Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken, läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt' uns Göttliches entzücken?" Es ist das „Göttliche" in mir, das mit der Stimme des Gewissens zu mir spricht, oft genug mit dem Menschlichen, „allzu Menschlichen" im Widerstreit. Die göttliche Stimme in mir liebe ich, was ich von der menschlichen nicht uneingeschränkt sagen kann. Aber eben der innere Widerstreit zwischen beiden ist es, der mich wach hält für das, was recht und was unrecht ist, was ich tun und was ich lassen soll. Ihm liegt eine tiefe Ruhe zugrunde, eine Gewißheit, geführt zu werden von einer geheimnisvollen Kraft, der ich mich glaubend und denkend anvertraue. Glauben und Denken bedeuten für mich keine unüberbrückbaren Gegensätze. Sie gehö

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ren zusammen als festes Bindeglied zwischen mir und „Gott". Ich kann mir „Gott" auf der einen Seite als den „Sinn der Gegensätze" denken, auf der anderen Seite wie ein Kind glaubend zum „lieben Gott" beten.
Diese Einheit von Glauben und Denken gibt mir in aller „Unruhe des Herzens" die innere Ruhe und Sicherheit, ohne die ich nicht die Gewißheit hätte: Zu allerletzt erweist sich trotz aller Gegenbeweise und Zweifel das Gute gegenüber dem Bösen als die stärkere Kraft. Wäre es nicht so, hätte die Menschheit an ihren Kriegen, Völkermorden, Gewaltverbrechen schon längst zugrundegehen müssen, ein gewagter, vielleicht naiver Gedanke, ich weiß es. Aber selbst Kant weigerte sich, an ein Ende aller Zivilisation durch wechselseitige Vernichtung „auf dem allgemeinen Kirchhof der Menschheit" zu glauben. Vielleicht bediente sich die Natur selbst der menschlichen Ungerechtigkeit und Angriffslust, um endlich das möglich zu machen, was im modernen Militärstaat nicht möglich war: Die freie Entfaltung aller im Menschen schlummernden Begabungen! Der Zweck aller Kriege könne doch ihr endliches Aufhören und der ewige Friede sein. Aus der höchsten Not der äußersten Gefahr würde die Umkehr kommen! Soweit Ka n t
Angesichts der Millionen Toter der beiden Weltkriege, der Massenmorde von Auschwitz, der bedrohlich zunehmenden Kriminalisierung und Brutalisierung in der Welt von heute liegen Verzweiflung oder Resignation allzu nahe. Aber das hieße, vor dem Bösen zu kapitulieren, der Sinnlosigkeit den Vorrang vor einem verborgenen Sinngehalt zu geben - und das darf nicht sein! Die ständige Konfrontation mit Kriegen, Greueln, Haß und Verbrechen, über die uns die Medien informieren, könnte, sollte ein Menetekel sein, das uns mit der Flammenschrift des Abscheus immer wieder mahnt, nicht müde zu werden in dem Bemühen um Frieden, Verständnis, Toleranz im eigenen Inneren und im Umgang mit unseren Mitmenschen wie im Leben der Völker. Es gibt dieses Bemühen, und das läßt uns hoffen, daß das Gute im Menschen noch nicht erstorben sein kann.
Aber zurück zur Frage des Glaubens und Denkens : In beidem sehe ich, wie ich sagte, nur zwei verschiedene Seiten meiner Beziehung zur Transzendenz: Glauben als Ergriffensein vom mythischen Geheimnis, Denken als Ergreifen im logischen Be riff. Der Versuch, mythischen Glauben mit logischem Denken in Frage stellen oder gar „widerlegen" zu wollen, wäre ebenso verfehlt wie das Gegenteil: logisches Denken durch mythischen Glauben angreifen oder

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außer Kraft setzen zu können. Das Mythische entzieht sich dem Logischen. Denn beides gehört zwei verschiedenartigen Dimensionen des Weltbezuges an, denen die ihnen jeweils gemäßen Erkenntniskategorien - dort mytho-logischen, hier theo-, onto- oder bio-logischen, angemessen werden müssen - ein Erfordernis erkenntniskritischer Methodik!
Praktisch bedeutet dies zum Beispiel : Es ist müßig und verfehlt, wie es immer wieder geschieht, die unbefleckte Empfängnis der Mutter Jesu, die Wundertaten ihres Sohnes, seine „Auferstehung", seine und ihre »Himmelfahrt" mit biologischen Argumenten als unvereinbar mit den Naturgesetzen zu bezeichnen. Denn es sind mythologische Gleichnisse. Symbole der „Reinheit", der Überwindung des Todes durch das Wunder der erlösenden Liebe. Von ihnen kann ich mythologisch glaubend ergriffen werden, ohne sie logisch begreifen zu können. Auf der anderen Seite halte ich es für verfehlt, das Leben und Wirken des jüdischen Wanderpredigers und „Wunderheilers" Jesus von Nazareth, soweit es überhaupt historisch dokumentierbar ist, zu mythologisieren, indem man in seiner Person die Inkarnation Gottes sieht und sie mit Gott selbst identifiziert: Ich kann mich jedenfalls von der logischen Unbegreiflichkeit dieses mythologischen Glaubens nicht ergreifen lassen.
Anderes Beispiel : Ich lasse mich von dem schönen Wort im Ersten Brief des Johannes, 4, 16: Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm", innerlich ergreifen, auch wenn ich es logisch nicht begreifen kann. Hingegen kann ich psycho-logisch begreifen, wenn es hier weiter heißt: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus ... wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe." Damit ist schon eine Grundwahrheit aller späteren Psychologien, im besonderen der Neurosenpsychologie, ausgesprochen.
Ich kann es auch onto-logisch begreifen, daß N i c o 1 a u s von C u e s in „Gott" die coincidentia oppositorum, die Einheit - das heißt für mich : den Sinn der Gegensätze sieht.
Beides, das mythologisch-glaubende Ergriffenwerden, wie das psychologisch und ontologisch denkende Begreifen, eröffnet mir einen Zugang zu „Gott", ohne daß ich damit wüßte, wissen wollte und könnte, wer oder was er in Wahrheit ist. Die „Wahrheit Gottes" bleibt ein Geheimnis, sie ist unergründlich wie die Wahrheit selbst. Ich halte mich an das Wort L e s s i n g s ("Duplik") : „Wenn

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Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"
Einen Abglanz der in Gott ruhenden, von ihm bewahrten Wahrheit, spüre ich in meinem Gewissen. Daß es ein Gewissen gibt, ist für mich ein Beweis, daß es Gott gibt. K a n t spricht von einem „moralischen Gottesbeweis", wenn er sagt: „Moral führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll." (In: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI, 6). Und weiter: „Der Glaube an einen Gott und eine andere Welt, ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß , so wenig ich Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, daß mir der erste jemals entrissen werden könne." (In: Kritik der reinen Vernunft 111,537). Und: „Der Kategorische Imperativ und die darauf gegründete Erkenntnis aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote ist der praktische Beweis vom Dasein Gottes." (Opus postumum XXI, 74).
Aber: Wie das Böse unter einem guten Gott möglich sei, beruht auf der Frage, wie Freiheit ... möglich sei ... Die Möglichkeit der Freiheit können wir nicht begreifen, aber wir müssen sie voraussetzen, denn vernünftige Wesen können nur nach der Idee derselben handeln." (Reflexionen zur Metaphysik XVIII, 453). Hinzuzufügen wäre hier aus psychopathologischer Sicht, daß die Fähigkeit vernünftiger Wesen, nach der Idee der Freiheit zu handeln, eingeschränkt oder aufgehoben sein kann durch krankhafte oder abnorme Persönlichkeitsmerkmale oder Verhaltensstörungen. Zwar sagt Kant : „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden" (In: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, VII, 23). Aber : Von dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt und von dem niemand frei ist, ... kann sich ein jeder durch seine Vernunft überzeugen, und es gehört zur Religion, sich davon zu überzeugen." (in: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI, 163).

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Was würde wohl ein Atheist zu Kants Ansicht sagen: „Es ist unmöglich, daß ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werden!" (Kritik der Urteilskraft, V, 452/453) ? Am Beispiel Spinozas, der an keinen Gott und kein künftiges Leben glaubt, zeigt er gleich anschließend, daß ein "rechtschaffener Mann", der uneigennützig nur das Gute stiften will, ohne an Gott zu glauben, allein wegen des sittlichen Gesetzes, das er befolgt, nicht umhin kann, „das Dasein eines moralischen Welturhebers, das ist Gottes, anzunehmen!"
Nach diesen etwas zu weitläufigen Gedanken zum Thema Gott und Gewissen" will ich mich an den Versuch einer kritischen Innenschau heranwagen, wobei ich mich mit den Confessiones des Augustinus in guter Gesellschaft zu befinden denke. Ein Rückblick auf mein Leben richtet sich auf manches, was ich als „Ungenügen an mir selbst" empfinden muß : Unzulängliches, Unabgeschlossenes, Versäumnisse (vermeidbare und unvermeidbare), Irrtümer, Fehlurteile, Zeitvergeudungen, Unentschlossenheiten, Hinausschieben von Entscheidungen, Nihilismen verschiedener Art, auch als Egoismen, Mangel an Rücksicht auf Andere, meist unbeabsichtigt und zu spät erkannt, ungewollte Lieblosigkeiten, Unbedachtheiten, Flüchtigkeiten, vor allem auch Eitelkeiten, schlecht getarnte Angebereien, Gefühlsüberschwang mit der Neigung zur Oberschätzung der Wichtigkeit neuer menschlicher Begegnungen, Optimismen mit ungenügendem Realitätssinn, Vertrauensseligkeiten Menschen gegenüber, die kein Vertrauen verdienten, zu späte Einsicht in meinen Irrtum, zuviel Geduld, um nicht wehzutun, wo Ungeduld angebracht gewesen wäre. Eines hat in diesem Repertoire meiner Schwächen keinen Platz: Ich darf mir zugutehalten, daß ich niemals in meinem Leben einem Menschen etwas Böses angetan oder auch nur gewünscht habe! Das ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, mit demmich Gott bedacht hat : Der unerschöpflichen Kraft der Liebe im allerweitesten Sinn und der Freundschaft. Ohne Liebe zum Mitmenschen und zur Wahrheit hätte ich nicht wissenschaftlich denkender Arzt werden können, und ohne die Gabe, ein Freund und treu zu sein, wäre mein Leben ärmer gewesen. Freundschaft und Liebe sind Gnadengeschenke des Himmels. Dies ist der Grundton meines Beitrages „Geschenk der Freundschaft" in dem von Frau Ursula v. MangoId t herausgegebenen Buche „Das Leben ist doch schön" (Otto Wilhelm Barth-Verlag Weilheim 1962), mit dem ich einen Festvortrag zur Feier der Wiederbegegnung der Schüler meines Braunsberger Gymnasium Hosianum in

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Münster ergänzen konnte. Von dem Wandel des Freundschaftsbegriffes in unserer versachlichten Welt und der Verdunkelung seiner ursprünglichen Bedeutung durch die „Gruppe", das „Team", ausgehend, habe ich versucht, Freundschaft von Kameradschaft auf der einen und Liebe auf der anderen Seite abzugrenzen. Etwas hymnisch schließe ich mit den Worten: „Hoffen wir für uns alle, daß der unvergängliche Sinn der Freundschaft neu erstehen möge aus dem unsterblichen Geiste der Liebe!"
Nicht zu trennen von dem Geschenk der Freundschaft und der Liebe, mit dem ich bedacht wurde, ist die Gabe des Vertrauens, hier auch im weitesten Sinne des Begriffes: Vertrauen zu Menschen (nicht selten auch enttäuscht!), Vertrauen zum Leben, Vertrauen zu Gott. Das Vertrauen zu Gott hat mir die innere Gewißheit verliehen, von ihm geführt zu werden, gerade auch dann, wenn ich in Gefahr geraten war, vom rechten Wege abzuirren. Mit der Stimme meines --sehr empfindlichen - Gewissens hat er mich "zur Ordnung gerufen" („Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen!") und durch bisweilen auch schmerzhaft-züchtigende Schläge auf den rechten Weg zurückgeführt. Manchesmal hat er mich auch vor größerem Unglück mit Hilfe eines kleineren bewahrt und zu einem „Reiter über den Bodensee" werden lassen. Nicht ganz selten habe ich auch ein Mißgeschick, ein Mißlingen, Krankheit oder andere Widrigkeiten des Lebens als strafende Vergeltung für länger zurückliegendes Unrecht empfunden nach dem alten Wort Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber schrecklich fein!" Mein Vertrauensverhältnis zu Gott ließ mich in ihm einen Erzieher sehen, einen liebenden, mahnenden, strengen oder auch strafenden. Bei aller Fremdheit Gottes fühle ich mich mit ihm - wie die Spanier es tun - in der Vertrautheit einer „Du- und Du"-Beziehung. „Der Herr aber redete mit Moses von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet", heißt es im Zweiten Buch Mose. Wenn ich auch kein Moses bin, so führe ich doch im Stillen eine Zwiesprache mit Gott, der im Gewissen zu mir spricht. Darin liegt auch das Geheimnis des Gebetes.
Das Vertrauen auf Gott läßt mich auch auf die Gnade der Vergebung hoffen. Dies ist das Einzige und Eigentliche, was mich mit Jesus von Nazareth verbindet: Sein unmittelbarer Kontakt mit Gott und sein Wirken für die Sünder. Ich bin- nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder", sagen Markus und Lukas von ihm. In einem Gespräch mit einem Pharisäer heißt es bei Lukas,

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7,42, daß derjenige Gott mehr lieben wird, dem Gott mehr vergeben hat. Aber auch ohne ausdrückliche Berufung auf Jesus können wir in Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" lesen: „Zu glauben, daß es Gnadenwirkungen geben könne und vielleicht zur Ergänzung der Unvollkommenheit unserer Tugendbestrebung auch geben müsse, ist alles, was wir davon sagen können..." und - im „Streit der Fakultäten": „Wo das eigene Tun zur Rechtfertigung vor seinem eigenen (strenge richtenden) Gewissen nicht zulangt, da ist die Vernunft befugt, eine übernatürliche Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit gläubig anzunehmen." Für Kant braucht also vernünftige Erwägung gläubigem Vertrauen auf göttliche Gnade nicht zu widersprechen! So denke auch ich!
Von zwei menschlichen Schwächen - wenn ich den harten theologischen Begriff „Sünde" vermeiden will - bin ich, ohne mein Verdienst, verschont geblieben: Vom Neid und von der Selbstüberschätzung. Vor dem Neid auf das, was Andere besitzen oder erreicht haben, bin ich bewahrt worden durch genügsame Dankbarkeit für alles Gute, was das Leben mir geschenkt hat. Mich selbst zu überschätzen, überheblich über Andere zu denken, kam mir nie in den Sinn, weil ich eher zu übermäßiger Selbstkritik und zur Anerkennung, zuweilen auch Bewunderung alles dessen neige, was mir an Kenntnissen, Fähigkeiten, Begabungen fehlt!
Natürlich habe ich, wie Jeder, auch an Ängsten gelitten. Aber es waren keine neurotischen Ängste, keine Ängste ohne Motiv und Objektiv, ohne "Warum und Wovor", sondern Befürchtungen, bisweilen allerdings übersteigerte, aus realem Anlaß und vor möglichen Folgen kritischer Situationen wie im Bußlandkrieg, bei Luftangriffen in Leipzig, bei Erkrankungen oder Unfällen. Immer aber habe ich mich dieser Befürchtungen zu erwehren gewußt durch vernünftige Überlegungen und Gegenmotive, im Grunde auch wieder durch das Vertrauen auf eine geheimnisvolle Kraft, die mich aus der Gefahr herausführen wird. Im allgemeinen bestätigte sich mir dabei eine alte Lebenserfahrung, von der es natürlich Ausnahmen gibt: „Es kommt häufig nicht so gut, wie man hofft, aber meist auch nicht so schlimm, wie man fürchtet." Die Wirklichkeit bewegt sich gewöhnlich zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Ich bekenne mich auch zu dem kindlich-naiven und doch ernst zu nehmenden Glauben an einen „Schutzengel", den ich mir in der Gestalt meines guten Mamchens vorstelle. 459
Optimismus? Ja! Aber ein realistisch gezügelter. Und ständige Bereitschaft, es könnte plötzlich ein Ungemach geschehen. „Toujours en vedette". Und bei allen Unbilden des Daseins, immer wieder die Frage nach dem Sinn! Als Beispiel unter vielen sah ich den Sinn meiner schweren Erkrankung an einem Erysipel des linken Fußes bei einer Streptokokken-Allgemeininfektion im Jahre 1990 darin, daß mir die mit Todesgedanken verbundene Depression in diesem Leidenszustand zu einem vertieften Verständnis für die depressive Not meiner Patienten verholfen hat. Es ist überhaupt sinnvoll für einen Arzt, wenn er erfährt und lernt, was es heißt, selbst Patient zu sein! Ein Unfall im April 1994, bei dem ich mir einen komplizierten Bruch des rechten Unterarmknochens (Radius) zuzog, versetzte mich in den Zustand eines Menschen, der einen, auch nächtlichen, Dauerschmerz ertragen und auf den Gebrauch der rechten Hand verzichten muß. Alle banalen Verrichtungen mit der linken Hand, Rasieren, Knöpfeln usw. werden zum Problem, und die Behinderung wird zum erzieherischen Bemühen um die Tugend der Geduld, überdies auch zur Mahnung, vorsichtiger zu gehen und nicht zu vergessen, daß man nicht mehr 20, sondern 87 ist! Auch bin ich dankbar, mir nicht das Bein gebrochen zu haben und immer - noch! gehen zu können. So wird „der Mangel zum Gewinn", und so habe ich in meinem Leben überhaupt, wenn mich Unbilden trafen und nicht alle Blütenträume reiften, an die Worte Leonores zur Prinzessin in Goethes „Tasso" denken müssen: „O frage nicht nach dem, was jedem fehlt, Betrachte, was noch einem Jedem bleibt!"
Das Leben hat mir die unverdiente Gabe der Dankbarkeit geschenkt. Jetzt im hochmethusalemischen Alter, bin ich dankbar für jeden Tag, an dem ich nach Abklingen der Wirkung eines leichten Schlafmittels - erwache, dankbar, daß auch Antonia noch lebt und daß wir beide immer noch in unserem geliebten eigenen Anwesen wohnen dürfen, da Andere, auch viel Jüngere in Pflegeheimen dahinvegetieren müssen, dankbar für alte und junge Freunde, die uns getreulich besuchen oder schreiben, dankbar für gute Gespräche, für alles geistige Leben mit vielen Büchern, dankbar für menschliche Hilfen, die wir geben können, dankbar für Antonias in ihrer Art unvergleichliche Gastfreundschaft, mit der sie die Herzen erwärmt, dankbar dafür, daß ich noch ärztlich in seelischer Not oder krisenhaften Konfliktsituationen helfen kann und damit meinem späten Leben einen sinnvollen Inhalt geben darf, so daß ich mir - noch - nicht als über

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flüssig vorkommen muß - „Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, desto länger hast du gelebt!" ( Kant ) , dankbar für alles, was das Leben mir geschenkt, aber auch für das, was es mir versagt hat, um mich zum Verzichtenkönnen zu erziehen!
Mit dem Problem des Todes habe ich mich seit langem auseinandergesetzt, und jetzt, da er bedrohlich näher rückt, mehr denn je. Der Tod selbst ist kein Problem. Er ist ein Faktum, ohne das es kein Leben gäbe. Aber das Faktum Tod erspart uns nicht die Frage, wie wir uns zu ihm stellen. Gibt es eine „ars moriendi"? Ich weiß es nicht. Viele sagen, sie hätten Angst vor dem Sterben, nicht vor dem Tod. Angst vor längerem Krankenlager, vor Schmerzen, Siechtum, Hilflosigkeit. Davor habe ich eigentlich keine Angst, weil ich fühle und hoffe, daß es schnell gehen wird. Aber ich habe Angst davor, daß der Abschied zu früh kommt, obwohl ich schon sehr alt bin und ich möchte gerne noch etwas leben, dien reißende Zeit" Hölderlins verlangsamen, die zerrinnenden Stunden festhalten. Es ist so schwer, Abschied nehmen zu müssen, von Antonia, Vera und allen lieben Menschen, Abschied von meinen Büchern, von dem Blick durch das Fenster vor mir auf die maigrünen Birken, die weißblühenden Apfelbäume, von meinen Hundchen und von allem, was mir ans Herz gewachsen ist und mein Leben immer neu bereichert hat. Ich sollte dankbar sein für ein langes und, wie man gerne, bei mir auch zu Recht sagt, „erfülltes" Leben, und ich bin es auch. Aber ich denke immer noch an das Wort des guten Prälaten Buchmann, als ich ihn im Hotel Kaiserin Elisabeth in Feldafing am Starnberger See fragte, wie es wohl zu erklären sei, daß ich immer noch lebe„ nachdem ich auf der Liste der Toten, die mir nahe- oder nähergestanden haben, bei Nummer 245 (inzwischen 301 !) angelangt bin. Er erhob leicht seine Hand und sagte: „Dann hat der liebe Gott noch etwas mit Ihnen vor!" Ob er das heute noch sagen würde? (Er selbst ist inzwischen auch schon auf meiner Liste gelandet.) Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es im Stillen, und ich versuche, mir ein mögliches „Vorhaben" Gottes ein wenig zu verdienen, indem ich mich bemühe, nach dem oben zitierten Worte Kants, die mir noch verbleibende Zeit mit sinnvollem Tun und mit Liebe zu erfüllen.
Die Frage eines „Lebens nach dem Tode" beschäftigt mich nicht. Ich halte sie für nicht beantwortbar, aber auch als Frage für müßig. Mythologische Vorstellungen wie "Jüngstes Gericht", „Hölle", "Paradies", „Fegefeuer" liegen für

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mich außerhalb meines Glaubens und Denkens. Alles das, was unter diesen Mythologien verstanden werden kann, geschieht nicht in einem imaginären Jenseits, sondern im konkreten Diesseits, in unserem Leben: Jetzt und hier werden wir zur Rechenschaft gezogen, belohnt oder bestraft, beglückt oder gepeinigt. Ich kann mir das „Nachher" nicht anders denken als das Vorher", nämlich als „Nichts°. Mein Leben erlischt mit meinem Bewußtsein. Mit dem Tod meines Gehirns ist auch mein Bewußtsein tot. Ich weiß nicht, was vor meinem Leben war, und ich kann nicht wissen, was nach meinem Leben sein wird. Es kümmert mich auch nicht. Mich kümmert nur, welche Aufgaben ich in diesem Leben zu erfüllen habe, welchen Sinn ich ihm zu geben versuche.
Der buddhistisch-hinduistische, von den Anthroposophen und Theosophen übernommene Mythos der Re-inkarnation und des Karma steht mir ganz fern. Bei meiner Reise nach Thailand, Nepal und Indien ist mir deutlich geworden, daß dieser fernöstliche Glaube bei allem sozialen Elend den Kommunismus verhindert. Denn Armut wird nicht als Unglück, Besitz nicht als Anlaß zu sozialem Neid empfunden. In der Lehre, dem Menschen werde das, was er in diesem Leben Anderen Gutes oder Böses getan hat, in einem späteren Leben wieder zuteil, wohnt eine große ethische Kraft. Sie kann „ein Antrieb sein zur Überwindung eines rücksichtslosen Egoismus, der nur den momentanen eigenen Vorteil im Auge hat" (H. von Glasenapp, Die indische Welt, 1948). Die indischen Religionen verzichten auf die Hypothese eines „Weitenrichters" und Weltgerichtes" und vermeiden die Ungerechtigkeit, für das Gute oder Böse, was ein Mensch während der wenigen Jahrzehnte seines Lebens getan hat, ewige Belohnungen oder Strafen in Aussicht zu stellen (v.G.).
Dem Buddhisten wie dem Hindu ist die christliche Lehre von der Auferstehung des Fleisches" unverständlich, da sie in ihr den Ausdruck des „Daseinsdurstes" sehen, der für sie ein Grundübel aller Existenz ist. Jesus Christus könne daher auch als stellvertretend für die Menschheit Leidender nicht als ein von allem Iosgelöster und freier Buddha angesehen werden, sondern als ein zur Vollendung schreitender und in der Vollendung auf letzter Stufe angekommener „Bodhisattva". Der Inder wie der Asiate im allgemeinen sieht das Leiden völlig anders als der Christ, denn sein Ziel ist es ja, alles Leiden, das mit aller Existenz verknüpft ist, zu überwinden und zu einem leidensfreien und existenzlosen Zustand zu gelangen. „Deshalb fühlt sich jeder geistige Asiat - ebenso wie

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Goethe - angesichts des Kreuzes sehr bedrückt." (Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau, „Der Atem Indiens - Tagebücher aus Asien", Hamburg 1954).
Auch mich befällt beim Anblick des Kreuzes mit dem angenagelten Corpus Christi ein Unbehagen. Der schmerzgepeinigte Leib des Gekreuzigten lenkt für mein Verständnis eher ab von dem eigentlichen Sinn des Kreuzes. Nach einer späteren Deutung, die ich dem Kölner Kunsthistoriker Dr. Feldenkirchen verdanke, symbolisiert der senkrechte Teil die Verbindung des Menschen mit Gott, der waagerechte seine Beziehung zum Mitmenschen. Beides zusammen sei das Sinnbild für die Überwindung der doppelten „Sünde": Der Trennung des Menschen von Gott und von seinem Mitmenschen. Diese Deutung bedarf nicht der Gestalt des Gekreuzigten und gibt doch den Sinn der Opfertodes wider, wie der Christ ihn versteht. Die Stelle, an der die beiden Balken sich kreuzen, läßt sich auch ohne das qualvolle Corpus und Antlitz des Erlösers als Ausdruck der erlösenden Gottes- und Menschenliebe deuten, die den Tod überwindet.
Neuerdings hat sich die Physik der Frage nach der Unsterblichkeit und dem Problem eines Lebens nach dem Tode bemächtigt: Der amerikanische Professor für mathematische Physik an der Tulane University in New Orleans Frank J. Tipler hat soeben, 1994, ein 605 Seiten starkes Buch unter dem Titel „Die Physik der Unsterblichkeit - Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten" veröffentlicht (Piper Verlag München). Er glaubt hier nachweisen zu können, daß die Begriffe „Himmel", „Hölle", Fegefeuer, Auferstehung der Toten nichts anderes als logische Schlußfolgerungen aus physikalischen Gesetzen seien. Die Theologie selbst sei ein Teilgebiet der Physik! Die Physiker seien in der Lage, die Existenz Gottes und die Auferstehung der Toten mit der gleichen Exaktheit berechnen zu können wie die Eigenschaften eines Elektrons. Dazu müsse allerdings das gesamte Universum in Raum und Zeit gespeichert werden, eine Voraussetzung, die das menschliche Gehirn als eine besondere Art von Maschine erfülle, die den gleichen Gesetzen unterliege wie ein Computer. Mit Hilfe der Weiterentwicklung des Teilchen-Beschleunigers und der Weltraumfahrt werde es möglich sein, das Ende des Universums vorauszusehen. Die Menschheit selbst in ihrer fleischlichen Gestalt werde dieses Ende nicht erleben. Aber Tipler entwickelt eine von ihm so genannte „Omega-Punkt-Theorie", nach der in einer „Endsingularität des Alls" die gesamte Information

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jemals gelebt habender Menschen auf einer Art „universaler Festplatte" gespeichert werden könne, und dies sei es, was man früher einmal mythologisch die „Auferstehung der Toten" nannte. Für seine „Omega-Punkt-Theorie" bemüht T i p I e r zwar noch den allgegenwärtigen, allwissenden und allmächtigen »Gott", beruft sich aber nur auf handfeste Ergebnisse moderner Naturwissenschaft und nicht auf irgendeine religiöse Offenbarung. Sein Erkenntnismittel für die Lösung aller theologischen und metaphysischen Probleme ist alleine das physikalische Vernunftdenken (richtiger: Verstandesdenken!)
Soweit Herr Tipler! Ungeachtet seiner absurd erscheinenden physikalischen Endzeitvision wird er von Theologen wie von Physikern erst genommen, und sein Buch erfreut sich lebhafter Aktualität. Papst Johannes Paul II. hat ihn zu einem Gespräch im Vatikan empfangen, und Professor Dr. David Deutsch von der Oxford-University schreibt: „Viele werden von der Physik der Unsterblichkeit begeistert sein, viele hingegen empört reagieren. Auf keinen Fall kann man diese Theorie jedoch einfach ignorieren." Man braucht sie - es ist übrigens keine wissenschaftliche Theorie, sondern allenfalls eine utopische Hypothese - auch nicht zu ignorieren. Aber man sollte sich, ohne „begeistert" oder „empört" zu reagieren, darüber im klaren sein, daß Tipler einem alten erkenntniskritischen Irrtum erlegen ist, wenn er meint, Glauben durch Wissen ersetzen zu können. Mit seiner "physikalischen Eschatologie" spricht er - offenbar erfolgreich - den Glaubensschwund und die Wissenschaftsgläubigkeit des heutigen Menschen an. Er verkennt, daß Ideen wie „Gott", "Unsterblichkeit", „Auferstehung" nicht mathematischphysikalisch definier- und beweisbare Erfahrungsgegenstände sind, sondern Glaubenspostulate, die weder mit rationalen Methoden „nachgewiesen" noch widerlegt werden können. Mit seiner These, die Gesamtheit des Kosmos, seinen Ursprung, die Evolution und seine Zukunft mit physikalischen Formeln enträtselt zu haben, erhebt er den Anspruch, letzte Fragen mit wissenschaftlich begründbaren Spekulationen endgültig beantworten zu können. Physikalisch nicht beantwortbare Fragen wie etwa die nach dem Sinn des Daseins, des Seins, des Lebens, des Todes, der Schuld, der Liebe, der Vergebung passen nicht in das physikalisch determinierte Schema und werden daher nicht gestellt.
Diese letzten, eigentlichen Fragen entziehen sich dem Versuch, sie mit einer kosmologischen Hypothese beantworten oder ihnen damit auch nur näher

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kommen zu können. Mit endgültigen Antworten auf letzte Fragen würde sich der Mensch an die Stelle des von Tipler selbst apostrophierten, allwissenden Gottes setzen. Er brauchte dann nicht weiter zu fragen. Denn er wüßte ja alles. Aber ein Ende des Fragens bedeutet ein Ende des Denkens. Dies wäre die tödliche Konsequenz des Anspruchs, mit dem menschlichen Willen zur Macht über den göttlichen Geist verfügen zu können, ohne den es kein Fragen und kein Denken gäbe. Fragen wird durch Denken, Denken durch neues Fragen am Leben erhalten. Beides zusammen hat dem Geist zu dienen, ihn nicht zu beherrschen. Mit der Anmaßung, auf letzte Fragen letzte Antworten geben zu können, würde der Mensch den Sinn für das Geheimnis der Schöpfung, das Wunder des Lebens preisgeben.
In der Antwort auf den Brief eines Bankiers aus Colorado vom 5. August 1927, in dem mehrere Nobelpreisträger um ihre Ansicht zur Frage nach Gott gebeten wurden, hat Albert Einstein geschrieben: "Ich kann mir keinen persönlichen Gott denken, der die Handlungen der einzelnen Geschöpfe direkt beeinflußte oder über seine Kreaturen direkt zu Gericht säße . ... Meine Religiosität besteht in einer demütigen Bewunderung des unendlich überlegenen Geistes, der sich in dem Wenigen offenbart, was wir mit unserer schwachen und hinfälligen Vernunft von der Wirklichkeit zu erkennen vermögen ..."
Wenn es Tipler an dieser demütigen Bewunderung für das Unerforschliche im Erforschbaren fehlen sollte, wäre seine physikalische Kosmologie -der Unsterblichkeit ebenso zum Scheitern verurteilt wie es einstmals der Anspruch Ernst Haeckels, des großen Naturforschers, war, mit seinem „monadischen Materialismus" die Welträtsel gelöst zu haben.
Nehmen wir Tiplers Thesen nicht ernster, als sie es verdienen: Als ein interessantes, zu kritischem Überdenken und prinzipiellen Gegenargumenten herausforderndes Gedanken-Spiel!
In einem geistvoll-fesselnden Festvortrag „Wissenschaft: Wachstum ohne Grenzen?" hat Hubert MarkI, Professor für Biologie an der Universität Konstanz, von 1986 bis 1991 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bei der Jahresversammlung der Deutschen Akademie der Naturforscher „Leopoldina" im April 1993 in Halle/Saale folgendes gesagt: „Das sich überstürzende Wachstum der Wissenschaft unseres Zeitalters scheint an keine Grenzen zu stoßen. Der durch sie bewirkte Wandel eröffnet ständig neue Herausfor

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derungen an Fragen, Problemen, Möglichkeiten, Chancen, aber auch Bedrohungen. Nur bei einem sich sehr verengenden Blick nach unten und allein in die Mikro-, Nano- und Pikowelt der grundlegendsten Bausteine und Grundprinzipien der Welt könnten wir dem Eindruck verfallen, einmal sei alles Erforschenswerte erforscht, die letzte beantwortenswerte und beantwortbare Frage gestellt und beantwortet. Richtet sich der Blick hingegen dem Pfeil der Zeit und der Entfaltung der schöpferischen Möglichkeiten der Welt entsprechend nach außen und oben, auf uns selbst und um uns herum, vor allem aber nach vorne, in die Zukunft, dann will es mir nicht nur undenkbar, sondern tatsächlich nachweislich unmöglich erscheinen, als könnten dem Wachstum der Wissenschaften und den Herausforderungen für die Forschung jemals natürliche Grenzen aus Mangel an gehaltvollen Fragen und Problemen gesetzt sein. Die Schöpfung ist nicht zu Ende, sie entfaltet sich weiter fort und mit ihr unser Bedürfnis und die Notwendigkeit, sie in ihrem Wandel zu begreifen und in ihr unseren Platz zu finden und zu halten. Sie ist allein deshalb nicht und niemals zu Ende, weil wir selbst ihr Teil, niemals zur Ruhe kommender schöpferischer Erbe sind, die jüngsten Vollender, wenn nicht gar Vollstrecker der Evolution." ... MarkI meint, zu Ende gedacht, könnte dies vielleicht bedeuten, Physik und Chemie, Geologie und Astronomie, vielleicht sogar die Biologie könnten irgendwann einmal an Grenzen der Herausforderung durch neue Probleme geraten. Er glaube dies nicht. Aber selbst wenn es so wäre: „Den Kultur- und Humanwissenschaften, den Sozial- und Geisteswissenschaften wird der Stoff solange nicht ausgehen, wie es Menschen gibt, die ihre Kulturen weiterentwickeln und in immer neuer Weise ausgestalten müssen. Denn wie sollte dem Geist, der in den Wissenschaften lebt, jemals der Stoff ausgehen, der doch aus eben diesem Geiste unaufhörlich entspringt?" Das entspricht genau dem, was ich oben anzudeuten versucht habe. In diesem, aber auch nur in diesem Sinn erscheint es MarkI gerechtfertigt, dem Thema "Wissenschaft: Wachstum ohne Grenzen" das Fragezeichen zu nehmen. „Die Philosophen werden ... die letzten sein, denen die Fragen ausgehen, weil sie wohl bis zum Ende erfolglos nach letzten Antworten auf ihre Fragen suchen werden ...".
Ja, so ist es wohl. MarkI erinnert auch an das vielzitierte Wort des berühmten Physiologen Emil du Bois-Reymond (1818-1898) bei der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 466 1872: „Ignoramus et ignorabimus!", ein Wort, mit dem er, wie zu erwarten, auf heftigen Widerspruch Ernst Haeckels stieß. Aber er erwähnt auch die trotzige Inschrift auf dem Grabstein des genialen Mathematikers David Hilbert in Göttingen: "Wir müssen wissen, wir werden wissen:" Etwas despektierlich fügt MarkI hinzu: „Es sind nicht die besonders Gescheiten, die alles wissen, sondern die besonders Dummen, die alles zu wissen glauben". Wer wollte ihm widersprechen?
So gilt sowohl Hilberts Grabspruch: Wir müssen und wir werden mehr wissen, da der Fortschritt der Wissenschaften sich nicht aufhalten läßt, wie auch das Wort du Bois-Reymond: Wir werden niemals alles wissen. Das „Meer des Unbekannten, in dem die Kugel des Wissens schwimmt" - eine von MarkI mehrfach gebrauchte Metapher wird nie ganz austrocknen. Goethe sagt dazu: „Das Höchste ist, das Erforschliche erforscht zu haben, und das Unerforschliche ruhig zu verehren."

 

Reisen

 

Nach diesen Reisen in mein Inneres will ich noch etwas von meinen Reisen in andere Länder erzählen. Es waren Studien-, Vortrags-, Kongreß- und natürlich auch Erholungsreisen. Die erste Auslandsreise ging, zusammen mit Robert Cornelsen und Frau Annemarie BoII, der Ausbildungsleiterin unserer Staatlichen Schule für Beschäftigungstherapie, nach England zum Kongreß des Weltverbandes der Beschäftigungstherapeuten in Edinburgh im August 1954. Die Teilnahme an dieser Tagung war für uns wichtig, weil wir durch sie persönlichen Kontakt mit dem (weiblichen) Vorstand der „World Federation of Occupational Therapists" aufnehmen und damit die spätere Aufnahme unserer B-TH-Schule in den Weltverband vorbereiten konnten. Wir drei Deutschen wurden bei den Empfängen, unter anderen beim Präsidenten des "Royal College of Physicians" in Edinburgh und beim Oberbürgermeister der Stadt, äußerst freundlich, ja mit englisch gedämpfter Herzlichkeit begrüßt und mit Spontanapplaus bedacht. Von Vorurteilen war nichts zu spüren. Die Schotten sind Menschen, die in ihrer Kontaktfreudigkeit und Warmherzigkeit eher unseren Süddeutschen ähnlich, während die Süd-Engländer mehr unseren kühlen zurückhaltenden Nord

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deutschen vergleichbar erscheinen. Der Empfang im Rathaussaal von Edinburgh vollzog sich in altehrwürdigem Stil. Von Torhütern, ähnlich uniformiert wie die „Beefeater" in ihren malerischen Trachten aus der Tudor-Zeit am Tower in London, wurde jeder Gast einzeln mit seinem Namen vorgestellt: "Mister Dschäänz."!, ein Ritual, dem das Aufstampfen mit einem Heroldsstab akustischen und optischen Nachdruck verlieh. Nach den Begrüßungsansprachen löste sich das strenge Zeremoniell erfrischend unkonventionell dadurch, daß die Teilnehmerinnen - die Beschäftigungstherapie ist bisher ein vorwiegend weiblicher Beruf geblieben - sich zwanglos auf die Erde legten und dazu englische, schottische oder skandinavische Lieder sangen. Edinburgh ist eine nicht nur schöne, sondern auch liebenswerte Stadt, hoch überragt von dem alten Schloß. Interessanter erschien mir der „Holyrood Palace", die Residenz der schottischen Könige, in deren Räumen die Tragödie der Maria Stuart mit der Ermordung Rizzios begonnen hat. In der Nationalgalerie sah ich zum erstenmal die Aquarelle von William Turner und ließ mich von dem Licht und der Luft seiner frühen Bilder bezaubern. Auch heute liebe ich Turner als den genialen Vorläufer der Impressionisten, der sich in seinen späteren Ölbildern „Schatten und Dunkelheit - der Abend vor der Sintflut" und "Licht und Farbe - der Morgen nach der Sintflut" zu Goethes Farbensymbolik bekannt hat. Seine Mitwelt hat ihn bewundert und abgelehnt. Aber als eines seiner Meisterwerke „Blick von den Stufen des Hotel Europa zum Zollhaus und den Kirchen San Giorgio und Le Zitellein Venedig" in der Royal Academy in London ausgestellt war, schrieb die Zeitschrift Athenäum, „es gehöre zu den schönsten Bildern, die uns dieser Zauberer, der über die Geister von Luft, Feuer und Wasser gebietet, gegeben hat. Nie sah des Dichters Auge lichtere Träume." „Die Sonne ist Gott" soll Turner auf dem Sterbebett gesagt haben, als die Sonne nach grauen Tagen durch den Dezemberhimmel brach und noch einmal das Haus in Chelsea erleuchtete, das er gekauft hatte, um das Licht über der Themse beobachten zu können. Ich habe dann sein malerisches Werk in der Londoner Tate-Gallery bewundern können und erfreue mich jedesmal neu an den Schöpfungen dieses größten englischen Malers, eines der größten aus neuerer Zeit überhaupt (1775-1851). Königin Elisabeth II. hat 1987 ein Museum für ihn, die Clore-Gallery, am Themse-Ufer neben der Tate-Gallery eröffnet.

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Zurück zu Schottland: Bevor wir Edinburgh verließen, erlebten wir auf dem Schloßhof ein "Tattoo", eine wohl typisch schottische operettenartige Militärparade in bunten Uniformen und mit einer nur schwer erträglichen Musik aus bunt verzierten Dudelsäcken. Die schottische Volksmusik ist auf der Pentatonik aufgebaut, schottische Volkslieder sind von Haydn, Beethoven, Carl Maria von Weber bearbeitet worden, und MendeIsohn hat ihre Themen für seine „Schottische Symphonie" verwandt. Mehr als die Musik hat mich die Landschaft der Highlands angesprochen mit ihren dunklen, schmalen Seen, den „Lochs" - „Loch an Loch" - den Heide- und Hochmoorflächen und den sanften, meist nicht über 1000 Meter hohen Bergen, alles etwas ernst, leise melancholisch gestimmt und wehmütig stimmend, aber schön und einsam - „eine der letzten ungezähmten Landschaften Europas". Fasziniert war ich von der großartigen Brücke über den Firth of Forth, wenn sie auch nicht „wie aus farbigem Nebel" auftauchte wie die Brücken, die William Turner gemalt hat mit „Umrissen, die sich auflösen und, vom inneren Auge erschaffen, wieder in das Raumlose versinken". Das hat Oto BihaIji-Merin von den Turnerschen Brücken geschrieben in einem wunderbaren Buch „Brücken der Welt" (Bucher Verlag Luzern und Frankfurt/M, 1971), das mir meine ärztlichen Mitarbeiter einmal geschenkt haben. Sie wußten, daß die Brücke" eine symbolische Bedeutung für mein ärztliches Bemühen hat: Das Trennende zwischen den Menschen, im Menschen selbst und zwischen ihm und der Umwelt durch verstehendes und handelndes Helfen zu überbrücken. In diesem von BihaIji-Merin, einem jugoslawischen Kunsthistoriker und -philosophen, herausgegebenen Buch wird das Phänomen „Brücke" von bedeutenden Autoren wie ApolIinaire, Kafka, Martin Luther King, Ernesto Grassi, John F. Kennedy, Lescek (Anmerkung: c mit Cedille!) KoIakowski behandelt: Als Brücke der Kunst, Brücke zwischen Völkern und Kontinenten, Brücke des Humanismus, Brücke ins Unbekannte, Chronik und Mythos des Brückenbaus. Die „Brücke aller Brücken", die „Urbrücke", findet sich dargestellt in der Wiedergabe der „Erschaffung Adams" von Michelangelo, in der Gottes Finger sich dem Finger Adams entgegenstreckt, ohne ihn ganz zu berühren, in der Brücke zwischen Schöpfer und Geschöpf bleibt ein kleiner Zwischenraum offen! Ich liebe die Brücke „als geistiges und materielles Medium der Verbindung", wie es - so die Herausgeber des schönen Buches „Brücken der Welt" - in Lyonel Feiningers Bild Viadukt"

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gleichnishaft anklingt. Deshalb liebe ich auch Thornton Wilders „Brücke von San Luis Rey": „... da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen die Liebe, das einzig Bleibende, der einzige Sinn."
Zufällig erlebte ich auch einen Gottesdienst in der Kathedrale von Edinburgh mit einem musikalisch wohl- und noch lange in mir nachklingenden Chorgesang. (Die schottische Staatskirche unterscheidet sich von der anglikanischen durch ihr dogmatisches Festhalten an der calvinistischen Lehre).
In Melrose besuchten wir eine malerische gotische Kirchenruine, aber auch das Psychiatrische "Open door"-Hospital, das sich des Rufes erfreute, ohne geschlossene Abteilungen auskommen zu können. Dieser Ruf war zwar berechtigt, aber einfach dadurch zu erklären, daß keine aggressiven oder suizidgefährdeten Patienten aufgenommen wurden.
Im Psychiatrischen Krankenhaus von Dumfries begegnete ich Professor Mayer-Groß, einem der hervorragenden Repräsentanten der berühmten Heidelberger Schule in den zwanziger und dreißiger Jahren, zur Emigration nach England gezwungen, und dort als schlichter Anstaltsarzt lebend. Bescheiden bezeichnete er sich als "die wissenschaftliche Tante des Hospitals".
Auf der Rückfahrt blieben wir einige Tage in London, der Stadt, die Heinrich Heine "erdrückend und ihm das Herz zerreißend" und SheIIey "Die Hölle" nannte, für mich vielleicht die faszinierendste Stadt der Welt, soweit ich die Welt kenne. "Gerade weil hier alles Platz hat, fast alles geduldet wird, in diesem Mischkrug der Hautfarben, Sprachen und Völker, tritt uns das Englische in London am eindrücklichsten entgegen", schreibt Conrad Streit, ein intimer Kenner und Liebhaber dieser Weltstadt. Sie habe, wie keine andere Stadt auf Erden, einen Lebensstil hervorgebracht, der sich ihrem Fluidum an die Seite stellen ließe. „Die 7-Millionen-Stadt ist ganz von den Ausländern abhängig - von den Touristen, ohne die die teuren Hotels, die Theater und Opernhäuser gar nicht bestehen könnten, von den reichen Arabern, die Hotels und Grundstücke im teuren Stadtzentrum gekauft haben, von den ausländischen Finanziers in der City, von den schwarzen, braunen und gelben Krankenschwestern, den schwarzen und braunen Autobus- und U-Bahnschaffnern, die London buchstäblich am Leben erhalten. „London nimmt sie alle relativ tolerant auf`, lesen wir bei dem Journalisten Roland HiII. Aber: Es gibt in London keine Gettos - noch nicht!

