Professor Dr. med. Hans-Werner Janz (1906 - 2003) war zuletzt ärztlicher Direktor am Klinikum Wahrendorff in Ilten bei
Hannover. Seine Frau Antonia lebt in der Nähe von Hannover.
Wir schätzen uns
glücklich, daß wir die Möglichkeit haben, seine Aufzeichnungen auf unserer
Braunsbergseite den interessierten Landsleuten und Freunden zugänglich zu
machen. Auf diese Weise wird der Verstorbene noch lange unter uns sein!
In den
folgenden "Kapiteln" berichtet er zunächst vom "Anfang", dann über seine Zeit als Gymnasiast in Braunsberg 1917 – 1924,
und schließlich über sein Studium u. a. in Königsberg.
Teil 2: Von Leipzig bis nach Hannover
Fortsetzung von Teil 1: Von
Masuren bis nach Leipzig
"Aus dem Staatsdienst entlassen"
5. November 1945: Ich bin mit Wirkung vom 31.10.45 aus dem Staatsdienst
entlassen! (Schreiben der Landesverwaltung Sachsen an „Herrn Hans-Werner J a n z
°!) Mit mir haben 60 Professoren und Dozenten der Universität Leipzig ein
Schreiben gleichen Inhalts erhalten! Am 30. Oktober sollte die Universität
feierlich neu eröffnet werden! Einladungskarten waren bereits verschickt worden.
Feier auf unbestimmte Zeit verschoben.
Wohin soll dieser Wahnsinn führen? Zur Ausrottung der bürgerlichen Intelligenz?
Aber wir sollten nicht vergessen, daß nach 1933 ein großer Teil der jüdischen
Intelligenz ausgemerzt worden ist! Gleiches mit Gleichem vergolten? Fluch der
bösen Tat?
Es heißt, politische „Rehabilitierung" sei nur über den Eintritt in eine der
jetzt zugelassenen Parteien möglich! Schwere Skrupel!
Führende Mitglieder der liberal-demokratischen Partei sind verhaftet worden!
Also auch Anpassung an eine neue demokratische Partei kein Schutz vor
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politischer Verfolgung! 10. November 1945: Weitere Fakultätssitzungen: Der Dekan der Medizinischen
Fakultät, Prof. H u e c k (Ordinarius für Pathologie) teilt mit, der Versuch,
die entlassenen Dozenten zu halten, sei mißglückt! Die endgültige Entscheidung
liege bei der russischen Militär-Administration. Also abwarten und kämpfen!
Erich K r a u s e bei uns. Trostreiche Tage. Viel Musik und Dichtung: Mozart,
Bach, Mörike, Eichendorff, Hebbel. Romantiker-Novellen. E.T.A. Hoff m a n n :
„Der Goldene Topf. Erich auch stellungslos.
Schreiben des Rektors (Prof. Schweitzer ) an mich: „Auf Grund eines
Einvernehmens zwischen Universität, Landesverwaltung und Stadt können Sie Ihren
Dienst bis auf weiteres fortsetzen!"
Zweite Mitteilung des Rektors: Ich gehöre zu dem Kreis derer, auf deren
wissenschaftliche Weiterarbeit die Universität im öffentlichen Interesse Wert
legt. Das sind freundliche Trostpflaster ohne praktische Bedeutung.
Fast allen Klinik-Direktoren ist gekündigt worden. Auch Wagner !
Abends bei Prof. W e I I e r und seiner Frau. Liebenswerte, kluge Menschen.
Seine Depression im Abklingen. Gute Gespräche. 15. November 1945: Täglich kommen Menschen zu uns, die Trost brauchen. Dabei
brauchten wir selber Trost!
Genußreicher „Mulina"-Sonntag bei C a r r i ä r e s in Dösen! Alexander Meyer
von Bremen , blutjunger Pianist und Komponist, Mutter Russin aus Odessa, er
spielt großartig Bach, Chopin, Skriabin, Rachmaninoff, Liszt. Antonia als
kalorienspendender Mäzen des kleinen „Mozartoids".
Wie beschafft Antonia das, was wir zum Leben brauchen? (Ich habe bereits leichte
Hungerödeme). Sie fährt mit der Bahn auf das Land, geht zu den Bauern und
tauscht Schmuckstücke, Bettwäsche und anderes gegen Mehl, Kartoffeln, Speck ein!
Demütigend, als Bettlerin zu den Bauern gehen zu müssen. Gefährlich auch, weil
die Polizei am Bahnhof kontrolliert, ob Lebensmittel, die nicht legal auf Marken
erworben sind, nach Leipzig geschmuggelt werden. Bisher ist sie immer noch
durchgekommen!