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Ich war danach noch zweimal in London, einmal wieder zu einem Kongreß des Weltverbandes der Beschäftigungstherapeuten (mit Frau Marliese Wahrendorff und Frau Irmela Heinichen) und zuletzt, 1970, auf Einladung der Internationalen Gesellschaft für Versicherungsmedizin zu einem Vortrag bei deren zehntem Kongreß. Ich habe über die nerven- und allgemeinärztliche Praxis so wichtige Diagnostik der sogenannten „larvierten Depression" gesprochen, in Deutsch, simultan übersetzt, später veröffentlicht in Englisch („Depression Diagnostic Difficulties and Errors" in: Life Assurance Medecine, Pitman Medical an Scientific Publishing Co. Ltd. London). Der Präsident der Sitzung, ein sympathischer Schweizer, lobte mein Referat als eine "vorzügliche Magistral-Vorlesung". Leider hatte auch diesmal Antonia nicht mitkommen können: Sie erkrankte kurz vor meinem Abflug an einer Gallenkolik, und ich mußte bei einem sehr eindrucksvollen Bankett mit dem Lord Mayor in der Guild Hall, dem alten Rathaus der City of London, mit der Frau eines österreichischen Kollegen vorliebnehmen. Es wäre ermüdend, den ohnehin zu reichlichen Umfang dieser Erinnerungen zu erweitern durch eine Schilderung alles dessen, was ich in und um London gesehen habe: das Britische Museum (3mal), die Tate-Gallery, den Tower, White Hall, den Buckingham Palast, Windsor-Castle, Hampton Court Palace, das Innere des House of Parliaments, die Royal Festival Hall (mit herrlichem Ballett), die Royal Albert Hall (mit Konzert unter Sir Thomas Beecham!), Piccadilly Circus, Hyde Park usw., usw. Meine „Memorabilia" sollen kein Reiseführer durch große Städte sein, das Gleiche gilt auch für Paris, Madrid, Rom, Athen, Lissabon, Petersburg, Moskau, Prag, Wien, Belgrad, Bukarest, Istanbul, Sofia, New York, Washington, Boston, Buenos Aires, Bangkok, New Delhi und andere bedeutende Städte, die ich erlebt habe. Von London seien nur drei sehr verschiedenartige und -wertige Eindrücke erwähnt, an die ich besonders gerne zurückdenke: Ein kunstgeschichtlicher, ein fachlicher und ein heiterer. Der erste: Die Eigin-Marbles im Britischen Museum. Die auch mit Superlativen nicht andeutbare Schönheit der Bildwerke vom Parthenon-Fries, der Festzug der Panathenäen, der Kampf zwischen den Lapithen und den Kentauren, kam erst zur vollen Geltung, seitdem sie 1962 einen wirklich würdigen Raum erhalten haben. Wir können dem Earl of Elgin nicht dankbar genug dafür sein, daß er sie „gestohlen" und damit vor der Verwitterung bewahrt hat, und es ist gut, daß die energische Forderung der griechischen Kultusministerin Melina

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Mercouri, sie in ihre Heimat zurückzuholen, nicht erfüllt worden ist. Der Kampf zwischen den Lapithen und Kentauren an den Südmetopen des Parthenon, der von dem ausgestreckten Arm des Apollon geschlichtet wird, steht auf meinem Schreibtisch. Ich liebe gerade dieses Bildwerk, weil Apollon, „der griechischste der Götter", hier als Heil- und Sühnegott dargestellt wird, dessen Sohn Asklepios später als Arztgott an seine Stelle tritt.
Einen zweiten nachhaltigen Eindruck hinterließen in mir die Besuche in Londoner psychiatrischen Krankenhäusern, im besonderen in der Tavistock-Clinic und im Maudsley-Hospital. Ich wurde von den englischen Kollegen nicht nur sehr freundlich empfangen und geführt, sondern ich habe auch z.B. für die therapeutische Förderung geistig Behinderter Wichtiges gelernt, das ich in unserem Köthenwalder Haus 5 anwenden konnte. Im übrigen wird natürlich auch in England psychiatrisch „mit Wasser gekocht". Die Einrichtung der „Sterbekliniken" gab es damals noch nicht.
Mit den Damen Marliese Wahrendorff und Irmela Heinichen habe ich auch psychiatrische Einrichtungen in Oxford und Cambridge besucht, und wir konnten von dort praktische Anregungen mitnehmen, die sich in Verbesserungen des Meublements, z.B. der Nachtschränke, auf unserer Gutshof-Abteilung umsetzen ließen. Natürlich war es eindrucksvoll, auch die Gebäude zu betrachten, in denen sich die Colleges der beiden Elite-Universitäten Englands befinden: In Oxford Christ Church, das größte, prächtigste und berühmtestes, das sich selbstbewußt „The House" nennt, in Cambridge, der „Gegengründung" zu Oxford und seiner alten Rivalin, das King's College und die Trinity College Chapel. Zwischen diesen "Hochburgen des Geistes" - in den vielerlei Stilen überwiegt die Gotik, die „für Engländer mehr bedeutet als Architektur, nämlich Phantasie und Lebendigkeit" (Renate Schostack) - Blumengärten und Parks mit dem jahrhundertelang gepflegten Rasen, Höfe mit Statuen, Wasserbecken und Sonnenuhren, Wandelgänge, "in denen Professoren und Studenten im Gespräch auf und ab gehen wie einst die griechischen Philosophen im Hain des Akademos". Beide Universitäten sind aus Klöstern hervorgegangen, in denen die Gelehrsamkeit gepflegt wurde. Am Ende des zwölften Jahrhunderts war Oxford als Universität „voll etabliert". Wenig später spaltete sich Cambridge ab. Das elitäre Zwiegespann bildete bis ins 19. Jahrhundert hinein die einzigen Universitäten Englands!. Sie sind mit Bologna, Padua, Salamanca, Paris eine der

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ältesten Europas. Cambridge gilt mehr als Hochburg der Geisteswissenschaften, Oxford als die der Naturwissenschaften. Cambridge beruft sich mehr auf die platonische, Oxford mehr auf die aristotelische Überlieferung. Beide sprachen voneinander distanziert als „the other place". Ihre traditionelle Rivalität bekundet sich immer noch in den berühmten Regatten. Bernard Shaw hat von „Oxbridge" - dem Namen für beide Universitäten gesagt, Ziel der Ausbildung an ihnen sei es, „ein paar Gelehrte hervorzubringen, vor allem aber sehr viele Gentleman". Aus dem Oxforder Christ Church College sind elf indische Vizekönige und dreizehn Premierminister hervorgegangen - immerhin! Das Erfolgsgeheimnis von Oxbridge" - denken wir an unsere deutschen Massenuniversitäten! liegt in dem „tutorial"-System, dem Privatunterricht, den der Tutor seinen Scholaren jeden Tag erteilt! Maßgeblich für die Zulassung zum Studium sind die Zeugnisse und Empfehlungsschreiben der Schule. Es heißt, daß etwa die Hälfte der "Oxbridge"-Studenten von angesehenen, aber kostspieligen Privatschulen kommt. Renate Schostack erwähnt, daß „Oxbridge" bis in unser Jahrhundert hinein eine Domäne der „Herren" (domini) war. Die Professoren wurden daher „dons" genannt. Noch in den 1870er Jahren mußten die Gelehrten unverheiratet sein und dem geistlichen Stand angehören. Erst seit 1974 "beherbergen sämtliche Männer-Colleges von Oxford auch Frauen!"
Das Dritte, was in meiner „personalen Resonanz" einen Nachhall besonderer Art gefunden hat, war ein makaber-spaßiges Spektakel, das ich selbst in Madame Tussauds berühmtem Wachsfigurenkabinett in London improvisiert habe. Diese einfallsreiche Schweizerin hatte das seltsame Museum kurz vor der Französischen Revolution in Paris gegründet und 1802 nach London verlegt, wo es zu einer der populärsten Touristen-Attraktionen avanciert ist. Unterhalb der Wachsnachbildungen von Staatsmännern, Mitgliedern der königlichen Familie, Filmschauspielern usw. befindet sich ein Kabinett mit den Figuren von Schwerverbrechern, Frauenmördern wie Landru usw. Eine Nische war noch frei, offenbar vorbehalten für den nächsten Gewaltverbrecher. Im Halbdunkel dieser unheimlichen Stätte des Grauens stellte ich mich, von den Besuchern zunächst unbemerkt, in diese Nische völlig bewegungslos wie eine Wachsfigur. Als einige der Touristen ganz nahe an mich herankamen, um zu sehen, welcher Raub- oder Frauenmörder hier wachsfigürlich dargestellt sein könnte, blies ich plötzlich die über meine Stirn herabhängenden Haare hoch und

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erhob mich - die Neugierigen prallten zurück, zuerst erschrocken, dann aber befreit lachend. Der improvisierte Spaß hatte die düstere Atmosphäre des Tussaudschen Gruselkabinetts rasch aufgehellt.
Warum bin ich eigentlich mein Leben lang so gerne gereist? Reisen war für mich geradezu eine Passion geworden. Antonia meint, man brauche nicht unbedingt zu reisen, um geistig bereichert zu werden, an Bildung zu gewinnen. Kant sei auch nicht gereist. Aber für Goethe bedeutete Reisen „das bildenste Element der Bildung".
Aus drei Gründen glaube ich gerne und viel gereist zu sein: Zu allererst aus ganz einfacher, naiver Neugier. Ich wollte Neues kennenlernen, sehen, hören, erleben, Fremdes bestaunen. Nicht, weil es mir im Einerlei der Tage langweilig geworden wäre - Langeweile habe ich nie gekannt -, sondern weil etwas in mir danach drängte, mich zu erweitern, auszudehnen, zu bereichern, eine unerklärbare innere Unruhe, der Gegenpol zum Bedürfnis nach Ruhe und Seßhaftigkeit. Hermann Hesse hat es so schön gesagt in seinen „Stufen": „... Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen. Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen...".
Es war auch nicht nur dieses unbestimmte Verlangen nach Neuem, Anderem, das mich zu den vielen Reisen meines Lebens trieb. Es war der konkrete Wunsch, etwas zu lernen, Erkenntnisse durch die Möglichkeiten des Vergleichs zu gewinnen - der Vergleich als ein wichtiges Mittel der Erkenntnis! - Der Vergleich fremder Landschaften, Menschen, Mentalitäten, Kulturen, Gewohnheiten mit den eigenen diente zugleich der Absicht, Verständnis für alles Andersartige aufzubringen, es zu tolerieren, ohne es akzeptieren zu wollen, zu müssen oder zu können. Ich wollte damit die Enge des deutschen Provinzialismus und Nationalismus gar nicht in mir aufkommen lassen. Dazu haben meine kleinen und großen Reisen wesentlich beigetragen.
Das Dritte, was mich am Reisen reizte, war immer auch die Vorfreude auf die Heimkehr, das Ausruhen in der Geborgenheit des Zuhauseseins, der liebevolle Empfang durch meine Antonia - die großen, interkontinentalen Reisen hatte sie schon wegen ihrer Angst vor dem Fliegen nicht wagen können -, das Erzählen und Niederschreiben des Erlebten. Meine Reisetagebücher könnten

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ein Buch füllen. Sie helfen mir, wenigstens einiges aus dem Allzuvielen der Erinnerung hervorzuholen.
Inzwischen ist der ODYSSEUS HANS - WERNER endgültig zu seiner PENELOPE ANTONIA zurückgekehrt.
Ich will nur die Reisen herausgreifen, die sich mir als nachhaltiges kulturgeschichtliches, landschaftliches, menschliches und im engeren Sinne geistiges Erlebnis bleibend eingeprägt haben. An erster Stelle meiner inneren, nicht nur visuellen Reiseerlebnisse setze ich nicht Italien, sondern Griechenland! Goethes Geleitwort zu seiner „Italienischen Reise": „Auch ich in Arkadien", dieses „elysische Gefühl" hat mich in Italien bei aller Bewunderung der Großartigkeit und Fülle seiner Kunstwerke nicht ergriffen. Ich kann auch nicht sagen, ich sei, wie der unter dem Pseudonym „Maler Möller" Reisende, nach Rom, dem „wahren Jerusalem der Gebildeten", »gepilgert", und schon gar nicht hätte ich, wie er, nach der Rückkehr aus dem „Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn..." jemals das Gefühl gehabt, „eigentlich nie wie der froh geworden zu sein". Ja! „Rom ist eine Welt" und "Es ist nur ein Rom in der Welt", unvergleichbar mit jeder anderen Stadt. Ohne Rom, Florenz, Venedig, Mailand, Padua, Siena, Neapel, Pompeji, Sizilien erlebt zu haben, wäre mein Leben ärmer gewesen. In Rom und Venedig waren wir sogar mehrere Male, und wir haben die Schönheiten dieser einzigartigen Städte immer aufs Neue dankbar genossen. Goethe ist zu bedauern, weil er das Renaissance Kleinod Florenz nur „eiligst durchlaufen" hat. Für die Mediceer-Gräber Michelangelos , für seinen „David", für Giotto, Botticelli, Fra Angelico, Leonardo findet er kein Wort, und in den Gärten Boboli eilte er "so schnell heraus als hinein". Er konnte es nicht erwarten, so schnell, wie es die Postkutsche zuließ, nach Rom zu gelangen, um dort meine wahre Wiedergeburt" zu erleben. Aber seine ltalienliebe hat bei seiner zweiten Italienreise März-Juni 1790 - er kam nur bis Venedig -, wie er selbst schreibt, einen "tödlichen Stoß" erlitten. Ihrem literarischen Extrakt, den „Venetianischen Epigrammen", stellte er das Motto voran: „Wie man Geld und Zeit vertan, Zeigt das Büchlein lustig an. "Frau von Stein und „Tout Weimar" waren empört.
Für unsere erste große Italienreise - sie führte uns über Neapel hinaus bis Amalfi (mit Capri) und Paestum - hatten wir als idealen Cicerone unseren alten Freund, den aus Antonias und Veras Heimatort Skaisgirren stammenden

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Kunsthistoriker Dr. phil. Erich Krause. Ihm, dem enzyklopädischen Italienkenner ("Wo man hinspuckt, trifft man auf ein Kunstwerk!", sagte er) - verdanken wir Vieles, was nicht im Baedeker oder in anderen Reiseführern steht. Er wußte zum Beispiel, zu welchen Jahres- und Tageszeiten man im Mailänder Dom sein mußte, um sehen zu können, wie das Sonnenlicht den Raum erleuchtete. Wir mußten in der „Galleria" solange warten, bis gegen 18 Uhr die Sonne durch die Glasmalereien eines großen Kirchenfensters in die Halle schien und sie mit ihrem bunten Licht durchflutete. Was es Zufall oder Fügung?
Als wir andächtig im Inneren dieses gotischen Wunderwerkes Platz genommen hatten, schritt eine junge, schöne Frau im feuerrotem Gewande und mit tizianrotem Haar inmitten des Sonnenstrahls langsam auf den Altar zu - ein Bild von unwirklicher Schönheit unvergeßlich. In Orvieto ließ Erich uns mehrere Stunden warten, bis die Sonne auf die polychrome Fassade des Domes schien und deren Farben aufleuchten ließ. (Die gotische Ornamentik dieser Fassade erinnert übrigens an die - nicht polychrome - des Domes unserer Bischofsstadt Frauenburg). Auch sagte Erich Krause uns, daß wir uns mindestens eine halbe Stunde vor der morgendlichen Eröffnung der Sixtinischen Kapelle in Rom einfinden müßten, um dem Ansturm der touristischen „Horden" zu entgehen, der uns den Genuß der Fresken Michelangelos verleiden würde.
Wir hatten auf diese Reise einen jungen Uruguayer, José Santayana, mitgenommen, der mir von einem Schweizer Arzt zur „Resozialisierung" in llten anvertraut worden war. Das Geld seines frühverstorbenen, schwerreichen Vaters, Besitzer riesiger Haciendas, Bank- und Zeitungspräsident in Montevideo und ein ziemlich zügelloses Leben in New York hatten dieses jugendliche Opfer des Großkapitalismus einigermaßen verwahrlosen lassen. Seine Begeisterung für Italiens Kunstschätze hielt sich in angemessenen Grenzen. Als ich versuchte, ihm den dorischen Stil am Poseidon-Tempel in Paestum zu erklären, langweilte ihn dies: „Usted, Profesòr, quieren `Tempels', yo quiero vacas (Kühe)!" Seine Interessen galten allenfalls einigen pornographischen Mosaiken in Pompeji, mehr noch lebenden Mädchen und verleiteten ihn hin und wieder zu nächtlichem Entschwinden. In AmaIfi geriet er in einen seiner früheren heftigen Erregungsstürme, als er telegraphisch erfuhr, daß es bei seiner Schwester zu Komplikationen in der Schwangerschaft gekommen sei. Zugleich entlud sich eine wütende Eifersucht auf seinen Schwager. Mit seiner gütigen und vorneh

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men Mutter Rosa trafen wir uns dann im nahe dem Petersplatz gelegenen Hotel „Alicorni" („Einhorn"): das, zunächst von Priestern bevorzugt, einige Jahre danach aber ziemlich heruntergekommen war. Später habe ich Mutter und Sohn im elterlichen Hause - Josés Vater war früh verstorben - bei meiner Vortragsreise nach Chile und Argentinien in Montevideo besucht. Unsere Freunde Ursula und Ottilio Küstermann hatten mich von Buenos Aires aus dorthin begleitet: auf dem Schiff über den Rio de la Plata und noch am selben Abend mit dem Flugzeug zurück, wobei Ottilio den argentinischen Flugkapitän gebeten hatte, mich vom Cockpit aus den zauberhaften Blick auf die beiden großen Städte in ihrem Lichtermeer bei einem Glase Sekt genießen zu lassen.
Inzwischen hat unser lieber José die Nachfolge seines Vaters als Besitzer einer großen Hacienda mit tausenden von Rindern und als Bank- und Zeitungspräsident in Montevideo übernommen, ist mit einer wohlhabenden und vornehmen Dame aus seiner Heimatstadt verheiratet und Vater auffallend blasser und schmächtiger Kinder (man ißt dort nur Fleisch, kein Gemüse und Obst!) geworden, mit denen er uns vor einigen Jahren besucht hat. Manchesmal denken wir noch an unsere gemeinsame Italienreise im engen Volkswagen zurück, mit dem wir Pausen machen mußten, wenn José verkündete: Frau Tonichen muß Pipichen!"
Einen, ja, in besonderem Sinne den Höhepunkt unserer ersten Italienreise bildete das Erlebnis einer großen, öffentlichen Audienz mit Papst Pius XII. in St. Peter. Karten für die Teilnahme an dieser Audienz hatten wir durch den Jesuitenpater Robert Leiber erhalten, mit dem mir Herr Hans von HüIsen ein Gespräch in Castel Gandolfo vermitteln konnte. Pater Leiber, Professor an der Gregoriana, war - mit dem Prälaten Monsignore Kaas, einem bedeutenden Zentrumsführer - der engste und vertrauteste Mitarbeiter und Berater des Papstes, später auch sein Beichtvater. Der Papst hatte Leiber schon während seiner Nuntiaturen als Eugenio PaceIIi in München und Berlin schätzen gelernt. Mit seiner Empfehlung waren uns Sitzplätze in St. Peter zugewiesen worden, die wir leider nicht einnehmen konnten, da wir zu spät, wenn auch noch vor Beginn der Audienz in die Kirche kamen. So mußten wir, von einem Schweizer Gardisten geleitet, stehend, nicht weit von Michelangelos Pieta aus, den feierlichen Einzug des Papstes auf der Sedia gestatoria erleben. Eindrucksvoll das durchgeistigte, vornehme, strenge und doch gütige

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Antlitz des „Stellvertreter Christi", von der hohen Tiara gekrönt! Nach einer Ansprache und dem Segen des "Heiligen Vaters" strömte alles hinaus auf den Platz, den von den Bernininschen Kolonnaden umgebenen Raum dicht an dicht füllend. Unvergeßlich, wie dann hochoben am Fenster des Apostolischen Palastes die weißgekleidete Gestalt des Papstes erschien, die Arme weit ausbreitete und die auf die Knie gesunkenen Menschen segnete. Ehe wir als sogenannte "Protestanten" überlegen konnten, ob wir diesem kollektiven Ritual folgen sollten, sanken auch wir, wie von einer unsichtbaren Macht hinabgezogen, auf die Kniee nieder - Objekte sakraler Massensuggestion!
Aber es war mehr als das: Von diesem, seines Titels „Heilig" würdigen Manne ging etwas Unbeschreibliches, Übernatürliches aus, was einem das Gefühl geben konnte, durch ihn ein besserer Mensch zu werden - es sei denn, man wäre durch Voreingenommenheiten, bloße Skepsis oder einseitigen Antiklerikalismus gegen solche Emotionen gefeit.
Wir waren nach Rom gekommen mit dem Wunsche, diesen Mann zu sehen, von dem der Engländer H.V. M o rto n in seinen köstlichen "Wanderungen durch Rom" schreibt: „Wohl selten ist die `Heiligmäßigkeit' (ein katholisches Wort) eines Papstes so unbestritten gewesen wie die Pius XII." Damals, 1955, war noch nicht Rolf Hochhuths pamphletartiges "Schauspiel" „Der Stellvertreter" erschienen, in dem Pius XII. beschuldigt wird, er sei wegen seines Schweigens mitverantwortlich für die Massenermordung der Juden durch das NS-Regime gewesen. In seinem "Epilog" zu dem 1963 bei Rowohlt erschienenen Text des Stückes scheut Hochhuth sich nicht fünf Jahre nach dem Tode des Papstes! - ihn als „kalten Skeptiker", und "überfleißigen, an seiner eigenen Heiligsprechung interessierten Karrieremacher" zu bezeichnen, ihn der Verlogenheit" zu bezichtigen und durch Worte wie „Pacellis blumige Redseligkeit im Stil übelster Goldschnitt-Lyrik", schließlich als „Neutrum" herabzuwürdigen. Damit hat Hochhuth nicht nur sich selbst das Zeugnis eines skrupellosen literarischen Leichenschänders ausgestellt. Er ist auch als historisierender Schriftsteller durch offenkundige Falschdarstellungen, Entstellungen und haßerfüllte Verunglimpfungen, die nichts mit dem Recht auf dichterische Freiheit zu tun haben, unglaubwürdig geworden. Man braucht nur zu wissen, daß Pinchas Lapide, der bedeutende jüdische Historiker, Religionsphilosoph und Diplomat, Pius XII. nach dem Kriege den „Dank seiner Regierung

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für die Rettung von 700 000 Juden durch den Vatikan" überbracht und in seinem Buch „Rom und die Juden" geschrieben hat: „Die katholische Kirche ermöglichte unter dem Pontifikat von Pius XII. Die Rettung von mindestens 700000 wahrscheinlich aber sogar von 860 000 Juden vor dem gewissen Tod von den Händen des Nationalsozialismus." Damit hat Lapide auch Pius XII. ausdrücklich gegen die leichtfertigen, falschen Vorwürfe Hochhuths verteidigt." (Frankfurter Allg. Zeitung v. 14. April 1994, Nr. 86, Seite 11.)
Der später zum Katholizismus übergetretene Ex-Rabbiner von Rom hat geschrieben: „Kein Held der Geschichte hat ein vortrefflicheres und mehr bekämpftes und heroischeres Heer angeführt als Pius XII. im Namen der christlichen Caritas es getan hat." (In: Sr. Pascalina Lehnert „Ich durfte ihm dienen. Erinnerungen an Papst Pius XII.", Verl. Joh. Wilh. Naumann, Würzburg, 5. Aufl. 1983, S. 117).
Schwester Pascalina erinnert sich genau an den Morgen im August 1942, an dem der Papst durch die Zeitungen erfuhr, HitIer habe auf den öffentlichen Protest der holländischen Bischöfe gegen die Judenverfolgungen mit der Verhaftung und Vergasung von 40 000 Juden, darunter der Philosophin und Karmeliterin Edith Stein, reagiert. Daraufhin habe der Papst den Entwurf seines noch viel schärferen Protestes eigenhändig verbrannt, um zu verhindern, daß dadurch noch mehr Juden und Katholiken im deutschen Machtbereich der gleichen Gefahr ausgesetzt werden. Der historischen Richtigkeit halber muß auch daran erinnert werden, daß die Hilfskomitees für die Juden, die der Vatikan bereits 1939 geschaffen hatte, durch die rigoros-restriktiven Einwanderungsgesetze in den USA und in lateinamerikanischen Staaten erheblich behindert wurden oder zum Scheitern verurteilt waren. Zur Persönlichkeit des Papstes sei nur noch erwähnt, daß Winston Churchill nach einer Privataudienz bei ihm gesagt habe: „Dieser Papst ist der größte Mensch, dem ich je begegnet bin." (Elisabeth Kawa, Pius XII., Morus Verlag Berlin, z. Aufl., 1956, S. 7). Hohe Intelligenz, logisch scharfes Denken und mystischer Glauben, glänzende diplomatische Begabung und tiefe, demütige Frömmigkeit, vornehme Würde und immense Arbeitsaktivität bildeten in ihm keine Gegensätze, sondern ergänzten sich zu der Geschlossenheit einer der großen Gestalten der Kirchengeschichte. Er war - ich hoffe, nicht schwärmerisch zu werden - als Mensch eine Lichtgestalt am düsteren Himmel unserer Zeit.

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Ob das zutrifft, was Morton von ihm sagt: „Über Pius XII. Gibt es keinen Weg mehr hinaus. Er war die Vollendung und damit auch der Abschluß einer kirchenpolitischen Entwicklung", mögen die Kirchenhistoriker entscheiden.
Pater Leiber, dem Elisabeth Kawa ihre sorgfältigen Informationen über das Leben und Wirken Pius XII. verdankt, war Professor für Kirchengeschichte an der von Ignatius von Loyola gegründeten "Universitá Gregoriana". Bei dem Gespräch, das ich mit ihm in seinem Arbeitszimmer in Castel Gandolfo führte, ging es mir um die Frage, was der Vatikan zur Verbindung der ärztlichen mit der geistlichen Seelsorge in der Psychotherapie zu sagen habe. Ich praktizierte sie damals in der Zusammenarbeit mit dem Franziskaner-Pater Dr. theol., Dr. phil. und Diplompsychologen Rudolf Potempa, mit dem wir befreundet waren. Ich selbst sei „Protestant" also ein »Ketzer", und ein Patient, dem ich seelisch und geistlich zu helfen versuche, könne sich weder für die eine noch für die andere Konfession entscheiden. (Später ist er zum Katholizismus konvertiert). Pater Leiber meinte zunächst, ein aufrechter Protestant sei der Kirche lieber als ein lahmer Katholik. Als ich erwiderte, daß ich mich selbst keineswegs als einen gegen die römisch-katholische Kirche Protestierenden im Lutherischen Sinne verstehe, schon gar nicht als einen „aufrechten", erwiderte er - als toleranter Jesuit -, es komme auch nicht auf die konfessionelle Zugehörigkeit an, sondern auf die bestmögliche Hilfe für den Patienten. Ein gemeinsames Helfen des Psychotherapeuten und eines Geistlichen sei auch von Rom durchaus zu begrüßen. Ich fügte hinzu, der Arzt wie der Theologe müsse dabei aber die Grenzen seiner Kompetenz beachten. Der Arzt sollte nicht missionieren, der Priester nicht psychotherapieren! Pater Leiber erwähnte, der Papst habe sich bereits grundsätzlich zu dieser Frage geäußert, und zwar in einer Ansprache an die Teilnehmer des 5. Internationalen Kongresses für Psychotherapie und klinische Psychologie in Rom am 13. April 1953. Es ist eine seiner 37 Ansprachen zu „Grundfragen der ärztlichen Ethik" In diesem vom St. Lukas-Institut für ärztliche Anthropologie e.V. Münster (Westf.) Verlag Wort und Werk G.m.b.H. Köln herausgegebenen Text heißt es: nach einer Vorbemerkung, das Psychologische liege nicht außerhalb, sondern innerhalb des Ontologischen und Metaphysischen - , es sei nicht zu beanstanden, daß sich die Tiefenpsychologie auch mit religionspsychologischen Inhalten befasse, sie analysiere und in ein wissenschaftliches System zu bringen versuche ... Aber es werden der Klugheit

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und Zurückhaltung auf beiden Seiten bedürfen, um Mißverständnisse zu vermeiden und ein wechselseitiges Verstehen zu ermöglichen". Zum schwierigen Problem der psychotherapeutischen Aufarbeitung von Schuld sei zu fragen, ob wirkliche Schuld vorliege, die nicht behoben ist. Hier stehe die Psychotherapie vor einem Phänomen, das nicht zu ihrer ausschließlichen Zuständigkeit gehört. Weder die Psychologie noch die Ethik haben ein unfehlbares Kriterium für den Einzelfall, denn der Gewissensvorgang des Schuldigwerdens sein von einer zu stark persönlichen und feinen seelischen Struktur". Ein .wirkliches Schuldiggewordensein" könne durch keine nur psychologische Behandlung geheilt werden. Wenn auch der Psychotherapeut es vielleicht im besten Glauben in Abrede stellt, es besteht fort . ... „und es wäre Selbst- und Fremdtäuschung, wollte Psychotherapie, um das Schuldbewußtsein zu beheben, die Schuld als nicht mehr bestehend behaupten." „Der Weg, die Schuld zu beheben, liegt außerhalb des Reinpsychologischen. Er liegt, wie der Christ es weiß, in der Reue und in der sakramentalen Lossprechung durch den Priester."
Nun - es gab damals noch keinen Eugen Drewermann, den mehr noch gegen die römisch-katholische, weniger gegen die Lutherische Kirche rebellierenden Katholiken. Er hätte eingewandt, daß die Vergebung der Sünde durch die Hand des Priesters den unter Not der Sünden- oder Schuldangst Leidenden nur der Macht der Kirche ausliefere, die dem Menschen die Gnade Gottes neu zusprechen muß. Damit schaffe die Kirche, anstatt den Schuldig Gewordenen oder sich schuldig Fühlenden von seiner Angst zu befreien - Angst ist nun einmal das dynamische Zentrum der Neurose -, eine Sündenangst, mit der sie sich selbst unentbehrlich mache, .eine Moral der Unterdrückung als Herrschaftsinstrument". (In: Eugen Drewermann, Jürgen Jeziorowski, „Gespräche über die Angst", Gütersloh 1991. Ausführlicher auch in Drewermanns "Kleriker-Psychogramm eines Ideals", Walter Verlag Olten und Freiburg i.Br., 1989.)
Statt von "Sünde", meint Drewermann, sollte man von "Entfremdung" sprechen. Nur die Tiefenpsychologie (Freud, Jung) könne helfen, Entfremdung zu verstehen, therapeutisch zu verarbeiten und damit von Angst zu befreien. Wer auf diesem Wege versuche, sich selbst zu finden, der könne auch Gott finden. Jesus von Nazareth allein habe durch sein vorbehaltloses Vertrauen zu Gott, dem Vater, gezeigt, wie Angst überwunden und

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Erlösung von ihr erreicht werden kann. Soweit der immer noch katholische, aber sich zur Nähe Kierkegaards und Luthers bekennende Theologe und Psychotherapeut Drewermann.
Hingegen Pius XII.: Psychotherapie dürfe der materiellen Sünde nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen ... „Sie muß wissen, daß Gott jenes Tun nicht billigen kann. Noch weniger darf die Psychotherapie dem Kranken den Rat erteilen, das materiell Verkehrte ruhig weiter zu tun, weil er es ja ohne objektive Schuld tun wird, und dieser Rat ist auch dann abwegig, wenn solches Tun des Kranken für den Zweck des Heilverfahrens notwendig werden sollte. Es kann nie zu einem bewußten Tun geraten werden, das eine Entstellung, kein Bild der göttlichen Vollkommenheit wäre."
Es wird schwer, wenn nicht unmöglich sein, die Kluft zwischen diesem Diktum des Papstes und dem Postulat des „Häretikers" Drewermann durch ein Bemühen um Verständigung und Zusammenarbeit von ärztlich-psychotherapeutischer mit geistlicher Seelsorge zu überbrücken.
Die wahnhafte Schuldangst bei der - nicht neurotischen! - Krankheit Depression ist durch priesterliche Lossprechung ohnedies nicht erreichbar und kann weder von depressiver Suizidtendenz befreien noch - wie jeder Psychiater weiß - den Suizid selbst verhindern. Daß aber auch bei nicht eigentlich krankhafter, wenn auch seelischer Hilfe bedürftiger Schuldangst die "sakramentale Absolution" an unüberschreitbare Grenzen stoßen kann, habe ich an Menschen erlebt, die an einem weder theologisch noch psychotherapeutisch überwindbaren Konflikt gescheitert und zum Beispiel einem psychosomatisch ausgelösten Herzinfarkt erlegen sind.
Bei meinem Gespräch mit Pater Leiber erwähnte ich auch, daß ich in NeapeI am hellen Tage von sechs Jugendlichen überfallen und meiner goldenen Armbanduhr beraubt worden sei, und dies unter dem von einem Ewigen Lämpchen beleuchteten Muttergottesbild der Schutzheiligen der Stadt, der Madonna Piedegrotta, deren Antlitz sanft lächelnd dargestellt ist. Auf meine - naive - Frage, wie sich dieser Diebstahl mit dem Glauben der Neapolitaner an ihre Heilige Patronin vertrüge, sagte er: „Sehr gut! Denn die diebischen Paparazzi glauben, die Muttergottes möchte, daß der Reiche dem Armen etwas abgeben sollte. Wenn er das nicht von selbst tue, müsse ihm ein wenig nachgeholfen werden. Das sei kein Überfall oder Diebstahl, sondern eine gute Tat : Sie ver

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helfe dem `Beraubten' zu einem günstigen Plätzchen im Himmel. Daher das Lächeln der Madonna!" (Der Beichtvater des Papstes lächelte selbst zu dieser mich völlig überzeugenden Deutung). Im übrigen müsse man bedenken, fuhr er fort, daß das einfache Volk in Neapel bitterarm, teilweise in sozialem Elend lebend, geradezu auf Bettelei und kleinere oder größere Beraubungen angewiesen sei. Ein großer Teil dieses Volkes habe sich aus einem Gemisch von Griechen, Afrikanern und anderen Völkerschaften entwickelt und sei im Grunde noch heidnisch, mit einem christlichen Firnis überzogen, geblieben.
Wir hatten den Diebstahl noch am selben Abend der Polizei gemeldet - vergeblich natürlich. In einem düsteren, über eine hohe, schmale Treppe erreichbaren Regional-Revier wurden wir von einem der mit Pistolen- und Patronengürteln bewaffneten Polizisten einem strengen Verhör unterzogen, als ob wir die Übeltäter seien. Man wollte Namen und Geburtsdaten meiner Eltern und Großeltern wissen! Schließlich verwies man uns zum Polizeipräsidium, das wir am nächsten Tage aufsuchten. Dort legte man uns das Verbrecheralbum von Neapel vor - angsttraumerregende Visagen - mit der Frage, ob wir einen der jungen Leute wiedererkennen könnten. Wir konnten es nicht! Das war auch nicht zu erwarten, denn die dortige Polizei schützt die kleinen Knackis", wenn sie nicht sogar mit ihnen zusammenarbeitet.
Als ich auf der Rückfahrt von Castel Gandolfo mit einem Einheimischen ins Gespräch kam und ihm nicht nur von Pater Leiber , sondern auch von dem Überfall in Neapel erzählte, war er empört: Er fühlte sich als stolzer Römer in seiner Ehre getroffen und lud mich zu einer Pizza mit Wein ein, um das, was man einem Gast seines Landes angetan hatte, wieder gut zumachen. Ich konnte diese noble Geste nicht ausschlagen und erlebte so die andere, liebenswertere Seite des Italieners.
Hans von HüIsen, Schriftsteller, Gerhart Hauptmanns Freund und Privatsekretär, dem ich die Vermittlung des Gespräches mit Pater Leiber verdankte, hatte mich in seiner Wohnung empfangen. Er lebte nach dem Tode des Dichters in Rom und hat hier 1959 seinen vorzüglichen von Josef Rast gestalteten und bebilderten „Führer durch die Ewige Stadt" veröffentlicht (im Walter Verlag Olten und Freiburg i. Br.), dem er Goethes Wort voranstellt: „Wie man sagt, daß einer nicht wieder froh wird, der ein Gespenst gese

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hen hat, so möchte ich sagen, daß einer, der Italien, besonders Rom, recht gesehen hat, nie ganz in seinem Gemüte unglücklich werden kann."
Ich bedankte mich bei Herrn von HüIsen mit einem soeben, 1955, erschienenen Büchlein von Bruno SneII „Neun Tage Latein" (Vandenhock und Ruprecht, Göttingen), geist- und humorvollen Rundfunk-„Plaudereien" des berühmten Altphilologen. Herr von HüIsen, eine schwarze römische Katze auf dem Schoß, nahm es, anscheinend wenig entzückt, in die Hand mit den Worten: „Nun soll ich auch noch Latein lernen?" Ich hoffe, er hat bei der Lektüre gesehen, daß der Leser nicht „belehrt" werden soll, sondern weicher Genuß es ist, sich auf anmutig-heitere, gleichsam spielerische Weise den Geist des Lateinischen an Beispielen wie Ovid, CatuII, VergiI nahebringen zu lassen. In Cicero, dem „Begründer des römischen Humanismus", sieht SneII, wie dessen „Briefe" zeigen, „einen der witzigsten Menschen Roms". Da man - mit RingeInatz - in einem Geschenk „sich selber schenken" soll, entspricht es ganz meinem eigenen Sinn, wenn SneII von unseren Schulen fordert, sie sollten in ihrem Unterricht alles Grämliche, Pedantische und Trocken-Feierliche möglichst zum Teufel jagen". SchiIIers Satz: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", diesen eminent humanistischen Satz", habe auch ich einmal als einen der Grundgedanken meiner Auffassung von psychiatrischer Beschäftigungstherapie zitiert.
Ein Kistchen kostbarer Havanas, die ich dem Zigarrenraucher von HüIsen zugedacht hatte, war mir aus dem in der Städtischen Garage in Amalfi abgestellten, verschlossenen Volkswagen gestohlen worden. Nun mußte er sich mit „Neun Tage Latein" begnügen. Die Begegnung mit Hans von HüIsen war mir durch eine Empfehlung Professor KIucks ermöglicht worden, des damaligen Dezernenten für das Psychiatrische Krankenhauswesen beim Niedersächsischen Sozialministerium, eines interessanten, hochgebildeten Mannes, der in den Dreißiger Jahren emigriert war und, politisch (sozialdemokratisch) engagiert, in Brasilien eine deutsche Kolonialstadt, nach seiner Heimatstadt "Novo-Danzig" genannt, gegründet hatte.
Bevor ich mich jetzt - ohne die großen Sehens- und Erlebenswürdigkeiten (Sixtinische Kapelle, Vatikanische Museen, Engelsburg, Forum Romanum, Katakomben, die Renaissance- und Barockbrunnen, usw.) wenigsten andeuten zu können - von Rom verabschiede - wir waren nach 1955 noch viermal in der

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„Ewigen Stadt" - will ich doch drei kunsthistorisch bedeutungslose, aber aus anderen Gründen bemerkenswerte Stätten erwähnen: Das Haus rechts am Fuße der Spanischen Treppe, in dem John Keats, der (mit Unrecht) so genannte „englische Hölderlin", gestorben ist, und Dr. Axel Munthe, der Arzt von San Michele auf Capri, seine Praxis ausgeübt hat. Keats hatte vom südlichen Klima Besserung seiner Lungen-Tuberkulose erhofft und ist ihr, 26 Jahre jung, schon ein Jahr nach seiner Ankunft erlegen. Sein Grabstein auf dem Protestantischen Friedhof trägt nach dem Willen des Sterbenden ohne Namensnennung die Worte: "Here lies one whose name was writ in water". Links von der Spanischen Treppe - in der Mitte das sinkende - Schiff, die „Barcaccia" - sehen wir den nicht minder berühmten Teesalon des Fräulein Babington. Die unverheiratet gebliebene Engländerin hatte mit ihrer Freundin Isabel CargiII im Jahre 1894, eine Marktlücke" geschickt nutzend, im Herzen der englischen Kolonie Roms eine Teestube eingerichtet, die sich heute noch großer Beliebtheit erfreut und auch von uns gerne aufgesucht wurde. Die beiden Damen - Miss CargiII heiratete später den Maler Professor Pozzo - waren historisch verbunden durch zwei ihrer Vorfahren, die hingerichtet worden sind: Der katholische Anthony Babington 1586 als Anführer einer Verschwörung gegen Königin Elisabeth , der protestantische Donald CargiII 1681, weil er als presbyterianischer Wanderprediger König Karl II. des Verrates, der Tyrannei und der Ausschweifung beschuldigt hatte. Als wir in Rom waren, wurde der Teesalon von Signora da Pozzos Tochter, der Contessa Dorotea Bedini, geleitet. Miss Babington hatte sich, wie Morton erzählt, hochbetagt und fast erblindet, vom Geschäft zurückgezogen, um forthin in der Schweiz zu leben.
In der Via Condotti haben wir natürlich auch das weit ältere Café Greco besucht, an dessen kleinen Marmortischen Byron, Liszt , Wagner, angeblich auch schon Goethe gesessen haben.
Auf den Spuren von John Keats sind wir auch zu den anderen Grabstätten auf dem Protestantischen Friedhof an der Cestius-Pyramide „gepilgert". Shelleys Urne ist dort beigesetzt. Waiblinger , Hölderlins genialischer Zeitgenosse und Pathograph; das Enfant terrible" der schwäbischen Dichterfamilie, wie Pierre Bertaux ihn nannte, ruht hier, ebenfalls mit 26 Jahren nach mehreren Blutstürzen und "Lungenentzündungen", also wahr

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scheinlich auch an Lungen-Tuberkulose, in Rom gestorben. „Die Gräber im älteren Teil sind ohne Einfriedung und liegen regellos im hohen Gras zerstreut, als seien die Toten eilig verscharrt worden",schreibt Joachim Fest in "Römische Fragmente" (FAZ, 10. September 1988, Nr. 211). Hans von Marees, die Humboldt -Kinder, Henriette Hertz und Goethes Sohn August sind hier begraben. Er starb wenige Tage nach seiner Ankunft in Rom, zwei Jahre vor dem Tod des Vaters. Auf seinem Grabmal stehen die kargen Worte: „Goethe filius. Patri Antevertens" obiit, "... dem Vater vorausgehend". Als dieser die Nachricht vom Tode des Sohnes empfing, habe er nur gesagt: „Non ignoravi me mortalem genuisse" - .ich habe nicht geleugnet, einen Sterblichen gezeugt zu haben."
Es ist schwer, von R o m Abschied nehmen zu müssen. Vieles, und doch nur einen Ausschnitt dieser einzigartigen Stadt haben wir uns spazierengehend erschlossen, immer noch Neues entdeckend. Als Ferdinand G r e g o r o v i u s , der aus unserem ostpreußischen Neidenburg stammende berühmte Verfasser der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" und ihr Ehrenbürger, von einer Dame etwas naiv gefragt wurde, ob er Rom denn wirklich kenne, antwortete er: „Wie soll ich mir das anmaßen? Ich lebe doch erst 15 Jahre hier!"
Wenn ich an Rom zurückdenke, bewegt mich heute noch ein ähnliches Gefühl, wie Werner Bergengruen es in seinem schönen „Römischen Erinnerungsbuch" (Herderbücherei, 3. Aufl. 1979) ausgedrückt hat: "Ich möchte jedem, der nach Rom kommt, wer er auch sei, etwas von pilgerhafter Demut, Ehrfurcht und Erschütterbarkeit des Herzen wünschen, wie die großen Romfahrer aller Zeiten sie empfunden haben: Petrarca, Winckelmann, Goethe, die Nazarener, v. Platen, Feuerbach, Marèes, Conrad Ferdinand Meyer ..." „... Deutlicher als an jedem anderen Ort spürst du in Rom, daß etwas vom Pilger in uns allen steckt. Möchtest du auch spüren, daß jedem Pilger die Heimkehr verheißen ist."
Nun - die Münzen, die wir, einem alten Brauch folgend, in die Fontana di Trevi (mit dem Rücken zum Wasser, über die linke Schulter!) geworfen hatten, vermochten die verheißene „Heimkehr" nach Rom nur in Gedanken und Wünschen, nicht in Wirklichkeit, zu erreichen. Bergengruen hat unter „Heimkehr" aber wahrscheinlich nichts Diesseitiges, sondern etwas Transzendentes verstanden.

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Florenz
 

Was schreibt Goethe in der. „Italienischen Reise"? „Den 25. Oktober (1786), abends" : Den 23. früh, unserer Uhr um zehne, kamen wir aus den Apenninen hervor und sahen Florenz liegen, in einem weiten Tal, das unglaublich bebaut und ins Unendliche mit Villen und Häusern besät ist. Die Stadt hatte ich eiligst durchlaufen, den Dom, das Baptisterium. Hier tut sich wieder eine ganz neue, mir unbekannte Welt auf, an der ich nicht verweilen will. Der Garten Boboli liegt köstlich. Ich eilte so schnell heraus wie hinein..."
Er konnte nicht schnell genug nach Rom kommen. Kein weiteres Wort findet er für den Reichtum dieser einzigartigen Renaissance-Stadt an bildnerischen und architektonischen Kunstschätzen. Rom war für ihn dien Hauptstadt der Welt". Nach Rom zog es ihn wie mit reiner Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte". Mit Florenz wollte er keine Zeit für die „Heilung von dieser Art Krankheit" verlieren.
Wir hingegen hatten Rom schon hinter uns und nahmen uns Zeit, um das, was Goethe sich entgehen ließ, in Ruhe zu genießen: San Lorenzo mit der Mediceer-Kapelle und den Michelangelo-Monumenten für die Herzöge Giuliano von Nemours und Lorenzo von Urbino, die Palazzi Pitti, Strozzi, Vecchio (in dessen Vorhof die entzückende Brunnenfigur des Knaben mit dem Delphin von Verrochio steht - sie erfreut uns heute noch als Bronzekopie in unserem Garten, leider nicht mehr als Springbrünnlein -, die Uffizien natürlich, das Kloster von San Marco mit den Fresken F r a A n g e I i c o , die meinem Herzen besonders nahe sind, der David, das im doppelten Sinne kolossale Wunderwerk des jungen Michelangelo, nicht zuletzt seine späten Torsi (Die „Gefangenen") in der Galerie der Academia. Sie haben mich auf eigenartige Weise ergriffen und ergreifen mich immer wieder, weil sie den bedeutsamen Unterschied zwischen den Begriffen „Torso" und „Fragment" zum Ausdruck bringen. Nach meinem Verständnis ist der Torso (ein italienisches Wort: Rumpf) die Idee einer nicht ausgeformten Gestalt, das Fragment eine ausgeformt gewesene, zerfallene Gestalt. „Seit Rodin wurden von vielen Bildhauern (Lehmbruck u.a. ) als Torsi gestaltete Werke geschaffen", heißt es im Brockhaus. Mit dieser Definition werden die „Gefangenen" Michelangelos wie auch der kopflose „Belvedere" im Vatikan als Torsi bezeichnet. Aber der

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Belvedere hatte ja wohl einmal einen Kopf, ist also eine ganze Gestalt gewesen, die „Gefangenen" jedoch haben noch keine ausgeformte Gestalt angenommen, sie sind die „Idee" einer Gestalt geblieben. Der Torso ist und bleibt etwas „Werdendes", das Fragment etwas „Gewordenes", der Torso ist ein Entwurf, das Fragment ein Bruch-Stück. Ich weiß nicht, ob meine Definitionen von Kunsthistorikern für richtig gehalten werden. Hans Mackowski hat in seinem wunderbaren „Michelangelo"-Buch am Beispiel der „Gefangenen" Michelangelos Marmorarbeit mit Hammer und Spitzeisen geschildert und den „fragmentarischen Zustand" der halb zugehauenen Blöcke als des Meisters ungetrübte Absicht" bezeichnet. Gerade die bloße Andeutung des Physiognomischen übe den „Zauber genialer Improvisationen aus", für den uns erst eine spätere Kunst empfänglich gemacht habe.
Ich neige daher dazu, auch das, was im literarischen Bereich als ,Fragment" bezeichnet zu werden pflegt, etwa die Aphorismen des NovaIis oder die „Römischen Fragmente" Joachim Fests , eher „Torsi" zu nennen. Sie sind nichts Fertiges, Abgeschlossenes, sondern eben Entwürfe, Versuche. Michelangelos abgeschlossene Werke, die Pieta in St. Peter, der David in Florenz, beglücken mich, seine unvollendeten, die Torsi, ergreifen mich.
Warum ist das so? Ich sähe in dem Unterschied zwischen „Torso" und ,Fragment" tiefere Gründe: Fragen bedeutet mir mehr als Antworten, Suchen mehr als Finden, Werdendes mehr als Gewordenes, Sehnsucht mehr als Erfüllung. Es ist die innere Spannung, die Unruhe des Erwartens, die allem Unerfüllten, Unabgeschlossenen einen eigentümlichen Reiz verleiht. Vielleicht ist es im Grunde das Im-perfectum des Lebens, das mich vor dem Per-fectum des Todes zurückschrecken und an das Leben klammerte läßt? Ist es die Unruhe des Herzens, die noch nicht zur Ruhe in Gott kommen will? „Unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir", dieses schöne Wort des Augustinus haben wir auf unser Grabkreuz schreiben lassen.
Die Unruhe des Herzens und des Geistes, die Unzufriedenheit mit dem Fertigen, Abgeschlossenen hat auch - wenn ich auf Florenz zurückspringe - Michelangelo nie verlassen. „Von keinem seiner Werke befriedigt, empfand er sich oft als einen infelice", sagt Mackowski. Unter seinen Gedicht-„fragmenten", richtiger „Torsi", findet sich die erschütternde Klage: „Wer ist vollendet, sagt, Wer in der Kunst, im Leben Vor seiner letzten Stunde?" Das Ungenügen

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de und zugleich Vorwärtstreibende spricht auch aus den Aphorismen Nietzsches, deren blitzartiges, sprunghaftes Aufleuchten das Denken des Lesers wach und straff hält und vor Ermüdung und Erschlaffung fertiger Antworten bewahrt. Das Chaotische dieser Gedankenblitze und -spränge Nietzsches, des Propheten und Märtyrers des abendländischen Nihilismus, entspricht dem chaotischen Beben der Krisis unserer Epoche. Wir leben in einem chaotischen Übergang von den Fragmenten vergangener zu den Torsi kommender Epochen.
Zurück zu Florenz: Über den bildnerischen Werken Michelangelos, den Skulpturen und Malereien, sollten wir sein dichterisches Schaffen nicht vergessen: Die Sonette! Seine Gedichte sind erst lange nach seinem Tode, 1623, von einem Großneffen herausgegeben und in ihrer ursprünglichen Gestalt erst 1863 der Nachwelt überliefert worden. Edwin Redslob (Vater der Frau Constanze meines lieben Kollegen Helmut SeIbach, zu früh verstorbener Psychiatrie-Ordinarius in Berlin) hat die Gedichte - wie vor ihm Rilke und KommereII - sinngetreu und formschön übertragen, ausgewählt und mit Zeichnungen des Meisters 1943 - mitten im Kriege - im Verlag von Eduard Stichnote Potsdam herausgegeben. Ein wesentlicher Teil der Gedichte Michelangelos richtet sich an Tommaso CavaIieri, den schönen, edelgeborenen und feingebildeten Jüngling, um dessen Freundschaft der gealterte Meister sich wie ein Liebender bemüht hat, und an die Marchesa Vittoria CoIonna, jene zu ihrer Zeit bedeutendste, einem der ältesten römischen Adelsgeschlechter entstammende Frau Italiens, mit der ihn eine in größter gegenseitiger Achtung bekundete, von geistiger und religiöser Übereinstimmung geprägte Freundschaft verband. Vittoria, die als Witwe des im Kriege gefallenen Marchese die Pescara das Leben einer Nonne führte, war für ihren Bewunderer das Idealbild einer Frau. Sie glaubte in ihrem demütigen Herzen fest an Gottes Gnade, „der Euch durch sie als einzigen Meister geschaffen", erschütterte ihn aber auch in dem Glauben an die Fortdauer seines Künstlerruhms und lehrte ihn, allen Ruhm zu den Nichtigkeiten der Welt zu zählen. Michelangelos Gedichte an diese beiden Menschen, die seinem Herzen von allen seinen Freunden am nächsten gestanden haben, "sind die ganz natürlichen Ergüsse einer einsamen Natur, die sich in Selbstgesprächen von ihrer inneren Last befreit..." ... "Zugleich aber bewahren diese Bekenntnisse durch die poetische

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Form ... noch einen letzten Schleier zartester Schamhaftigkeit, den ganz zu lüften nur einer wahlverwandten Natur gelingen dürfte." . „Den mannigfachsten Deutungen zugänglich, stehen sie in ihrer oft rauhen Größe unserem modernen Empfinden besonders fern" ... „Um so höher schätzen wir sie als Merkmale einer geistigen Entwicklung, die der künstlerischen parallel geht." Die Anregung, sich dichterisch zu betätigen, so schreibt Mackowski weiter, habe Michelangelo „in jenem literarisch produktiven Kreise" empfangen, dessen Haupt Lorenzo de Medici selbst war. Bei ihm, dem "Magnifico", beginne bereits die geistige Vorstellung vom Wesen und der Macht der LIEBE, „wie sie in großartiger Einseitigkeit bei Michelangelo erscheint".
Eines der von RedsIob ausgewählten Gedichte ist an Dante gerichtet: „...von DANTE künd ich, wie er, auserkoren, Dennoch als Feind von seinem Volk verkannt, Weil es nicht Ehrfurcht für das Hohe hat. Wär ich gleich ihm, zu solchem Werk geboren Und würde ich dafür, gleich ihm, verbannt: Ich gäb die Welt für seines Ruhmes Blatt!"
Dante steht am Beginn, Michelangelo am Ausgange der Renaissance. Beide sind durch ihre Geistesverwandtschaft und durch ihre gemeinsame Vaterstadt miteinander verbunden: Dante wurde aus ihr verbannt und ging nach Ravenna, Michelangelo verließ sie freiwillig und ging nach Rom. Die Sehnsucht nach ihrer schmerzlich geliebten Heimatstadt hat sie nie verlassen. Beide haben der Nachwelt unsterbliche Werke hinterlassen. Mit Florenz verknüpfen sich noch fünf weitere große Namen: Giovanni Boccaccio, Lorenzo il Magnifico, Amerigo Vespucci, Girolamo Savonarola und Niccolo Machiavelli.

 

Ponte Vecchio und der Arno

 

Ponte Vecchio, die älteste, aus der Römerzeit stammende Brücke über die schmalste Stelle des Arno - Dante hat den Fluß in seiner „Divina Comedia" neunmal erwähnt: fünfmal in der Hölle, dreimal im Fegefeuer und nur einmal im Paradies - (Die Neun war für ihn eine „heilige Zahl", da er sich mit neun Jahren verliebt hatte!). Der Arno galt ihm als der schöne Fluß, aber auch als "maladetta e sventurata fossa", „elender, verfluchter Wassergraben", weil er ihn mit seiner eigenen Schuld, seinem Unglück und der Schlechtigkeit der Florentiner in Ver

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bindung brachte. So erzählt es Carlo Betocchi, Professor für Literatur an der Universität Florenz im „Merian" 1956. Seit Cosimo I. von Medici, also in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wurden die ursprünglichen Läden auf der Brücke ganz den Goldschmieden überlassen, und so ist der Ponte Vecchio bis heute die Brücke der Goldschmiede geblieben. Wir haben dort eine schöne, in Gold gefaßte Aquamarin-Brosche erstanden, die Antonia und mich immer noch entzückt. Als wir, von Rom zurückkehrend, am Arno entlang uns Florenz näherten, fragte ich Antonia so nebenbei, ob sie vielleicht wüßte, wie dieser Fluß heiße. Sie wußte es nicht. Ich versuchte ihr zu helfen, indem ich sie an die Vornamen unserer Freunde, der Brüder Erich und Arno Krause, erinnerte. Antonia, erleichtert: „Jetzt weiß ich, der Fluß heißt - Erich!"
So, mit einem lachenden und mit einem wehmütigen Auge, nehme ich Abschied von Florenz, ohne den Lobpreisungen seiner großen Bewunderer etwas hinzufügen zu können: Johann Gottfried Herders, Jacob Burckhardts, Rainer Maria Rilkes, auch unserer Königsbergerin Agnes MiegeI, nicht zuletzt Hugo von Hofmannsthals, der in einem Brief an seinen Vater schrieb (1898): „Die Tage und Abende in Florenz sind in einer gewissen Weise das Schönste, was ich je erlebt habe..." Neben dieser Stadt und ihrer Landschaft erscheine Venedig „wie eine Operndekoration" (!).

 

Venedig

 

„So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786, den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmals, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik, betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstigt hat..." das schreibt Goethe in der ,Italienischen Reise" (die mir zur Einsegnung am 9. April 1922 in einer besonders schönen, ledergebundenen, mit Zeichnungen und Bildnissen Goethes bereicherten Ausgabe im Insel-Verlag zu Leipzig 1913 von meinem und meiner Eltern Freund Werner Kreth, späterem Domvikar und Domorganisten in Frauenburg, geschenkt worden ist). „Von Venedig ist schon viel erzählt und

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gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will; ich sage nur, wie es mir entgegenkommt..." heißt es weiter in der „Italienischen Reise". So halte ich es auch, und deshalb will ich nur von der letzten unserer fünf Reisen nach der „wunderbaren Inselstadt" erzählen: Ich war wieder einmal der Einladung zu einer österreichisch-italienischdeutschen Psychiater- und Neurologentagung gefolgt, alles war vorbereitet, das Taxi, das uns zum Bahnhof Hannover bringen sollte, stand bereits vor unserem Hause. Aber Antonia fühlte sich plötzlich so erschöpft und kreislaufgeschwächt, daß sie glaubte, der Fahrt nicht gewachsen zu sein. Als ich dem Taxichauffeur sagte, meine Frau sei soeben leider erkrankt, und wir bedauerten, auf seine Dienste verzichten zu müssen, erschien im letzten Augenblick unser Annchen und verkündete: „Se fährt doch!" Zuvor hatte Juliane, unsere Arztnichte, gemeint, wir könnten wenigstens zunächst bis München fahren und dann weitersehen, ob wir es bis Venedig schaffen würden. Wir befolgten diesen Rat, und als wir abends durch die Straßen Münchens unserer geliebten „Hauptstadt mit Herz", schritten, ging es Antonia bereits so viel besser, daß die Weiterreise nach Venedig keine Risiko mehr bedeutete. So saßen wir am nächsten Abend glücklich im Café Florian am Markusplatz bei Mondschein und einem Fläschchen "Valpolicella" und unterhielten uns so lebhaft, als ob wir uns seit langem nicht gesehen hätten. Ich hatte den Arm um Antonias Schulter gelegt, und wir müssen wohl ein nicht ganz alltägliches Bild abgegeben haben. Denn zwei Japaner richteten ihre Kameras auf uns und fragten höflich, ob wir ein Photo erlauben würden. Wir stimmten gerne zu, und so wird das Bild eines alten, milden deutschen Ehepaares - Philemon und Baucis - auf dem Markusplatz, dem „Salon Europas", wie Napoleon ihn nannte, in Tokio oder Yokohama zu sehen sein.
Weniger glücklich waren wir mit unserem Hotel „Monaco Gran Canal", das „Mafioso"-Methoden an uns zu praktizieren versuchte, obwohl es sich des Renommés eines offiziellen Hotels des Ärztekongresses erfreuen durfte.
Für uns war Venedig ein immer wieder neues Fest für das Auge. „Die Zeit ist hin, doch weilt noch Schönheit hier. Staaten vergehn, die Kunst sinkt in Verfall, Nur die Natur ist ewig, und vor ihr Ist noch Venedig für die Völker all Der Tummelplatz der Lust, Italiens Carneval." So hat Lord Byron in "Child Harolds Pilgrimage" die „Serenissima" besungen.. Noch „weilt Schönheit hier", aber zuviel Schönheit ist tödlich, dem Verfall preisgegeben. Jedesmal, wenn wir in

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Venedig waren, schienen die Fassaden der Paläste noch etwas mehr abgebröckelt zu sein. Erst vor kurzem, Ende 1994, hat der Bürgermeister, wahrscheinlich vergeblich, einen Hilferuf an den italienischen Ministerpräsidenten gerichtet: Mindestens 260 Millionen DM seien nötig, um die Kulturgüter Venedigs vor dem endgültigen Verfall zu retten.

Lord Byrons Leben und Wirken verbindet sich in besonderer Weise mit dem armenischen Mechitaristen-Kloster auf San Lazzaro, der ehemaligen "Insel der Aussätzigen". Wir haben sie besucht und in lebendiger Erinnerung behalten. Die Mechitaristen wurden zusammen mit ihrem Stifter Mechitar, dem "Tröster", 1717 von den Türken aus Griechenland vertrieben und fanden auf San Lazzaro ein Asyl. Sie haben ihr Kloster zu einer der drei Hauptstätten der armenischen Kultur und Religion entwickelt (die anderen sind Wien und Ethmiadsin in der ehemals sowjetischen Armenischen Republik). Die Mönche auf San Lazzaro widmen ihr Leben der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit. Sie haben auf der Insel eine Kunst-Buchdruckerei errichtet, die Werke in fast 40 Sprachen herstellt!. Ihre Bibliothek umfaßt etwa 50 000 Bände und enthält eine große Zahl kostbarster Handschriften. Es ist ihr Verdienst, zwei Schulen und eine Akademie für armenische Literatur geschaffen zu haben. Lord Byron besuchte das Kloster im Winter 1816-17 vier Monate lang dreimal wöchentlich, um die armenische Sprache, "etwas Unebenes", zu erlernen. Ungeachtet seines nicht unbedingt christlichen Lebenswandels - eine seiner venezianischen Geliebten soll sich im Canal Grande ertränkt haben -, wurde er von den immer zur Vergebung bereiten Mechitaristen-Mönchen liebevoll und mit aller Hochachtung vor dem berühmten Dichter aufgenommen. Ein Gemälde zeigt ihn, in lässiger Anmut sich räkelnd, vor der Terrasse des Klosters, bedient von ehrwürdigen, aber respektvollen Mönchen, mit einem großen, zu seinen Füßen lagernden Hund. Byrons Landsmann James Morris erzählt in seinem anmutig-geistvoll dahinplaudernden Venedig-Buch (Piper Verlag München 1960), daß die Mönche auf San Lazzaro zum hundertsten Geburtstag des Dichters einen heute vergessenen Verseschreiber, Charles CammeII, gebeten hätten, einige Verse zu schreiben, die ins Armenische übersetzt werden sollten. Er ließ sein Gedicht mit den Zeilen enden: "Birgt England seinen Leichnam, Griechenland sein Herz, Bewahrt gewiß von seiner Seele Ihr ein Stück, Vielleicht das (493) höchste, denn bei Euch ließ er zurück Die Freundschaft und den Frieden, nicht den Schmerz."

"Bestimmt werden die Armenier von San Lazzaro Lord Byron so bald nicht vergessen", meint Morris.

Für Morris hat "die Verlockung Venedigs nichts mit Kunst und Architektur zu tun". Sie habe "etwas merkwürdig Sinnliches, wenn nicht richtigehend Sexuelles"! Ein Franzose des 19. Jahrhunderts habe gesagt, "Venedig umfange den Gast mit einem Charme so zart wie der Charme einer Frau". Andere Städte haben Bewunderer. Venedig allein hat "Liebhaber". Wenn auch die Verliebtheit in den Charme Venedigs durch die hochsommerlichen Düfte, die den Kanälen entströmen, gedämpft werden mag, so bleibt doch unberührt davon, was Elizabeth Barrett-Browning geschrieben hat: "Es gibt kein zweites Venedig auf der Welt." Sie meint damit das Hingerissensein an diese Stadt, "dem nichts gleiche, an das nichts herankomme".

Der Preis, der für die liebenswerte Schönheit Venedigs - wie für alles Schöne in der Welt - gezahlt werden muß, ist das venezianische Abwässersystem, das "gewöhnlich aus Röhren besteht, die aus den Häusern direkt in die Kanäle führen". Es sind die Ansammlungen von Abfall und Unrat in den Gewässern, es sind die "nur rudimentären Vorstellungen des Venezianers von Hygiene", die Herrn Baedeker eindringlich vor dem Genuß venezianischer Austern warnen läßt! Aber an die Austern denkt man nicht gerne, und man vergißt auch leicht, auf den Markusplatz schlendernd, daß der herrliche Campanile einmal eingestürzt ist, genau am 14. Juli 1902, 5 Minuten vor 10 Uhr morgens. Man hatte den Zusammenbruch dieses alten, schönen Wahrzeichens Venedigs vorausgesehen und, um eine Erschütterung des "Bauwerks zu vermeiden, die mittäglichen Salutschüsse verboten und sogar die Kapellen nicht mehr spielen lassen. Als der Turm dann leise zu erzittern begann und fast lautlos, ohne einen Menschen zu verletzen, in sich zusammenstürzte, hieß es: ,,11 Campanile e'stato galantuomo!"- "der Campanile hat sich als Edelmann erwiesen!" Nur eine Katze mußte dran glauben: Sie war zwar aus der Turmwächterwohnung in Sicherheit gebracht worden, hatte sich aber, um ihr Mahl zu beenden, wieder hineingeschlichen. Der Wetterhahn-Engel stürzte, wie Morris erzählt, auf die Piazza hinunter und blieb vor dem Tor der Basilika liegen, was man als wundersames Omen dafür ansah, daß der großen Kirche nichts geschehen würde. 10 Jahre (494) später, genau ein Jahrtausend nach der Grundsteinlegung des alten Campanile, fand die Einweihung des neu erbauten Turmes statt, dem alten fast genau gleich, jedoch mit modernisierter Struktur, 600 Tonnen leichter und durch tausend zusätzliche Pfähle im Fundament gefestigt.

Wenn man auf dem Markusplatz im Cafe Florian oder Quadri sitzt und die Augen an dem hohen, schlanken, eleganten Campanile emporgleiten läßt, ist man glücklich über seine Wiederauferstehung. Der Blick schweift zwischen den vorbeiflanierenden Menschen und den flatternden Tauben in wohltuender Muße hin und her und das Ohr lauscht der nicht immer harmonisch zusammenklingenden Musik der beiden Cafe-Kapellen, in die sich bisweilen noch eine dritte einmischt. Einmal bot sich uns dort ein ungewöhnliches Bild: Ein französisches Kriegsschiff hatte auf der Lagune Anker geworfen, und eine große Schar junger Matrosen strömte auf die Piazza: Blaue, kurze Jacken, blau-weiß-gestreifte Hemden, weiße Tellermützen mit einem roten Pompon obendrauf und einem venezianischen Mädchen im Arm. Dieses buntbelebte Bild ermunterte uns, der Einladung zu einem Besuch des Panzerkreuzers der "Grande Nation" zu folgen. Ehe wir uns versahen, wurden wir auch schon in ein Motorboot gehoben, das uns zu dem Kriegsschiff brachte und an dessen hoher Bordwand absetzte. Sodann mußten wir ein schwankendes Fallreep erklettern, bis uns hoch oben hilfreiche Matrosenhände ergriffen und Antonias Kletterängste vorübergehend beendeten. Indessen verschwand ich rasch im Bauche des riesigen Schiffes, um - als Enkel eines Kapitäns, Schiffseigners und Reedereibesitzers natürlich hochinteressiert - die Maschinenräume, Kojen, Offiziersmessen und sonstigen Innereien zu besichtigen. Die arme Antonia wartete, allein gelassen, unruhig an Deck, den in unverständlich schnellem Französisch auf sie einredenden Erklärungsversuchen der Besatzungsmitglieder preisgegeben. Das Schlimmste aber kam noch: Der lange Abstieg auf dem schwankenden Fallreep hoch über dem Wasser. Sie dachte, ihr Ende sei gekommen. "Nie wieder!", war ihr Resumee, als wir endlich wieder auf dem geliebten Markusplatz saßen und einen erlösenden "Valpolicella" schlürfen konnten.

Das, was für Hofmannsthal eine" Operndekoration" bedeutete, war Venedig für Nietzsche ein "Synonym für Musik". Ich weiß nicht, ob er damit die "Musikalität" der Schönheit oder die musikalische Tradition der Stadt oder beides gemeint haben könnte. Im 18. Jahrhundert war Venedig eine berühmte (495) Musikstadt. Antonio Vivaldi wirkte hier als Geigenlehrer, Chordirigent und Komponist im Mädchen-Waisenhaus Ospedale della Pieta. Er war der "Prete rosso", der rothaarige Priester, der es fertigbrachte, von der Zelebration einer Messe wegzulaufen, um die Noten einer plötzlichen musikalischen Inspiration aufzuzeichnen. Igor Strawinskis böses Wort, Vivaldi habe dasselbe Konzert 600 mal komponiert, darf inzwischen durch die neuere Vivaldi-Renaissance wohl als endgültig widerlegt gelten. Schon Goethes Vater Kaspar hatte zu Lebzeiten Vivaldi eine der erstaunlichsten Einrichtungen im damaligen Musikleben bewundert: Den Chor der hinter den Gittern des Hospitals singenden Waisenmädchen. Sein Sohn Johann Wolfgang pries die "herrlichen Stimmen" der Mädchen, die aus den "Nachtigallenkäfigen" der Kirche Mendicanti (Bettler) ertönten. Die vier Waisenhäuser Venedigs waren die Vorläufer öffentlicher Musikschulen und trugen der Stadt neben Neapel den Ruf eines' "Konservatoriums Europas" ein.

Im 19. Jahrhundert wurde das "Gran Teatro La Fenice" zu einem der bedeutendsten Opernhäuser der Musikgeschichte und zur Hochburg des Bel Canto. Seinen symbolischen Namen "Phönix" verdankte es dem Umstand, daß es anstelle des zuvor abgebrannten schönsten Opernhauses Venedigs San Benedetto als noch schöneres, größeres' und luxuriöseres Theater erbaut und 1792 eingeweiht wurde. Es brannte zwar wieder ab und war ständig vom Hochwasser bedroht. Aber davon unberührt blieb sein Ruf als "musikalische Nachlaßverwalterin der Republik Venedig". Viele italienische Komponisten haben ihren europäischen Rang dem Fenice zu verdanken: Rossini, Bellini, Donizetti. Guiseppe Verdi hat hier alle fünf seiner Opern aufführen lassen - La Traviata war allerdings bei der Uraufführung durchgefallen. Dann betrat sein Antipode Richard Wagner die Venezianische Szene: 1873 wurde "Rienzi", 1881 "Lohengrin" im Fenice aufgeführt und kurz nach dem "musikdramatisch inszenierten" Tode des Meisters im Palazzo Vendramin ist zum ersten mal die "Ring"-Tetralogie hier in deutscher Sprache gezeigt worden. Bis in die Gegenwart haben Sänger und Dirigenten von Weltruf im Fenice gewirkt.

Leider haben wir das Fenice nie von innen erlebt - die Karten sind meist für Abonnementsplätze vergeben -, sondern mußten uns mit dem Anblick seiner eher unscheinbaren Mauern begnügen. (Als ich dies gerade geschrieben hatte ­ 496 am 1. Mai 1995 -, entdeckte ich "zufällig" ein mit Streichhölzern verbundenes Photogramm, das uns beide an einem Tisch auf der abendlichen Piazza vor dem Fenica tafelnd zeigt!).

Für Antonia und mich aber, wie ich schon sagte, war Venedig vor allem ein "Fest für das Auge". So hat es auch auf Goethe gewirkt, wenn er schreibt, seine "alte Gabe, die Welt mit Augen des Malers zu sehen, dessen Bilder ich mir eben eingedrückt", habe ihn auf den Gedanken gebracht, der venezianische Maler müsse alles klarer und heiterer sehen als andere Menschen. "Tizian und Paul (Veronese) hatten diese Klarheit im höchsten Grade", und er schildert, wie er auf einer Fahrt durch die Lagunen "bei hohem Sonnenschein" auf den Gondelrändern die Gondoliere(i) leicht schwebend, buntbekleidet, rudernd betrachtete, wie sie auf der hellgrünen Fläche (des Wassers) sich in der blauen Luft zeichneten". "Der Sonnenschein hob die Lokalfarben blendend hervor, und die Schattenseiten waren so licht, daß sie verhältnismäßig wieder zu Lichtern hätten dienen können." "Alles war hell in hell gemalt, so daß die schäumende Welle und die Blitzlichter darauf nötig waren, um die Tüpfchen aufs i zu setzen."

Von den Werken der großen Maler Venedigs hat sich mir das des Größten am nachhaltigsten eingeprägt:" Tizians Altarbild in der Kirche Santa Maria dei Frari. Die Madonna trägt die Züge seiner Frau Celia, die bald nach der Enthüllung (1518) im Kindbett sterben sollte. Ein vornehmer älterer Herr führte uns durch die riesige gotische Hallenkirche, die nach der Markuskirche bedeutendste der Stadt, und zeigte uns das Grabmal Tizians, das dreihundert Jahre nach seinem Tode vom Kaiser von Österreich eingeweiht wurde, umgeben von Reliefs, die der Meister selbst geschaffen hatte. Auch Canovas Grab, urspünglich für Tizian, dann für sich selbst von ihm entworfen, findet sich in der Frari. An einer Statue des Heiligen Hieronymus (von Alessandro Vittoria) sollen die fein modellierten Adern und Muskeln in Wirklichkeit Tizians Körper in hohem Alter darstellen. Sein Geburtsdatum ist immer noch umstritten. Seine Lebenszeit wird auf 99 bis 103 Jahre geschätzt. Zu Tizians Altersstil hat Goethe ein Jahr vor seinem Tode, 1831, in einem Gespräch mit Riemer gesagt:" Tizian, der große Kolorist, malte im hohen Alter dieje­igen Stoffe, die er früher so konkret. nachzuahmen gewußt hatte, doch nur in abstracto, zum Beispiel den Sammet nur als Idee davon". Auf dies~ "unnachahmlich treffende Formel konnte nur einer kommen, der Staunen empfand 497 angesichts des eigenen Spätstils und der nach Vergleichen suchte, um das eigene Geheimnis in ästhetischer Reflexion zu bannen", schreibt Wilfried Wiegand in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. August 1990 in seiner Besprechung der großen Tizian-Ausstellung im Dogenpalast. Die geniale Künstlerschaft Tizians muß so überwältigend gewirkt haben, daß seine Schüler und Gehilfen keine selbständigen künstlerischen Leistungen zu vollbringen vermochten, solange sie in seiner Werkstatt arbeiteten. Tintoretto und EI Greco trennten sich deshalb von ihm und gingen ihre eigenen Wege. Sein Alterswerk ist wie die späten Werke Rembrandt sund Goyas schon von den meisten seiner Zeitgenossen nicht mehr verstanden worden.

Daß es auch relativ frühe Werke eines Malers gibt, die von seinen Zeitgenossen nicht verstanden werden, haben wir bei der Betrachtung der "Drip"­Bilder Jackson Poliocks erlebt, die Peggy Guggenheim in ihrem kleinem Palazzo Venier de Leoni am Canal grande ausgestellt hat. Peggy war dem postmortalen Mythos um Polio c k verfallen, der sich um seine "Drips" gebildet hatte: Er pflegte bei diesen Gebilden die Farbe nicht mit dem Pinsel aufzutragen, sondern auf die Leinwand zu werfen oder einfach aus der Farbdose auf die Leinwand tropfen zu lassen. Das Sehens- und Liebenswerte an dem unvollendet gebliebenen, nur erdgeschossigen Guggenheim-Palazzo (von 1749) ist außer farbenfrohen Glasgebilden der schöne baumbestandene Garten mit den Grabdenkmälern für ihre geliebten Hunde. Vor dem Gebäude steht Marino Marinis Skulptur eines Reiters mit erigiertem und verstellbaren Penis. Wenn sich eine Gondel mit Priestern oder Nonnen nähert, so sagt man, werde das herausfordernde Stück rechtzeitig weggedreht: Da gerade keine Gondel mit Geistlichkeit beladen vorbeifuhr, konnten lachende junge Mädchen und Männer ihre Kameras auf das "anstößige" Objekt richten. Ich tat es auch.

Auf unserer letzten Venedig-Reise besuchten wir endlich auch das festländische Venetien, leider nicht mit dem Schiff "Burchello" - benannt nach dem ehemaligen Venitianischen Postschiff -, auf der Brenta, sondern mit einem Bus. Der Renaissance-Architekt Paliadio hat dort für die reichen Venezianer die schönsten Villen der Welt erbaut. Eine berühmte, die Villa Barbaro-Volpi neben dem unscheinbaren Ort Maser birgt in ihrem Inneren herrliche Malereien Paolo Veroneses, und in ihrem Park stehen vier Putti als Verkörperung der vier Jahreszeiten, die Vivaldi so wunderbar in Töne umgesetzt hat. In Asolo, einem "Drei-Sterne-Ausflugsziel", machten wir Halt im schlichten Ristorante "Due Mori" auf der Piazza Duse, die ihren Namen der großen Eleonora verdankt. Denn die legendäre Tragödin hat auf dem Hügel von Asolo in einem Schloß gelebt, das um 1500 einer Venezianerin Caterina Cornaro, der Königin von Zypern, von der Republik Venedig geschenkt worden war. Sie hatte diesen Titel durch Heirat erworben und wurde, nachdem man ihr Zypern weggenommen hatte, durch die Burg von Asolo entschädigt. Ihre Schloßnachfolgerin Eleonora Duse ließ sich auf dem Burghügel von Asolo nieder und wurde 1924 auf dem Gemeindefriedhof begraben. Eine würdigere Alters- und Sterbe­stätte ließe sich für die einzigartige Menschendarstellerin nicht denken. (Sie ist, wie ich soeben lese, nicht in Asolo, sondern in Pittsburgh, Pennsylvanien gestorben.)

Wie stolz die Venezianer auf die malerische Tradition ihrer Stadt zu sein scheinen, läßt sich an den Namen der Cocktailspezialitäten ablesen, die in "Harrys Bar" angeboten werden. Sie heißen "Giorgione" oder "Bellini" oder gar "Tizian". Berühmte Trinkgäste wie Hemingway, Orson Welles, Truman Capote, Churchill (seinen Malkasten im Arm!) sollen sich an diesem "malerischen" Getränk erlabt- haben. Ich begnügte mich mit einer" White Lady", deren genauere Bestandteile ich vergessen habe. Die .Entstehungsgeschichte dieser Sehens-, Nippens- und Essenswürdigkeit Venedigs "Harrys Bar" zu erwähnen, würde, so originell sie auch ist, zu weit führen. Ich bin ohnehin meinem Vorsatz ungetreu - allzu wortreich ins Erzählen, Zitieren, Schwärmen zu dem unerschöpflichen Phänomen "Venedig" geraten, verleitet und beflügelt vom Fascinosum Venetianum.

Was bleibt an wenigen sichtbaren Erinnerungsresten? Zwei schöne, gerahmte Reproduktionen von Canalettos Piazetta San Marco und dem Dogenpalast mit dem Campanile, zwei weiße, bei "Ditta Rigattieri" erstandene Keramik-Löwen vor unserem Kamin, eine Korallenkette für Antonia, mehrere schön bebilderte Venedig-Bücher, darunter das mir liebste von James Morris, zahlreiche eigene Photographien und - nicht ganz zuletzt - diese Schreibmaschinenzeilen. Als unsichtbare Erinnerung bleibt: die wahrscheinlich unerfüllbare Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit dem Traum einer Stadt, der zur bezaubernden, unvergleichlichen Wirklichkeit geworden ist.

Sizilien und Capri (19. März bis 16. Apri! 1971)

"Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem", schreibt Goethe unter dem 13. April 1787 in der "Italienischen Reise". Pierre Bertaux vermutet in seinem Buch "Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir" - zu Goethes Spieltrieb -, er habe mit dem "Schlüssel zu allem" den Kalk auf der Insel gemeint, mit dessen verschiedenen Gesteinsformen er sich tatsächlich eingehend beschäftigt hat. Vier Tage brauchte er, um von Neapel bei Gegenwind, seekrank "im Walfischbauch" , an der Formung und Rhythmisierung des "Tasso"-Entwurfes arbeitend, nach Palermo zu gelangen. Auch wir hatten Schwierigkeiten, Palermo zu erreichen: Unser Flugzeug von Hannover über Rom wurde durch Sturm an der Landung in Palermo gehindert und mußte nach Trapani an der Westküste Siziliens beordert werden. Von dort wurden wir - nach insgesamt -12-stündiger Reise! - mit einem Bus durch eine karge Landschaft, an Elendsbehausungen vorbei, nach Palermo ins Jolly-Hotel gebracht.

Die griechische und römische, später die normannische Vorgeschichte der Insel kann leicht vergessen lassen, daß Sizilien etwa 200 Jahre lang unter islamischer Herrschaft gestanden .ihat. Palermo entwickelte sich zu einer islami­schen Großstadt mit über 300 Moscheen, mit eleganten Lustschlössern und kunstvollen Gärten. Von alledem ist heute nichts mehr zu sehen. Im 11. Jahrhundert besetzten die nach ihrer Heimat, der Normandie, genannten Normannen die Insel. Unter dem Eroberer Graf Roger I. vollzog sich auch in Palermo die Übergabe der Stadt an das Christentum. Sein Sohn, der spätere König Roger II., begründete den ersten großen, straff organisierten Verwaltungsstaat des Mittelalters. Unter ihm und seinen Nachfolgern, den Staufern, entstanden im 12. Jahrhundert die großartigen architektonischen Schöpfungen, die wir nun bewundern durften: Monreal mit dem größten mittelalterlichen Mosaik-Zyklus, dem herrlichen Kreuzgang des Benediktiner-Klosters und der fremdartig wirkenden, aus Lava-Elementen vom Ätna gestalteten Apsisfassade, der gewaltige Dom von Palermo in normannisch-islamisch-byzantinischem Mischstil - dessen Barock-Kuppel allerdings stilistische Wundschmerzen hervorrufen kann - mit den Porphyr-Sarkophagen Roger II., seiner Tochter Konstanze und den großen Hohenstaufenkaisern Heinrich VI. und Friedrich II., 500 schließlich die Capella Palatina des Palazzo Reale Rogers II. mit den heute noch ganz frisch wirkenden byzantinischen Mosaiken auf Goldgrund. Als wir die Kapelle betraten, erlebten wir gerade noch eine Trauung im Augenblick des Ringwechsels und des Verlesens des Treue-Gelöbnisses durch den Priester, während auf der Orgel die "Träumerei" von Schumann erklang. Ein anderes Hochzeitspaar erblickten wir vor dem Portal des Domes, die Braut mit lieblich gerundetem Bäuchlein und hoch im Winde - der Sturm hatte sich noch nicht gelegt - flatterndem und sich bauschendem Schleier. Ein drittes Hochzeitspaar an diesem Tage begegnete uns bei der nachkirchlichen Feier im Hotel Jolly - alles zusammen ein Gutes verheißender Auftakt unserer Reise. Am Nachmittag fuhren wir auf den Monte Pelegrino, genossen den Blick auf den Golf, die "Conca d'orc", und besuchten die Grotte, in der RosaIia, die Schutzpatronin von Palermo, als Eremitin gelebt hat und mit 14 Jahren gestorben ist. Die Grotte ist ein "Mini-Lourdes" mit zahlreichen Devotionalien, dem Anker eines geretteten Schiffes und einer Gedenktafel für Goethe, den die Schlichtheit dieses heilig gesprochenen Kindes - man schrieb ihm die Befreiung Palermos von der Pest zu - ergriffen hatte. Im grellen Kontrast zu der Schönheit dieser Kunstwerke und der Ausblicke auf die Conca d'oro: Die Elendsviertel in den Außenbezirken Palermos, die verwahrlosten Häuser in der Altstadt, die ärmlich gekleideten Menschen. Unsere Fremdenführer waren am Vormittag ein älterer, ruhiger, vornehmer Herr, der seine Erklärungen in wohlformuliertes Deutsch zu kleiden wußte, nachmittags ein junger, quicklebendiger, heiterer Sizilianer, der uns das Sehenswürdige in recht eigenwilligem, von eleganten Hand- und Fingerbewegungen begleitetem Deutsch zu beschreiben versuchte. Die Fahrt nach Messina: Im elektrischen Zug namens "Rapido" - Fensterplatz, vorzügliches Essen, Münchener Löwenbräu - an der Nordküste entlang, vorbei an Orangenhainen, Zitronenplantagen, schönen Vorgärten und armseligen Häusern, steigerte unsere Erwartung auf das eigentliche Reiseziel: Taormina. Der berühmte Ort empfing uns etwas enttäuschend mit bedecktem Himmel, unbehaglicher Kühle und immer noch nicht abgeflautem, stürmischem Scirocco und einem ziemlich kleinen Zimmer ohne Balkon und Meeresblick im neuen Hotel Mediterranée.

Antonia verdrückte ein paar Tränchen, wurde aber versöhnt durch die Aussicht auf den schneebedeckten, leider meist wolkenverhüllten Ätna. Das wirklich Schöne an Taormina ist seine Lage hoch über dem Meer mit den kühnen 501 Schwingungen der Küste, den gegen die Felsen schäumenden BrandungsweIlen, den dunkelgrünen, mit Zypressen, Palmen, Eukalyptus-, Zitrus- und Orangenbäumen bewachsenen Hängen. Alles blühte trotz der Kühle: Levkojen, Pelargonien, Narzissen, Tulpen, Bougainvillea, Ginster, Löwenmaul, auch frühe, kleine Rosen, Margeriten, gelbe Büsche mit rosafarbenen Blüten, die Antonia botanisch nicht näher definieren konnte. (Die Aufzählung der Blumenfülle des Südens verdanke ich natürlich ihr!)

Reizvoll ist auch der Ort selbst: Steile, verwinkelte Gassen, antikes Gemäuer, alte Torbogen mit Wappenornamenten, Adelspaläste, zum Teil zu Hotels umgewandelt, die "Hauptstraße" der Corso Umberto voller kleiner Läden mit allerlei bunten, verkitschten Dingen für die Touristen: Sizilianischen "Carretas" in allen Größen, buntbemalten Holzteilen dieser Karren, als Supraporten geeignet, holzgeschnitzte Carabinieri oder Soldaten aus Napoleonischer Zeit - einige zieren den oberen Flur unseres Hauses - normannische Ritter mit Schild, Schwert und Schnurrbart und und und.