Ein ganz junger Assistent, wir nennen ihn den „Kleinen Schmidt", Idealkommunist,
soll Nachfolger Prof. B ü rg e rs werden! Die Zeit ist reich an Grotesken. S c h
m i d t chen war anständig und vernünftig genug, abzulehnen. Bürger hat sich
beklagt, daß „sein Chef S c h m i d t " ihm nicht zum 60.
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Geburtstag gratuliert habe. Früher sei es üblich gewesen, daß der Chef den
Geburtstag eines langjährigen Assistenten nicht vergaß!!
Weitere Groteske: Die Oberammergauer Festspiele sollen nach einer
Entnazifizierung (Bereicherung des Deutschen Wörterbuches!) der Darsteller
wieder eröffnet werden. Leider mußte der Christus ( L a n g ) entlassen werden,
weil er Parteigenosse und noch nicht denazifiziert war! Auch die Maria war als
ehemaliges Mitglied der NS-Frauenschaft nicht tragbar. Der einzige
Nicht-Parteigenosse und „Antifaschist" war ausgerechnet der Judas! Er darf
bleiben! 16. November 1945: B a c h -Motette in der Thomaskirche: „Ach, wie flüchtig,
ach, wie nichtig ist der Menschen Leben. Wie ein Nebel, so entstehet, und auch
wiederum vergehet - so ist unser Leben!" Sehet!"
60 Mitglieder des Gewandhaus-Orchesters werden als frühere „Pgs" entlassen, auch
der Dirigent A b e n d r o t h selbst! Will man auch diesen wunderbaren
Klangkörper zerstören? Vielleicht darf A b e n d r o t h wenigstens das
Schlagzeug bedienen? 25. November 1945: Totensonntag! Düsterer Tag! Gedenken an Mamchen und Julchen!
Schuldgefühl! 30. November 1945: Inzwischen habe ich mit dem Rektor und dem Dekan gesprochen.
Beide tun ihr Möglichstes. Aber die Möglichkeiten sind minimal. Die Amerikaner
betreiben die „Denazifizierung" übrigens ähnlich rigoros wie die Russen!
Ein Zimmer unserer Wohnung ist beschlagnahmt, das Telefon abmontiert worden!
Nach hartem Kampf wird es wieder angebracht. Der Städtische Amtsarzt Dr. G e ! b
k e (Kommunist) will mich unterstützen. Herr B o g u s z ew sk i , ehemaliger
dankbarer Patient, alter Sozialdemokrat, bemüht sich rührend um
Hilfsbereitschaft über seine Partei! W a g n e r ist in die Christliche Union
eingetreten (als Nicht-Christ!). Scharfer Disput mit ihm. Arroganz statt
Freundschaft!
Rücktransport der Klinik-Bibliothek von Schloß Königsfeld der Grafen M ü n s t e
r nach unendlichen Schwierigkeiten gelungen. Im Schloß sehe ich einen schönen
großen Biedermeier-Tisch stehen, den russische Soldaten gerade zu Brennholz
zerhacken wollen. Ich frage den aufsichtsführenden Offizier, ob ich den Tisch
nicht mitnehmen dürfe. Er erlaubte es für 20,- Mark! Zugleich wurden Exponate
des Musikhistorischen Institutes der Universität Leipzig, die in
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das Schloß ausgelagert waren, als „Beiladung" mitgegeben. Gespräch mit den
Transporteuren: Keine Kommunisten! 1. Dezember 1945: Erneuter heftiger Disput mit W a g n e r wegen der
Privatpatienten. Fühlt sich von mir „an die Wand gedrückt", weil die Patienten -
angeblich - nur von mir behandelt werden wollen. Klärende und versöhnliche
Aussprache.
Schwere Sorgen: Informationsblatt : Wohnungen und Möbel aller ehemaligen Pgs
können beschlagnahmt werden! Man rüttelt an den Würzelchen unserer Existenz.
Nach allen Seiten muß man sich wehren, aber das festigt den Willen!
Nachfolger von Wagner als kommissarischer Klinikchef wird der junge Volontär W i
e c k , weil er politisch unbelastet ist. Am nächsten Tag bereits wurde Professor Q u e
n s e I , Neurologe und Psychiater in Schkeuditz, an seine Stelle gesetzt, wird
aber nur einmal in der Woche kommen, um Unterschriften zu leisten. Sympathischer
alter Herr. 2. Dezember 1945: Ehepaar W e I I e r bei uns. Mozarts-D-moll-Klavierkonzert
gegen Sorgen! 5. Dezember 1945: Erneute Registrierung der ehemaligen Offiziere und
Sanitäts-Offiziere durch die russische Kommandantur. Auch Wagner , Dietrich
(Assistent), S t e n d e r (Neurochirurg) registriert. Ich noch nicht. Einige
dürfen Leipzig nicht verlassen. Zunehmende Spannungen zwischen Rußland und
England! Scharfer Notenwechsel zwischen Marschall S h u k o w und General M o n
t g o m e ry wegen der Truppenansammlungen in der englischen Zone und der
Uniformierungen deutscher Soldaten durch die Engländer!