Inzwischen hatte das Sturmgewölk den Gipfel des Ätna freigegeben: Der breite Schneekegel, von der Morgensonne zart-rosa angehaucht, aus dem Nord-Ost-Krater eine dunkle, dünne Rauchfahne aufsteigend, vom sanfter gewordenen Winde, der sich nach Süden gedreht hatte, schräg nordwärts geweht und im Blau des Frühlingsmorgens zerfließend. Eines Abends entströmte der "Montagna" - die Einheimischen nennen den Ätna nicht "Berg", sondern "Gebirge" - eine breitere, helle Rauchwolke, die ziemlich rasch nach oben zog und sich immer wieder erneuerte. Im abendlichen Dunkel erschien dann ein rotglühender Lavastrom, der sich am Nordosthang bis ins Tal erstreckte - ein neuer Ausbruch des Vulkans! Erregender Anblick!

Mit unserem Hotel hatten wir uns inzwischen angefreundet, nachdem wir in ein größeres Zimmer mit Riesenbalkon und weitem Blick auf das Meer, die Küste und den Ätna umziehen konnten. Von dem "Swimming Pool" des Hotels auf der Dachterrasse machte ich eifrigen Gebrauch - zum frierenden Erschauern der herumsitzenden Gäste.

Mein Wunsch, das Griechische Theater zu besichtigen, stieß auf Widerstand durch einen Streik, der den Zugang verschloß. Aber ein freundlicher alter Mann mit langem, wehendem Mantel zeigte mir eine Stelle am Eingang zum Hotel Timeo, an der ich über eine Mauer klettern und ins Innere des Theaters 502 gelangen konnte. Es gelang mir zwar, die mindestens mannshohe Mauer zu erklimmen, aber ich mußte danach noch eine zweite, etwas niedrigere Mauer ersteigen, auf ihr entlang balancieren und in eine kleine Schlucht hinunterspringen - es ging besser, als ich gedacht hatte. Der berühmte Blick über die korinthischen Säulen und die Mauerreste hinweg auf die Bucht von Giardini ist doch noch schöner als das, was die Abbildungen verheißen. Das Wort "überwältigend" scheint nicht zu hoch gegriffen. Ein Erdbeben hatte die Bühnenwand aus der Römischen Zeit zum Einsturz gebracht und das Meer und die Küste "wahrhaft zur Theaterkulisse werden" lassen. Mein "Kampf mit der Mauer" hatte sich gelohnt. Auch der beschwerliche Rückweg gelang mir, und der alte Mann freute sich über klingende deutsche Münze, mit der ich ihm dankte. Er lobte die Deutschen, schimpfte auf die Amerikaner, die Taormina im Kriege bombardiert hätten, und versicherte mich der deutsch-italienischen. Freundschaft. In einem kleinen Laden entdeckte ich eine Huldigung an Mussolini: "Caro Benito ..."!

Auf einer Fahrt mit dem Bus nach Catania und Syrakus äußerte sich unsere einheimische junge Reiseführerin über die soziale Misere des Landes, die Ausbeutung der armen Landbevölkerung durch die Großgrundbesitzer, die ihr die rechtmäßig zugeteilten Parzellen vorenthielten. Sie erwähnte natürlich auch die Mafia, die ursprünglich eine sozialrevolutionäre Selbsthilfeorganisation war: - "Ehrenwerte Gesellschaft" -, im Laufe der Zeit mehr und mehr von Verbrechern durchsetzt wurde und heute einen straff organisierten Trust bildet, der seine Macht dadurch sichert, daß er alle, die von ihm abhängen oder gegen seine Interessen arbeiten, in den Zustand permanenter Angst versetzt - Prinzip und Methode jeder totalitären Diktatur. Richter, die ein Mafia-Mitglied verurteilen wollen, finden auf ihrem Tisch im Gerichtssaal einen Zettel vor, auf dem ihnen mit "Maßnahmen" gedroht wird. In Palermo sind Staatsanwälte, Richter und andere Gegner der Mafia auf offener Straße erschossen worden. Ein Mafiagegner sei angeschossen, ins Hospital eingeliefert und dort von Mafiosi, die sich als Krankenpfleger verkleidet hatten, getötet worden. DaniIo DoIcis Bemühungen, eine soziale Reform in Italien ohne Anwendung von Gewalt anzubahnen - von Aldous HuxIey literarisch unterstützt - seien gescheitert. Nicht verwunderlich, wenn man weiß, daß die Polizei zum Teil mit der Mafia zusammenarbeitet 503 oder sie gewähren läßt, und daß sogar Abgeordnete der "Democracia christiana" mit ihr in Verbindung stehen.

Die amerikanische Dependance der Mafia ("Cosa nostra"), so belehrte uns die Fremdenführerin weiter, ist ein großkapitalistischer Gangster-Trust, der zum Beispiel den Fulton-Fischmarkt in New York beherrscht und die dortigen Händler um etwa 30 bis 40 Millionen Dollar schröpft. Zwischen der Genovese-Familie und der Lucchese-Familie habe es bei dem Streit um die Domäne dieses Marktes seit Oktober 1970 bereits 7 tödliche Opfer gegeben.

Die Ostküste Siziliens, an der wir entlang fuhren, ist dank des Lebensspenders Ätna (Wasser, düngersparende Mineralien) wohlhabender als die West- und Südküste. Man sieht es an den Häusern, die nicht ganz so ärmlich oder verfallen sind wie die zwischen Trapani und Palermo. Aber die Altstadt von Catania sieht auch fürchterlich aus. Das mag zum Teil allerdings daran liegen, daß die Lavamassen sich durch den letzten schweren Ausbruch des Ätna im Jahre 1669 bis ans Meer gewälzt haben und dem Neubau von Häusern erhebliche Widerstände bieten, weil sie sich nur schwer sprengen lassen. Vielleicht spricht auch die Furcht vor neuen Ausbrüchen des unruhigen Vulkans mit.

Zu beiden Seiten der Straße stehen Zitronen- und Orangenbäume mit besonders süßen und saftigen Früchten. Sogar Bananenstauden sind auf Initiative Mussolinis an den Hängen des Ätna angepflanzt worden und gedeihen gut, wenn auch nur mit kleinen Früchten. Hinter Catania hören die Berge auf. Langer Sandstrand, im Sommer von den Catanesen übervölkert. Dann Svrakus: Älteste Kirche Siziliens, S. Giovanni, mit dem Altar, an dem der Apostel PauIus Gottesdienst gehalten haben soll, Katakomben angeblich größer als die römischen, größtes griechisches Theater mit häßlichen Industrie-Anlagen am Hafen im Hintergrund, dahinter die "Latomia dei Paradiso" mit dem "Ohr des Dionysos" , einem riesigen Steinbruch, in dem 7000 Athener nach dem Landungsversuch unter Alkibiades und Demosthenes eingepfercht waren. In ihrer Not deklamierten einige von ihnen Verse aus den Tragödien des Aischylos, der seine "Perser" im Theater nebenan uraufgeführt hatte, des Sophokles und Euripides - und sie wurden von den sonst so harten und grausamen Syrakusanern freigelassen, während die Mehrzahl der griechischen Gefangenen den Hungertod erlitt. 504

Professor Andrea Avolio, Archäologe und Kunsthistoriker aus Syrakus, führte uns, sachkundig und humorvoll. An der Arethusa-Quelle gab er uns ein Autogramm auf echten Papyros, das aus den dort wachsenden Papyro-­Stauden, den einzigen in Europa, verfertigt war. (Der ägyptische Ursprung des Wortes "Paper" ist etymologisch nicht ganz gesichert, wie Kluge in seinem von Mitzka erweiterten" Etymologischen Wörterbuch der deutschen Spra­che" bemerkt.) Herr Avolio (oder Avoglio) meinte seinen Namen als den "Nicht-Wollenden" erklären zu können, weil das "a" Alpha privativum, die Verneinung des "volere", des "Wollens" bedeute. Ich sagte ihm, er habe aber doch etwas gewollt, und zwar habe er uns die Geschichte von Syrakus dargestellt, und dies sei ihm, dem scheinbar Nicht-Wollenden vorzüglich gelungen. Sein Vorname Andrea, so behauptete er, sei abgeleitet von "androgyn", dem "Mann, der die Frauen liebt". "Nicht ganz", sagte ich, den "Androgynes" bedeute "Zwitter", ein Wesen also, das Mann und Frau zugleich sei. Aber man habe nicht den Eindruck, daß er dieser Kategorie zuzurechnen wäre. Wir lachten Beide, und als ich mich als latros dekuvriert hatte, erzählte er mir ausführlich die Geschichte seines Herzinfarktes.

Beim Mittagessen im "Ristorante Minerva" gegenüber dem Dom und dem Erzbischöflichen Palais fiel ein deutscher Zeitgenosse durch quengelndes Imponiergehabe unangenehm auf, beschwerte sich bei dem Wirt, der dem Ansturm der "Touropa"-Touristen nicht ganz gewachsen schien, über kalte Makkaroni und Fleisch statt Fisch, rieb sich danach triumphierend die Hände und bewegte sein Haupt zackig in der Pose des Siegers. An der Arethusa-Quelle hatte .er mir die Technik der Papierherstellung erklärt. Er wisse das selbst noch besser als Professor Avolio, da er Papierfabrikant sei!

Der Dom ist in einen Athena-Tempel aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert eingebaut. Die alten dorischen Säulentrommeln sind zum Teil durch Erdbeben gegeneinander verschoben, aber nicht umgestürzt, da sie in der christlichen Zeit durch Mauerwerk miteinander verbunden wurden.

Auf der Rückfahrt von Syrakus Halt in Catania, der zweitgrößten Stadt Siziliens mit dem Castello Ursino Friedrichs II. und einem Barock-Dom mit der Kapelle der Heiligen Agatha, der Schutzpatronin der Stadt - sie hatte sich einem römischen Soldaten versagt und wurde dafür getötet -, mit Pferdedroschken und einem Fischmarkt (darunter Tintenfische, Mollusken, Quallen), der mir mit dem 505 Geschrei der Händler und den Gerüchen, die den Angeboten entströmten, in Erinnerung geblieben ist. Catania hatte ursprünglich am Meer gelegen, von der es durch den gewaltigen Lavastrom aus dem Ätna 1669 getrennt wurde. Sein Wahrzeichen: Ein schwarzer Lava-Elefant, der einen Obelisken trägt.

 

Capri

Am 29. März frühmorgens von Taormina mit Taxi zurück nach Catania, von dort Flug mit zweimotoriger Propellermaschine am schneebedeckten Ätna-Massiv vorbei nach Neapel. Vor der Landung am Flughafen Capodichino mußte - zum Unbehagen Antonias - eine tiefhängende Nebeldecke durchstoßen werden. Es war kalt und regnete leicht. Auf dem Vesuv lag Neuschnee. Damen trugen Pelze! Antonia hatte schon im Flugzeug eiskalte Füße bekommen! Erst im Salon des Schiffes nach Capri konnten wir uns mit Hilfe eines Kognaks zum Capuccino leicht anwärmen. Aber auf Deck war es fast winterlich kalt. Ziemlich durchgefroren landeten wir nach 1 1/2 Stunden Seefahrt an der Marina Grande auf Capri. Unser Winken mit dem "Airtours"-Heft und unser Ruf "Reginella" - Name unseres Hotelchens - blieb ohne Resonanz. Entgegen der Zusicherung der Airtours-Leitung war niemand am Hafen. Gepäckträger, Funicolare, Motorkarren, Reginella (von Suschen Packett warm empfohlen), Zimmer in der Dependance, hell, Balkon, Blick auf Meer und Küste, elektrisches Öfchen. Aufwärmender Empfang durch die deutsche Frau des Besitzers Signore FaIco, lebhafte Pykinka, Pianistin, mit Kaffee, Tee und Gas-Ofen. Ihr Ehemann Paolo pflegte seine Gäste mit virtuosem Violinspiel zu erfreuen und sich auch als Koch zu betätigen. Des Maestros Kunst, den Geigenbogen zu führen, übertraf, wie wir feststellen mußten, seine Bemühungen um die Zubereitung schmackhafter Speisen beträchtlich. Aber beide FaIcos waren liebenswerte Menschen und entsprachen den Erwartungen, die Suschen in uns erweckt hatte, seitdem sie Gast in der "Pensione Reginella" gewesen war. Auf der Visitenkarte hieß es verheißungsvoll: Pomeriggio: Apfelküchen, Alla sera: Specialita capresi e iI violino di Paolo Falco. Canta ..." Meine italienischen Sprachkenntnisse vervollkommneten sich. Einmal sagte ich statt "Pomodoro con carne" ("Tomate mit Fleisch"): "Pomeriggio con cane" ("Nachmittag mit Hund")! 506

Den Zauber Capris, die "magische" Anziehungskraft dieses "kleinen Welt­theaters im Mittelmeer" (Edwin Cerio) auch nur andeuten zu wollen, wäre ein müßiger Versuch. Ich habe einmal zusammen gezählt, wieviele bekannte, berühmte und weltberühmte Persönlichkeiten diesem Zauber als" Wahl­Capresen" verfallen waren oder ihn zumindest gespürt haben könnten: Von Caesar Augustus ,und Kaiser Tiberius bis Fran90ise Sag an bin ich auf 69 Namen gekommen, und diese Zahl ließe sich erweitern. Einer fehlt in meiner wie in jeder anderen Namensliste: Goethe! Der französische Kauffahrer, dem er sich in Messina anvertraut hatte, geriet vor Capri in eine Strömung, die das Schiff bei Windstille in Gefahr brachte, an der Felsenküse der Insel zu zerschellen. In letzter Minute erhob sich ein leiser Wind, die Segel konnten gesetzt werden, und, so berichtet Goethe: "Bald ließen wir jene gefährliche Felseninsel hinter uns." Er hat sie nicht betreten können.

Was Capri für die Deutschen und für die anderen Nationen bedeutet hat, sagt Frau Claretta Wiedermann - Cerio im Nachwort zu Edwin Cerios geistvollem Capri-Buch: "Die Engländer schufen sich hier ein Stück ,Old England', eine friedliche kleine Kolonie mit, Gardenpartie'" , gelehrten Werken, Plumpudding und Bildern, auf denen auch die entkleideten Caprimodelle `respectable' und britisch aussahen. Die Franzosen gründeten die ,Ecole de Capnée', eine ideale Zweigstelle des Prix de Rome, und jeder fand hier, was er sein ,Mon Parnasse' nannte, ein Montmartre mittelmeerischer Prägung. Für die Deutschen wurde Capri die ,deutsche Perle des Mittelmeeres' ", und um sich von ihrer vielseitigen Tätigkeit zu überzeugen, braucht man heute nur eine Bibliographie der Insel zu durchblättern: Der größte Teil der wissenschaftlichen und schöngeistigen Literatur über die Insel stammt von Deutschen. - Sie erforschten die Geologie, Fauna, Flora, die Geschichte der Meteorologie, und fanden Inspiration für ihre Dichtungen und Romane. Die Russen gründeten unter Gorkis Aufsicht und Lenins Einfluß eine Schule für die" Technik der Revolution". Moskau besitzt einen "Roten Platz", dafür kann Capri das "Rote Haus" aufweisen, die Wiege der russischen Revolution. Da die Insel gewisser­maßen außerhalb aller Grenzen liegt, wurden die Italiener als letzte auf sie aufmerksam und beeilten sich erst dann, den anderen Ländern zu beweisen, daß Capri schließlich rechtmäßig dem italienischen Nationalterritorium angehört...

Alle Eroberer der Insel merkten bald, daß sie im Grunde die Eroberten waren.

Dies konnten wir von uns nicht sagen. Wir versuchten die Insel in ihren vielfältigen Schönheiten zu "erobern", indem wir sie erwanderten, und das ist auf Capri möglich, ohne das Geräusch und den Geruch von Automobilen und zu dieser frühen Jahreszeit auch noch ohne "Horden" von Touristen. Am Morgen nach unserer Ankunft trafen wir auf einem langen Spaziergang zum "Arco Naturale" nur zwei Deutsche, die wir schon vom Schiff her kannten. Der Weg führte uns vorbei am hochgelegenen "Roten Haus" des Autors des grausigen Kriegsgesanges "Die Haut", Curzio Malaparte (Pseudonym für Kurt Suckert, den Sohn eines fahrenden Handelsmannes aus Sachsen), hinunter zur unheimlichen "Grotta Matromania". In ihr soll Kaiser Tiberius seinen Lieblingsknaben Hypatos dem Sonnengott Mithras geopfert haben. Ferdinand Gregorovius (aus dem masurischen Neidenburg) hat auf dem "zaubervollen Eiland" Capri einen ganzen Sommermonat verbracht und ihm in seinen "Wanderungen in Italien" einen ganzen Abschnitt gewidmet. Er suchte den Sonnenkult, der in dieser gen Osten gerichteten Grotte vollzogen wurde - zahlreiche Reliefs in ihrem Inneren bezeugen es - als Naturerlebnis nachzuempfinden: "... und wie aus ihrer Tiefe Helio aufsteigen sieht und das Pupurglühen der Berge und des Meeres betrachtet, der wird hier wahrlich zum Sonnenanbeter." Aber er spricht auch von dem "seltsamen Kontrast des Fürchterlichen und Lieblichen", der Capri einen "heimlichen Zauber" verleiht. Fürchterlich der Anblick der Insel vom Meere aus: "... Capri stand vor uns (auf der Ruderfahrt in einer Barke von Sorrent aus), groß und ernst, klippenstarr und felszackengepanzert, in der melancholischen Wildheit seiner Berge und in der Schroffheit der steilen Kalkwände von roter Farbe". Lieblich erschien Gregorovius die Insel in der "Fülle zaubervoller Einsamkeit des Meeres", in der "seltenen Schönheit der FeIsformen, in dem "heimlichen Zauber, mit dem die Berge, Klippen und grünen Täler den Sinn umfangen".

Dieser heimliche Zauber hat auch eine unheimliche Seite, und wir fühlten uns vom Hauch des Schauerlichen angeweht, als wir bei einem anderen Spaziergange an den "Salto di Tiberio", den "Sprung des Tiberius", gelangten, einen schwindelerregend hoch über das Meer ragenden Felsen. Von ihm ließ Tiberius wie Sueton berichtet, seine Opfer hinabstürzen, nachdem sie zuvor 508 "lange und ausgesuchte Martern" erlitten hatten. Wenn sie nicht schon tot waren, wurden sie unten von einem "Schwarm Matrosen" mit Segelstangen und Rudern erschlagen. Dieser Tiberius, dieses menschliche Ungeheuer, ein ausgesprochen schöner Mann mit einem geistvoll und edel geformten Kopf, wie die Skulpturen im Vatikanischen Museum ihn zeigen, ein hochgebildeter, vollendeter Diplomat, hat von seiner Villa auf Capri aus elf Jahre lang - von 16 bis 27. n. Chr. - die Welt regiert und die Insel zu einem "prachtvollen Lustgarten" umgestaltet, bis er bei einer kurzen Abwesenheit von seiner Residenz erdrosselt wurde. Während seiner Regierungszeit wurde Jesus ans Kreuz geschlagen. "Diese beiden Gestalten", schreibt Gregorovius, ,,hier im Westen der greise Dämon Tiberius, der Beherrscher der Erde, der Repräsentant der untergehenden heidnischen Welt und, als Ebenbild jenes sittlichen Elends dort, im Osten, der junge ideale Mensch Jesus, an das Kreuz geschlagen, aber umringt von begeisterten Propheten eines neuen Erdenfrühlings. Diese beiden Gestalten stehen sich gegenüber wie Ahriman und Ormuzd, der Gott des Lichts und der Finsternis." 

In einer kleinen "Trattoria" neben dem grausigen "Salto di Tiberio" wies ich bei Kaffee, Tee und frischem Apfelkuchen Antonia darauf hin, wie günstig es doch für sie sei, keinen" Tiberius" zum Mann zu haben. Wir genossen dann noch den beglückenden Blick auf das tief unter uns liegende Meer,. die Halbinsel Sorrent und die Amalfitanische Küste. Um diesen Genuß nicht zu trüben, unterließ ich die Bemerkung: einem Nachfolger jenes schwerst-kriminellen Wüst- und Lüstlings, dem spätrömischen Kaiser Commodus (etwa 189 n. Chr. ) - habe der nahegelegene "Faro" als Verbannungsort für seine Gemahlin und seine Schwester gedient, die er hinrichten ließ. Die Ruinen der berühmten "Villa Jovis", des eigentlichen Wohnsitzes des Tiberius, erinnern übrigens daran, daß der Tyrann sich in ihr, wie Gregorovius nach Sueton erwähnt, aus Furcht vor einer Verschwörung neun Monate lang eingeschlossen hatte. Auf dem höchsten Punkt der Villa Jovis steht jetzt eine Madonna, die für alle Schiffe und Seeleute betet.

Unterhalb der Villa Jovis hatte der französische Lyriker Baron Adelswaer de Fersen seine später "skandalumwitterte" "Villa Lysis" erbaut. Die homophilen Aktivitäten des Barons haben ihren literarischen Niederschlag in Roger Peyrefittes "Exil in Capri" gefunden. Während Gerhart Hauptmann 509 zu den glühendsten Bewunderern Capris zählte, konnte RiIke sich mit der Insel nicht recht anfreunden, als er von Dezember 1906 bis Mai 1907 und noch einmal im Frühjahr 1908 Gast Alice Faehndrichs, geb. Freiin von Nordeck zur Rabenau, Schwester der Gräfin Schwerin, in der "Villa Discopoli" war. Über "zuviel Berge auf zu engem Raum" klagte er, und "überall Meer", (wie Inseln das nun einmal an sich haben). Die Halbengländerin Alice Faehndrich hatte ihm täglich die Vorübersetzung eines der "Sonetts from the Portuguese" von Elizabeth Barrett- Browning gegeben, nach der seine Übertragung der "Portugiesischen Sonette" entstand.

Zwei unbehagliche Erinnerungen knüpfen sich an den Capri-Aufenthalt von Oscar WiIde und Friedrich Alfred Krupp, den "Kanonenkönig": WiIde war nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus von Reading, von der Gesellschaft geächtet, nach Capri geflohen. Als er das große Hotel "Quisisana" betrat, erhoben sich alle seine Landsleute von den Tischen. "Sie gönnen mir nicht einmal das Essen", sagte er und reiste ab. Bald danach starb er. Krupp wurde - zu Unrecht? - des gleichen "Lasters" wie WiIde bezichtigt, wurde erpreßt, verließ. die Insel und starb kurz darauf in der Heimat. Alle, die Capri lieben, wie er es geliebt hat, verdanken ihm ein einzigartiges Vermächtnis: einen Weg, den er in die -Steilwände vom Parco Augusto zur Küste hinab in zahlreichen, stufenlosen Serpentinen sprengen ließ, die "Via Krupp"! Es klingt ein wenig überschwenglich, wenn Sigmund G raff in seinem Capri-Buch ("Insel der Sehnsucht") vom" Traumhaften, Magisch-Verzauberten" dieses Weges spricht. Aber wir selbst konnten uns auch nur schwer lösen von dem Zauber der von Kehre zu Kehre wechselnden Blicke, die der Weg dem Wanderer schenkt. Auf dem Rückweg zur Marina Piccola begrüßt uns ein kleiner Capri-Junge fröhlich mit "Heil Hitler".

Am Palmsonntag, dem 4. April, vormittags malerische "Benedictione" auf der liebenswert-winzigen "Piazza" von Capri: Ein Zug von Kindern mit Sträußchen aus Palmen blättern, in die Brezeln und gezuckerte Mandeln eingeflochten sind. Gottesdienst in der Kirche San Stefano. Der Priester verliest den Bibeltext über den Einzug Christi in Jerusalem.

Nach Aprilwetter mit häufigem Wechsel von Sonne, Wolken, Regen, Sturm am Morgen des 5. -April herrlicher Sonnenschein, dann dichter Nebel, der sich aber bald wieder lichtet. Hinauf nach Anacapri zur" Villa San Micheie" Axel 510 Munthes! Der schwedische Arzt, von Zeitgenossen als mürrischer Sonderling geschildert, später erblindet, beschreibt in seinem berühmten, in 30 Sprachen übersetzten Buch, wie er die Fundamente für die großen Bögen der Loggia seines künftigen Hauses selbst ausgehoben habe. "Seite an Seite mit mir schaufelten Mastro Nicola und seine drei Söhne, während ein halbes Dutzend Mädchen mit lachenden Augen... die Erde in flachen Körben auf ihren Köpfen davontrugen." Das Innere des zur legendären Touristen-Attraktion gewordenen Hauses - sein Erbauer hat es nie bewohnt - ist ein kleines Museum, angefüllt, aber nicht überladen mit antiken Funden, Skulpturen, Säulen-Kapitelen, Friesen, Ornamenten, dazwischen leider auch ein paar Rokokomöbel. Das Schönste am "Haus von San Michele" ist der Blick von der Terrasse. Johann Gottfried Herder hat von ihm - zitiert nach Sigmund Graff - gesagt: "Luft, Himmel, Berge, Meer und Erde sind ein Zauberanblick, in den man wie versunken ist, so daß man darüber kein Wort hat." Und Graff fragt, ob es wirklich nur die drohende Erblindung, das gefürchtete "Zuviel an Licht" war, was Munthe davon abgehalten hat, hier auch nur eine einzige Nacht zu verbringen, oder ob er sich scheute, angesichts des überwältigenden Blickes dort zu leben, ohne dessen Schönheit zu profanieren?

Munthes hatte es gewagt, nicht nur von gefährlichen Krankheiten, sondern auch - ein Vorläufer Hackethals - von gefährlichen Ärzten zu sprechen. Umsomehr liebte er die Pflanzen und Tiere, namentlich die Hunde. Auf die Schwelle des kleinen Friedhofes, in dem er seine Hunde begrub, ließ er die Worte setzen: "Cave hominem!", "Der Hund kann nichts verbergen, kann nicht lügen, denn - er kann nicht sprechen". Ihm fehlt das Ausdrucksmittel, von dem Talleyrand meinte, es sei dazu da, die Gedanken der Menschen zu verbergen - eben die Sprache.

Weiter heißt es in meinem Reisetagebuch "Capri": Dienstag, 6. April: Der Tag beginnt mit einem gewaltigen Donnerschlag - Erinnerung an. ein frühkindliches Erlebnis: Ich stehe auf dem Balkon der elterlichen Wohnung in Widminnen. Plötzlich kracht die Tür zu, gleichzeitig, anscheinend aus heiterem Himmel, ein heller Blitz und greller Donnerschlag. Der Schreck hat sich mir tief eingeprägt und mich bis heute nicht ganz verlassen. Immer bei Gewitter bin ich nicht frei von Angst, die früher auch mit dem Gefühl: Jetzt straft dich. Gott! einherging.. Einer meiner angstneurotischen Patienten - er fürchtete, bei Gewitter einen 511 Herzinfarkt zu erleiden - fuhr bei der Ankündigung eines Gewitters im Wetterbericht des Rundfunks sofort zu mir in die Klinik, ich setzte mich zu ihm, und wir überstanden Blitz und Donner gemeinsam fast ohne Angst. Später erlag er tatsächlich einem Herzinfarkt bei Gewitter - warum ich nicht bei ihm sein konnte, weiß ich nicht mehr. 

Nach dem Gewitter auf Capri tagsüber Sonne. Keine Post aus Deutschland. Morgen Generalstreik in Italien. Nachmittags zur Piazetta. Abends zu den Giardini di Augusto und zur Villa Krupp. Abends Pommes frites, von Maestro Falco persönlich zubereitet. Dazu hatte er eine vorzügliche "Zuppa di Pesce"" kreiert. Ein weißhaarig-schwarzbärtiger Professor der Altphilologie dozierte pausenlos monologisch über "Glauben und Wissen", "Anthropomorphie", "Ontologie". und andere aufwendige Themen, ohne daß es zu einer Diskussion kommen konnte.

Donnerstag, 8. April: (Gründonnerstag): In der Mittagssonne 37 Grad! "Exodus" von Leon Uris zu Ende gelesen. Seit langem hat mich ein Buch nicht so gefesselt und ergriffen wie dieses große Epos über den zähen und leidensreichen Kampf der Israeli um den Wiedergewinn der angestammten Heimat ihrer Väter und um einen neuen, eigenen Staat für ihren Zusammenschluß als Nation. (Die Begegnung mit jüdischen Menschen und die Auseinandersetzung mit dem "Judentum" - wenn dieser Begriff erlaubt ist -. Beides hat mein ganzes Leben begleitet.)

Tagsüber wolkenloser Himmel. Auf der Piazetta eine Gruppe jugendlicher Neger, fein geschnittene, intelligente Gesichter unter breitkrempigen Hüten und riesigen Sonnenbrillen, einige mit hochgekämmten Haaren ("Black Panthers"?) Alle heiter, ausgelassen - einer begrüßt mich mit Handschlag und freundlichem "Ciao, Ciao!", von den Touristen als exotische Rarität neugierig bestaunt, photographiert, gefilmt. Hinauf nach Anacapri-Caprile. Auf einem der schönsten Wege - fast das Einzige, was Rilke an Capri lobte - zum "Belvedere Miglia­re: überraschender Blick tief hinauf auf düstere Felsstürze. Oberhalb völlig anderer Blick auf die lieblichere Südküste mit den berühmten Faraglioni-Felsen. Unser Versuch, zum "Torre Materita" zu gelangen, in dem Axel Munthe gewohnt hat, scheitert an Stacheldrahtzäunen. Zurück auf gleichem Wege, vorbei an Zypressen, Efeumauern, Zitronenbäumen mit vielen reifen Früchten, an blü­henden Levkojen, Wolfsmilch, umweht von würziger, staubfreier Luft. Hier ein 512 Häuschen besitzen! Herr von Stass, Dr. Mechows Freund, Schauspieler, Theater-Intendant, hat eines ganz in der Nähe. Gegen Abend noch einmal zur Villa San Micheie. Halsbrecherische Rückfahrt mit dem Bus.

Freitag, 9. April (Karfreitag): Hinunter zur Marina Piccola. Bewegte See (Scirocco). Immer noch keine Nachricht aus IIten und Bissendorf. Keine deutschen Zeitungen. Auf der Piazetta wie stets viel Leben, darunter die uns nun schon wohlbekannten Originale: Ein alter Berliner Jude, taubstumm, mit roter Zipfelmütze, rotem Schal, roter Tragetasche, ein langer, hagerer Norweger mit schwarzer Baskenmütze und roter Troddel, kleinem Rucksäckchen, eine Mulattin in Hosen, schwingend-gleitenden Schrittes einherpromenierend. Abends Prozession ("Via cruds meditata"): Voran ein kleiner Junge mit der italienischen Grün-weiß-rot-Fahne, dahinter die Chorknaben in weißen, rotbesäumten Hemden, in den Händen Laternchen mit kleinen Fackeln an langen Stäben, dann der Priester mit großem, schwarzen Holzkreuz (ohne Corpus). Aus einem Lautsprecherwagen ertönen die Texte zu den einzelnen Kreuzwegstationen in drei Sprachen. Zum Schluß lautstarke, beschwörend wirkende Predigt des Geistlichen; lebhaft applaudiert, danach eine weitere Predigt eines anderen Priesters, ohne Applaus! Wir flüchten vor dem kühlen Abendwind in die Pfarrkirche San Stefano. Stille Einkehr vor den Lichtern vieler Kerzen an einem Seitenaltar.

Samstag, 10. April: Morgens Nieselregen, kühl, Heizung defekt. Kein warmes Wasser - . Auf der Piazetta gedrängte Menschenfülle, vor-österliches Trei­ben, meist Italiener vom Festland mit "Kind und Kegel". Dazwischen eine Gammlergruppe mit Gitarre, Bärten und Struwwelpeter-Frisuren, zum Teil offensichtlich im Drogenrausch.

Durch Ausbleiben jeder Post aus Deutschland beunruhigt, vorzeitige Heimkehr erwogen. Abends Maestro FaIco in großer Form, von mir mit Cardiaziol- Traubenzucker tonisiert, unermüdlich auf seiner "Zaubergeige" italienische, deutsche, Wiener, ungarische Weisen fiedelnd, darunter "Ein Männlein steht im Walde" mit eigenen Variationen verziert, zum Schluß Brahms "Guten Abend, gute Nacht ..." mit selbstkomponierter Kadenz. Der bärtige Altphilologe bringt dazu noch rhetorischen Pfeffer in den Abend, wirkt dann aber plötzlich müde, abgefallen, erschlafft und melancholisch. Welchen inneren Kummer mag er wohl mit seiner Ausgelassenheit überspielen?

513 Edwin Cerios "Capri - ein kleines Welttheater im Mittelmeer" ist viel mehr als eine historiographische Dokumentation: - Ein Buch voller geistreicher Formulierungen und anekdotischer Skizzen, belehrend und fesselnd zugleich, Zeugnis feinsten humanistischen Geistes, weit über dem literarischen Niveau Roger Peyrefittes "Exil in Capri" stehend, das nicht uninteressant, aber dann doch langweilig und ermüdend in der Darstellung gepflegter Decadence und homophiler Hedonismen des Barons AdeIswaerd von Fersen auf mich wirkt. Aber auch dieser Tupfer sollte in der vielfarbigen Palette "Capri" nicht fehlen.

Sonntag, 11. April: (Ostersonntag): Sonnenschein, warm, windstill. Zum Frühstück je ein rot und blau bemaltes Osterei und ein freundliches "Buona Pasqua!" der guten "Conquettina" Elisabeth FaIco. Osterspaziergang zum Castello Castiglione. Am Campanile läuten die Glocken.

Montag, 12. April: ("Pasquetta" = "Österchen"): Herrlicher warmer Sonnentag. Der zweite Teil des "Exil in Capri" ist viel lebendiger als der erste, namentlich für den Kenner und Liebhaber der Insel, in der tragikomischen Geschichte eines morbiden, mit Hilfe von Opium und Kokain zugrundegehenden Ästheten gleichsam ein Abgesang an ein" verwesendes Geschlecht", wie TrakI es nannte, das reif für den Ersten Weltkrieg war.

Dienstag, 13. April: Endlich Post aus Deutschland, morgens von unserem kleinen Capresischen Helfer mit einem Blümchen in der Hand überreicht. Abends spielt Maestro FaIco nicht auf der Zaubergeige, sondern erfreut uns durch harmlose Zauberkunststückecen mit zwei Taschentüchern.

Mittwoch, 14. April: Ich alleine auf Rundfahrt um die Insel auf kleinem, gewaltig schaukelndem Motorboot zur "Blauen Grotte". Die See geht so hoch, daß eine Einfahrt durch die niedrige Öffnung der Grotte nicht möglich ist. Kein schmerzlicher Verzicht, da wir das "Blaue Wunder" schon bei unserer ersten Italienreise erlebt und gebührend bewundert hatten. Dieses einzigartige Natur­phänomen war im Jahre 1826 von dem aus Schlesien stammenden Malerdichter August Kopisch und seinem Heidelberger Kollegen Ernst Fries "entdeckt", richtiger wiederentdeckt worden: Ein capresischer Fischer Angelo Ferraro und der Notar Don Pagone hatten ihnen von einer geheimnisvollen Grotte berichtet, in die man nur durch eine niedrige Öffnung vom Meer aus gelangen könne. Kopischs schwamm hinein und erschrak heftig. Denn 514 der Fischer hatte auf einer kleinen schwimmenden Kufe eine brennende Pechfackel in die Grotte geschoben, die das Wasser "gleich blauen Flammen entzündeten Weingeistes aufleuchten ließ". "Entzücken durchzitterte mich...", schreibt er, und "... Wenn nichts in der Grotte ist als das himmlische Wasser, bleibt sie dennoch ein Wunder der Welt..." Es war die Zeit der Romantik mit ihrem Sehnsuchts-Sinnbild der "Blauen Blume", die das Entzücken der frühen Besucher der Grotte gesteigert haben mag. Hans Christian Andersen und Ferdinand Grwgorovius sahen sich durch ihr "himmlisches Azurblau" in eine Märchen- und Feenwelt versetzt. Für Beide hatte sie etwas eigentümlich-unheimlich Beklemmendes und zugleich Andacht und Innenschau Erweckenes. Der junge Felix Mendelssohn-Bartholdy schilderte ihr Blau als "das blendendste, das ich je gesehen habe, ohne Schatten, ohne Dunkelheiten, wie eine Scheibe des hellsten Milchglases..." Gerhart Hauptmann schließlich fragte (als Spätromantiker?): "Kann es etwas geben, das auf eine abgeschlossene Welt des märchenhaft Schönen besser vorbereitet?" Nur André Gide mochte sie nicht, die "eiskalt getönten Strahlungen", die er "als nicht einmal himmelblau, sondern nur künstlich-blau empfand. Ich hatte Eile, um wieder herauszukommen...".

Dennoch: Die "Grotta Azzurra" ist zur unüberbietbaren Attraktion der Insel geworden, und die Capresen "haben es verstanden, Geld aus ihr zu machen".

Ihr erster Nutznießer war Angelo Ferraro: Er erhielt das Vorrecht, die grottensüchtigen Fremden dreimal so oft wie die anderen Fischer zu "seiner" Grotte zu fahren, für die man erst ihrem niedrigen Eingang entsprechende Minibarken bauen mußte, da jede Erweiterung der Öffnung die Lichtverhältnisse verändert und damit die blaue Strahlung gefährdet oder zum Versiegen gebracht hätte. Zum Dank für sein Verdienst, der Heimatinsel "zum Bewußtsein gebracht zu haben, daß Millionen über Millionen als ungenutztes Naturgeschenk in ihrem Felsenschloß ruhten", wurde dem braven Angelo vom Innenminister in Rom eine Altersrente von monatlich 30 Carlini gewährt", berichtet Sigmund Graff in seinem entzückenden Büchlein "Capri - Insel der Sehnsucht".

An unserem letzten Capritag besuchte ich den Internationalen Friedhof mit den Gräbern von Adelswaerd de Fersen, Jakob von Uexküll, Wredford, Norman Douglas und anderen, die dazu beigetragen haben, daß die Insel "ein kleines Welttheater im Mittelmeer" wurde.

515 Den Abschiedsabend begingen wir in beschwingter Stimmung inmitten einer größeren Gruppe deutscher Touristen aus Essen, dem Ruhrgebiet und dem Münsterland. Ein Lehrer sang mit schöner Baßbaritonstimme Lieder von Brahms und Schubert, Maestro Paolo gab sein Bestes auf der Zaubergeige, eine sehr voluminöse Lehrerin war niedlich beschlürft, der Altphilologe wieder in großer Form. Am nächsten Morgen lasen wir noch die Dankeswidmungen an das Reginella-Ehepaar FaIco, die die dort in Sicherheit gebrachten Angehörigen der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 hinterlassen hatten. Der kleine Benito - ich hatte ihn gestern untersucht und beraten - brachte uns zum Schiff, und die "Insel der Sehnsucht" entschwand unseren Blicken - für immer!

Beinahe hätte ich vergessen, zu erzählen, daß der Matrose, der uns durch die niedrige Felsöffnung in die Blaue Grotte ruderte, meine Antonia in dem schaukelnden Boot mit beiden Händen am Busen umgriff, um sie festzuhalten und niederzudrücken. Als er einen ziemlich hohen Preis für seine Hilfeleistung forderte, fragte ich leise: "Für den Busengriff will er noch bezahlt haben?!"  

Aus meinem Reisetagebuch "KRETA"

(6. bis 16. August 1979)

"Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. 

Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. 

Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt."

Mit dem Segen dieses alten jüdischen Wortes, das wir unserem Freund Richard Jeremy  Manville verdanken, gehe ich auf diese seit langem ersehnte Reise. Antonia bringt mich,  von Richard begleitet, trotz Übermüdung nach schlafloser Nacht zum Flughafen Langenhagen. Kurzer Abschied. Mit der B721 nach Frankfurt, von dort mit Lufthansa nach Athen. Als wir über dem Ägäischen Meer schweben, lassen mich, den Nachkommen von Kapitänen (und Seeräubern?), weiße Schaumkrönchen auf den blauen Wogen hoffen, daß die Schiffsfahrt auf der "Aphrodite" bewegt sein werden. Ich liebe das Meer nicht als großen "Teich". In Athen schon morgens 32 Grad! Umständliche Paßkontrolle und Gepäckabfertigung. Die Uhr muß um zwei Stunden, auf osteuropäische 516 Zeit, vorgestellt werden. Elias Romanos empfängt mich mit Tochter Christina und deutschem Schwager Helmut (aus Ehlershausen bei Celle). Mit seinem Wagen am Meer entlang zum Cap Sounion, das wir auf unserer ersten "Klassischen Hellasfahrt" nicht hatten sehen können. Zu beiden Seiten der Autostraße ein Appartment-Haus neben dem anderen, Diskotheken, Bars und andere Amerikanismen. Elias sagt, sie seien "wie Pilze aus der Erde geschossen". Armer Henry MiIIer! Was würde er sagen, der einmal gehofft hatte, Griechenland könne nie amerikanisiert werden! Diese bezaubernde Küste, die in Licht getauchten Inseln, was hat der Touristen-Boom aus ihnen gemacht! Ich versuche ihn mir wegzudenken, um noch einen schwachen Abglanz der "Lichttaufe" zu empfinden, die Goethe erlebte, als er Palermo erblickte und im April 1787 zum dort begonnenen Drama "Nausikaa" die Verse schrieb: "Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer, Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken..." Fast wolkenlos ist auch der Himmel heute. Wir sind am Cap Sounion: Der Poseidontempel mit seinen hell-bräunlichen Säulen, hoch über das tiefblaue Meer ragend - für mich die erste Erfüllung eines alten Traumes, den die Touristenhorden rasch zerrinnen lassen, die von aufeinander folgenden Bus-Karawanen ausgeschüttet werden und sich um die ehrwürdig-stummen Tempelsäulen drängen. Was singt HöIderIin in der Ode "Der Neckar"? "... Auch möchte' ich Bei Sunium oft landen, den stummen Pfad Nach deinen Säulen fragen, Olympion! Noch eh' der Sturmwind und das Alter Hin in den Schutt der Athenertempel und ihrer Gottesbilder auch dich begräbt. Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt, Die nicht mehr ist.“

Zurück nach Piräus! Elias besorgt die Polizeistempel für meinen Reisepaß, ohne die ich nicht auf das Schiff darf. Er kommt und kommt nicht zurück. Die Abfahrtszeit der "Aphrodite", neben der ich am Pier warte, rückt bedrohlich näher. Ich überlege, ob ich mit einem Fährschiff, das direkt nach Chaniá geht, fahren soll. Aber ich brauche ja den Paß, mit dem Elias losgezogen ist.

Endlich erscheint er mit Paß und Stempeln. Kurzer Abschied. Obwohl ich eine Einzelkabine gebucht und bezahlt habe, finde ich in der Kabine "Siphnos" einen Franzosen vor. Nachfrage beim Obersteward: "Leider keine Einzelkabine mehr frei!" Nach einigem Hin und Her und Einschaltung einer nicht sehr freundlichen deutschen Reisebegleiterin, die für eine Reisegruppe zuständig ist - Nachteil des Einzelreisenden! -, wird mir eine Einzelkabine für morgen Nacht zugesagt. 517

Abendessen im Schiffsrestaurant "Lucullus", dessen Speisenkarte seinem verheißungsvollen Namen nur knappe Ehre macht. An meinem Tisch mehrere Italiener, die in Ancona zugestiegen waren und das Schiff mit lautstarkem Temperament beleben. Abends lange allein auf dem Bootsdeck, auf das sanft wogende Meer und den dunklen Himmel geschaut, dankbar für das Glück dieser Reise.

Mein französischer Kabinenpartner erweist sich als freundlicher Mann, anscheinend frei von nationalistischen Ressentiments" Vous êtes un Humaniste!", meint er, als er die Bücher auf meinem Nachttischchen sieht. "Un peut!", erwide­re ich in gespielter Bescheidenheit. Nach Austausch weiterer Höflichkeitsflos­keln und wechselseitigem "Bonne nuit!" verholen wir uns - wie der Seemann sagt - in unsere Kojen. Mit einer halben Tablette Adumbran schlafe ich leidlich bei kaum bemerkbarer Dünung.

1. August: Sonnenhimmel ohne Wolken. Morgens Landung in Bodrum (Türkei), dem antiken Halikarnassos. Damals dorische Kolonie, wichtiges Handelszentrum im Bereiche des Südlaufes des Maeander (Maiandros), dessen winkeliger Verlauf dem Ornament den Namen gegeben hat. Die Ureinwohner dieser Küstenlandschaft, die Karer, galten als stumpfsinnig und waren die am geringsten eingeschätzten Sklaven. Erst unter persischer Herrschaft nahmen sie griechische Kultur an. Königin Artemisia kämpfte als Großadmiral (!) mit fünf Schiffen in der Flotte des Xerxes bei Salamis mit und wurde von ihm für ihre Tapferkeit ausgezeichnet. Bei einem Aufstand gegen ihren Nachfolger, den Tyrannen Lygdaris, mußte Herodot fliehen, kehrte zu dessen Vertreibung zurück, wanderte aber wegen der Parteienkämpfe endgültig aus und verbrachte seine späteren Jahre in einer von Perikles gegründeten Kolonie in Unteritalien. Herodot stammte aus Halikarnassos und sammelte "mit echt jonischer Wißbegier" auf seinen ausgedehnten Reisen (Persien, Ägypten, Afrika), die ihn auch mehrfach nach Athen führten, historisches und ethnographisches Material, dessen Bearbeitung ihn zum Vater der Geschichtsschreibung werden ließ. Artemisia die Zweite erbaute ihrem verstorbenen Mann (der ihr Bruder war!), dem König Mau solos, ein monumentales Grabmal, das nach ihrem Tode von berühmten Baumeistern und Bildhauern (Skopas) vollendet wurde: Das Mausolaion von Halikarnassos wurde eines der sieben Weltwunder. Inzwischen 518 ist es den Weg alles Irdischen gegangen, und von dem historischen Ursprung des Wortes "Mausoleum" sind nur klägliche Trümmer übriggeblieben...

Ich habe meine Reise unter den Schutz des Hermes und der Aphrodite gestellt: Hermes, nicht weil er der Schutzpatron der Diebe war, sondern als Hüter der Wege, dem die Reisenden sich anvertrauen. Zu seinen vielfältigen Bedeutungen gehörte auch die des Mittlers zwischen den Lebenden und den Toten. Der "chthonische Hermes" geleitet die Seelen der Verstorbenen in das Totenreich. Karl Kerényi hat in der Gestalt des Hermes die mythische Verkörperung des Zwischenreiches zwischen Leben und Tod gesehen. Dieses "Hermetische" trat ihm in Thomas Manns "Zauberberg" und im "Josephs“-Roman entgegen, deren religionsgeschichtliche Bedeutung er in seinem Briefwechsel mit dem "Zauberer" gewürdigt hat. In der Figur des ihm "so tief sympathischen Herrn Settembrini" sah Kerényi die Situation der Todesnähe "aus einer humanistischen Haltung zum Tode selbst - ein Thema, in dem Thomas Mann sich "mit einer solchen Sicherheit, Scharfsicht und Präzision bewegte ..., wie kein Gelehrter, der dieses Gebiet je in Angriff genommen hatte". Kerényi war von dem "hermetischen", antikisierend-mythologischen Gehalt der beiden Werke so fasziniert, daß er ihren Schöpfer zu dessen 60. Geburtstag einen "Doctor Hermeticus" nannte. Er ging in seinem ,Briefgespräch mit Thomas Mann so weit, daß er feststellen dürfe, mit dem Begriff des Hermetischen sei "die Herrschaft der in die europäische Geistesgeschichte von Nietzsche eingeführten dualistischen Formel - hie das Apollinische, hie das Dionysische - gebrochen." Als Drittes trete das „Hermetische" hinzu, das nicht mit Hermetik im gnostischen oder alchymistischen Sinn verwechselt werden dürfe, sondern antik-mythologisch zu verstehen sei.

Ich bin zu Kerényis Auffassung vom Sinn des Hermetischen abgeschweift, weil ich nach meiner ersten Kretareise das "Gespräch in Briefen" zwischen ihm und Thomas Man n noch einmal gelesen habe, und nun erst, vom "leibhaftigen" Erleben des Geistes der griechischen Antike erfüllt, ganz verstehen konnte. Es ist nicht übertrieben, wenn dieser Briefwechsel zu den "seltenen Glücksfällen der europäischen Geistesgeschichte" gezählt wird.

Aphrodite, die aus dem Schaum (aphros) Aufgetauchte (dýte), aus dem Meere Geborene, war meine Schutzpatronin, weil meine Liebe zum Meer etwas "Aphroditisches" anzudeuten schien, und vielleicht war es kein Zufall, daß 519 unser Herr Genth vom Hannoverschen Hapag-Lloyd-Reisebüro für mich eine Fahrt mit dem griechischen Schiff namens "Aphrodite" gebucht hatte.

Ich wurde auch bald an die Zusammengehörigkeit von Hermes und Aphrodite erinnert. Denn in der Umgebung von Bodrum-Halikarnassos, in Bardakci (Salmacis) Kyö, lebte noch der Mythos vom Sohn der beiden Götter, dem Hermaphroditos: Er war ein wunderschöner Knabe, in den sich die Quellnymphe Salmakis beim Blumenpflücken glühend verliebte. Er aber, ein scheuer Jüngling, versagte sich ihr. Sie versteckte sich hinter einem Gebüsch. Er glaubte sich unbeobachtet, entledigte sich seiner Kleider und begann in dem glasklaren Wasser des Sees, den die Nymphe bewohnte, zu schwimmen. Salmakis konnte sich nicht länger be­errschen, sprang ihm nach, umarmte ihn und betete zu den Göttern, sie mögen sie beide zusammenfügen zu einem Körper. Die Götter erhörten sie und schufen so ein neues Geschöpf, einen Körper aus Weib und Mann. So erzählt es uns 0vid in den Metamorphosen IV, 285-388.

Heute ist von dem mythologischen, dichterisch liebenswerten Ursprung des Wortes Hermaphroditos nur noch seine zoologische und biologisch-medizinische Bedeutung als "Zwitterbildung" oder "Intersex" übrig geblieben.

In dem kleinen archäologischen Museum in Bodrum sind Amphoren, Statuetten und ein Relief aus dem alten "Mausoleum" zu sehen. Die meisten Stücke aus dem Grabmal des Königs Mausolos befinden sich im Britischen Museum in London.

Bei glühender Sonnenhitze klettere ich auf die dorische Akropolis, auf der die Kreuzritter im 15. Jahrhundert, zum Teil aus Resten des alten Mausolaion, eine Burg erbaut hatten. Die Wehrtürme und Mauern sind erhalten geblieben und beherrschen das Stadtbild von Bodrum. Jede Nation hatte ihren eigenen Turm - alle gemeinsam in der Verteidigung gegen die Türken..

Unten am Hafen stehen Kamele bereit, auf denen man gegen Entgelt ein bißchen herumreiten kann. Dicke Touristen-Mammis werden auf die armen Kamele gewuchtet, um sich photographieren zu lassen - ein Anblick köstlicher Komik und ein Grund, auf den Kamelritt zu verzichten.

Im Bazar schlendere ich herum, kaufe ein Büchlein über Halikarnassos und eine Ansichtskarte, um an Antonia zu schreiben (in Erinnerung an unseren Türkeibesuch bei Susanne und Wilbern in Izmir vor 10 Jahren).

520 Einschiffung zur "Aphrodite". Weiterfahrt bei - leider - ruhiger See nach Rhodos. Dort nicht ausgestiegen, abgeschreckt durch ganze Schwaden von Touristen, die sich über die Insel ergießen. Rhodos hat sich, seitdem wir - 1959 - dort waren, erschreckend verändert. In der Nähe des Hotels "Kairo Palace" , in dem wir damals wohnten, sind inzwischen greuliche Hotel-Silos entstanden. Die Ruhe, die wir nach der anstrengenden "Klassischen Hellasfahrt" genossen hatten, scheint dahin zu sein. Nichts würde uns wieder nach Rhodos ziehen. Während die meisten Passagiere aussteigen, bleibe ich an Bord und mache es mir gemütlich, kühle mich mit einem Bierchen, bade mehrmals - als einziger - im Swimming-Pool und stimme mich mit Hilfe meiner drei Bücher: von Hanni Guanella, Robin Bryans und Richard Speich auf Kreta ein. (Das schöne Kreta-Buch von Erhart Kästner habe ich erst später gelesen):

Der Obersteward der "Aphrodite" hatte mich für 16 Uhr zu sich bestellt, um mir eine Einzelkabine zu verschaffen. Aber er war nicht anwesend. Auf meine Frage an die etwas nervös wirkende Sekretärin, wann er wohl zu sprechen sei, antwortete sie: "Er schläft jetzt!" Als ich wage, sie zu fragen, wann er wohl aus­geschlafen haben könnte, stellte sie, leicht ungehalten, die Gegenfrage: "Soll ich ihn vielleicht wecken?" Darauf ich: "Bitte nicht! Ich gönne ihm seinen wohlver­dienten Nachmittagsschlaf!" Drei Stunden nach diesem Dialog, um 19 Uhr, war der Obersteward so freundlich, einen Untersteward anzuweisen, mich in die Einzelkabine "Spetsos" zu führen und mein Gepäck dorthin zu bringen, was ich ihm mit einem angemessenen Bakschisch dankte. Danach "lukullisches" Abendessen. Nachtfahrt - endlich - etwas unruhig, mäßig schaukelnd mit harten WeIlenstößen gegen den eisernen Leib der "Aphrodite". Mit einer halben Ta­blette Adumbran leidlich geschlafen. Um 6 Uhr morgens erwacht.

8. August: Umständliche Paßformalitäten (Griechenland, Türkei, Griechenland). Dann auf das Bootsdeck. Ja - da ist sie, die kleine, kahle Felseninsel Dhia, ein "Versteinerter Drache", in den die Göttermutter Her a jene kleine Nymphe verwandelte, die der ungetreue Ehegatte Zeus zu seiner Geliebten erwählt hatte! Heute ist die Insel unbewohnt. Nur die wilden Bergziegen, "Agrimi" oder "Kri-Kri", leben auf ihr. Jacques Cousteau hat Dhia wieder bekanntwerden lassen durch seine Suche nach Atlantis, der versunkenen Stadt. Die Georgs-Bucht bei Dhia soll der Hafen der minoischen Könige auf Kreta gewesen sein, die mit ihrer Flotte das Mittelmeer von Sizilien bis zum Nahen 521 Osten beherrschten. Die minoische Seemacht war so stark, daß sie es sich leisten konnte, die großen Paläste auf Kreta ohne Befestigungsanlagen zu erbauen. Minoische Schiffe sollen über Gibraltar hinaus bis England und Skandinavien gelangt sein. Es ist möglich, daß die Erbauer der Steine von Stonehenge Kreter waren, da deren Steinzeichen dem kretischen Symbol der Doppelaxt ähneln. Alles Theorie! Sicher ist aber, daß das minoische Reich am damaligen Welthandel teilgenommen hat. Der Bernstein könnte, von der Küste des Baltischen Meeres, der Ostsee, importiert, auf der "Bernsteinstraße" nach Kreta gelangt sein.

Ja - und da liegt es vor mir: Das Venezianische Kastell von HerakIion! Aphrodite" legt an. Ich betrete Kreta - mein Jugendtraum beginnt sich zu erfüllen. Aber meine ersten Schritte sind mühsam: Kein Taxi weit und breit. In der Hitze eines Augusttages muß ich meine beiden Koffer über einen Kilometer weit, mehrmals mich auf Englisch durchfragend und die Koffer immer wieder absetzend, bis zur Bus-Station schleppen. Dort erwische ich gerade noch einen Bus nach Chaniá mit dem Sitzplatz Nr. 19, meiner Glückszahl (ein neunzehnter ist der Geburtstag meiner Mutter", sage ich zum Fahrkartenverkäufer. "Geburtstag der Mutter ist immer gut!" erwidert er freundlich.)

Schöne, aber ermüdende Fahrt am Meer entlang nach Chaniá, 138 Kilometer weit, vorbei an Rethymnon und an der Souda-Bucht (NATO-Kriegshafen) bis zur Innenstadt von Chaniá. Mit Taxi zum Hotel DOMA im Vorort Chaleppa, das Evchen Mommsen mir empfohlen hatte.

Ältestes Patrizierhaus im neoklassizistischen Stil, unmittelbar über dem Meer gelegen. Vor dem Haus zwei weiße Säulen, schönes schmiedeeisernes Tor- und Treppengitter.

Freundliche Begrüßung in Englisch. Deutsch wird nicht gesprochen. Zimmer war reserviert, aber noch nicht fertig. Zwei Betten, Dusche, alles einfach, aber sauber. Blick weit über die geschwungene Bucht, die Felsen der nördlichen Küste von Gischt umspült. "Was ist es, das an die alten seligen Küsten Mich fesselt, daß ich mehr noch sie liebe, als mein Vaterland..." (HöIderIin, Der Einzige).

Um mich abzukühlen, gehe ich hinunter ans Meer, entkleide mich vorsichtig (FKK-Baden ist in Griechenland moralisch verpönt und polizeilich verboten!), und wage es, zu schwimmen - vorsichtig wegen der Wellen und der Felsen. Das 522 Wasser ist noch unverschmutzt. Erfrischt ruhe ich mich aus, an einen Felsen gelehnt, in Gedanken versunken und das wilde Spiel der Brandung betrachtend, die sich hochsprühend an den Felsen bricht. Natürlich fällt mir der Bildgedanke meines geliebten HöIderIin ein: "Des Lebens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn ihr der alte stumme Fels, das Schicksal, nicht entgegenstände."

Das "Doma"-Hotel hat eine interessante Vergangenheit: Ursprünglich im Besitz der Familie Valirakis wurde es später österreichisches, dann englisches Generalkonsulat, diente von 1941 bis 45 der deutschen Besatzungsarmee als Ortskommandantur und kehrte nach der Befreiung Kretas in den Besitz der Familie Valirakis zurück, von Frau Rena V., einer schlanken, vornehmen, grauhaarigen Dame mit sanfter, aber fester Hand geleitet. Gegen Abend erscheint das Ehepaar Minos und Kanto Isychakis, Freunde von Evchen Mommsen, die mich bei ihnen angemeldet. hatte: Er ein still-bescheidener Atomphysiker, sie Kunsthistorikerin an der Universität Rethymnon, beides .liebenswerte Menschen, animae candidae,- bescheiden und hochgebildet. Sie laden mich zum Essen ein: "Pastizio", Teigwarenauflauf, und "Krepes", in Fett gebackener, mit Fleisch gefüllter Teil, dazu „Domestica", milder, wohlmundender Weißwein. Mein Versuch, die Gastgeber wenigstens zum Wein einzuladen, mißlingt. Dafür lebhafte Gespräche über Evchen Mommsen, mit der sie befreundet sind, Julianchen und Adalbert Connor, die sie bei deren Besuchen auf Rhodos ins Herz geschlossen haben, über archäologische Fragen, über Knossos und die venezianische Vorgeschichte Chaniás, über Hölderlins Griechenlandliebe und und und.

9. August: Früh 7 Uhr vom Reisebüro abgeholt, mit Bus nach Heraklion. Der Bus, ein Veteran, rüttelt und schüttelt so stark, daß ich nur mühsam in dem vorzüglichen "Führer durch das Archäologische Museum von Heraklion" lesen kann, den sein jetziger Direktor Dr. Stylianos Alexiou verfaßt hat (Clementinchen Kisker hatte ihn mir, mit gepreßten Asphodelos-Blüten auf der Titelseite, zum Geburtstag geschenkt.) Dieses Buch wird mein "Ariadnefaden" durch das Labyrinth der 20 Säle sein. Horden von Touristen, vorwiegend Amerikaner und Engländer, stehen und gehen vor dem Eingang herum. Ich habe Angst, in diesem Menschendschungel meine Bus-Leute aus den Augen zu verlieren und halte mich an einen freundlichen Holländer aus 523 meinem Doma-Hotel. Wir werden von einer englisch sprechenden Dame geführt. Wichtiger als ihre Erklärungen sind mir die Hinweise in dem Buch von Alexiou, in dem jedes Exponat, jede Vitrine gen au beschrieben und die Geschichte Kretas, der Ausgrabungen und des Museums selbst ausgezeichnet dargestellt ist.

"Es scheint kaum glaublich, daß ein Ort mit einem so abschreckenden Namen wie 'Archäologisches Museum' in Wirklichkeit so voller erstaunlicher Überraschungen ist, wie man sie nirgendwo in der Welt antrifft, und ein geradezu atemberaubendes ästhetisches Vergnügen zu bereiten vermag."

Diesem Hymnus des Verfassers eines der besten Kretabücher, des Engländers Robin Bryans, kann Jeder, dem der Ursprung der europäischen Kultur etwas bedeutet, nur zustimmen. Ich kenne nur noch ein Museum, in dem die Kunst einer in sich geschlossenen frühen Kulturepoche ähnlich unüberbietbar repräsentiert ist: Das Anthropologische Museum in Mexico-City.

Was ließe sich nennen an Werken einer schon rund 1000 Jahre vor dem Höhepunkt der griechischen Festlandskultur hochentwickelten, ungemein lebendigen, feinen, fast verfeinerten, eleganten Kunst in der Darstellung des religiösen und des weltlichen Lebens der Menschen in der Blütezeit der Minoischen Kultur? Was hat mich besonders stark angesprochen? Fast alles! Es geht mir ähnlich, wie es Herrn Bryans ergangen ist: "Ich habe das Gefühl, die Minoer gekannt und Freunde unter ihnen gehabt zu haben." Die Fresken, Wandmalereien, Stuckreliefs, Statuetten, Opfergefäße sprechen unmittelbar zu mir, so, als lebte alles noch, was sie ausdrücken. Sie berühren eine vitale, emotionale, vielleicht sinnliche Seite in mir - im Unterschied zu den Werken der griechischen Festlandskultur, etwa im Nationalmuseum in Athen, in den Museen in Delphi oder Olympia, die eher auf die geistige, ästhetische Seite meines Wesens wirken und in ihrer kühlen Vornehmheit Distanz schaffen. Beides ergänzt sich jetzt für mich zum vollen Bilde der altgriechischen Kunst.

Auf einem Tontäfelchen im Palast von Knossos hat der englische Sprachforscher PaImer als Erster einige Worte in vorhomerischem Griechisch entziffert. Ihm und den Archäologen Ventris und Chadwick, die die "Linear B" -Schrift entdeckten,' ist zu verdanken, daß wir den frühesten Zeugnissen der europäischen Sprachkultur auf die Spur gekommen sind. Auf einem der Täfelchen stehen die Worte: "Der Herrin des Labyrinthes Honig." Eine andere Zeile lautet: "Der Gesamtheit der Götter Honig." Beides sind Opferanweisungen. "Damit beginnt unsere europäische Religionsgeschichte überhaupt", sagt Karl Kerényi hierzu. Wer aber war die "Herrin des Labyrinths"? Es war Ariadne, nicht die auf Naxos, die von Hugo von Hofmannsthal gedichtet und von Richard Strauss komponiert wurde, sondern die Ariadne auf Kreta! Nach Homer war sie die sterbliche Tochter des kretischen Königs Minos. Sie half dem schönen athenischen Jüngling Theseus mit ihrem Rat und ihrem Faden, dem Irrgang des Labyrinths (von "Iabrys", Doppelaxt, abgeleitetes Wort) zu entkommen und vor dem Tod durch ihren schrecklichen Halbbruder, halb Mensch, halb Stier, den Minotauros, errettet zu werden. Sie wurde aber von Dionysos heimlich geliebt, bei Artemis "denunziert" und auf der Insel Dhia vor dem Hafen von Knossos von der Göttin getötet. Nach einer späteren Variante, die auch für Hofmannsthal galt, starb sie nicht, sondern wurde in tiefen Schlaf versetzt, von Dionysos gefunden und in seinem Wagen zum Himmel entrückt, an dem sie heute noch als der "Kranz der Ariadne" leuchtet.

"Wer weiß, außer mir, was Ariadne ist?", fragt Nietzsche in "Ecce Homo"! Er läßt Zarathustra Honig-Opfer auf einem hohen Berge bringen. Hierzu Kerényi: "Honig war bereits in der älteren Steinzeit die Nahrung auch von Menschen. Und er wurde in den Religionen des Mittelmeerraumes (und nicht nur da!) seit jeher als geeignete Opfergabe an die Götter empfunden. Die ältere Götterspeise, vor der Ambrosia, war der Honig... Kronos, einer der ältesten Götter, berauschte sich mit Honig, weil es damals,. vor der Geburt des Dionysos, den Wein noch nicht gab...“ Mit den Texten auf den Tontäfelchen von Knossos beginnt für uns - nach Kerényi - lange vor Homer die griechische Geistesgeschichte.

Das Archäologische Museum in Heraklion wurde im 2. Weltkrieg dreimal bombardiert, von vielen Bomben und Geschossen getroffen und durch Explosion eines deutschen Schiffes mit Kriegsmunition im Hafen stark beschädigt. Es diente den Deutschen als Depot für Kriegsmaterial, Hospital, Gefangenenlager für italienische Soldaten, befestigter Stützpunkt mit Schießscharten und Stacheldrahtverhau und - angeblich - auch als Ausbildungsstätte für chemische Kriegsführung. Aber sein unschätzbarer und unersetzbarer Inhalt war im Keller untergebracht und blieb unbeschädigt. 525 

Nach der Führung ging ich unbemerkt von dem Wächter ein zweites Mal in das Museum und betrachtete in aller Ruhe die Werke, die mich besonders stark angesprochen hatten.

Nun weiß ich, daß mich die Kunst und die Geschichte der minoischen Kultur nicht mehr loslassen werden! "Das Beste an der Geschichte ist der Enthusiasmus, den sie erweckt!", hat Goethe gesagt.

Nach dem Doppelgang durch das "Schatzhaus der Minoer" blieb mir Zeit zum Schlendern durch die wenig anziehenden Straßen und Gassen von Heraklion. In einem kleinen Juweliergeschäft sehe ich Armbänder mit dem kretischen Steinbock, und rasch - vielleicht zu rasch? - erstehe ich eines für Antonia (Sterling-Silber, 925 gestempelt). Hoffentlich freut sie sich!

In einem überfüllten Cafe am Venizelos-Platz ein Bier (Henninger-Bräu!) gegen Hitze und Durst. Ein Schweizer Bürger mit Frau und Tochter (alle Drei recht wohlgenährt) setzt sich zu mir und schimpft auf Schwyzerisch über den schlechten Service des griechischen Schwesterschiffes meiner "Aphrodite", die "Atlantis". Er habe sich geweigert, die 5 % Pourboir (Trinkgeld) zu bezahlen, weil das Essen nicht gut gewesen sei, die Air-Condition in der Kabine nicht funktioniert habe, beim Versuch einer Reparatur schwarzer Ruß oder Qualm ausgeströmt, das Schloß der Kabinentür nicht in Ordnung gewesen sei usw. Erst als der Obersteward ihm drohte; ihn und seine Damen ohne Pourboir nicht vom Schiff gehen zu lassen, habe er widerwillig die 5 % entrichtet. Er werde sich bei der Reederei beschweren!

Katzanzakis und die "Freiheit"

Die Stadt Heraklion (Iraklion) ist häßlich und laut, sie wimmelt voller Touristen - eine unschöne Muschel mit einer kostbaren Perle. Nikos Katzanzakis ist hier geboren und auf der Bastion Martinengo begraben die Kirche hatte ihm als Freidenker die Bestattung in geweihter Erde verweigert! Mit seinem bekannten Wort: "Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts - ich bin frei!", das er sich zum Grabspruch gewählt hat, erweist er sich als Agnostiker. Ein Mensch, der nichts fürchtet und nichts hofft, ist eine Illusion, und nicht einmal eine wünschenswerte. Was wäre ein Leben ohne Angst? Was wäre ein Leben ohne Hoffnung? "Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte", sagt mein geliebter 526 Hölderlin. "Etwas fürchten und hoffen und sorgen Muß der Mensch für den kommenden Morgen".. Nicht umsonst hat Schiller dieses Wort den Cajetan in der" Braut von Messina" sprechen lassen. Etwas drastischer hat Goethes es ausgedrückt: "Was ist der Mensch? Ein hohler Darm, mit Furcht und Hoffnung angefüllt, daß Gott erbarm." Ein Leben ohne Ängste und ohne Hoffnungen wäre ein Leben ohne Spannungen und Entspannungen, ohne Beengungen und Befreiungen, ohne Tiefen und Höhen, ein schales inhaltsleeres Leben, ein Leben ohne das Gottesgeschenk des Glaubens und der Liebe. Denn wir könnten nicht glauben und nicht lieben, ohne auch etwas zu befürchten und zu erhoffen, was nicht von uns allein abhängt, sondern von einer höheren Schicksalsmacht. Und: Würde Freisein von Furcht und Hoffnung wirklich "Freiheit" bedeuten? Eher das Gegenteil: Abhängigkeit von dem Trugschluß, es gäbe wahre Freiheit ohne Bindung an jene transzendente Macht (re-ligio), die stärker ist als unser Ego, eine Macht, die uns die Kraft verleiht, im Ur-Vertrauen zu ihr Halt und Geborgenheit zu finden. Vielleicht hat der Autor des "Alexis Sorbas", der ruhelose Wahrheitssucher, nur Ruhe gefunden in dem gewaltsamen Aufschwung zu dem Gedanken, Freisein von Furcht und Hoffnung sei "Freiheit". Er ist 1957 in Freiburg als Patient Heilmeyers gestorben.

Zurück zu seiner Geburtsstadt HerakIion: Nachmittags geht es hinaus nach Knossos! Am Eingang des Palastbezirkes das Denkmal für Sir Arthur Evans, der "Nestor der minoischen Archäologie". Aber nicht er hat Knossos entdeckt, sondern ein kretischer Kaufmann namens Minos Kalokairinos. Schon 1878 hatte dieser Amateur-Archäologe ein zusammenhängendes Mauerwerk, Steine mit Steinmetzzeichen und zehn riesige Vorratskrüge freigegraben. An der gleichen Stelle hatte bereits ein Engländer, Robert PashIey, Anfang des 19. Jahrhunderts Knossos vermutet. Ein späterer Amateur­Archäologe war der Deutsche WunderIich. Es ist reizvoll, in seinem 1972 bei Rowohlt erschienenen Buch" Wohin der Stier Europa trug - Kretas Geheimnis und Erwachen des Abendlandes" zu lesen, die auf den Fresken abgebildeten Stierspiele seien als blutige Menschenopfer zu deuten, Fische, Vögel, Delphine als Begleiter der Toten ins Jenseits, die Schlangenpriesterinnen seien Klageweiber, die ihre Brüste zum Zeichen der Trauer entblößt hätten, die Tontäfelchen in Linear-B-Schrift seien als Listen von Grabbeigaben und Stiftungen, für den Kult des " Totenpalastes" zu verstehen usw. WunderIich Buch ist 527 ein höchst anregender, mit bewundernswertem Fleiß und einer Fülle geistreicher Einfälle erarbeiteter Beitrag zur Geschichte wissenschaftlicher Irrtümer!

Als Heinrich SchIiemann, der damals in Troja grub, von der Entdeckung des Kaufmanns Minos Kalokairinos erfuhr, wollte er die FundsteIle kaufen. Er glaubte, den Palast von Knossos 1886 entdeckt zu haben. Aber der Preis für den Ankauf war ihm zu hoch, wie er in einem Brief an Rudolf Virchow vom 17. März 1889 schrieb. Der türkische Eigentümer des Grundstückes (Kreta war noch türkisch) verlangte den Preis für 2500 Ölbäume. SchIiemann zählte die Ölbäume und stellte fest, daß der Türke nicht einmal 1000 besaß, von denen viele abgestorben waren! Er kehrte nach Troja zurück und überließ es damit dem nicht mehr jungen Arthur Evans von Oxford, das Grund- und Fundstück zu erwerben und mit den Ausgrabungen zu beginnen, deren Ergebnisse die Ursprünge der europäischen Kultur ans Licht brachten.

WunderIich hat mit der Kühnheit des Außenseiters versucht, die Evanssche Deutung dieses Ursprungs radikal in Frage zu stellen, ja, zu widerlegen: Er sieht in dem Palast des Königs Minos in Knossos nicht den labyrinthischen Komplex eines prunkvollen Herrscherpalastes, in dem sich heiteres höfisches Leben von unerhörtem Glanz entfaltet habe, sondern ein Bauwerk, das ausschließlich dem Totenkult gedient haben soll. Eine "Nekropole", eine Totenstadt, .so fügt er einschränkend hinzu, sei Knossos allerdings nicht gewesen, vielmehr über seine eigentliche Funktion als Totenhaus oder ­wohnung hinaus ein geistiges Zentrum der umgebenden Siedlungsstätten, Kultstätte, Versammlungsort, Arena, Archiv, Gerichts-, Hinrichtungs- und Opferstätte und anderes mehr. Mit den ersten Theateranlagen und -fresken beweise das minoische Kreta, daß es den alt-mediterranen Totenkult überwunden und damit den Ansatzpunkt für den weiteren geistigen Entfaltungsprozeß geschaffen habe. "So erst wurde Kreta und mit ihm Griechenland das Ursprungsland der abendländischen Kultur, während die Reiche der orientalischen Machthaber versanken." Soweit WunderIich!

Es wäre müßig, auf die Argumente seiner archäologischen Widersacher eingehen zu wollen. Er ist 1974 gestorben. Wichtiger ist der Blick in die Anlage des Palastes von Knossos: Er ist zunächst enttäuschend: Fast alles ist Rekonstruktion nach Angaben von Evans: Wände, Säulen, Decken sind nachgebildet, die Säulen nicht mehr wie einst aus Holz, sondern aus Beton und grell 528 bemalt, die Fresken durchweg Kopien, von zwei Schweizer Malern, Vater und Sohn Gillieron, zwar nach minoischen Resten, zum Teil aber recht phantasievoll ausgeführt. Nur der steinerne Thronsessel - der älteste in Europa! -, die Vorratskrüge und Pithoi, "stehen in situ", wie Frau Dr. Hanni Guanella sagt. "Dennoch entsteht in uns der Eindruck des Einmaligen, ja Genialen. Badewannen deuten einen hohen Stand des damaligen Luxus an, und das komplizierte Kanalisationssystem läßt einen Grad technischer Perfektion ahnen, der nicht nur für die damalige Zeit außergewöhnlich, sondern bis in unser 19. Jahrhundert unerreicht war." Es ist sogar ein Toilettenraum erhalten geblieben, in dem sich ein Klosett mit Wasserspülung befunden hat!

Nahezu alles, was man heute an Ausgrabungen und Rekonstruktionen sieht, geht auf die Palastbauten der sogenannten neopalatialen Stufe zurück; das heißt, auf den Neubau des Palastes nach der Katastrophe von 1700 v. Chr., belehrt uns Frau Guanella. Die Katastrophe, wahrscheinlich ein Erdbeben, hat alle Paläste zerstört. Aber sie wurden schöner und prächtiger wieder aufgebaut. Um 1450 v. Chr. kam es zu einer noch schwereren Katastrophe, wahrscheinlich durch eine riesige Flutwelle, die das Auseianderbersten der Vulkan insel Thera (Santorin) ausgelöst hatte. Alle Paläste, Herren häuser und Siedlungen in Küstennähe wurden zerstört. Nur Knossos lebte noch einmal auf - zu seiner letzten künstlerischen Blüte. Ihr folgte das allmähliche Ende der minoischen Kultur und die Besetzung Kretas durch die Festlandsgriechen. Die Kreter beteiligten sich aber noch mit eigenen Truppen am Krieg Mykenes gegen Troja. Aber auch die Bollwerke der Mykener wurden Ende des 12. Jahrhunderts von den aus dem Nordwesten kommenden Doriern überrannt, und es entstanden unter einer strengen dorischen Militär-Hierarchie zahlreiche Stadtstaaten auf Kreta. Homer nannte es die "Insel der 100 Städte". Sie bekämpften sich gegensetitig, Verträge wurden nicht eingehalten (daher das schlimme Wort "Alle Kreter lügen") und der Niedergang Kretas als politische und Handelsmacht vollzog sich unaufhaltsam. Die Insel wurde nacheinander von fremden Völkern besetzt: Den Römern, von Ostrom (Byzanz), den Arabern, von Venedig, von den Türken und - leider auch von 1941 bis 1944 von Deutschland unter Hitler.

Zurück zu Knossos: Das Baugelände des Palastes ist unregelmäßig, oft terrassiert. In der minoischen Palast-Architektur herrschte - im Gegensatz zum Symmetrie-Prinzip der Festland-Architektur die Improvisation, die dem Labyrinth, dem „Haus der Doppeläxte" (Labrys), die spätere Bedeutung "Irrgarten" verliehen haben könnte.

Hierzu ein kleiner mythologischer Exkurs: Nach Homer - in der IIias ­ war das Labyrinth, ein Werk des Baumeisters und Künstlers Daidalos, ein Tanzplatz für die Göttin Ariadne, in der nach homerischen Sage ein Gebäude mit einem Irrgang als Grundriß. In ihm wurde Ariadnes Halbbruder Minotauros, ein Wesen halb Mensch, halb Stier, die Schande der Familie des Königs Minos, verborgen gehalten. Dieses Ungeheuer war das Erzeugnis eines Seitensprunges der Frau des Königs Minos namens Pasiphae, mit einem "wunderschönen, weiß glänzenden Stier!" Dem Minotauros wurden Kinder aus Athen als Tribut vorgeworfen. Ariadne verliebte sich in den schönen, siegreichen athenischen Jüngling Theseus, der das Ungeheuer erschlug und mit Hilfe ihres Fadens (oder Knäuels) den lebensrettenden Weg aus dem Labyrinth gefunden hatte. Theseus nahm sie und ihre Schwester Phaidra auf seinem Schiff mit, verließ sie aber auf der Insel Dia, die später Naxos hieß, und mußte sie dem Dionysos, der ein älteres Anrecht auf sie hatte, überlassen. Dionysos fand sie dort schlafend und fuhr mit ihr zum Himmel, wo sie heute noch im „Kranz der Ariadne" leuchtet.

Die Liebe des Dionysos zu Ariadne gehört zum Bild der altkretischen Kultur, das sich vor unseren Augen entfaltet", so schließt Karl Kerényi sein Kapitel über „Die Herrin des Labyrinths" in einem seiner schönsten Bücher "Auf den Spuren des Mythos".

Obwohl ich nicht, wie Katzanzakis in seiner Autobiographie Rechenschaft vor Greco" schreibt, zu Fuß nach Knossos "gewallfahrtet", sondern mit dem Touristen-Bus gefahren bin, war dieser Tag zwar bei drückender Hitze ermattend, aber durch die Fülle der Eindrücke bereichernd und beglückend.

Abends in meinem Hotelehen "Doma" allein gegessen mit dem Blick auf das Meer und einen Felsen, der im Profil an einen Löwenkopf erinnert.

 

Ein ungewöhnlicher Friedhofsgärtner

10. August: Zu Fuß durch die Altstadt von Chaniá zum kleinen, heute erst wieder eröffneten Archäologischen Museum in einer früheren Franziskaner 530 Kirche: Minoische Sarkophage und Pithoi, neolithische Funde, Linea-B-Handschriften, hellenistisch-römische Skulpturen (Asklepios-Statue, Kopf seiner Tochter Hygieia), Gartenhof mit Brunnen und Löwenköpfen. Dann zum Venezianischen Hafen mit dem Kunstgewerbe- und Andenkengeschäft der deutschen Frau Marlis Kaloutis aus Goslar, Suche nach Halskette aus sti,. lisierten Mohnkapseln - vergeblich, weil nicht typisch für Kreta. Dafür schöne Steinbock-Armreifen aus Sterling-Silber. Frau Marlis lebt seit 22 Jahren hier, mit einem Kreter glücklich verheiratet, einem aus alter venezianischer Familie stammenden Grafen, der seinen Titel als Zweitgeborener nicht führen darf. Sie wolle nicht nach Deutschland zurück. Die Menschen hier seien so sympathisch und liebenswert. Auf meine Frage, ob es nicht die Gefühle der Kreter verletzen könnte, wenn man sie als Deutscher auf den Fallschirmjägerüberfall 1941 und den deutschen Soldatenfriedhof in Máleme anspricht: "Nein! Das liegt so lange zurück. Die Leute haben das vergessen oder sie sprechen nicht darüber und tragen es uns nicht nach. Ihre Gastfreundschaft ist größer als etwaige Vergeltungsgefühle!" Die Bestätigung erfuhr ich noch. am gleichen Tage beim Besuch des deutschen Soldatenfriedhofs bei Máleme. In glühender Mittagshitze und bei krachenden Schießübungen eines NATO-Flugplatzes steige ich.zu dem Friedhof hinauf. Er liegt herrlich über dem Golf von Chaniá, von einem hohen schwarzen Holzkreuz überragt, mit deutscher Sorgfalt in vier Blöcke (nach den Kampfgebieten Mälerne, Chaniä, Rethimnon und Irakiion) geteilt, mit dicht aneinander gepflanzten, immer blühenden roten Mittagsblumen geschmückt, auf den steinernen Grabplatten je zwei Namen von Gefallenen, darunter etwa 350 unbekannten Soldaten. Am überdachten Eingang liegt ein Buch aus mit den Namen der 4456 deutschen Soldaten, die in den ersten 10 Tagen des Fallschirmspringerangriffs der deutschen Luftwaffe auf Kreta im Mai 1941 gefallen sind. Ich suche, aber finde nicht gleich den Namen von Werner Seibel, unserem guten Freunde aus der Zeit im Luftwaffen-Lazarett Halle-Dölau. Ein älterer, sympathisch wirkender Mann mit klugem, vertrauenswürdigem Blick kommt hinzu und fragt mich, ob er mir helfen könne. Es ist der Friedhofsgärtner. Er fährt mich zu den GrabsteIlen von Seibel ("Dr. med., Oberarzt") und Lottig (Prof. Dr. med., Stabsarzt"), Neurologe aus Hamburg. Ich frage den Gärtner, ob ich eine der roten Mittagsblumen pflücken dürfe, um sie auf Werners Grab zu legen und es für seine Mutter zu photographieren. Er antwortet 531 nicht und verschwindet. Nach einigen Minuten kommt er wieder mit je einem großen Strauß aus Mittagsblumen und weißen Oleanderblüten, in der anderen Hand zwei große Bündel Weintrauben! Nachdem ich mich bedankt und beide GrabsteIlen photographiert habe, bittet er mich - teils Englisch, teils Deutsch -, den Sohn seines deutschen Freundes aus Berlin zu besuchen, der im Krankenhaus in Chaniá wegen einer Verbrennung der Füße behandelt wird. Ich verspreche es ihm natürlich. Er sagte mir noch, daß er den Friedhof seit 8 Jahren betreue. Es sei seine Altersbeschäftigung und auch eine Lebensaufgabe! Die 100 Drachmen, die ich ihm für seine beiden Mitarbeiter gebe, nimmt er nur zögernd an, aber er bittet mich, etwas in das Buch im Eingangsraum, das für Besucher ausliegt, hineinzuschreiben. Ich blättere darin und finde nachdenkliche und sinnvolle Eintragungen, Mahnungen an Frieden und Versöhnung, aber auch törichte und taktlose Worte wie: "Was hatten die Engländer auf Kreta zu suchen? Es geschah ihnen ganz recht, daß sie vertrieben wurden." Darunter hatte ain anderer Deutscher geschrieben: "Was muß das für ein Pimpf sein, der so etwas schreibt?" Ich überlege kurz und schreibe die Worte hinein, die unser Richard Manville uns einmal gesagt hat: "Ich glaube an die Sonne, auch wenn - sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott; auch wenn er schweigt" und füge hinzu: "Im Anblick dieser Gräber sollten wir bedenken, was das Schweigen Gottes bedeutet!"

In Chaniá holt Minos Isychakis mich vom Hotel ab und bringt mich zum nahegelegenen Hospital, in dem ich den jungen Deutschen besuche, dem ich die Grüße des Freundes seines Vaters, des Friedhofsgärtners, ausrichte. Seine Füße sind dunkelblau verfärbt durch schwere Durchblutungsstörungen. Er soll noch einem Dermatologen vorgestellt und möglichst bald entlassen werden.  

Minos bringt mich in sein Haus (Renaissance-Portal aus der Venezianischen Zeit) zu Frau Kanto. Sie sagt, dies sei keine Wohnung, sondern eine "Baustelle"! Denn sie wird von Grund auf renoviert und restauriert und das werde noch 2 - 3 Jahre dauern. Aber für Evchen Mommsen stehe immer ein Gastzimmer bereit.

Bei Tee und Kuchen erzählt mir das Ehepaar, der Friedhofsgärtner sei ein berühmter kretischer Schriftsteller und Dichter! Sein Buch" The Cretan Runner - History of German Occupation", 1955 in London erschienen, sei ein Bestseller 532 geworden. Er schildere darin seine Erlebnisse als Partisan, und zwar als Meldegänger zwischen den versprengten englischen Truppen und den kretischen Widerstandskämpfern. Dieser Mann, der allen Grund gehabt hätte, sich nicht um die Gräber der deutschen Soldaten zu kümmern, die seine Heimatinsel überfallen haben - er macht es zu seiner Alters- und Lebensaufgabe, diese Gräber zu pflegen!

Er heißt Psychountakis und arbeitet mit Hilfe eines Staatsstipendiums an der Übersetzung der 0dyssee ins Neugriechische, um die Welt Homers dem Verständnis der heutigen Griechen näherzubringen. Außerdem hat er ein Buch über das neuzeitliche Kreta verfaßt, das 1962 in Chaniá erschienen ist: Ein ungewöhnlicher Friedhofsgärtner!

Nachmittags mit Minos und Kanto über halsbrecherische Wege zu ihrem Landgut, 50 Hektar, einer weitgehend verwilderten Sehenswürdigkeit mit einem trocken gelegten Aquarium, halbverfallenen Gebäuden, einer leeren Voliere, subtropischen Pflanzen und einem restaurationsbedürftigen Eingangstor im Renaissance-Stil - alter Besitz aus Minos' Familie. Liebenswerte Menschen, beide sympathisch unkonventionell.

11. August: Morgens mit Taxi abgeholt. Am Reisebüro steigt eine rundliche, blonde Reiseleiterin (dänische Lehrerin) und eine dunkelhaarige, vornehme, spanisch sprechende Dame mit zwei kleinen Töchtern hinzu, Venezuelanerin aus Caracas, wie sie sagt. Es geht zur Orthodoxen Akademie neben dem Kloster Goniá, in dem die Gebeine der gefallenen deutschen Soldaten gesammelt und aufbewahrt wurden, bevor sie auf dem Friedhof bei Maleme beigesetzt werden konnten. Die Akademie ist nach dem Muster der deutschen Evangelischen Akademie von Bischof Irenäos, einem bedeutenden Sozialreformer, jetzt Metropolit in der Bundesrepublik und Exarch von Zentraleuropa, gegründet worden. Sie dient mit Vorträgen, Seminaren, Kursen der Begegnung zwischen östlichem und westlichem Glauben und Denken und leistet praktische Sozialarbeit in der Hilfe für Frauen und Familien in den Dörfern. Auf meine (naive) Frage, warum nicht auch Männer sozial betreut würden, erklärt die deutsche Sekretärin der Akademie: "Die haben es hier nicht so nötig!" Dies trifft .sicherlich zu. Die Frauen gehen auf Kreta, auch wenn sie noch nicht verwitwet sind, auf dem Lande in Schwarz, und es bedarf keiner lebhaften Phantasie, um zu vermuten, daß sie von den bescheidensten Ansätzen zur Gleichberechtigung 533 weit entfernt sind. Im Gottesdienst müssen sie noch ebenso getrennt von der Männern sitzen wie die Frauen in den streng orthodoxen Synagogen. Nur im Hause darf die Frau herrschen.

Das Kloster Goniá gleicht einer Festung. 1645 landeten hier die Türken, um nach Chaniá weiterzumarschieren und es zu besetzen. Byzantinisch. früh barocke Architektur, reich geschnitzter Bischofs-Thron und schöne Ikonen: darunter eine mit der Darstellung des Heiligen Johannes von Gouvernéto, von dem die Legende erzählt, er sei mit 98 anderen Männern aus Ägypten nach Kreta aufgebrochen, das Schiff habe bei einem Sturm unterwegs anlegen müssen, der schlafende Johannes sei von den an Land gegangenen Gefährten vergessen worden und ihnen, auf seinem ausgebreiteten Mantel schwimmend, bis Kreta nachgefolgt! Er und seine Brüder in Christo siedelten sich in Höhlen unterhalb des heutigen Klosters Gouvernéto auf der Halbinsel Akrotiri bei Chaniá an. Johannes wurde, als er aus der Höhle kroch, von einem Jäger für ein Tier gehalten und angeschossen. Er verzieh dem Jäger, starb aber bald danach.

Weiter geht es an der wilden Westküste Kretas vorbei nach Falássarna, einer nach minoischen (dorischen?) Handelsstadt, von der nur noch Mauerreste übrig geblieben sind, die ich nicht entdecken konnte. Da dieser uralte Ort nach einer Nymphe benannt ist und sich eines herrlichen, langen Sandstrandes erfreut, genoß ich, abgesondert von meiner Touristengruppe, das Bad im Meer in vollen Schwimmzügen. Im Taxi zurück auf halsbrecherischem Schotterweg. Die Venezolanische Dame stellt plötzlich fest, daß sie ihre Tasche in einer Taverne oberhalb des Strandes vergessen hat. Also zurück in dem rüttelnden und gefährlich schüttelnden Wagen, hinunter zu der Taverne, Tasche gefunden, wieder zurück und hinauf mehrere holperige Kilometer, eine Zumutung, die der Fahrer Johanni mit Gleichmut auf sich nahm. Im Weinbaustädtchen (und Bischofssitz!) Kastelli Kissámou am gleichnamigen Golf frisch gefangenen und vor unseren Augen gebratenen Fisch gegessen und Kastelli-Rotwein geschlürft. Am Tisch im Freien nahe am Strand fünf Nationen: Die Dänin, die Venezolanerin, .eine Amerikanerin, Johanni und ich. Johanni gab mir von seinem "Retsina", ich ihm von meinem "Kastelli" zu trinken und Alle zusammen bildeten eine muntere, vom Wein beschwingte Völkergemeinschaft. Die Dame aus Caracas war inzwischen mit ihren Töchtern ans Meer gegangen. 534

Plötzlich ein vielstimmiger Ruf: "Jatrós! Jatrós!" Ich springe auf und sehe die Venezolanerin kollabiert an der Erde liegen, blaß mit beschleunigtem, "kleinem" Puls, aber offensichtlich nicht in lebensbedrohlichem Zustand. Die Töchter schreien: "Mama, Mama muerta!" Aber Mama war nicht tot. Alles redete mehrsprachig durcheinander, man gab gute Ratschläge, und ich hatte Mühe, die Töchter und die Umstehenden zu beruhigen. Außer leichtem Anheben der Beine und Kontrolle des Pulses der "Gefallenen" sah ich im Augenblick keine Indikation für weitere "Erste Hilfe". Ein eifriger Franzose bot ein Nitro-Präparat an, das ich für unnötig hielt, da keine Zeichen eines stenokardischen Anfalls zu erkennen waren. Frau "Caracas" war inzwischen nämlich ansprechbar geworden und verneinte Fragen nach entsprechenden Beschwerden. Sie erholte sich auch bald, aber ich bat den sympathischen Johanni, die Dame mit den Töchtern, die Dänin und mich so schnell wie möglich nach Chaniá zurückzufahren, wobei ich auf die im Programm vorgesehene Besichtigung der Tropfsteinhöhle Ajía Sofía verzichtete. Unterwegs wären wir beinahe mit einem Motorradfahrer zusammengestoßen, der in einem Höllentempo auf der linken Straßenseite auf uns zukam. Johanni riß den Wagen im letzten Augenblick nach rechts in eine ziemlich tiefe Rinne am Straßenrand hinein und wir waren mit. einer Beule am Wagen und dem Schrecken davongekommen. Frau "Carácas" war inzwischen gesprächiger geworden und berichtete mir, sie sei geschieden, ihr Mann kümmere sich um sie gar nicht, um die Töchter wenig. Plötzlich fragt sie mich, ob ich vielleicht auch geschieden sei! Auf meine Antwort: "No, Senora, en contrado - muy buen casádo!" schien sie mit einem leicht enttäuschten Blick zu reagieren. (Vielleicht habe ich den aber auch hinzugedichtet. ) Am Hotel Panórama in Chaniá lieferte ich meine "Patientin" in der Rezeption ab mit der Bitte, der Portier möge einen Arzt benachrichtigen. Das ist auch geschehen mit dem Ergebnis, es habe sich um eine akute Gastro-Enteritis gehandelt, durch die der Kollaps hervorgerufen worden sei. Dies teilte mir "Frau Carácas" mit, als ich sie am nächsten Vormittag anläutete und nach ihrem Befinden fragte. Sie und die dänische Reiseleiterin bedachten mich mit vielen Dankesbezeugungen.

Johanni hatte mir bei der Rückfahrt nach Chaniá das Haus des Komponisten Mikis Theodorakis in dem Vorort Galata gezeigt - komfortables Zeichen der guten Verträglichkeit linkssozialistischer Ideologie mit den Vorteilen des Kapitalismus! 535

12. August: Morgens mit Bus über Vrysses und die "Weißen Berge" gen Süden. Kurvenreiche Gebirgsstrecke mit steilen Abhängen ohne Geländer, hoch hinauf bis zur Paßhöhe. Leichtes Schwindelgefühl, Ohren fallen zu. (Höchster Berg Psiloritis, Name klingt nach" Entzündung"! 2456 m.) Von der Paßhöhe fällt die Straße steil ab. "Mimmi" Demetrios steuert den Bus kunstvoll und kühn um die engen Kurven - endlich, tief unter uns das Libysche Meer "Livikon Pélagos“, wie die Kreter es nennen, weil es die Insel mit Libyen verbindet - oder von ihm trennt. Ankunft in Chora Sfákion, das im 16. Jahrhundert eine blühende Handelsstadt, später ein Treffpunkt kretischer Revolutionäre war. Ein großer Freiheitskämpfer, Dhaskalojannis (der gelehrte, weise Johannes) wurde als Führer des Aufstandes gegen die Türken gefangengenommen, gefoltert und in Heraklion getötet, indem man ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzog - er soll keinen einzigen Schrei ausgestoßen haben. In dem "Lied des Dhaskalojannis" wird er als Nationalheld Kretas gefeiert.

In dem kleinen Hafen des Ortes wartete schon das Schiffchen "Santa Maria" - leicht angerosteter Rumpf! -, um uns in knapp zwei Stunden sanft schaukelnd nach Ajía Rouméli zu bringen. Unterwegs wurde ein an beiden Beinen gelähmter vornehm aussehender junger Mann im Rollstuhl am Hafen von Loutro von Bord gebracht. Da er mich an Richard erinnerte, fragte ich ihn, ob er Engländer sei, was er bejahte. Ich half ein bißehen beim Abladen des Rollstuhls und erfuhr, daß er mit einem Tauchgerät schwimmen wollte. Sein Freund oder Bruder begleitete ihn mit mir an Land. Plötzlich ertönte vom Schiff aus ein Ruf: "German Doctor, come back!". Die "Santa Maria" wollte ablegen, und ich kam im letzten Augenblick an Bord. Am Ziel der Fahrt, in Ajía Rouméli, einem ehemals türkischen Kastell, hatten sich Scharen von Touristen versammelt, die aus der Samaria-Schlucht zurückgekehrt waren oder sie durchwandern wollten. Eine junge Reiseleiterin teilte uns einen jungen, hübschen und stämmigen "Skafioten", Kostas, zu, der uns durch die Schlucht führen sollte. Ich hatte, von Frau Rena beraten, nicht den ganzen, 18 km langen Weg gewählt, sondern den "Lazy Way", je 4 km hin und zurück. Dann ging es los: über Steine, Felsen und durch den rauschenden Gebirgsbach in die Tiefen der Schlucht'. Sie gilt als Naturwunder und ist die längste Schlucht 536 Europas, bis 600 Meter tief eingeschnitten, nach oben bis zu 3 - 4 Metern schmal. "Der Wanderer schreitet gleich Orpheus aus strahlendem Sonnenschein hinein in die Düsternis der Unterwelt. Die Felsen nehmen phantastische Gestalt an. Wärme und balsamische Milde wandeln sich zu Kühle und dem herben Geruch des Wildwasser", schreibt Robin Bryans in seinem Kreta-Buch. Das eiskalte, kristallklare Wasser des rasch fließenden Gebirgsbaches habe ich, auf dem Bauche liegend, in mich hineingeschlürft, denn es war nicht kühl, sondern wurde heiß, und Kostas führte unsere kleine Gruppe - einige Damen etwa in meinem Alter! - zügig voran. An einigen Stellen mußten wir von Stein zu Stein springen oder auf Felsen balancieren und auch durch das Wasser waten. Beim Beginn der Wanderung war ich der Letzte, am Schluß der Erste. Nach etwa 3 Stunden Hin- und Rückweg öffnete sich die Schlucht, und wir erblickten wieder das Libysche Meer, tiefblau, mit weißen Schaumkrönchen bedeckt. Wir dankten dem schönen Kostas mit einem angemessenen Obolus. Die Schlucht ist heute Nationalpark. Einst hatte sie Geächteten und Rebellen als Zuflucht gedient, aber auch unschuldigen Dorfbewohnern Schutz vor der "Vendetta" geboten, ebenso leider Mördern, Räubern, Frauenschändern. Während des griechischen Bürgerkrieges in den 40er Jahren unseres Jahrhunderts versteckten sich hier kommunistische Guerillakämpfer. 

Interessant sind Flora und Fauna dieser einzigartigen Schlucht. Hier wächst das Dhiktam-Kraut (Origanum dictamnus), dem eine wund heilende Wirkung zugeschrieben wird, und hier leben die wilden, unter Jagdschutz. stehenden Bergziegen, die „Agrimi“ oder "Kri-Kri" an Steilhängen und Seitenschluchten. Sie nahmen in der minoischen Zeit offenbar eine besondere Steilung in der religiösen Symbolik ein und zieren als silberne Nachbildungen die Armbänder, nach denen ich für Antonia gesucht habe. Das kretische Wunderkraut "Dhiktamon" - pupurfarbene Blüte und daunenweiche Blätter - wird schon von Vergil erwähnt: Der im Kampf um Troja verwundete Askanios, der später König von Troja wurde, ist von seiner Mutter Venus mit dieser Heilpflanze, die sie auf dem Gipfel des Berges Ida gepflückt hatte, gesund gepflegt worden. Leider habe ich weder Dhiktam noch Kri-Kri in der Schlucht entdecken können.

Am Strande von Ajía Rouméli hatten sich nicht nur die unvermeidbaren Touristen-Horden versammelt, sondern auch zahlreiche langmähnig-bärtige, 537 schmuddelige Hippies breitgemacht und eine Art "Night Club" oder "Disco Shop" etabliert. In der Taverne sitzen die einheimischen Männer in ihren schwarzen Stiefeln und Pluderhosen mit ernsten Gesichtern. Die Reiseleiterin sagt mir, sie seien so traurig, weil mehrere Bewohner des Dorfes in den letzten Tagen gestorben sind. Sie stellt mir "Mimmi" Demetrios vor, einen mit tiefschwarzen, ausladenden Koteletten geschmückten jungen Mann. Als ich ihr sage, "Mimmi" sei bei uns ein weibliches Kosewort und der Name der Titelheidin einer Oper von Puccini, "Boheme", lachen beide wie die Kinder.

Rückfahrt mit einem anderen, überfüllten Schiff, stark schaukelnd, nach Chora Sfakion. Wen erblicke ich in der Taverne am kleinen Hafen? Den guten Joanni. Freude, Umarmung, Photo, Adresse. Zurück über die Berge, hinter uns Joanni am Steuer eines anderen Busses, an den steilen Kurven immer wieder verschwindend und auftauchend. Milder Abschluß eines eindrucksreichen Tages im Gästeraum des "Doma", von Frau Rena und zwei "Saaltöchtern" freundlich, wenn auch im Zeitlupentempo, bedient.

13. August: Frühmorgens durch das westliche Kreta über Berg und Tal nach Paläóchora, das nach einem hoch über dem Meer gelegenen venezianischen Kastell auch Kastelli Selinou genannt wird, eine Stadt an der kretischen Südküste mit schönem Sandstrand. Herrliches Bad in der Brandung, aber leicht depressive Gedanken, Sorgen, wie es zu Hause gehen mag, Heimweh, Zwangsangst, mit meinem Geld nicht auszukommen usw. Aber nach dem erfrischenden Bad verschwanden die düsteren Wolken, die sich vor die südliche Sonne gelegt hatten, und der äußere wie der innere Himmel hellte sich wieder auf.

Schöne Fahrt durch Orangenplantagen und saubere, schmucke Dörfer. Halt in Kándanos, einem Ort mit schrecklicher Erinnerung: Als Vergeltung für die Ermordung von 25 deutschen Soldaten durch Partisanen ist das Dorf mit allen Bewohnern dem Erdboden gleichgemacht worden. Eine Pyramide neben der neu erbauten Kirche mahnt an das entsetzliche Geschehnis. Der ganze Ort ist wieder aufgebaut worden und wirkt in seiner Farblosigkeit etwas unheimlich.

Abends in einem kleinen Ort bei Chaniá kretische Folklore-Musik (mehr kakophonische Geräusche!) mit Volkstänzen in bunten Kostümen. Die Trachten bei den Tänzen: Mädchen in weißen Pluderhosen (wahrscheinlich Reste aus der Türkenzeit) mit roten Stickereien, schwarzen Blusen mit weißem Krageneinsatz, 538 rote Kopfbedeckungen, weiß bestickt, hinten halblange rote Schleppe. Männer in schwarzen Pluderhosen und weißen Stiefeln, schwarzen Westen, mit Ketten behängt, im Gürtel ein schräger Dolch. Die Kinder (Mädchen) in langem, rotem Rock und schwarzer Bluse. Ein kleiner Junge aus dem Publikum tanzt Solo, elegant und anmutig. Die Kinder auf Kreta lernen diese Tänze schon von kleinauf. Zum Schluß Sirtaki für junge leute aus dem Publikum. Ein junger Mann tanzt eine Art Krakowiak. Die Tänze erinnern überhaupt zum Teil an russische und andere östliche Volkstanzformen. Das Essen an dem Folklore-Abend: Tomate mit Reis und Fleisch gefüllt, stark gewürzte Fleischwürfel mit Kartoffeln, Wassermelone, Rotwein und frisches Wasser aus Karaffen. Als Dessert Blätterteig, mit Zucker und Zimt bestreut.

Im Doma-Hotel finde ich einen Dankesbrief der dänischen Reiseleiterin vor: "Lieber Dr. Johannes Werner! Ich danke Ihnen vielmals, weil Sie uns so gut geholfen haben. Falls Sie nach Kopenhagen kommen würden, möchte ich gerne Ihre Reiseleiterin sein. Ich wohne Kongovej 25, I, 2300 Kopenhagen, Telef. 01­581990. Mit vielen Grüßen Jytte Kirk, Hotel Kanea." Ich schicke ihr sogleich einen Dankesbrief für ihren Dank ins Hotel.

14. August: Morgens Anruf Frau Kanto Isychakis: Ob es mir recht wäre, wenn Minos mich mit seinem Onkel, der gerade bei ihnen zum Besuch ist, abholen würde zu einem Besuch des Klosters Aja Tritadha auf der Halbinsel Akrotiri. Ich sage natürlich erfreut zu. Minos erscheint pünktlich mit Onkel Evangelos Petychakis aus Athen, 75 Jahre alt, ehemaliger Advokat und Regierungsbeamter, Witwer, kinderlos mit einer Münchnerin verheiratet gewesen, die er während seines dortigen Jurastudiums kennengelernt hatte. Intelligenter, vielseitig gebildeter Mann, Agnostiker und Nihilist. Seit dem Tode seiner geliebten Frau sei das leben für ihn. sinnlos geworden. Es habe ja alles keinen Bestand. Im Grunde sei alles nichtig. Die Religion versuche nur, über die Nichtigkeit des Daseins mit Verheißungen und Gebeten hinwegzutäuschen. Mein von Minos unterstützter Versuch, ihm nahezubringen, daß die Liebe, die ihn mit seiner Frau verbunden hat, mit ihrem Tod nicht gestorben ist und in ihm weiterlebt, daß er von Minos und Kanto geliebt werde und daß dieses alles, zusammen mit seinen geistigen Interessen, seinen Büchern, nicht ohne Sinn in seinem einsamen Leben sei, findet keine Resonanz. Meine leise Frage, ob er nicht beten könne, scheint er nicht verstanden zu haben. Ich wollte auch nicht 539 weiter in sein Intimum eindringen. Wir konzentrierten uns dann auf das Kloster Aja Tritadha, das bis zum 19. Jahrhundert eines der bedeutendsten Kretas war, erbaut von einem venezianischen Edelmann Jermias ZangaroIa, der später zum orthodoxen Glauben übertrat. Monumentales Portal im klassizistischen Stil, Campanile, als Palast-Bau angelegt, Palast als" Wohnsitz des Herrschers Gott"! Heute ist es kirchliche Schule für begabte junge Menschen, die mit Stipendien ausgebildet werden und nach Abschluß dieser Ausbildung Theologie in Athen oder Thessaloniki studieren können. Auch musikalische Erziehung gehört zum Lehrplan.

Wir bekamen einige dieser Schüler zu sehen. Einer von ihnen war auffallend dick. Gemeinsam versuchten wir, die lateinischen Inschriften über den Portalen zu entziffern. Eine lautet: "Der Geist ist der Schöpfer der Welt und der Ursprung von Allem." Gespräch über die Unterschiede zwischen orthodoxem und römischem Katholizismus: Der orthodoxe Glaube kennt keine Dreifaltigkeit, für ihn gibt es nur Gott, den Herrn und Christus, seinen Sohn. Aber Gott allein ist der Herr. Also klarer Monotheismus zum Unterschied von dem "verkappten Polytheismus", der Trinität. Ich erwähne meine Ansicht zur Schwäche des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus: Jener stehe nur auf einer Säule: Christus als Logos, dieser auf zwei Säulen: Loaos und Mvthos. Das mythische Element, die Heiligenverehrung, der Marienkult, die kirchliche Malerei und Architektur, fehle dem Protestantismus, und dies sei seine Schwäche., Ja - wenn sich der rationale und der irrationale, mythische Säulen bau des christlichen Glaubens noch durch die Vergöttlichung der Naturkräfte in der Religion der griechischen Antike ergänzen ließe - eine utopische Vision! - dann gäbe es eine Möglichkeit, die nahezu alle Seiten meines personalen Wesens ansprechen könnte. Dazu müßte etwas rein Geistiges, weder Rationales noch Irrationales, weder Christliches noch "Heidnisches" kommen: Das "Denken an das Sein des Seienden". Metaphorisch gesehen wäre meine linke Herzkammer christlich, die rechte heidnisch und das Septum, das beide verbindet und trennt, wäre das "Ontische". Ich weiß nicht, ob die beiden griechischen Herren mich verstanden haben. Wahrscheinlich nicht. Ich kann es selber kaum verstehen.

Noch etwas Mythologisches zur Halbinsel Akrotiri: An der Nordwestspitze befindet sich hoch über der Küste die Höhle Lera, an oder in der sich ein Heiligtum der Nymphe Akakallis befunden haben soll. Sie galt als 540 Tochter des Königs Minos und seiner Gattin Pasiphae, der Mutter des Königs Kydon, des Stammvaters der Stadt Kydonia, nämlich des heutigen Chaniá!

An dem gleichen Steilhang ist übrigens die Seilbahn für den Transport der Holzstämme für den Film "Alexis Sorbas" nach Katzanzakis' Roman mit der Musik von Mikis Theodorakis aufgebaut und gefilmt worden!

König Kydon, Sohn Apolls, Enkel des Minos, war berühmt durch seine besonders große Gastfreundschaft. In diesem Ruf stehen auch die heutigen Chanioten, sagt Hanni Guanella, und ich kann dies nur bestätigen: Kanto und Minos, Joanni, Rena, Evangelos - alle waren, jeder auf seine Weise, rührend bemüht, mir Gutes zu erweisen. Evangelos half mir noch, in einem Blumenladen einen schönen Rosen- und Nelkenstrauß zu erstehen, mit dem ich mich bei Kanto bedankte. Er erwähnte noch, daß er Monarchist sei und KaramanIis für einen nur mäßig gebildeten, schwachen Politiker halte, der den Sozialisten zuviel Konzessionen mache mit dem Erfolg, daß sich an .den griechischen Universitäten ein ähnlicher "Marsch durch die Institutionen" vollziehe wie bei uns. Über die ehemalige Königin Friederike, ihren Hannoverschen Bruder Ernst-August und dessen unerfreulichen Streit mit .seiner Mutter war er gut informiert. Die griechische Volksmusik empfand er .als "unerträglich". Mikis Theodorakis wolle mit seinen Kompositionen, die zum Teil "recht gut" seien, nur Propaganda für seine sozialistischen und kommunistischen Anhänger machen. Die Texte seiner Lieder seien vielfach Aufforderungen zur Revolution gegen die Demokratie!

Letzter Abend in meinem Doma-Hotel ("Dorna" ein altes poetisches Wort, Synonym für "domus" = Haus, Wohnung). Frau Rena schenkt mir Feigen zum Abschied.

15. August: Unausgeschlafen. 6 Uhr Wecken. Mit Taxi zur Bus-Station. Pünktlich in Heraklion. "Aphrodite" erwartet mich. Wieder kein Taxi. Koffer zum Schiff geschleppt. Vom Obersteward freundlich begrüßt. Einzelkabine "Leros". "Aphrodite" legt ab. Das venezianische. Kastell und die Ziegeninsel Dhia entschwinden langsam. Kreta liegt hinter mir - nein in mir! Ruhige Fahrt. Mehrmals ins Schwimmbad gesprungen, Ankerung. vor Santorin, Ausbootung. Naturwunder! Erstaunlicher Anblick! Die weißen Häuser hoch über 541 dem Meer, auf weißem Bimsstein erbaut. In Serpentinen führen die Pfade nach oben. Man sieht schon vom Schiff aus karawanenartige Züge von Maultieren sich hinaufwinden. Auch ich muß mich auf ein Maultier schwingen und die 400 Meter hinauftragen lassen, nicht ohne photographiert zu werden. Der Treiber schlägt auf mein armes Maultier ein, für das ich keine ganz leichte Last bin. Ich gebe ihm etwas Geld für ein Bier, das er sich erbettelt. Leider kann ich ihm nicht verständlich machen, daß er mir versprechen soll, meinen kleinen Mulus nicht mehr zu schlagen.

Oben überwältigender Blick auf das Archipel, das nach dem Vulkanausbruch auf der Hauptinsel Thera um 1450 v. Chr. stehen geblieben ist. Brocken vulkanischen Gesteins, Bimssteine, sind 120 Kilometer entfernt bei den Ausgrabungen des Palastes von Kato Zakros auf Kreta gefunden worden und erhärten die Theorie von Marinatos, nach der die Paläste und Siedlungen an der kretischen Nord- und Ostküste durch diesen Vulkanausbruch zerstört worden sind.

Im Ort Santorin Touristenschwärme, ein Andenkenladen neben dem anderen, Schmuckgeschäfte, Bars, ein paar Hotels. Ich ziehe es vor, mich für den Abstieg nicht wieder von einem Maultier tragen zu lassen, sondern zu Fuß zu gehen - trotz Hitze und Durst. Aber unten wird ein guter Santorin-Wein feilgeboten.

16. August: Bei aufgehender Sonne Landung meiner "Aphrodite" in Piräus . Am Hafen erwartet mich Christina, Elias Romanos' Tochter. Sie erzählt mir in gutem Deutsch von ihrem Kunst- und Literaturstudium, will Archäologin werden und interessiert sich für Dostojewski! Sie ergreift meine Koffer, die auf einem Karren ins Zollgebäude gefahren werden. Ich muß noch an Bord bleiben, weil mein Reisepaß nicht zu finden ist. Er war zurückbehalten worden, weil man irrtümlich angenommen hatte, ich führe weiter bis Ancona: Endlich findet er sich. Aber ich brauche noch einen Stempel von der Hafenpolizei. Christina will ihn besorgen. So gehe ich ohne Koffer und ohne gestempelten Paß vom Schiff. Im Zollgebäude weder Koffer noch Christina! Nach einigem Suchen und Fragen entdecke ich die Koffer, einsam in einer Ecke der großen Halle abgestellt. Aber Christina ist nicht da. Schließlich erscheint sie mit dem gestempelten Paß, und wir können mit einem Taxi zu der Straße in Athen fahren, die Onkel Evangelos mir als Einkaufszentrum für 542

 

Hinweis: Die Seite 543 war in dem Manuskript leider nicht enthalten!

 

 

Göttervater Zeus geboren sein soll, und die Bucht von Matala, an der er, in einen Stier verwandelt, die geraubte Europa auf seinem Rücken an Land getragen habe. Als ich, in der Meeresbucht schwimmend, meinen Gedanken an den mythischen Ursprung des Namens unseres Kontinents nachgehangen hatte - das Mädchen Europa wurde die Mutter des meerbeherrschenden Königs Minos, des "ersten Gesetzgebers Kretas" - lenkte mich an Land eine Schar munterer Hippies zur Realität zurück. Sie hatten ihre Weltanschauung in Weiß auf einen Felsstein gemalt mit den Worten: "I live today - Tomorrow is never comel"

Freund Köller ließ sich bezaubern nicht nur von den landschaftlichen Schönheiten und den steinernen Zeugen der frühesten europäischen Kultur, sondern auch von der vornehmen, stillen Herrin unseres kleinen Doma-Hotel?, Frau Rena. Er nannte sie "unsere Athene" und gestand mir am Vorabend unseres Abschieds von Kreta, er wäre glücklich, hier mit ihr seinen Lebensabend verbringen zu können. Er deklamierte mit seiner wohltönenden, von Frau Professor Uta Kutter in Stuttgart geschulten, wenn auch noch immer leicht masurisch akzentuierten Stimme lange Hölderlin - Verse, und es störte ihn nicht, daß Frau Re na kein Wort Deutsch verstand. "... Was ist es, das An die alten seligen Küsten Mich fesselt, dass ich mehr noch Sie liebe, als mein Vaterland ..." und "Zu neuen seligen Inseln Tragen die Hoffnungen ihn und des Schiffes Flügel..."

Frau Rena schien unverheiratet zu sein. Denn sie wandelte allein durch die Räume des "Doma". Nur einmal erblickten wir im Hintergrund einen älteren Mann, den wir für einen Bediensteten hielten. Als wir uns am nächsten Morgen von Frau Rena verabschiedeten, faßte Köllerchen Mut und fragte sie, wer eigentlich der Mann da sei, den wir nur flüchtig gesehen hatten. Ihre Antwort: "That's my husband!" Die Enttäuschung im Antlitz des armen Köllerchen war unbeschreiblich.

Wir vermissen ihn sehr, unseren guten "Köllerakis" - so nannte ich ihn nach den Endsilben vieler oder der meisten Familiennamen der Kreter - . Mit ihm haben wir einen treuen Freund verloren, einen gütigen Menschen und lieben, bescheidenen Gast unseres Hauses, mit dem wir uns durch die Gemeinsamkeit der ostpreußischen Heimat und der Liebe zu Hölderlin verbunden fühlten. Er ist, wahrscheinlich durch einen Herzinfarkt, in einem See bei Ulm ertrunken.

 

Reise in die Türkei

Die zweite Kreta-Fahrt war die dritte meiner drei Reisen, die ich, "das Land der Griechen mit der Seele suchend", erleben durfte. Die erste hatten Antonia und ich schon 1950 als "Klassische Hellasfahrt" unternommen: Mit der „Jedinstvo" ("Freiheit"), einem angenehmen jugoslavischen Schiffchen, von Venedig (zufällig gemeinsam mit unseren Freunden Werner und Annemarie Hauß) über Dubrovnik und Korfu (Kerkyra) nach Piräus. Von dort zu den Stätten der antiken griechischen Festlandskultur: Mykene ( an der Mauer des Löwentors entdeckte ich - seltsamer Zufall! -, neben Antonia stehend, über unseren Köpfen das auf einen Mauerstein geschriebene Wort "Antonia"!), Epidauros, Sparta, Olympia, Delphi und Athen. Dies war gleichsam der kulturgeschichtliche Auftakt zu' unserer Reise (mit Verachen) an die Ionische Küste der Türkei, zu den von Peter Bamm so meisterhaft vergegenwärtigten "Frühen Stätten der Christenheit", den vormals "Späten Stätten der griechischen Antike", Anlaß dieser Reise war die Einladung unserer Freunde Suschen und Wilbern Packett. zu einem Besuch ihrer Wohnung in Izmir (Smyrna), dem da maligen NATO-Standort des Colonel Packett. Ich kann der Verlockung nicht widerstehen, über dieses besondere Reiseerlebnis in einigen Auszügen aus meinem "Tagebuch der Reise in die Türkei, 27. April bis 21. Mai 1967 zu erzählen: Von Venedig mit der" Truva" (= "Troja"), einem schmucken türkischen Schiffchen, aufmerksam betreut vom freundlichen Bootsdeck-Steward Mehmet, nach Izmir.

Montag, 1. Mai: Ruhige Fahrt (mit der etwa dreifachen Geschwindigkeit des Schiffes der Phäaken!). Sonne, wenig Wind, weiche, alte Dünung von Norden. Ithaka, die Heimat des Odysseus, Kephallenia, Zakynthos liegen hinter uns. Auf Backbordseite die Berge der südlichen Peloponnes. Der Anblick der griechischen Küste erregt mich auf seltsame Weise. Es muß die geistige Nachwirkung der Antike sein, die aus dieser Landschaft zu mir spricht. Der weiße Gischt der Brandungswellen schäumt hoch am grauen Felsgestade. „Des Lebens Woge schäumte nicht so schön empor und 545 würde Geist, wenn ihr der alte" stumme Fels, das Schicksal, nicht entgegenstände." HöIderIin hat die griechische Küste nie gesehen, aber er hat sie dichtend geschaut. In der Durchfahrt zwischen Kap Maleas, der Südspitze der Peloponnes, und der Insel Kytherea, bei der Aphrodite dem Meer entstiegen ist. Odysseus ist hier, aus dem besiegten und verbrannten Troja kommend, hindurchgesegelt in der Hoffnung, an der Westküste der Peloponnes entlang nach Ithaka zu gelangen. Die Hoffnung trog: Nördliche Winde, vielleicht der kalte Boreas (die heutigen Griechen nennen ihn noch „Voreas"), verschlugen ihn nach Süden bis an die nordafrikanische Küste und ließen ihn bei Djerba (Tunesien) in das Land der Lotos-Esser, der Lotophagen, gelangen.

Der Engländer Bradford hat als erfahrener Segler, Nautiker, Geograph und vorzüglicher Kenner des Mittelmeeres nachzuweisen versucht,- daß die Angaben Homers zum großen Teil den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen: Die Höhle des Polyphem bei Trapani auf Sizilien,. das Land der Kyklopen: die Insel Favignana an der Westküste Siziliens usw. Er glaubt sogar; daß ein schnelles Schiff wie das der Phäaken bei günstigem Wind und Strom die Entfernung zwischen Korfu und Ithaka, die etwa 70 Meilen beträgt, in einer Nacht zurücklegen könnte, und daß auch andere Hinweise Homers auf die Zeit, die ein Schiff für die Fahrt von einer Gegend zur anderen braucht, weitgehend mit den geographischen Verhältnissen übereinstimmen!

Da ist das Kap Maleas! Wer denkt daran, daß sich hier die Höhle befunden haben soll, in welcher der gütige Kentaur Cheiron hauste, der arzneikundige Lehrer des AchiIIeus, des Jason und anderer Heroen; und der Lehrer des Asklepios. Cheiron war zwar als Unsterblicher geboren, aber seine Unsterblichkeit war ihm zur Last geworden: Er trat sie dem Prometheus ab - und starb. (Die alten Griechen wußten, daß Unsterblichkeit kein lebenswertes Gut des Menschen ist). Cheiron, "die widerspruchsvollste Schöpfung der griechischen Mythologie", wie Kerenyi sagt, vereinigt gegensätzliche Kräfte in sich: Das ApoIIinische als Lehrer der Heilkunst und Musik, und das Tierische als zeugendes und zugleich zerstörendes Wesen: Halb Mensch, halb Tier, leidet er an einer unheilbaren Wunde, nach deren Heilbarkeit wir Menschen mühsam und nicht immer erfolgreich streben. Aus Kerenyis Asklepios-Studien können wir Ärzte einies über die 546 mythischen Ursprünge der Heilkunst lernen. Wichtigstes Ergebnis ist der Nachweis, daß Asklepios nicht, wie die Forschung bisher angenommen hatte, zunächst nur als „Heilheros" verehrt und erst viel später von Priestern oder Ärzten in Epidauros zur Würde eines Gottes erhoben wurde. Der Ursprung seiner Gottesgestalt sei vielmehr in der griechischen Mythologie des 15. bis 13. vorchristlichen Jahrhunderts zu suchen. Die Geburtsgeschichte des Asklepios wiederhole nur ein vorhomerisches Mythologem, das von der "Geburt im Tode" spricht: Asklepios wird geboren in dem Augenblick, in dem seine Mutter Koronis auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird, getötet vom Pfeil der Artemis, der Zwillingsschwester Apolls zur Strafe dafür, daß sie ihrem Geliebten Apollon untreu geworden war. Apollon entnahm das Kind der toten Mutter...

Wir sehen: Tod und Auferstehung, Vergehen und Werden, Untergang und Heilung, Schuld und Sühne - die Elemente des Daseins sind im Phantasiereichtum der Mythen geheimnisvoll ineinander verwoben. »Mythologie ist Selbstdarstellung des Menschen und Weltoffenbarung zugleich", sagt Kerenyi. Ja! Wir verstehen den uns fern und fremd erscheinenden geistigen Sinn des griechischen Götterglaubens eher, wenn wir auch auf Walter F. 0tto in seinem wunderbaren Buche "Die Götter Griechenlands" 'hören: "Der griechische Genius... richtete seine Aufmerksamkeit nicht auf Kräfte, sondern auf lauter Sein, und die Seinsgestalten des Menschlichen traten ihm in solcher Wesenhaftigkeit gegenüber, daß er sie als Götter verehren mußte." (0tto hat übrigens seit 1934 an unserer Albertus-Universität in Königsberg gelehrt und gehört zu den Großen ihrer Geschichte.)

Warum schreibe ich dies alles in mein Reisetagebuch? Weil diese Fahrt an den griechischen Küsten vorbei eine innere Begegnung mit den Mythen der Antike in mir wachruft und zugleich Trauer in mir erweckt über den Verfall des Sinnes für den Mvthos in unserer Zeit. Die „Kopflastigkeit" des Menschen im Zeitalter der Technik hat den Geist des Göttlichen in ihm verkümmern lassen. An die Stelle der alten Mythen haben sich neue Pseudomythen gesetzt: Der "Mythos" vom Fortschritt, von der klassenlosen Gesellschaft, der Völkergemeinschaft, usw. 547

Aber sind die alten Mythen wirklich tot? Es scheint, daß unter ihrer Asche noch Funken alter Göttersagen verborgen sind. In mir glühen sie wieder auf - den Göttern sei Dank!

Wir haben nach Backbord beigedreht und laufen in das Ägäische Meer ein. In dem Golf, den wir jetzt durchfahren, liegt das lnselchen Marathonisi. Hier soll Paris, der Sohn des Königs von Troja, Priamos, die erste Nacht mit der von ihm geraubten Helena verbracht haben. Bradford meint, wenn Odysseus gewußt hätte, welche Bewandtnis es mit diesem Eiland hat, würde er nach Steuerbord ausgespuckt und einen Fluch auf alle treulosen Frauen hinterhergeschickt haben.

Abends Konzert eines italienischen Tanz-Orchesters, das in Brindisi zugestiegen war. Der Kapitän lädt die Passagiere zu Cocktail und Torte ein, weil ein junger Deutscher Geburtstag hat.

Es wird getanzt. Auch unsere "Truva" beginnt leicht zu tanzen - endlich! Delos, Mykonos, Kiskers Felseneiland Sifnos, Paros und Antiparos liegen hinter uns. Wir sind in die offene Ägäis geglitten. Gegen Mitternacht stehe ich am sanft auf- und abschwingenden Bug. Die Sterne funkeln am mondlos schwarzen Himmel.

2. Mai: Morgens gegen 7 Uhr ruhige Einfahrt in den weiten, von grau-grünen Bergen umsäumten Golf von Izmir. WiIbern, in Uniform, kommt an Bord, holt uns ab zu Packetts Horne. am Ataturk Caddesi neben dem NATO-Gebäude, unmittelbar am Kai. Suschen empfängt uns, herzenswarme Begrüßung, die Wohnung ein Traum, erlesen schöne Stilmöbel, antike und orientalische Kunstwerke, weiter Blick auf die herrliche Bucht von . . Der alte Name "Smyrna" hat mehr Poesie. "Auch denk ich gerne meiner Wanderungen durch die Gegenden von Smyrna. Es ist ein herrlich Land, und ich habe tausendmal mir Flügel gewünscht, um des Jahres einmal nach Kleinasien zu fliegen...", so läßt Hölderlin seinen Hyperion schwärmen. Am Nachmittag Louis Vighier, Packetts französischer Hausfreund, Junggeselle, liebenswertes Original, seit 40 Jahren in der Türkei, tätig im Tabak-Monopol,-befreundet mit Roger Vadirn, dem ersten Mann der. Brigitte Bardot, und dessen zweiter Frau, der Schauspielerin Jane Fonda. Louis führt uns in seine Wohnung, originell wie er selbst: Schlaf- und Badezimmer in eisblauen, zarten Farbtönen, zierliche Rüschen und Pompons, blaues Wohngemacht voller türkischer 548 Teppiche, Schränke voller Silbergeschirr, Bettwäsche zum 300maligen Beziehen und andere Merkwürdigkeiten. Bedienung durch 5köpfige türkische Familie, die bei Louis wohnt. Louis war ein Muster an Treue und Hilfsbereitschaft. Leider hatte er sich mit seinem Bruder entzweit und eine Haßliebe zu seiner Mutter entwickelt, über die er unter lebhafter Affektdynamik berichtete. Später, von seinem Alterssitz Nizza aus, hat er uns viele Jahre hindurch mit Weihnachtsgrüßen bedacht.

3. Mai: Erster Gang durch die Stadt. Umringt von Bettlern, Schuhputzern, Schwarzwechslern, zerlumpten Kindern, Greisen, Frauen, die Hände in Bettelstellung hinhaltend. Offenbar spüren sie, daß dieses Elend mein Herz verkrampft, denn alles schart sich gerade um mich. Allerdings haben sie gesehen, daß ich fast Jedem etwas gebe - ein naiver Fehler!

4. Mai: Mit Guido, unserem cleveren italienischen Fremdenführer und Chauffeur, nach Selcuk kund Ephesos. Die Ruinen leben, vom geschichtlichen Auge wiedererweckt! Ephesos eine Großstadt der Antike, die bedeutendste Stätte des Artemis - Kultes mit dem Artemision, einem der sieben Weltwunder, in dem HerakIit seine Schriften niedergelegt hat. Ephesos, die größte Handelsstadt der späten Antike, eine der 12 Städte des Ionischen Städtebundes, Hauptstadt der römischen Provinz "Asia", frühe Stätte der Christenheit, in der die Strömungen der alt-orientalischen, griechischen, christlichen und mohammedanischen Kultur zusammenflossen. Wir schreiten durch. die antiken Straßen, die "Kureten"-Straße bis zum "Prachtboulevard" Arkadiane, vorbei an dem Rundbogen und den korinthischen Säulen des kleinen Hadrian-Tempels, an den weißen Marmor-Skulpturen des Hydreions, dem zierlichen Bau der Trajans-Quelle. Das Leben in einer antiken Großstadt - wie naturnah, wie unbefangen war es: An der Agora, dem Hauptmarkt, stand gegenüber der Städtischen Celsus-Bibliothek das "Lupanar" , das Freudenhaus, in dem man noch die mosaikgeschmückten "Separees" und einen steinernen Diwan sehen kann. Auf den öffentlichen Toiletten, die mit vorzüglich funktionierender Wasserleitung und Kanalisation versehen waren, konnten vier Menschen nebeneinander Platznehmen und sich beschaulich unterhalten. Ephesos war berühmt durch seine Hetären und Flötenspielerinnen, aber auch durch das künstlerische Geschick seiner Handwerker und die Bildung seiner Bürger. 549

Ephesos, die Stadt des Heraklit, des "Dunklen", wie er genannt wurde, weil seine knappen Aussprüche einen unbestimmbaren Spielraum von Deutungen offen ließen. War er wirklich "dunkel"? Wenn wir seinen Gedanken in den Fragmenten, die uns überliefert sind, nachsinnen, wird das vermeintlich Dunkle plötzlich hell. "Er ist der Dunkle, weil er fragend in die Lichtung denkt", mit diesem Satz schließt Heidegger, der auch ein "Dunkler" war, seine Heraklit -Vorlesung ab. Sie handelt von der Aletheia, der Wahrheit als "Unverborgenheit", in der sich die "Lichtung" des Seins enthüllt. Bei Heraklit ist es der " Logos" , der "Sinn" des Seienden. "Habt ihr nicht mich, sondern den Logos vernommen, so ist es weise, im gleichen Sinn zu sagen: "Eins ist Alles", heißt es in den "Fragmenten" . Der Logos ist die geistige Einheit des Kosmos in seinen Gegensätzlichkeiten. "Das große Wort: Das Eine in sich selbst Unterschiedene des HerakIit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe es gefunden wurde, gab es keine Philosophie", läßt HöIderlin seinen Hyperion sagen. "Pantha rhei" - "Alles ist in Fluß." Dieses Wort des HerakIit gilt gemeinhin als sein Grundgedanke. Aber mit dem "ewigen Fluß der Dinge" denkt er zugleich die "Ruhe des Beständigen". Denn wir lesen in seinen Fragmenten: "In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und sind es nicht." Es gäbe kein Werden ohne das Sein. Goethe hat heraklitisch gedacht, wenn er sagte:: "Das Ew'ge regt sich fort in allen. Denn alles muß in Nichts zerfallen, Wenn es im Sein beharren will..." "Erst diese Vereinigung von Vergänglichkeit - und Stetigkeit ergibt das Ganze des Heraklitischen Gedankens", heißt es in dem Werk von Walther Kranz "Die griechische Philosophie", dem ich Wesentliches als Einführung in die Philosophie überhaupt verdanke.

"Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch wenn du gehst und jede Straße abwanderst, so tief ist ihr Sinn!" Und: "Die Seele hat Sinn (Logos), der aus sich heraus immer reicher wird." Liegt nicht in diesen Worten des Heraklit schon der Ursprung aller späteren "Psychologie" .und auch ihrer Unabschließbarkeit?

"Mehr als sichtbare gilt unsichtbare Harmonie." "Die eigene Art ist des Menschen Dämon." "Das Denken ist höchste Vollkommenheit und die Weisheit ist, Wahres zu sagen und zu tun, nach dem Wesen der Dinge, auf sie hinhorchend..“ 550 

Mit diesen in ihrer Einfachheit uns heute so dunkel erscheinenden Gedanken (übersetzt von Bruno SneII) hat HerakIit vor etwa 2500 Jahren die Dunkelheit des Nicht-Denkens erhellt. Er war der Vor-Denker der "coincidentia oppositorum" des Nikolaus von Cues, der Dialektik Hegels, des Goetheschen "Eins und Alles." Hier, in Ephesos, und in Milet vollzog sich' der tiefe Einbruch des Logos in den Mythos. Die alten Göttergestalten, anschaubar in der bildenden Kunst, erlebbar im dichterischen Wort und gegenwärtig im Gebet und Opferdienst, wandelten sich zu unanschaulichen Denkgebilden. Der Glaube an die Götter begann sich zur Idee des Seins zu vergeistigen. Damit bereitete sich allmählich der Übergang vom antiken Polytheismus zum christlichen Monotheismus vor.

 

"Groß ist die Diana der Epheser!"

Ephesos wurde die Stadt des Apostels PauIus, der von April 54 n. Chr. bis 57 als Zeltmacher hier lebte und einen neuen Glauben verkündigte - ein kühnen Unterfangen in einer Stadt der römischen Provinz Asia, deren religiöses Leben durch den heidnischen Artemis - und den Kaiser-Kult geprägt war. Er entfesselte damit einen gefährlichen Aufruhr bei der Bevölkerung, weil ein Silberschmied Demetrius im Namen seiner Zunftgenossen gegen den Rückgang der Einnahmen durch die silbernen Darstellungen des Artemis (Diana) - Tempels protestierte. "Als sie das hörten, wurden sie voll Zorns, schrieen und sprachen: ,Groß ist die Diana der Epheser!'" (Nachzulesen im 19. Kapitel der Apostelgeschichte).

Hier, in Ephesos, verfaßte PauIus den berühmten Brief an die Galater, mit dem er sein Apostolat zu rechtfertigen suchte und den Geist der christlichen Freiheit verkündete. Hier hat er auch den ersten Brief an die Korinther mit dem 13. Kapitel, dem Preis der Liebe, geschrieben: "Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter ihnen."

Auch den zweiten Brief an die Korinther hat er hier geschrieben, in dessen 4. Kapitel wir lesen: "Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“ 551

Von hier floh PauIus vor seinen judenchristlichen Gegnern nach lIyrien und Korinth, bevor er die letzte seiner großen Reisen antrat, die Reise nach Rom und in den Tod.

"Gott ist Geist", verkündete PauIus. "Gott ist Liebe", sprach der Apostel Johannes. Beide sagten im Grunde das gleiche. Aber der Paulinische Geist prägte später die römisch-katholische, die Johanneische Liebe die griechisch-orthodoxe Kirche. Was in Ephesos noch Einheit war, spaltete sich in die Zweiheit Rom-Byzanz. In seinem Brief an die Epheser, den er aus der Gefangenschaft in Rom geschrieben hat, spricht PauIus von dem "Zaun" zwischen den "Unbeschnittenen", den Heiden, und den "Beschnittenen", den Juden, zwischen den Menschen und Gott vor dem Erscheinen Christi. Christus sei der Friede, denn er habe aus Beiden Eines gemacht. Er ermahnt die Epheser, die Einigkeit im Geiste durch das Band des Friedens zu wahren. "Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe!"

Der arme PauIus - wenn er wüßte, was inzwischen aus seiner frommen Utopie geworden ist! ...Wie steht es um den "Heilsplan der Liebe Gottes“, um seine "Gnadenfülle" , um Christus als "Pleroma" , das heißt, die "Fülle Gottes", und um die Kirche als "Pleroma Christi"?

Die Ermahnungen des PauIus an die Epheser sind gleichwohl lesenswert. Er fordert darin die Vergeistigung, die Heiligung der Ehe, allerdings mit der Forderung, "die Weiber seien untertan ihren Männern als .dem Herrn.“ Aber die Männer sollen ihre Weiber lieben wie ihre eigenen Leiber. Wer sein Weib liebt, der liebt sich selbst." Nicht überflüssig ist auch seine Ermahnung: "Und saufet euch nicht voll Wein, daraus ein unordentlich Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes!"

Mit dem Namen Ephesos verbindet sich noch eine andere religionsgschichtliche Besonderheit: In den streng patriarchalischen Aufbau der. Kirche ("Denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus das Haupt ist der Gemeinde.") eingefügt wurde die matriarchalische Komponente des Marienkultes. Nach freilich sehr unsicheren Quellen soll der Apostel Johannes mit der Mutter Jesu, Maria (Mirjam), aus Palästina in die Gegend von Ephesos geflüchtet sein, wo sie am Koryssos, oberhalb der Stadt, ihre letzten Lebensjahre verbracht habe und gestorben sei. Anna Katharina Emmerick, eine stigmatisierte Augustinernonne aus Dülmen in Westfalen, hat in 552 ihren Visionen die Wohn- und Sterbestätte Marias genau angegeben. Als wir an dieser Stätte standen und auf einer Gedenktafel den Namen der Nonne mit dem Zusatz" Dülmen "lasen, waren Verachen und wir einigermaßen überrascht! Clemens von Brentano hat fünfeinhalb Jahre in Dülmen verbracht und die" Gesichte" der Katharina aufgezeichnet, literarisch bearbeitet und 1833 veröffentlicht. Lazaristenmönche aus Smyrna gingen dieser Darstellung nach und entdeckten 1891 eine kleine "Kapelle", die heute als "Haus der Maria" bezeichnet wird und eine vielbesuchte Wallfahrtsstätte geworden ist. Aus einer Quelle unterhalb des "Marienhauses" fließt "Heiliges Wasser", das von christlichen wie auch von muslimischen Frauen als Mittel gegen Unfruchtbarkeit getrunken wird. (Bakteriologische Untersuchungen haben einen hohen Gehalt an Coli-Bakterien ergeben!) Es erscheint eigenartig, daß in diesem Quellwasser gleichsam zwei einander widersprechende, aber gleichwohl geheiligte Kräfte zusammenfließen: Die der Jungfräulichkeit und die der Fruchtbarkeit. Die Verehrungswürdigkeit der Virginität ließe sich geistesgeschichtlich auf den Kult der jungfräulichen Göttin Artemis zurückführen. Der Artemis-Kult aber weist Beziehungen zu der alten vorderasiatischen Fruchtbarkeitsgöttin Kybele, der "Magna mater", auf. Artemis. wurde mit einem seltsamen Brustschmuck in Form von 25 "Eiern" oder "Brüsten", die auch als "Stierhoden" gedeutet werden, dargestellt. Auf dem Konzil von Ephesos 431 nach Christi Geburt ist die Eigenschaft der Jungfrau Maria als "Gottesmutter" (Dei Genetrix) zum Dögma erhoben worden! Die biologischen Unvereinbarkeiten lösen sich auf im mythischen Glauben.

Nachmittags erfrischendes Bad in der Ägäis bei Kusadasi, gegenüber der Insel Samos, auf der Pythagoras geboren ist. Zurückgekehrt nach Izmir besuchten wir den christlichen Friedhof, suchten aber vergeblich nach den Gräbern der Eltern unserer lieben Frau Herta Maaß: Ihr Vater war Dr. Richard Bohn, der Mitarbeiter von Carl Humann, dem Ausgräber von Pergamon und Entdecker der dortigen Altarbildwerke, der in Smyrna gestorben ist. Bohn selbst ist die zeichnerische Rekonstruktion des Pergamon - Altars zu verdanken.

Abends kehrte WiIbern aus Istanbul zurück und berichtete, daß die amerikanischen NATO-Soldaten sich in der Türkei so langweilten, daß sich manche freiwillig nach Vietnam melden! 553

Freitag, 5. Mai: Bekanntschaft mit- Herrn Abdullah BüIbüI (Nachtigall): Ehemaliger aktiver Offizier der türkischen Marine-Luftwaffe, später Flugzeugkommandant der von ihm eröffneten Luftverkehrslinie Istanbul-Ankara, im Ersten Weltkriege auf der Marineschule in Kiel-Mürwik ausgebildet, jetzt Inhaber des Reisebüros "Abdullah" in Izmir, ein liebenswürdiger, vornehmer Herr; Freund der Deutschen, stolz auf die türkisch-deutsche Waffen brüderschaft. Er besorgt uns Plätze für den Bus nach Instanbul (Verachen hat Angst vor dem Fliegen!) und reserviert Hotelzimmer für uns.

6. Mai: Nachts kein Auge zugetan: Ungeheurer Lärm auf den Straßen, Hupkonzerte der Autos, singende junge Leute, Jubelrufe bis zum frühen Morgen – Hidrellez, das Fest des Beginns der schönen Jahreszeit, das nach alter anatolischer Bauernregel am 6. Mai gefeiert wird. Eine Legende besagt, daß Hidr und Elias über die Meere fuhren auf der Suche nach dem ewigen Leben. Jedem, der in dieser Nacht das Meer befährt, soll das Glück winken. Man sieht viele Boote mit fröhlichen jungen Menschen die ganze Nacht hindurch am Kai vorübergleiten. Die jungen Mädchen vertrauen ihre geheimsten Wünsche einem Zettelchen an und werfen es in die Fluten.

Mit Pferdedroschke in den "Kültür-Park" und ins Archäologische Museum, das aus einem einzigen Raum besteht. Darin Funde aus Ephesos, Milet, Pergamon, Halikarnassos. Entzückende Kleinplastiken. Die ersten Münzen aus dem Reich der Lyder (der Lyderkönig Kroisos war der reichste Mann seiner Zeit). Er unterwarf Ephesos und zwang seine Bewohner, die Stadt zu verlassen. und sich in der Nähe des Artemisions anzusiedeln. Schöner Goldschmuck, Ohrringe mit einem winzigen Eroten als Anhängsel. Ringe und Armreifen in Schlangenform.

Im "Kültür-Park" wenig "Kültür", dafür überall ärmliche Frauen mit ihren Kindern auf der Erde hockend, "Tschai" trinkend und weißes Brot auf Zeitungspapier verspeisend. Unser Droschkenkutscher läßt sich seine Beteuerungen der deutsch-türkischen Freundschaft teuer bezahlen, verlangt 100 türkische Lira und verfolgt uns bis an den Hauseingang. Wir hoffen, daß er wenigstens einen Teil des Geldes für die Hafer-Ration seiner beiden ausgemergelten Gäule verwenden möge.

7. Mai (Sonntag): Unser Suschen gibt eine' "Party"! Gäste:- US-General Dick, Chef des Generalstabes der NATO in Izmir, und Frau Dick (beide 554 haben Frau Dr. Wildförster nach deren schwerem Busunfall in Anatolien mit großer Hilfsbereitschaft betreut), Colonel Brown und Frau, Frau Hikmet Örs (Ehefrau eines Gynäkologen, in dessen Haus Packetts wohnen), Dr. Sari und Frau (Werksarzt bei den Elektrizitäts- und Wasserwerken der Stadt) und Louis Vighier, der mit seiner Köchin MirzeI bei den Vorbereitungen zu der Party geholfen hatte ("Beef Stroganow" - auf Deutsch: "Jägertopf" -, Pilaw - türkischer Reis-, Bohnen, Artischocken, Erdbeeren mit Schlagsahne). Lebhafte Unterhaltung, beschwingte Stimmung, herzliches Einvernehmen zwischen Amerikanern, Türken und Deutschen. Suschen lobt die spontane karitative Hilfsbereitschaft der amerikanischen Frauen in den Wohltätigkeitsverbänden. Ihr Mann WiIbern wäre schon längst General geworden, wenn sie Mitglied einer solchen Organisation - und nicht Deutsche wäre! Dafür wurde ihr ein türkischer Orden verliehen als Dank für ihr menschlich sympathisches und diplomatisch geschicktes Vermitteln zwischen türkischen und amerikanischen Familien. (Als sie bei dem Verleihungszeremoniell in der Aufregung den Orden fallen ließ, bückten sich mehrere türkische und amerikanische Generäle und hoben ihn auf!)

8. Mai: Im Bazar von Izmir bietet sich ein deutsch sprechender Türke als Dolmetscher beim Einkauf an. Als Antonia in einem Geschäft für Schmuckartikel über die Preise verhandelt, bringt er sie mit Augenzwinkern und sanften Stößen mit dem Ellenbogen von dem Kauf ab, was er flüsternd mit den Worten begründet: "Das ist ein Jude, kaufen Sie nicht!"

Meine türkischen Sprachkenntnisse beschränken sich - außer ein paar Redewendungen - auf zwei "Sätze", die mir aus meiner Knabenzeit von der Karl-May-Lektüre her in Erinnerung geblieben sind. Sie passen zwar nie, erwecken aber Sympathie bei den türkischen Männern, die ich mit ihnen anspreche. Der eine lautet: "Dur, Askerler, tüfenkler dolduryniz! Araschtyrarim" ("Halt, Soldaten! Ladet die Gewehre! Ich werde rekognoszieren!"). Der andere ist der sehr lange Name des treuen Gefährten "Kara Ben Nemsi" (Karls des Deutschen": "HADSCHI HALEF OMAR BEN HADSCHI ABUL ABBAS IBN HADSCHI DAWUD AL GOSSARAH". Besonders angenehm mag dabei in den Ohren frommer Muslims die Kennzeichnung als Mekkapilger ("Hadschi") klingen.

Daß Ehen zwischen einem Amerikaner und einer Türkin schwierig sein können, erfuhren wir an dem amerikanischen General-Manager bei der 555 Zigaretten-Industrie "Chesterfield" Richard Brooking und seiner reizenden Frau Moallah. Der sympathische Ehemann vertraute sich mir mit einigen seiner Probleme an, zu denen allerdings auch seine Zuneigung zum Whisky-Konsum zu gehören schien.

Interessant war ein Gespräch mit dem türkischen Verbindungsmann zur NATO, der uns zu einer Cocktail-Party im Officers-Club eingeladen hatte. Er war Delegierter der Türkei bei den United Nations in New York und erzählte mir beiläufig, daß er in Istanbul Vorlesungen bei den deutschen Professoren Röpke und Rüstow gehört habe. Er pflegt die deutsch-türkischen Kulturbeziehungen, ist hochgebildet und besitzt kostbare Antiken-Sammlungen.

8. Mai: Mit unserem netten Guido nach

 

Priene, Milet und Didyma

Durch die weite Ebene des Mäander (Büyük Menderes). Unterwegs Dromedare, auf hohen Sätteln beladen mit Ballen, die zu bei den Seiten schwer herunterhängen, mit mildem Blick Disteln und Laub abbeißend und geruhsam wiederkäuend. Auf den Feldern Frauen in weiten, bunten Pluderhosen an der Arbeit auf Tabak- und Baumwollpflanzungen, um den Hals ein Tuch,- das als halber Schleier bis zur Nase reicht, manche mit einem kleinen Kind auf dem Rücken. Zahlreiche Störche - in den letzten drei Jahren hat die Bevölkerung der Türkei um etwa zwei Millionen zugenommen! Eine Schildkröte schreitet gemächlich über die Straße und läßt uns warten nach dem türkischen Grundsatz: "Yawasch, yawasch!" ("Langsam, langsam!"). Wir überqueren das Tal des Kayistros, ("Kucuk Menderes"), der "Asischen Aue" mit ihren "unzählbaren, fliegenden Scharen von Kranichen, Gänsen und langhalsigen Schwänen", wie Homer in der Ilias sagt. Von ihr soll das Wort "Asien" herrühren und nach ihm wurde die spätere Römische Provinz benannt, der das heutige "Kleinasien" geographisch entspricht. Die Türken wollen aber nicht als "Asiaten", sondern als Europäer gelten. Daher ist es ein Gebot des Taktes, nicht von "Kleinasien", sondern von Anatolien zu sprechen!

Priene: Heißer Aufstieg zur Ruinenstätte (Antonia bleibt zurück). Oben die Säulen des Athene-Tempels noch gut erhalten. Rechtwinklige Anlage dieser kleinsten Stadt im Jonischen Städtebund, hinaufgebaut an den Hang des Berges 556, der von einem gewaltigen Felsklotz, der Akropolis, gekrönt wird. Zufluchtsort für Verfolgte und für die von Feinden bedrängten Bürger. Hier hat Bias gelebt, einer der "Sieben Weisen" der Antike. Als er die Stadt ohne seine Habe verlassen mußte, soll er das Wort ausgesprochen haben, das, von Cicero überliefert, in Lateinisch lautet: "Omnia mea mecum porto." Matthias Claudius hat es zum Motto seines Lebens erhoben.

Milet: Ich durchschreite all eine das riesige.. antike Theater, ungestört durch touristische Horden, und denke an die großen Männer, deren Namen mit dieser bedeutendsten Handelsstadt Joniens verbunden sind: Thales, Anaximander und Anaximenes. Homer hat das um 1200 v. Chr. gegründete Milet als einzige der Jonischen Städte genannt. Sie war die Heimatstadt des, wie Aristoteles sagte, "Urvaters" der Philosophie, des Entdeckers der Naturphilosophie und der theoretischen Geometrie Thales. Er sah im Wasser den Uranfang allen Lebens. Von ihm stammt das berühmt gewordene Wort, das Pindar, an den Anfang des Ersten Olympischen Gedichtes stellt: " To ariston men hydor!" "Das Beste aber ist das Wasser." Goethe hat es im zweiten Teil des "Faust" (Klassische Walpurgisnacht) aufgegriffen in dem. Hymnus: "Alles ist aus dem Wasser entsprungen! Alles wird durch das Wasser erhalten! Ozean, gönn uns dein ewiges Walten..." Ich entdeckte es wieder als Inschrift in dem Aquarium auf Helgoland! Thales hat das erkannt, was wir "Naturgesetze" nennen. Auch er war einer der "Sieben Weisen". Er hatte die totale Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. vorausgesagt. Er erklärte die Überschwemmungen des Nil nicht als Wirken der Götter, sondern durch die nördlichen Winde, die das Wasser des Stromes gegen die Strömung sich aufstauen ließen. Damit leugnete er nicht etwa die Göttlichkeit der Natur. Es gebe nichts Ungöttliches. Es seien göttliche Kräfte, die das Wasser in andere Gestalten, in Eis oder in Wolken umformen und zum "beseelten" Ur- und Baustoff der Welt werden lassen.

Thales hat - wie Sokrates - kein schriftliches Wort hinterlassen. Er hätte zu unserer Zeit weder promoviert werden, geschweige denn sich habilitieren können.

Milet war auch die Heimatstadt des Anaximander. "Der Spruch des Anaximander" gilt als der älteste Spruch des abendländischen Denkens. Der junge Nietzsche und der spätere Heidegger sind seiner - schwierigen – Deutung 557 und Bedeutung nachgegangen. "Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit. Denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit." So lautet Nietzsches Übersetzung, die Heidegger in tiefgründigen Gedanken erörtert und abgewandelt hat. Der Grundgedanke des Anaximander ist das "Apeiron", das Grenzenlos-Unbestimmte als Urgrund der seienden Dinge, aus dem sich das Warme, das Kalte, das Feste und das Flüssige entfaltet. Anaximander, älter als HerakIit, jünger als Thales, hat sein Denken nicht aus dem alten mythologischen Götterglauben abgeleitet. Er hat vielmehr rein, wir würden. heute sagen, "abstrakt", gedacht. In diesem Denken ist kein Platz für den Glauben.

Für Anaximenes, den jüngeren Gefährten des Anaximander, war der Urstoff der Welt der "Aer", "Pneuma", die "Luft". Aber sie bedeutet für ihn zugleich Leben und Seele, ja Gott, so wie für Thales das Wasser das Göttliche war. Er vergleicht den Menschenleib mit dem Kosmos-Leib- und hat überdies geistreiche physikalische Theorien entwickelt, z. B. über die Entstehung der Erdbeben, der Mondfinsternis, des Mondlichtes.

Das Denken dieser drei milesischen Philosophen läßt sich in drei Sätzen zusammenfassen: "Die Welt ist eine Einheit. Es gibt ein Weltgesetz. Die Welt ist ein Kosmos. Dazu aber kommt: der Gedanke der Unendlichkeit wird hier zum erstenmal gedacht. Wir sind in das Heiligtum der Philosophie eingetreten." (Walther Kranz).

Aus Milet stammte auch Leukippos, der mit seinem ebenfalls in Jonien beheimateten Schüler Demokrit als Begründer der Lehre vom Atom, dem Unteilbaren, und damit als Vorläufer der neuen Theorien der Elementarteilchen in die Geistes- und Naturgeschichte eingegangen ist. Sie beide haben gemeinsam in Abdera gewirkt und dort ein Lehrgebäude errichtet, dessen Grundlage das Kausalgesetz ist: "Nichts entsteht planlos, sondern alles aus Grund und Notwendigkeit." Sie entwickelten auch den Begriff des "leeren Raumes", der "Leere" und unterschieden das "Volle" (Massive) vom Nichts oder das "Seiende" vom "Nicht-Seienden", - alles ganz frühe Denkgebilde, ohne die wir uns die heutige Atomtheorie ebensowenig denken könnten wie die Fundamental-Ontologie in Heideggers "Sein und Zeit" oder Sartres "L' Être et le Néant“. 558

Hier, an den Stätten der Ursprünge des abendländischen Denkens, steht uns vor Augen, daß wir Heutigen Anlaß zur Bescheidenheit haben. Bei allem Stolz auf die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik sollten wir nicht vergessen, daß die geistigen Grundlagen unserer Kultur und Zivilisation von den frühen griechischen Denkern geschaffen worden sind. Goethes Wort: "Wir stehen alle auf den Schultern unserer Vorfahren", sollte uns vor intellektueller Überheblichkeit bewahren!

Zu den genialen geistigen Leistungen des Jonischen Griechentums kommt die dichterische in Homer und Sappho und die architektonisch-künstlerische hinzu. Wir bewundern sie an dem Apollon-Tempel in Didyma, bei aller riesenhaften Größe - er ist nie fertig geworden, weil es nicht möglich war, ein Dach auf ihm zu errichten - wunderbar in der Klarheit und Geschlossenheit seines Aufbaus - vielleicht vergleichbar der Klarheit und Kraft des vorsokratischen Denkens!? Säulen, Treppen und Mauern sind heute noch relativ gut erhalten.

Nach diesem das Auge und den Geist beglückenden Tage auf der Rückfahrt ein Bad in der Ägäis unweit von Didyma und abends zum prosaischen Ausklang eine Einladung zum Dinner bei Mister Brooking.

Dienstag" 9. Mai: Nach einem Abend mit viel türkischem Rotwein und Verstoß gegen das "Meden agan!" der Griechen und die Idee der "Mesótes" des Aristoteles frühes Aufstehen mit dickem Haupte, von meinem "Klein-Harem" Suschen, Vera und Antonia mit dem Morgengruß "Der Sultan ist leicht beschädigt!" empfangen, um 8 Uhr allein mit Guido nach Aphrodisias und Hierapolis! Auf der Fahrt ein Bild des grellen Kontrastes zwischen der alten und der neuen Türkei: Breite asphaltierte Autostraße, Lastwagen über Lastwagen, Busse, Pkw über Pkw, aber auch Pferdewagen, Maultiere mit armselig gekleideten Männern und in viele Tücher gehüllten, pluderbehosten Frauen als Reiter oder zu Fuß, oft kurz vor unserem Auto über die Straße springend, so daß wir sie fast überfahren hätten, Kinder, Kühe, Esel, hochrädrige Karren, hin und wieder Kamele mit ihren Lasten. Hinter Aydin ab von der Hauptstraße auf holprigem Wege voller Löcher und Steine weiter, durch kleine anatolische Dörfer mit malerischen Handwerksstuben und Verkaufsständen, die Männer auf der Straße sitzend, Wasserpfeife rauchend, Tee trinkend. Ringsum bewaldete Berge, grüne Täler, im Hintergrund Schnee auf den Bergen. Der „Weg“ wird 559 zum Sturzacker. Guido ist hier noch nie gefahren, befürchtet Achsenbruch. Aber der Volkswagen hält durch. Endlich Geyre, ein neu gegründetes Dorf, dahinter das alte Geyre mit Aphrodisias, einer angeblich uralten, später römischen Stadt, von den Byzantinern Stavropolis genannt. Ich allein in den Ruinen des Aphrodite-Tempels. Gut erhaltene weiße, jonische Säulen, hinter ihnen die schneebedeckten Berge des Baba Dag. Am Himmel eine tiefdunkle Wolkenwand. Ein Gewitter zieht auf. Aber kein Regen. In einem Schuppen zahlreiche antike Statuen und Fragmente. Grabungen sind noch im Gange. Zum Bau eines kleinen Museums ist es noch nicht gekommen. Ein 270 Meter langes Stadion ist noch gut erhalten. Da ich allein bin, kann ich mir ein kleines Stückchen von den Resten des Aphrodite- Tempels stiebitzen. Weiter über Denizli nach Pamukkale zu der berühmten, leuchtend weißen, steil aufragenden Kalksinterterrassen, die einem erstarrten Wasserfall gleichen. Oberhalb Hierapolis, eine spätantike Stadt mit einem Theater, zwei Nekropolen und den Ruinen großer Thermen, aus denen ein Quellteich gespeist wird. Ich schwimme in dem 38 Grad warmen Wasser munter herum und muß aufpassen, daß ich nicht an die unter dem Wasserspiegel stehenden Säulenbruchstücke stoße. Hierapolis war dank seiner Thermen ähnlich wie Pergamon ein beliebter Kurort, in dem zu römischer Zeit glänzende Feste und Spiele für die Kurgäste veranstaltet wurden. Carl Humann hat das alte Hierapolis archäologisch als Erster erschlossen.

Hier ist Epiktet geboren, als Sohn einer Sklavin, ein körperlich schwacher, geistig mächtiger Denker, der an seinem Lehrstuhl in Nikopolis die Blüte der römischen Jugend um sich versammelte und sie anleitete, wie sie in der Aula des Kaisers, in den Konflikten des Beamtenlebens ihre Menschenwürde und ihre innere Freiheit bewahren konnten. Der Freiheitsgedanke des Epiktet war ein Preislied auf die Selbstherrlichkeit des Menschen. Hier, im phrygischen Galatien, brachten die nlieben Galater" den Brief ihres geliebten Paulus durch das Mäander-Tal nach Antiochia ,jenen Brief, in dem der Apostel ein Preislied auf die Freiheit als Selbstherrlichkeit Gottes sang. Hier stieß die Verkündigung des christlichen Freiheitsgedankens mit der stoischen lehre vom Wesen der Freiheit zusammen.

Nach 630 Kilometern Fahrt, zurück in Dunkelheit und bei Regen und schwacher Beleuchtung, wurde ich von meinen "Haremsdamen" mit Sorgen erwartet und mit Freuden begrüßt.

Mittwoch, 10. Mai: Wilbern berichtet interessant über politisch Aktuelles: Mao Tse Tung verlangt Formosa zurück, Präsident Johnson habe erklärt, er lasse es eher auf einen Krieg ankommen! Russische Kriegsschiffe patroullieren im Mittelmeer. Nach dem Meerenge-Abkommen von Montreux dürfen die Russen vom Schwarzen Meer aus U-Boote und andere Kriegsfahrzeuge durch die Dardanellen in das Mittelmeer durch die Straße von Gibraltar über den Atlantik und die Nordsee in die Ostsee laufen lassen, damit sie dort überholt und repariert werden können. Es sei erstaunlich, wie viele russische Flotteneinheiten "reparaturbedürftig" sind!

Heute morgen liefen englische und türkische Zerstörer in den Hafen von Izmir ein. Ein türkisches U-Boot kreuzt in der Bucht.

Vormittags Besuch bei Dr. Adil Bir, einem türkischen Chirurgen ("Operatör") mit deutscher, aus Freiburg stammender Frau, reizenden Menschen. Dr. B. berichtet über Kemal Pascha, den er persönlich gekannt hat. Eine Modernisierung der Türkei wäre heute nicht möglich ohne die von dem großen Staatsmann und Reformer geforderte Abschaffung alter Gebräuche: Der Polygamie, der Verschleierung der Frauen, des Fez' und Turbans, der arabischen Schrift.

Zwei Schuhputzer am Kai versichern mich der deutsch-türkischen Freundschaft ("Alman gut, Turk gut!") und lassen sich die Verbrüderung etwas kosten: Der eine verlangt für das Putzen meiner Schuhe 10 türkische Pfund (fast 5 DM), der andere für die - von mir gar nicht erbetene - Bearbeitung meines Tagebuches mit schwarzer Schuhcreme 5 türkische Pfund. Sie müssen sich mit einer Ermäßigung dieser Gebühren begnügen, wobei ich hoffe, daß die deutsch-türkischen Beziehungen darunter nicht leiden werden. Frau Vighier, die Schwägerin unseres Louis, sagte uns später, man solle höchsten sehr alten Bettlern etwas Geld geben. Sie hätten es wirklich nötig. Hingegen würden Kinder oft von Leuten gemietet, die sie zum Betteln auf die Straße schicken und das Erbettelte für sich behalten!

Bei einer Abend-Party in der Wohnung des guten Louis berichtet Mister Brooking über Verstöße gegen das Kemalsche Verbot der Polygamie im 561 Inneren Anatoliens: Die Frauen müssen arbeiten, "bis sie nicht mehr können". Dann nimmt der Mann sich eine neue Frau. Auch sie muß arbeiten, "bis sie nicht mehr kann", und so fort. Unsere türkischen Bekannten bestreiten die Richtigkeit dieser Angaben. Sie sind äußerst empfindlich, wenn man auf die frühere Polygamie zu sprechen kommt. Sicher aber treffe zu, was Brooking über das immer noch herrschende Tabu der Virginität sagt. Er schildert einen Fall, in dem der türkische Ehemann in der Hochzeitsnacht das Fehlen der Virginität bei seer 17jährigen Frau feststellen zu müssen glaubte. In seiner Wut schlug er sie brutal, warf sie hinaus und stellte sie vor ihren Eltern bloß. Zu spät erkannte er auf Grund einer ärztlichen Untersuchung, daß er sich geirrt hatte. Die Gedemütigte verzieh ihm nicht und ließ sich scheiden. Unverkennbar ist die Emanzipationstendenz bei den Frauen der oberen Gesellschaftsschichten. Auch Brookings sanfte türkische Frau MoaIIah beginnt gegen seine autokratischen Ansprüche aufzubegehren, vielleicht zu spät. Es scheint, als wollten die amerikanischen Männer hier, im noch unterentwickelten Anatolien, zeigen, was sie in den USA nicht wollen oder dürfen: Ein Mann zu sein, der seine Frau beherrscht! Nach unseren Eindrücken, die natürlich nicht zu verallgemeinern sind, scheinen die Ehen zwischen Türkinnen und Amerikanern problembeladen zu sein. Im Grunde lieben Türken die Amerikaner nicht, und die Amerikaner lieben die Türken nicht. Die Gegensätze sind groß. Die Liebe mußte größer sein als die Gegensätze, wenn die türkisch-amerikanischen Ehen gelingen sollten.

Louis Party entbehrte der Beschwingtheit, obwohl der Hausherr unaufhörlich mit Tabletts voller Häppchen und Drinks hin- und her-pirzelte. Vielleicht lag es daran, daß die Damen getrennt von den Herren saßen. Bei Festen auf dem Lande sitzen die Frauen in einem, die Männer in einem anderen Raum.

Freitag, 12. Mai: Besichtigung der Neurologisch-psychiatrischen und der Neurochirurgischen Klinik der Ege-Universität Izmir. Der Neurochirurg Dr. Erdem Tuncbay führt mich. Er ist, wie seine Frau, Neurologin, in Chicago ausgebildet, seine Klinik noch ein Provisorium. Zu wenig Betten, zu wenig Schwestern. Ein neues großes Klinikum ist in Bornova bei Izmir im Bau. Dem Schwestern mangel wird ein wenig abgeholfen durch freiwillige Hilfsdienste, die von Angehörigen der Patienten geleistet werden. In den Krankenzimmern sieht man die Frauen oder Schwestern der Kranken - die Familie folgt vielen von ihnen in das Hospital nach! - beim Bettenmachen, Essenausteilen und an 562 deren Handreichungen beschäftigt. In der Psychiatrischen Klinik werden die auch bei uns üblichen pharmakotherapeutischen Methoden angewandt. Beschäftigungstherapie gibt es anscheinend nicht. Alkoholismus bisher äußerst selten, im Jahr nicht mehr als zwei Entzugsdelirien. Häufiger Opium- und Haschischsuchten, selten Heroinismus (Heroin ist zu teuer für die Armen). Hingegen wird indischer Hanf (Cannabis sativa sive indica) auf dem Lande angebaut und als Haschisch zu Suchtzwecken verwandt.

Nachmittags muß ich mit Halsschmerzen, Husten und leichtem Fieber ins Bett. Abends wieder munter. Einladung zu Ehepaar Dr. Örs, Gynäkologe, zum Fisch-Essen. Bei der Begrüßung fühlt Dr. Örs, der von meiner Unpäßlichkeit gehört hatte, meinen Puls, macht ein bedenkliches Gesicht und stellt fest: "Dritter Monat!"

Donnerstag, 11. Mai: Mit Guido nach Pergamon! Unterwegs Kamel-Karawanen. Mitten auf der Straße läßt ein Mann einen Bären an der Kette, die an einem durch die Nase des armen Tieres gezogenen Ring befestigt ist, nach dem Klang der Trommel aufrecht tanzen!

Pergamon - einst Hauptstadt und Handelszentrum eines der mächtigsten Reiche der späten Antike; Das Asklepieion - neben Epidaurus und Kos der berühmteste Kurort des Altertums! Die Akropolis mit dem berühmten pergamenischen Zeus-Altar, das großartige an den Steilhang terrassenförmig herangebauten Theater  -  Superlative der Bewunderung reichen nicht aus! Als Carl Humann, ursprünglich Ingenieur, in den Ruinen des alten Pergamon, die als Steinbrüche für Bausteine und zur Kalkgewinnung verwendet worden waren, nur noch einige Lesestücke gefunden hatte, begann er mit Hilfe der Antikenabteilung der Berliner Museen gemeinsam mit Conze, später mit Dörpfeld, Bohn, Wiegand und Knackfuß systematisch zu graben. Ihnen ist die Freilegung der Ober-, Mittel- und Unterstadt zu verdanken. Der Bericht Humanns über seine ersten Grabungen ist geradezu erregend. Die Tochter eines seiner engsten Mitarbeiter, des Architekten Bohn, Frau Herta Maaß, hat mir die Beschreibungen des Tempels des Dionysos und der Athena Polias ihres Vaters und ein von ihm gemaltes Ölbild des Burgbergs von Pergamon sowie einige Bruckstücke geschenkt. Ihr verdanke ich auch die Schriften Humanns, Wiegands, Schuchardts, Trendelenburgs und Fabricius' über die Ausgrabungen. Das 263 Pergamon-Bild hängt über der Tür meiner Bibliothek. Mit Frau Maaß und ihrem Mann, der auf seine älteren Tage, aus Leipzig emigriert, noch mein IItener Mitarbeiter wurde, hat uns eine späte Freundschaft verbunden.

Vater Bohn hat die architektonische Rekonstruktion des Pergamon-Altars erarbeitet, den wir noch einmal kurz vor der "Wende" im September 1989 in Berlin bewundert haben. Der große Fries mit dem Kampf der Götter und Giganten (Symbol für den Sieg der Griechen über die Galater), ist eine der herrlichsten Schöpfungen großer hellenistischer Kunst.

Pergamon verdankt sein Aufblühen in der späteren Antike einer Veruntreuung: Philetairos, der Begründer des pergarnenischen Königreiches der Attaliden, dem der Seleukidenkönig Lysimachos einen Schatz im Werte von etwa 120 Millionen DM anvertraut hatte, behielt nach dessen unrühmlichem Tode den Besitz für sich und machte sich damit zu einem der reichsten und mächtigsten Herrscher seiner Zeit. 

Und nun das Asklepieion: Ein Bewacher zeigt uns den Weg, eine Straße zu ihm, die erst vor kurzem ausgegraben worden und noch in keinem Reiseführer verzeichnet ist. 17 Säulen stehen noch, teils jonisch, teils konrinthisch, im Theater werden heute alljährlich die "Bergama"-Festspiele mit klassischen Werken aufgeführt - die Bibliothek, die Heilige Quelle, dieifi:1mer noch sprudelt, der Heilige Stein mit der Schlangenornamentik, der Heilige Gang, den die Heilungsuchenden in einem durch Hypnose oder Alkaloide hervorgerufenen Schlafzustand durchschreiten mußten, der Tempel des Telephos, des mythischen Gründers von Pergamon, der Asklepios-Tempel, in dem die Patienten noch einmal beten mußten, bevor sie nach vollzogener Kur entlassen wurden - alle diese Ruinen leben! Sie lassen den Geist eines "Badeortes" wieder aufleben, dessen heilsame Wirkung von dem Heil-Gott Asklepios erfleht wurde. Man hat das Asklepieion etwas salopp eine "Mischung von Bad Wörishofen und Lourdes" genannt. Viele der Methoden, die heute noch bei Badekuren angewandt werden, waren damals schon im Gebrauch: Wasser- und Sonnen-, Heilkräuter- und Honigkuren, sogar Bluttransfusionen, heiße Bäder, Schlammpackungen, auch psychotherapeutische Behandlungen. Die Traumbehandlung im Heilschlaf - Asklepios erschien den Patienten im Traum - bildete den Mittelpunkt der Therapie. Wie es bei der -heutigen Traumanalyse nach Freud üblich ist, mußte der Patient über seine Träume berichten oder sie 564 niederschreiben. Die zahlreichen noch erhaltenen Traum-Stelen zeugen davon. Der Schlafraum - Abaton - durfte nicht von Unberufenen betreten werden, zu denen Frauen kurz vor der Entbindung und Todgeweihte gehörten. Zum Dank für die Heilung mußte ein Honorar entrichtet und ein Opfer dargebracht werden. Am liebsten war dem Heilgott ein Hahn, den auch der seinen Tod erwartende und wünschende Sokrates schlachten ließ. Die Begleiter des Asklepios waren der Hund und die Schlange: Der Hund wohl wegen seines Spürsinnes, wie ihn der gute Arzt braucht, die Schlange wegen ihrer Gabe, Heilkräuter zu finden, und wegen ihrer Häutungen als Symbol der Befreiung von Krankheit. Hygieia, die Tochter des Asklepios, und Göttin, der Gesundheit, wurde, eine Schlange fütternd, neben ihrem Vater sitzend, auf antiken Reliefs dargestellt.

Von den Badegästen des Asklepieion wurde schon eine Art "Kurtaxe" erhoben. Man bot ihnen dafür außer dem Gebrauch der Kurmittel auch Vorstellungen in dem "Kur-Theater" und geistige Anregung in der dortigen Bibliothek an. Der große römische Arzt GaIenus wirkte in Pergamon und hat hier im 2. nachchristlichen Jahrhundert um die 500 wissenschaftliche Werke verfaßt. Mit ihm, anderen hervorragenden Ärzten und bedeutenden Philosophen war Pergamon nicht nur "Kurort", sondern auch ein geistiges Zentrum. Die Bibliothek auf der Akropolis enthielt rund 200 000 Bände, die nicht in Rollen, sondern in Bögen gestaltet und aufbewahrt wurden. Das Pergament heißt so, weil es hier entwickelt wurde. Es hat nach dem Verfall der Herstellung des Papyros in der späten Antike diesen Buchstoff endgültig ersetzt. Die Ägypter hatten die Ausfuhr von Papyrosrollen verboten! Marcus Antonius hat die Bibliothek nach Alexandria entführt und sie seiner Cleopatra geschenkt. Wer stiehlt heute noch so viele Bücher, um sie seiner Geliebten zu Füßen zu legen?

Auf der Rückfahrt Rast am Strande einer tief eingeschnittenen Meeresbucht. Dort seltsame "Badekabinen" eines "Strandkasinos", das aus einem barackenartigen Flachbau besteht. In jeder Kabine ein Bett und ein Stuhl auf der bloßen Erde. In der einen Kabine sahen wir einen Mann liegend, neben ihm eine Frau sitzend. Zwei weibliche Gestalten, nach Guidos Meinung aus dem Städtischen Bordell in Izmir für die Sommer-Saison beurlaubt, schauten Vera beim Umkleiden interessiert zu. Ich wurde verschont, weil ich bereits mit meinen 565 zwei Frauen ausreichend versorgt zu sein schien. Guido, als wir weiterfuhren: "The beach was nice, but the Ladies were bad!"

In einem Schlemmerrestaurant köstliches Mahl aus lauter Seegetier des Mittelmeeres, darunter die ersten Tintenfische unseres Lebens, lecker zubereitet, aber etwas "wabbelig". Angenehm schlürfbarer Wein, heiter schwingende Gespräche.

Sonnabend, 13. Mai: Befinden gebessert. Nachmittags bei Frau Edibeh zum Tee. Ich muß russische Lieder auf dem Flügel spielen. Mein spärliches Repertoire wird von der reizenden Frau des Hauses wohlgefällig aufgenommen. Abends große Abschiedsparty bei Packetts. 40 Personen. Anregende Atmosphäre, interessante Gespräche, kulinarische Darbietungen. Suschen, "die Herrin vom Haus, sah heute wieder entzückend aus." Frau Vighier erzählt von der Ausübung der Heilkunst auf dem Lande in Anatolien: Wenn jemand krank wird, behandelt ihn der Hodscha oder der Imam mit Zaubersprüchen.

Wenn sich zeigt, daß dies nicht hilft, erklärt der muselmanische Geistliche oder Lehrer, der Kranke sei vom Teufel besessen, und zwar vom Teufel der Christen, und er solle sich an den hierfür zuständigen Vertreter Christi wenden. Leider gebe es, so fügte Frau Vighier hinzu, christliche Geistliche, die solche Gelegenheiten zu Bekehrungsversuchen mißbrauchten. Ärztliche Behandlung sei die Ausnahme, teils wegen des noch weit verbreiteten Aberglaubens, teils wegen des Mangels an Ärzten und Krankenhäusern.

Sonntag, 14. Mai: Morgens 6 Uhr mit Bus nach IstanbuI (Verachen hat Angst vor dem Fliegen). Für Ausländer "schickt" es sich eigentlich nicht, mit dem Bus über Land zu fahren! Aber die Busfahrt hat den Vorteil, Einblicke. in die Landschaft und in das Volksleben zu gewähren, die dem Flugreisertden versagt bleiben. Zum Beispiel der Abschied eines Sohnes von der Familie: Der Sohn küßt dem Vater die Hand, legt dessen Hand an seine Stirn und küßt dann beide Wangen des Vaters. Beim Abschied von einer Tochter, die vielleicht eine Stelle in Istanbul antreten will, um etwas Geld für die Familie zu verdienen, weinen Eltern, Geschwister und Großmutter. Wie und wann werden sie sie wiedersehen?

Die anatolische Landschaft: Grüne, bewaldete Berge, fruchtbare Täler, armselige Dörfer, einsame Strecken. Im Bus unaufhörliche Berieselung mit türkischem Gesang aus einem fast unerträglichen Lautest-Sprecher. Endlich der 566 schneebedeckte "Bithynische Olymp", Ulu Dagh, dann Bursa, die alte Hauptstadt des Osmanischen Reiches, die ich schon von meiner Studentenreise her kenne. Mit der Fähre über das Marmara-Meer und von Üsküdar (Skutari) über den Bosporus, vorbei an einer langgestreckten Kaserne, in der einst Florence Nightingale während des Krimkrieges gewirkt hat, nach Istanbul.

 

Istanbul

Bei der Ankunft am Taksim-Platz kommt ein junger Mann auf mich zu und fragt mich in gutem Deutsch: "Sind Sie Professor Janz?" Abdullah in Izmir hatte alles vortrefflich arrangiert. Ein Mini-Bus brachte uns zum Hotel "Santral" (Central), einer einfachen, aber angenehmen Herberge mit freundlicher Atmosphäre und Deutsch sprechender Besitzerin. Türkisches Essen. Spätabends alleine zum Galata-Kai, an dem unsere "Truva" angelegt hat. Auf der Brücke angelnde Männer, Bettler, junge Leute, nirgends Frauen zu sehen! Hinauf zur "Yüksek Kaldirim" , der "Steilen Treppe", die nach Beyogoglu (Pera) führt. Wiedersehen mit dem Haus des Deutschen Clubs "Teutonia", in dem wir damals als' Studenten, in einem Saal auf der Erde schlafend 10 Tage lang gewohnt haben. Freundliche Begrüßung durch eine Münchnerin, die das Restaurant bewirtschaftet und bitter über den Rückgang der Geschäfte klagt. Sie nimmt mich und fünf junge Türken im Taxi mit zu unserem Hotel. Die Abendluft im Mai ist sehr kühl in Istanbul.

Montag, 15. Mai: Vormittags Blaue Moschee; Hippodrom, Kahriye Gamil, die frühere Kirche des Klosters Chora mit den kostbaren byzantinischen Dekkenmosaiken, Alt-Stambul mit Holzhäusern und schmalen, schmutzigen Gäßchen. Nachmittags Topkapi Sarayy mit den einzigartigen Sammlungen aus dem Schatz der Sultane, Goldkunstwerken, Riesen-Smaragden, chinesischen, französischen und deutschen Porzellanen. Kleine Einkäufe im Großen Bazar. Abends zu Dr. Sedat Katiorioglu, Facharzt für Hals-, Nasen-Ohrenheilkunde, der einmal Adalbert in Dülmen vertreten hat und jetzt an der Universitäts-Ohrenklinik in Istanbul arbeitet, kurz vor der Dozentur steht. Seine Frau ist Fachärztin für Dermatologie, auch in Deutschland tätig gewesen, klug und humorvoll. 567 

Fahrt am Bosporus entlang, vorbei an Dolma Bache bis Rumeli Hissar, an der alten, von Theodosios erbauten Stadtmauer entlang zur Küste des Marmara-Meeres nach Yesickoy, dem neuesten Stadtteil von Istanbul mit Hochhäusern, Campingplatz und Strandbad. Gastfreie Bewirtung mit original türkischen Gerichten, entzückender Abend im Hause des HNO-Kollegen und seiner liebenswürdigen Frau.

Dienstag, 16. Mai: Vormittags Hagia Sophia! Jetzt erst bewundere ich das frühchristliche Mosaik, das ich bei meiner ersten Orientreise nicht genügend beachtet hatte: ein Hauptwerk der byzantinischen Kunst von vollkommener Schönheit. Peter Bamm hat es in den "Frühen Stätten der Christenheit" sehr anschaulich geschildert: In der Mitte thront auf Goldgrund die himmlische Majestät der Madonna mit dem Kinde, zu beiden Seiten die irdischen Majestäten des Kaisers Konstantin und des Kaisers Justinian. Konstantin bringt der Madonna auf seiner "kaiserlichen Hand" die neue Hauptstadt Nova Roma dar, Justinian auf der seinen die neue Kirche der Heiligen Weisheit." 

Nachdem die Türken am Abend des 29. Mai 1453 die Stadtmauer von Byzanz erstürmt hatten, holten sie das Kreuz von der Hagia Sophia herab und pflanzten den Halbmond auf: Die Kirche wurde nach fast 1000jähriger christlicher Vergangenheit mit einem Schlage islamische Moschee, und aus der Hauptstadt des griechisch-byzantinischen Weltreiches "erwachte Konstantinopel als Hauptstadt des islamisch-türkischen Weltreiches. Dieser Vorgang ist einzig in der Geschichte." Soweit Peter Bamm.

Bei aller Großartigkeit der Hagia Sophia zog es uns weit mehr zur Blauen Moschee hin, zu diesem farbe- und raumgewordenen Traum von der Größe, Fülle und Schönheit des Glaubens! Im Hof der Blauen Moschee hören wir den Ruf des Muezzins zum Mittagsgebet. Der Abschied von Istanbul, dieser faszinierenden Stadt, die Alexander von Humboldt neben Rio de Janeiro und Neapel zu den drei schönsten Städten der Welt gezählt hat, fällt schwer.

Um 14 Uhr gehen wir an Bord unserer getreuen "Truva“. Mehmet steht auf dem Bootsdeck und begrüßt uns freudig, spendiert ein Täßchen türkischen Kaffee und serviert Vera und mir eine Orangeade. "Nix bezahlen!", gebietet er streng. Die" Truva" legt ab. Zum letzten Mal streift unser Blick die 568 einzigartige Stadt am Goldenen Horn. Ruhige nächtliche Fahrt über das Marmara-Meer und durch die Dardanellen, vorbei an deren engster Stelle, die Leandros Nacht für Nacht durchschwimmen mußte, um zu seiner Geliebten, der Aphrodite-Priesterin Hero, zu gelangen. Als eines Nachts das Leuchtfeuer, das ihm den Weg gewiesen hatte, erlosch, ertrank Leandros und Hero stürzte sich in den Tod. Grillparzer hat dieses rührende, von Musaios im 5. nachchristlichen Jahrhundert neugefaßte Märchen in seinem herrlichen Trauerspiel ndes Meeres und der Liebe Wellen" nachgedichtet. Wir sind im Hellespont, dem nach Helle, der Tochter des mythischen Königs von Boiotien, Athamas, benannten Meerenge zwischen Europa und Kleinasien. Auch Helle fand hier - auf der Flucht vor ihrer bösen Stiefmutter Ino - den Tod. Der Hellespont, nach Dardanos, einer Stadt bei Troja „Dardanellen" genannt, wurde schließlich zum Grab von Soldaten der englisch-französischen Flotte, die im Ersten Weltkriege, 1915, vergeblich versucht hatte, gegen den Widerstand der deutschen und türkischen Truppen die Durchfahrt durch die Meerenge zu erzwingen. Sie ist auch heute noch strategisch wichtig und wird es bleiben. Die Schiffe passieren sie, wie mir Mehmet sagte, im allgemeinen nur nachts.

Mittwoch, 17. Mai: Morgens 8 Uhr Ankunft in Izmir! lch kam nach Smyma zurück wie ein Trunkener vom Gastmahl", läßt Hölderlin seinen Hyperion sagen. Das konnten wir von uns nicht behaupten. Eher hätte ein anderes Wort des Hyperion gepaßt: "Mein dürftig Smyma kleidete sich in die Farben meiner Begeisterung und stand wie eine Braut da...!" Und siehe da: Unser Suschen steht in einem weißen Kleide auf dem Balkon ihres Hauses und winkt uns fröhlich zu! Sie hatte ein köstliches Willkommens-Frühstück bereitet („Peter-Pan-Cakes“ mit Sirup-Sauce). Mittags Einladung zu einem Türkischen Hochzeitsessen“ im Hause Dr. Adil Birs: Tscherkessen-Huhn mit Walnußsauce, Fleischbrühe mit Walnuß und Knoblauch, Weinblätter mit Reis, Kürbis mit Fleisch gefüllt, türkischer Rot- und Weißwein. Herzerwärmende Gastfreundschaft. Außer uns ein Colonel Welsh mit kunsthistorisch interessierter Frau. Dr. Adil Bir zeigt mir Photographien vom Befreiungs- und Reformierungskampf Kemal Atatürks. Dann im Eiltempo zu Frau Dr. Say, in deren Haus ich noch einmal meine beiden russischen Lieder spielen mußte. Abschied von Izmir mit leiser Wehmut im Herzen. Frau Say steht 569 winkend im grünen Kleide am Fenster. Mit zwei Pferdedroschken zum Schm. DIe "Truva" gleitet aus dem Hafen. Wir stehen auf der Kommandobrücke und winken. Da! auf dem Balkon die weiße Gestalt unserer lieben Suschen mit Wilbern, beide winkend. Ein paar Häuser daneben das Ehepaar AdiI Bir, eine weiße Fahne schwenkend! Der Kapitän läßt für uns ein dreimaliges Extra-Sireneignal ertönen. "For your friends!", sagt er lächelnd. Langsam entschwindet das liebgewordene Smyrna unseren Blicken, mit ihm die traumhafte Wirklichkeit dieser Reise.

"Güle, güle gidin, güle, güle gelin!": "Komme heiter mit Rosen, gehe heiter mit Rosen!" tönt es unhörbar uns nach. "Inschallah!", "Möge Gott es geben!" flüstern die Wellen.

Zahlreiche weitere Reisen haben mein Leben und Erleben bereichert. Ich will sie nur in stichwortartigen Umrissen erwähnen: Einladung unserer schwedischen Freunde Govenius - Frau Eva war eine erfolgreiche Schriftstellerin in ihr schönes, weißes, an Schloß Ekeby in Selma Lagerlöfs "Gösta Ber.ling" erinnerndes Gutshaus bei Vexjö in Südschweden zum rituellen Krebsfang und -essen (mit hoher Geschmackskultur geschmückte Tafel), danach psychiatrisches Consilium in Göteborg, anschließend stille Tage in Govenius' Ferienhäuschen in AriId an der graufelsigen, mit roten Rosen bewachsenen Küste des Kattegatt. Besuche bei unseren finnischen Freunden Karjalainen in Sotkamo und Kajaani, inmitten der Wälder und Seen Nordfinnlands, von Frau Irma im Kahn zu ihrer eigenen Insel gerudert, die uns mit absoluter, menschenferner, fast unheimlicher Stille umfing. Schiffsreise mit meinem corpsbrüderlichen Freund Harald Reicke von Kopenhagen über die Färöer nach Reykjavik mit dem isländischen, nach dem noch aktiven Vulkan "HEKLA" genannten Schiff. Am frühen Morgen des dritten Tages vorbei an dem Naturwunder des im Jahr zuvor (1963) aus dem Nordatlantik hervorgebrochenen Vulkans, dessen rotglühende Lava sich in das Meer ergoß und weiße Dampfsäulen aufsteigen ließ - aus ihm ist eine neue Insel. "Surtsey" entstanden - , großartiges, kontrastreiches Landschaftserlebnis Islands der Seen, Wasserfälle, heißen Quellen, Geysire, Gletscher, Lavafelder; seine reine, staubfreie Luft, die den Farben der Häuser eine leuchtende Klarheit verleiht. Flug nach West-GrönIand, Motorbootfahrt zwischen schwimmenden Eisblöcken zu einem Eskimo-Dorf, mehrere Tage durch Schlechtwetter im 570 grönländischen Nassarssuaq in einem primitiv-barackenartigen Hotelchen "Arctic" festgehalten; notärztliche Versorgung eines schwedischen Film-Regisseurs, Schülers von Ingmar Bergman, der in einem Geysir auf Island schwere Brandwunden am Bein erlitten hatte und sich beim Verbandwechsel ohne Narkose! - in einen autosuggestiv durch Yoga erzeugten Zustand der Schmerzlosigkeit versetzen konnte. Besichtigung der von Gisli Sigurbjörnson in Reykjavik geschaffenen und vorbildlich gestalteten Altenheime. Gastliche Aufnahme im Hause Helgas und Gislis.

Besuch unserer ungarischen Freunde Alfred und Piroska Simkó in Budapest - auf der Donaufahrt dorthin akut erkrankt an Präurämie, bedrohliche Krisis, Überwachung durch kommunistische Spitzel, Fehldiagnose im Ignaz-Semmelweis-Krankenhaus, enttäuschendes Wiedersehen mit dem einst berühmten, inzwischen ziemlich verwahrlosten, Gellért-Hotel, Antonias mutige 600-Kilometer-Rückfahrt von Passau nach Hause, Errettung durch transurethrale Elektroresektion der hypertrophen Prostata, von Dr. Schrader im Kreiskrankenhaus Burgwedel kunstvoll ausgeführt.

Ein anderes Mal entzückende Autofahrt mit Antonia, Vera und Suschen ins österreichische Burgenland - die Drei waren meine munter plaudernden "Zwitschervögel" - , dort freudige Wiederbegegnung mit unseren lieben Freunden Dieter (Bildhauer) und Doris (Malerin) Lötsch. Mehrfache Einladungen eines ebenso dankbaren wie reichen Patienten in seinen "märchenhaften" Besitz auf EIba mit unüberbietbaren Darbietungen: Schönheit der Insel (Blick auf Korsika) und des Meeres und der Sonnenuntergänge, absolute Ruhe, alle denkbaren Bequemlichkeiten: Swimming Pool, zwei schnelle Motorboote, ein nagelneues Auto zur freien Verfügung ("Wenn Sie's kaputtfahren, trifft's keinen Armen!"), vollkommener Service, ein Übermaß an kostbaren Geschenken '" Perfektion der Genüsse, die nichts mehr zu wünschen übrig ließ und uns nach einiger Zeit wie ein Symbol des faden Nichts anzugähnen schien. (Der spendable Gastgeber selbst ein Mensch in seinem Widerspruch: Überzeugter Kommunist und erfolgreicher Kapitalist, spöttischer Atheist und großzügiger Sponsor eines marmornen Altars mit seinem in goldenen Lettern eingravierten Namen). Tucholskys Wort "Soldaten sind Mörder" machte er sich zu eigen und übertrug es auch auf mich, weil ich im Kriege als waffen loser Arzt Uniform 571 betragen hatte!. Er starb bei einer Gerichtsverhandlung gegen einen PresseIllustrierten-Konkurrenten!) 

Eine Pfingstfahrt nach Holland brachte mich mit Antonia in die Heimat meiner väterlichen Vorfahren nach Assen und Groningen in Vriesland. In Assen waren wir Gäste meines ehemaligen Leipziger Mitarbeiters Dr. Popken Eringa und seiner deutschen Frau, die er in Leipzig kennengelernt hatte, als sie an der Jugendpsychiatrischen Abteilung unserer Klinik arbeitete. Wir wurden sehr gastfreundlich aufgenommen und erfuhren auf der ganzen Hollandreise keine Spur von Deutschfeindlichkeit. Leider konnte ich aus den Kirchenbüchern nichts Urkundliches über die mennonitischen Familien Janz, Rosenfeld, Mertens ersehen, die von den lutherischen Christen vertrieben wurden, Anfang des 18. Jahrhunderts auswanderten und sich in der Danziger und Tilsiter Niederung ansiedelten. In einer freundlichen Gaststätte am "Alten Rhein" vertraute sich mir die Wirtin schluchzend mit ihrem Kummer über ihren alkoholabhängigen Ehemann an und blieb danach noch lange wegen ihrer eigenen schweren Erkrankung (Blutkrebs) in brieflicher Verbindung mit mir. Später haben mir die vorzüglichen Einrichtungen für die Versorgung geistig Behinderter in Holland wichtige Anregungen für unsere IItener Arbeit gegeben. Überall begegnete ich freundlicher, ressentimentfreier Kollegialität. Der Utrechter Psychiater Rümke, dessen geistvolles Buch "Eine blühende Psychiatrie in Gefahr" mich lebhaft angesprochen hatte, lernte ich bei dem psychiatrischen Weltkongreß in Madrid 1966, auf dem ich über die "Problematik der Hoffnung im psychotherapeutischen Dialog" gesprochen hatte, auch persönlich kennen. Von Rümke stammte eine Habilitationsschrift über die Psychologie und Psychopathologie des Glückserlebens. Als wir in einem Bus zum Escorial fuhren, war der Platz neben ihm noch frei, und ich fragte ihn, ob er erlaube, daß sich die "Hoffnung" neben das "Glück" setzen dürfe. Seine Antwort: "Eine schönere Nachbarschaft könnte ich mir nicht denken!" Einer Einladung des ideen- und erfolgreichen Pharmakologen, Chemikers und Pharmazeuten Dr. Poul Janssen - er hat wichtige neue Neuroleptika wie Haldol, Imap, Orap entwickelt - verdanke ich, daß ich das unweit seiner Forschungs- und Produktionswerke im belgischen Beerse gelegene Dorf GheeI kennenlernen konnte, in dem "psychiatrische Familienpflege" bereits um das Jahr 600 n. Chr. entstanden ist. Nach ihrem Muster, aber in 572 modernisierter und differenzierter Form, hat Dr. Ferdinand Wahrendorff die IItener Familienpflege aufgebaut. In meiner Schrift "Hundert Jahre IIten - hundert Jahre Psychiatrie" habe ich dies erwähnt. Von Dr. Janssen und seinen Mitarbeitern wurde ich mit einer fast zu üppigen Gastlichkeit empfangen und durch ganz Belgien gefahren, so daß ich Antwerpen kennenlernen und die Schönheiten Gents, Brügges und Brüssels erleben durfte.

Bei Studienreisen in die Tschechoslowakei, nach Jugoslawien (mit Vorträgen in Prag und Zagreb) und in die Sowjetunion (nach Moskau und St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß) lernte ich die Vorteile, aber auch die Grenzen eines staatlich gelenkten "Dispensairesystems" in der Behandlung und Vorbeugung des Alkoholismus gegenüber den Nachteilen einer allzu liberalen Gesundheitspolitik bei uns kennen.

Meine Forderung nach einem "gemäßigten Dirigismus" in der Abwehr der Alkoholgefahren, der sich mit einer demokratischen Verfassung durchaus vereinbaren läßt, blieb in Deutschland ohne praktische Resonanz. Dankbar denke ich an meine freundschaftliche Beziehung zu dem Prager Psychiater Dr. Frantisek FaItus und seiner lieben Frau Marta zurück. Er arbeitete in der Vorbereitung für die Habilitation an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Prag, an der Ferdinand Wahrendorff, von einem Privatdozenten Dr. Fischl angeleitet, seine ersten psychiatrischen Erfahrungen erworben hatte. Herr Faltus zeigte mir das Krankenzimmer, in dem Friedrich Smetana an dem Endzustand einer T abo-Paralyse gestorben ist. 

1965 reiste ich mit meinem Freunde Francisco Liavero und Robert Cornelsen zur Jahrestagung der American Psychiatric Association in die USA. Wir haben in New York, Baltimore, Washington und Boston 24 psychiatrische Krankenhäuser besichtigt und vieles Fortschrittliche, aber auch manches Rückständige zu sehen bekommen. Das kühne Vorhaben einer Reform des amerikanischen Gesundheitswesens, im besonderen einer verbesserten Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter, das Präsident John F. Kennedy geplant hatte - seine Schwester war selbst geistig behindert - , wartet immer noch auf seine Realisierung. Ich habe neben im besten Sinne modernen baulichen Einrichtungen und therapeutischen Verfahren psychiatrische Hospitäler gesehen, in denen rund 1000 Patienten in einem 573 Hause mit z.T. vergitterten Fenstern untergebracht waren. Aber überall stieß ich auf größtes Verständnis für die Notwendigkeit einer Reform und auf kollegiale Bereitschaft, uns alles, auch Unzulängliches, zu zeigen und mit uns darüber zu diskutieren. Großen Dank schulde ich den Kollegen Kalinowsky in New York, Kohlmeier in Baltimoreund Alexander in Boston.

Eindrucksvoll war für mich die Liberalität und Vorbehaltlosigkeit des Umganges weißer mit schwarzen Ärzten und nichtärztlichen Mitarbeitern. Ein schwarzer Chefarzt wird von seinen weißen Untergebenen problemlos anerkannt, wenn er durch Qualifikation und Charakter Autorität repräsentiert und umgekehrt. Die Amerikaner verstehen es ohnehin - wir Deutschen müssen es noch lernen - die Interessen eines Teams denen des Einzelnen voranzustellen.

Nachahmenswert ist auch die freiwillige Hilfe, mit der alleinstehende, nicht berufstätige Frauen dem Mangel an Krankenpflegepersonal abhelfen. Diese karitative Bereitschaft ist, wie ich erfuhr, zu einem großen Teil den zahlreichen Sekten in den USA zu verdanken.

Interessiert hat mich auch die Anwendung eines sehr einfach erscheinenden gruppentherapeutischen Verfahrens, das sich "Remotivation- Training" nennt: In freiem, nicht auf den Leiter oder ein bestimmtes Thema zentriertem Gespräch wird in der Gruppe über alles, nur nicht über Krankheit, Politik und Religion, gesprochen. Der Patient soll "wiedermotiviert" werden, sich von allem, was mit seiner Krankheit zusammenhängt, abzulenken und sich lebenspraktischen Dingen zuzuwenden. Es wird also das Gesundgebliebene im psychisch Kranken angesprochen und gefördert, eine Aufgabe, die auch ich für ungemein wichtig halte - so "simpel" sie auch erscheinen mag.

Um uns selbst von den vielfältigen Einblicken in die amerikanische Psychiatrie abzulenken und von den zahlreichen Besichtigungen zu erholen, flogen wir Drei von Washington nach Miami. Dort nahmen wir uns einen Leihwagen und fuhren über die mehr als 20 Brücken von lnselchen zu lnselchen in der Florida-Straße zwischen Atlantik und dem Golf von Mexiko nach Key West Stätte der Erinnerung an Ernest Hemingway. und Tennessy Williams. Liavero, des Englischen nicht mächtig, konnte sich mit den weißen und schwarzen Florida-Amerikanern besser verständigen, weil in ihrem Jargon noch einige spanische Sprachreste aus der Kolonialzeit übriggeblieben sind. 574 Gemeinsam mit einem munteren Wiener Hotelier erfreuten wir uns an dem Zauber der Flora und Fauna Floridas .

Die letzten großen Reisen meines Lebens führten mich über Guatemala nach Mexiko (gemeinsam mit meinem späteren Nachfolger Jan Cornelsen) (zum Weltkongreß der Psychiatrie 1971, mit Vortrag "Interpersonalphänomenologie als Grundlage einer Therapie des Alkoholismus" und Vorführung unseres IItener Films "Psychiatrische Ausdruckstherapie"), nach CoIumbien (Internationales und interdisziplinäres Seminar" Theologie, Wissenschaft, Humanismus" 1973, mit Vortrag über das obengenannte Thema), nach ThaiIand (Bangkok) (31. Internationaler Kongreß über Alkoholismus und Drogenabhängigkeit mit Vortrag über "Mißbrauchsverhalten als Aufgabe präventiver Gesundheitserziehung"), von dort nach Nepal (Kat man du, mit Rundflug über den Himalaja zum Mount Everest), und zum Abschluß nach Indien (New Delhi und Agra) (1975).

Die Einladung zu dem Seminar im "Recinto de Quirama", Rio Negro, bei Antiochia in West-Columbien wurde für mich zu einem der anregendsten und nachhaltigsten geistigen Erlebnisse meines Lebens. Ich hatte sie der Vermittlung unserer Freunde Ursel und Ottilio Küstermann zu verdanken. Das Seminar fand statt auf dem Landsitz, einer ehemaligen "Finca", eines reichen Advokaten, Dr. Rodriguez, der ein staatlich gefördertes "Instituto de Integracfon cultural" gegründet hatte. Das erdgeschössige Gästehaus lag idyllisch, still und klimatisch günstig auf der hügeligen Hochebene der östlichen Ausläufer der Anden (Kordieren). Teilnehmer waren katholische Theologen, meist Ordensgeistliche, Philosophen, Natur- und Sozialwisssenschaftler, Mathematiker, Politologen, ein Diplomat (der Peruanische Botschafter in Bogota, Wagner de Reyna, Schüler Heideggers), ein Schweizerischer evangelischer Pfarrer und zwei Psychiater, Prof. Pauleickhoff aus Münster und ich. In einer Art mönchischer Klausur wurde 11 Tage lang die weitläufige Rahmenthematik des Seminars von den jeweiligen wissenschaftlichen Aspekten der Teilnehmer in Arbeitsgruppen behandelt und am Nachmittag im Plenum diskutiert. Menschlich besonders nahegekommen bin ich hierbei dem Bonner Philosophie-Ordinarius Gerhart Schmidt, mit dem und später auch mit seiner aus Ostpreußen stammenden Frau Christine (ihre Großeltern hatten das Gut Wenzischken bei Heinrichswalde in der Tilsiter Niederung von meinen 575 Großeltern gekauft!), eine sich immer mehr vertiefende Freundschaft verband. Ihm verdanke ich die scharfsinnig-kritische Mentorschaft in meinen amateurphilosophischen Versuchen, psychopathologische mit philosophischen Fragestellungen zu verbinden. Der Züricher Jesuitenpater Dr. David, ein eminent kluger und persönlich liebenswerter Mann, sagte mir auf meine Frage, ob ich als NichtKatholik, der im Meßwein nicht das Blut und in der Oblate nicht den Leib Christi, sondern Gleichnisse seiner Gegenwärtigkeit sehen kann, kirchlich legitimiert sei, an der Eucharistiefeier, die dort nachmittags stattfand, teilzunehmen (was ich einmal tat): "Nach der streng dogmatischen Haltung des Vatikans nicht! Aber wir Jesuiten denken da etwas liberaler, und Rom wird es später vielleicht auch einmal tun!" In aller Eile übersetzte er mein Vortragsmanuskript in elegantes Französisch. Fasziniert war ich von dem Vortrag des Leiters des wirtschaftswissenschaftlichen Forschungszentrums am Eidgenössischen Technologischen Institut Zürich, Prof. Bruno Fritsch. Er sprach über den "Versuch einer integrativen Betrachtung der Subsysteme", ausgehend von der Studie des Club of Rome und dessen Bericht "Zur Lage der Menschheit - Grenzen des Wachstums". Mesarovic und Pestel. Mit "Subsystemen" sind die exponentiell wachsenden, zunehmend instabil gewordenen territorialen, maschinellen ("man machine"), sozialen, biologischen und ökologischen Prozesse unseres Zeitalters gemeint. Die Kernfrage, um die es dem Club of Rome geht: "Welche heute vorherrschende Beziehungen müssen sich ändern, damit das exponentielle Wachstum. in einen Gleichgewichtszustand ("Homoeostase") übergeht?" (Dennis Meadows). Fritschs kritische Gedanken und meine Gespräche mit ihm haben mich angeregt, ein Konzept zu entwerfen, mit dem das vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) erarbeitete "WeltmodeU" (J. W. Forrester) durch anthropologisch, epidemiologisch und soziologisch fundierte Analysen der "chemischen Inweltverschmutzung" erweitert und differenziert werden sollte. Mit diesem neuen Wort meine ich die" Verschmutzung", die der Mensch im Industriezeitalter sich selbst zufügt, in dem er Alkohol, Rauschdrogen, Arzneimittel, Tabak und andere psychotrope Stoffe durch ihren Mißbrauch zu Schadstoffen macht. Von der naheliegenden Annahme ausgehend, daß wir es bei diesem Mißbrauchsverhalten und seiner statistisch erwiesenen Zunahme mit einem Parallelprozeß zu dem exponentiellen Wachstum der heutigen Umweltverschmutzung zu tun haben, könnte in das künftige MIT-Modell ein 576 international und interdisziplinär koordiniertes Verbundforschungsprojekt einbezogen werden als Grundlage langfristiger Strategien mit dem Ziel eines präventiven Inweltschutzes" durch eine bereits im Kindergarten beginnende systematische, wissenschaftlich fundierte und permanente Gesundheits-Erziehung.

In mehreren deutsch- und englischsprachigen Veröffentlichungen und in meinem Vortrag in Bangkok habe ich 1974, 75 und 83 mein Programm vorgestellt und mit wissenschaftlichen, praktischen und ethischen Argumenten zu begründen versucht.

"Die Programme sind schöner als die Realitäten", sagte mir einmal eine skeptische Kollegin. Sie hat Recht. Auch ich selbst mache mir keine Illusionen über die Realisierbarkeit und das Utopische meines Programms. Aber Utopien gehören nun einmal zu den Merkmalen einer geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen Krisenepoche, und ohne utopische Visionen werden wir auf dem schwierigen Wege zu Bewältigung ihrer T ei/erscheinungen nicht vorankommen.. "Fortschritt beruht auf ständiger Reibung von Realitäten mit Utopien" - Ein treffendes Wort des Zukunftsforschers George Brennan!

"Wer aber eine wirksamere Gesundheitserziehung fordert, die den Gefahren der Selbstschädigung des Menschen durch den Mißbrauch psychotroper Stoffe begegnen soll, wird nur glaubwürdig sein, wenn er sich auch seiner eigenen Verantwortung für eine gesundheitsbewußte, vom Gesetz des Maßhaltens bestimmte Lebensführung verpflichtet weiß." "Bemühen wir uns Alle, jeder im Bereich seiner Aufgaben und Möglichkeiten, durch das vorgelegte Beispiel dazu beizutragen, daß Zukunftsperspektiven einer vorbeugenden Gesundheitserziehung, die heute noch als Utopien erscheinen mögen, zu Realitäten von morgen werden können!" Damit schließt das Manuskript meines aus verschiedenen Publikationen zusammengestellten, aber nicht veröffentlichten Büchleins "Abhängigkeit und Mißbrauch von psychotropen Stoffen - Problem unserer Zeit Herausforderung des Arztes".

Entspannung von dem doch recht anstrengenden Programm des columbianischen Seminars brachte uns ein Wochenende an der Karibik in Cartagena, dem Heimatort des später so weltberühmt (Nobelpreisträger) gewordenen Schriftstellers Marquez. Aber die Gespräche gingen dort weiter. Zur Abwechslung spürte ich auf dem (im wörtlichen SinneI) Schwarzen Markt in Cartagena, als ich an der Kamera hantierte, plötzlich eine fremde Hand in meiner 577 Hosentasche: Ein Negerjunge hatte mir, dem einzigen Weißen auf dem Platz, blitzschnell den Inhalt entrissen, und war im Gewühle schwarzer Menschen entschwunden. Es tat mir leid, daß der arme Junge sich mit einer kärglichen Beute begnügen mußte: Ich hatte vorsorglich nur 15 Pesos (etwa 1,50 DM) und ein Taschentuch auf diesen Erkundungsgang mitgenommen!

Das Seminar wurde nach einem entzückenden Abschiedsabend mit Gitarrenspiel und südamerikanischen Liedern fromm und feierlich mit einer vom Bischof und 8 Priestern zelebrierten Abschiedsmesse beendet und in Anwesenheit des Gouverneurs der Provinz Antiochia und des für die Vergabe von Forschungsmitteln zuständigen staatlichen Vertreters offiziell abgeschlossen. Zuvor waren von den Gruppen-Moderatoren Kritik und Verbesserungsvorschläge vorgetragen worden. Ich hatte vorgeschlagen, künftig auch Nichtchristen, marxistische und andere Atheisten, Hindus, Buddhisten, Taoisten teilnehmen zu lassen. Ob es zur Fortsetzung dieses vielversprechenden Seminars im Kolumbianischen Recinto de Quirama gekommen ist, weiß ich nicht. Mit ein paar improvisierten Worten (in Spanisch) dankte ich Dr. Rodriguez, dem "Subdirektor" Dr. Litto Rios, den anderen Herren des Institutes und den Helferinnen und Helfern im Namen der deutschen Gruppe für die Gastfreundschaft und die Kunst, das rechte Maß zwischen Organisation' und Improvisation gefunden zu haben.

Meine Reisen nach Guatemala und Mexiko, Thailand, Nepal und Indien haben mir zwar außer interessanten wissenschaftlichen Anregungen und persönlichen Begegnungen vielfältig fesselnde Einblicke in die Präkolumbianischen und alt-indischen Kulturen vermittelt. Aber die Fremdartigkeit der Architektur und die Grausigkeit der mesoamerikanischen Rituale bestätigten mir nur, daß ich ein passionierter, "unverbesserlicher" Europäer bin und bleiben werde. Die Mythologie der Azteken, Maya, Tolteken steht für mich tief unter dem humanen Geist des Griechen-, Römer- und Christentums. Die Tempelstadt Teotihuacan in Mexiko, die Maya-Pyramiden in Tikal (Guatemala) empfinde ich als ebenso großartig wie häßlich. Ich gäbe sogar die Schönheit des Taj Mahal in Agra her für die des Parthenon.

Nur eines will ich noch andeuten: In der Welt der altindischen Kulturen, namentlich in den Religionen des Ewigen Weltgesetzes, wie Helmuth von GIasenapp sie nennt, des Hinduismus oder Brahmanismus, sehe ich geistig 578 Verwandtes, ja, Gemeinsames. Wenn Sarvapalli Radhakrishnan als neuerer indischer Religionsphilosoph, ein Hindu, schreibt: "Religion besteht nicht in der Anerkennung einer Formel, sie ist vielmehr ihrem Wesen nach eine Aufforderung zu einem geistigen Abenteuer, zu einer geistigen Wiedergeburt... sie bedeutet einen erleuchteten Geist und einen umgestalteten Willen...", so ist mir das ganz nahe. Dieses Ziel könne auf den verschiedensten Wegen erreicht werden, "denn alle Pfade führen zur Spitze des Berges, es ist ... bedeutungslos, welchen wir einschlagen..."Helmuth von GIasenapp sagt hierzu: "Von dieser Einstellung zum Wahrheitsgehalt der Religion hat das Abendland viel zu lernen."

Ich mache mir auch bestimmte Gedanken aus buddhistischer Dichtung und Weltdeutung zu eigen, etwa: "Wer in deinem Herzen wohnt, ist dir nah, auch wenn er weilt in fernen Zonen. Fern jedoch sind alle, welche hier, aber nicht in deinem Herzen wohnen." (Canakya, Indien, 322-258 v. Chr.) Oder "Wie auf dem Lotosblatt Tropfen zergehen, siehst du das Leben im Winde vergehen. Steig' in den Nachen: ;Die Freundschaft mit Guten, Rette dich so aus des Weltstroms Fluten I" (Dhammapada 14, Vers 5) (Nachdichtung von Otto von GIasenapp, Übersetzungen von seinem Sohn Helmuth, der in Königsberg gelehrt und außer seinen Büchern - u.a. "Die indische Welt", "Die fünf Weltreligionen" - eine lesenswerte Autobiographie hinterlassen hat.

Goethes Wort zum "West-östlichen Divan": "Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen..." nähert sich heute mehr und mehr der realen Wirklichkeit - freilich, was den Absolutheitsanspruch und die Expansionstendenzen der fundamentalistischen Gruppierungen des Islam betrifft, auch unter gefährlichen Spannungen.

Ich widerstehe der Versuchung, weitere Auszüge aus meinen umfangreichen Reisetagebüchern anzufügen.

 

Epikritischer Ausklang

In seinem Vorwort zu "Dichtung und Wahrheit nennt Goethe Autobiographien ein "immer bedenkliches Unternehmen". Wie recht er hat, ist mir erst im Laufe der Jahre klar geworden, in denen diese "Memorabilien" entstanden sind. Ich habe lange Zeit einfach" vor mich hin" geschrieben, ohne rechtzeitig zu 579 bedenken, daß das Ganze sich inzwischen zum Buchformat ausweiten würde, daß es mit Einzelheiten überfrachtet sei und deshalb selbst von wohlwollenden und geduldigen Lesern als Zumutung empfunden werden könnte. Solche späten Erwägungen fordern zur Selbstkritik heraus, mögen aber zugleich das Bemühen um Selbstrechtfertigung erkennen lassen.

Zunächst die Selbstkritik: Der Text enthalte, so ließe sich einwenden, zu viele und ausführliche Abschweifungen in geistes-, literatur-, religions-, medizingeschichtliche und philosophische Gebiete bis hinein in atomphysikalische Erkenntnisse. Dies alles lenke unnötig ab vom Eigentlichen, um das es in einer AutobiQgraphie gehe: Vom persönlichen Leben und Erleben des Autors. Außerdem: "Schuster, bleib' bei deinem Leisten!" Die Anhäufung von Exkursen in "sachfremde" Bereiche könnte auch als eine Art narzistisch getönten Bildungsdünkels und Belehrungsbedürfnisses mißverstanden werden. Vielleicht habe ich mich mit allem überhaupt zu wichtig genommen, und das Ganze sei womöglich im Grunde nichts anderes als ein verbrämtes "Panorama der Eitelkeit"?

Inzwischen bin ich etwas nachsichtiger mit mir geworden und damit dem Versuch einer Rechtfertigung näher gekommen. Wenn ich mich frage, warum ich denn diese Memorabilien überhaupt geschrieben habe, und dies angesichts einer geradezu modisch gewordemen Flut von "Lebenserinnerungs"-Publikationen, so lautet die Antwort einfach: Weil ich dem Wunsche nachgegeben habe, mein Leben möge nicht verhallen, ohne bei den Menschen, die mir nahegestanden haben, einige schriftliche Spuren zu hinterlassen. "Es wird die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen", läßt Goethe seinen Faust sagen. Dies allerdings wäre ein wenig zu hoch gegriffen. Aber: "Dum vivo, scribo!" - solange ich lebe, schreibe ich. Ich konnte meinem angeborenen "Schreibetrieb", der sich früh schon in Tagebüchern und Briefen, später in Manuskripten geäußert hat, nicht widerstehen, zumal ich ihm im sogenannten "wohlverdienten Ruhestand" etwas freieren Lauf lassen durfte. Er hatte sich, zusammen mit meinem "Lesetrieb" , seit jeher schon auf meine Interessen an geschichtlichen und damit auch an lebensgeschichtlichen Themen gerichtet. Nun findet er Ausdruck in einer Rückschau auf mein eigenes langes Leben.

Wegen des zeitgeschichtlichen Gehaltes dieser Aufzeichnungen - aber nicht allein deshalb - hat mein Freund Hartmut Zelinsky mich immer wieder zum Weiterschreiben angeregt und ermutigt. 580

Als Zeitzeuge, der die Epochen unseres Jahrhunderts erlebt hat, glaubte ich einiges beitragen zu können, was der Erinnerung wert erscheinen mag. Wie ich diese Zeit erlebt und wie ich mich mit ihr und mit mir selbst reflektierend auseinanderzusetzen versucht habe, das gehört zu den Grundmotiven, aus denen diese "Memorabilien" entstanden sind. In Goethes Vorwort zu "Dichtung und Wahrheit" heißt es weiter: "... so ward ich aus meinem engen Privatleben in die weite Welt gerückt, die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche näher oder ferner auf mich eingewirkt, traten hervor, ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auch mich wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen den größten Einfluß gehabt, mußten vorzüglich berzüglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt..."

Ohne dieses Goethesche Vorwort schon gelesen zu haben, war es von Anfang an meine Absicht, keine bloßen, chronologisch streng aufeinanderfolgenden "Erinnerungen", "Memoiren" zu schreiben, sondern sie zu "Memorabilien", "Erinnerungs-würdigkeiten" auszuweiten und zu vertiefen. Dies gilt im besonderen auch für meine Neigung, bestimmte Bildungslelemente, die ich mir im Laufe des Lebens angeeignet habe, in den Text einzufügen. Sie gehören als etwas Wesentliches zu meinem Leben und meiner Entwicklung. Keine Autobiographie kann ganz frei von mehr oder minder larvierter Eitelkeit sein. Schon die Absicht, der Mit- und Nachwelt "Gedanken und Erinnerungen" (Bismarck) mitzuteilen, beruht auf der Überzeugung, man habe dem Leser etwas Bedeutendes zu sagen. Das gilt zwar nicht für jede Autobiographie, ist aber als Zeichen gesunder Eigenliebe durchaus legitim. Ich bekenne mich zu ihr und glaube mich damit in guter, wenngleich unerreichbar rang höherer . Gesellschaft mit bedeutenden Autobiographen zu befinden. Da ich kein Goethe, kein Künstler, Dichter, Schriftsteller bin, fällt es mir nicht schwer, auf den Zusatz "Dichtung" zur Wahrheit in der Darstellung meines Lebens zu verzichten. Vielmehr habe ich mich an den Grundsatz gehalten, den die deutsche Heeresleitung im August 1914 für die Berichterstattung über den Ersten Weltkrieg 581 festgelegt hat: "Wir werden nicht alles sagen, aber was wir sagen, wird wahr sein." Außerdem: Was den Leser nicht interessiert, braucht er nicht zu lesen.

Wahrscheinlich steckt in Jedem von uns die stille Hoffnung, mit dem Abschluß des Lebens möge nicht alles "zu Ende" sein. Ich meine damit für mich selbst nicht ein individuelles Weiterleben nach dem Tode in einer jenseitigen Welt, an das ich nicht zu glauben vermag. Ich denke nur an den Wunsch, das, was wir einmal gewesen sind, was wir erstrebt, getan, erlebt, was wir Anderen bedeutet haben, möge "irgendwie" fortleben in den Menschen, die uns überleben. Albert Schweitzer soll einmal gesagt haben - man kann dieses schöne Wort in Todesanzeigen lesen: "Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen."

Gewiß: Auch diese Spuren werden sich mit der Erinnerung an uns von Generation zu Generation verflüchtigen und einmal in das Nichts zerrinnen, aus dem wir kommen und in das wir zurückkehren. Aber es täte schon gut, zu wissen, daß wir nicht vergeblich gelebt haben!

Am Ende meines Lebens steht Dankbarkeit. Ich danke Gott für dieses Leben. Ich danke ihm für das Glück der Lebensgemeinschaft mit meiner Antonia, für das Glück, eine Mutter gehabt zu haben, wie es unser geliebtes "Mamchen" war, der Schutzengel, der über unserem Leben gestanden hat. Ich danke Gott für die Geschenke der Freundschaft und Zuneigung, die unser, namentlich auch unser spätes Leben bereichert haben. Ich danke ihm für die Möglichkeiten, ärztlich helfen und wissenschaftlich arbeiten zu dürfen, und ich danke ihm zugleich für die Einsicht in die Grenzen dieser Möglichkeiten. Sie hat mich vor Überheblichkeit bewahrt und an die Ehrfurcht vor dem Unerforschbaren gemahnt. Ich danke Gott für die Eigenschaft, auf Unerreichtes im Leben ohne Bitterkeit oder Resignation verzichtet haben zu können und aus Fehlern, Fehlschlägen und Krisen zu lernen, daß sie ein unerläßlicher Weg zur Reifung sind. Ich bin dankbar für die Gewißheit, auch in den nichtigsten Dingen des Lebens ein göttliches Geheimnis zu sehen, das sich in ihnen offenbart oder verbirgt getreu unserem Hausspruch: "Vocatus atque non vocatus - Deus aderit!"

Im Grunde vermag ich alles das, wofür ich zu danken habe, in Worten nicht auszudrücken-. Mein geliebter HöIderIin läßt seinen Hyperion an Diotima schreiben: "Glaube mir und denk, ich sags aus tiefer Seele dir: die Sprache ist 582 ein großer Überfluß. Das Beste bleibt doch immer für sich und ruht in seiner Tiefe, wie die Perle im Grunde des Meeres...".

11. März 1997, H. W. J.


 

Inhaltsverzeichnis

Frühe Kindheit in Masuren 3

Geschichte Masurens 8

Als Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg 13

Harzreise mit Heinrich Heine 25

Gymnasialzeit in Braunsberg 28

Erste Bildungsquellen und politische Eindrücke 33

Reisen - Berge, Städte und die See 60

Corpsstudent in Königsberg 72

Hermann Sudermann und Littuania 82

Medizinstudent in Heidelberg 86

Arische Physik 89

München 96

Ringelnatz 97

Bumke contra Freud 103

Wien 107

Freud und Wagner-von-Jauregg 110

Balkan-Orientreise 116

Abschluß der Studentenzeit in Königsberg : 123

Als Medizinalpraktikant und junger Arzt in

Altona und Hamburg 128

Arthur Jores 129

Hamburg-Barmbek 133

"Drittes Reich", die Deutschen und ich 135

Hitler als psychopathologisches Problem 143

Albert Speer 155

Dissertation 163

1933 165

1934-35 in Königsberg 169

Heirat 1935 171

"Zweite Hochzeitsreise" ins Saargebiet 1936 176

Zur Weltausstellung in Paris 1937 178

Leipzig 1939-1947 181

Medizingeschichtliches 181

Krieg 194

Peter Bamm 201

Ukrainischer Winter 205

Geschichtliches zur Ukraine 212

Berlin 1942-43 219

Wladimir Lindenberg 221

Immo von Hattingberg 225

Max Planck ... 226

Chaos-Theorie 232

Kernfusion und -spaltung 234

Letzte Kriegs- und erste Nachkriegsjahre 245

Aus meinem Tagebuch 1945-46 255

Im Gefängnis 274

Sowjetische Armee besetzt Leipzig 294


Aus dem Staatsdienst entlassen 311

Der „Fall Bonhoeffer“ und die deutsche Psychiatrie 318

Dietrich Bonhoeffer 321

Denunziert 334

Flucht aus der DDR 335

Neues Leben im Westen. 337

Hermann Beenken 346

Antonias Flucht aus Leipzig in den Westen 351

Intermezzo Hamburg 1947-48 355

Dokumente 355a

Ilten 360

Beschäftigungs- (Ergo-) Therapie 377

Therapeutische Modernisierungen 382

Zum Problem der Euthanasie in der deutschen

Psychiatrie 387

Psychiatrie im Umbruch.. 393

Anstaltspsychiatrie und Forschungsarbeit 404

Psychiatrie: Kritik und Vorurteil ..407

Der psychisch Kranke als "Irrer" : 409

Sozialpsychiatrie 410

Besinnung auf Tradition 411

Vortrags- und Vorlesungstätigkeit .414

Hamburger Vorlesungen 418

Historiopsychopathologie 420

Nihilismus und Neurose 442

Nihilismus und Depression ..445

Erkenntnistherapeutische Möglichkeiten 446

Bekenntnis 453

Reisen. ... 467

Florenz 487

Ponte Vecchio und der Arno 490

Venedig 491

Sizilien und Capri (19. März bis 16. April 1971) 500

Capri 506

Aus meinem Reistagebuch "KRETA" 516

Katzanzakis und die" Freiheit" : 526

Ein ungewöhnlicher Friedhofsgärtner 530

Zweite Kreta-Reise 543

Reise in die Türkei 545

"Groß ist die Diana der Epheser!" 551

Priene, Milet und Didyma 556

Istanbul 567

Epikritischer Ausklang 579

 

Die Einstellung der Biografie von Professor Janz ins Internet wurde also genau 10 Jahre nach seinem Tod abgeschlossen. Vorerst kam es allerdings nur zu einer teilweisen Korrektur, für die endgültige Korrektur hat sich dankenswerterweise ein früherer Schüleraustauschschüler von Professor Janz aus Finnland gefunden.

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www.braunsberg-ostpreussen.de