Devise: Ruhig bleiben! Kühlen Kopf behalten!
Heute Alexanders Geburtstag: Er spielt H ä n d e ! und S k r j a b i n , den
seine russische Mutter, selbst Pianistin, besonders liebt. 8. Dezember 1945: Tolle Szenen in der Klinik seit der Entlassung W a g n e r s .
Als Bewerber für den Posten des gekündigten Oberinspektors S t r e I I e r (der
mich damals fast denunziert hätte, als ich das Mißlingen des Attentats auf H i t
I e r bedauerte!) meldet sich ein Mann bei dem immer noch amtierenden W a g n e
r mit sehr lückenhaften Zeugnissen und unzureichender Vorbildung. Nachdem W. ihm
erklärt hat, daß er für den Posten kaum geeignet sei, geht er wütend in den
Flur, kommt zurück, verlangt einen Brief des Rentamtes an
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Q u e n s e I und fuchtelt, mit der Faust drohend, vor Wag n e r s Gesicht
herum, schlägt schließlich mit der Hand auf den Tisch und brüllt: „Sie sind
entlassen! Sie haben mir gar nichts zu sagen!"
Inzwischen hat der neue Betriebsobmann von sich aus Pfleger eingestellt, ohne
Prof. Q u e n s e I zu fragen. W. hat ihm dann schriftliche Vollmacht erteilt,
Personal einzustellen und zu entlassen, so daß der Obmann, der selbst Pfleger
ist, praktisch Personalchef der Klinik geworden ist! Auf Bitten W a g n e r s
hat Q u e n s e I dann seine Vollmacht im Einvernehmen mit dem Betriebsrat
wieder zurückgenommen. Der Betriebsobmann (kommunistischer Funktionär) brütet
Rache, verlangt, bei Einstellungen von Ärzten gefragt zu werden und fordert, daß
alle ehemaligen Pgs am 15. Dezember endgültig aus dem Dienst ausscheiden!
Übrigens hat sich herausgestellt, daß der von W a g n e r abgewiesene Bewerber
um die Inspektorstelle vorbestraft ist (aber nicht aus politischen Gründen!). 11. Dezember 1945: Viel Korrespondenz erledigt. Lektüre: Leibniz:
„Schriften zur Metaphysik". T i e c k : „Der blonde Ekbert!°, „Die schöne
Magellone". K I e i s t : „Marionettentheater" und kleine Prosaschriften. M a rm
o n t e I : "Moralische Geschichten".
Zunehmender Gewinn aus der L e i b n i z schen Philosophie, auch für das
Kausalitätsproblem und die Leib-Seele-Frage. Erstaunliche Universalität !
Ablenkung von den Sorgen! 13. Dezember 1945: Vorahnung neuer Belastungen. Einspruch gegen die Entlassung
mit 10 Leumundszeugnissen, sogenannten „Persilscheinen°, an den Rektor zur
Weiterleitung an die Landesverwaltung eingereicht!
Alle bisherigen „Rehabilitationen" gelten als hinfällig. Neue dürfen nur
beantragt werden, wenn „antifaschistische Handlungen unter Einsatz des Lebens"
nachzuweisen sind! Mein Leben habe ich nicht eingesetzt, aber einiges riskiert,
Verhaftung, KZ usw., durch mein Eintreten für jüdische, polnische, tschechische
Patienten!
Grauer Tag., Sturm. Regen. Glatteis. (Alles von symbolischer Bedeutung!)
1946: Keine Tagebucheintragungen. W a g n e r endgültig in den Westen. Ich
beneide ihn ein wenig, soweit ich überhaupt jemand zu beneiden vermag. Seit
seinem Weggang bleibt an mir die Leitung der Klinik hängen. Trotz der Entlas
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sung wird mir von der Landesverwaltung von Monat zu Monat erlaubt, meinen Dienst
auszuüben. Nur meine Lehrtätigkeit darf ich nicht wahrnehmen. Als
kommissarischer Leiter der Klinik wird Prof. Dr. Dr. Richard Arved P f e i f f e
r von der Landesverwaltung bestimmt. Pf. war ursprünglich Volksschullehrer, hat
dann Medizin studiert und später hirnanatomisch gearbeitet. Sein großes
wissenschaftliches Verdienst ist die Entdeckung der Angioarchitektonik des
Gehirns. Aber ihm fehlt jede klinische Erfahrung. In seiner kleinen Nervenpraxis
versucht er sie zu ersetzen durch eine Standardmethode mit intravenösen
Calciuminjektionen, die bei dem Patienten ein von ihm suggestiv genutztes
Wärmegefühl hervorrufen. Er stammt aus dem Vogtland, ist ein etwas kauziger Mann
mit buschigem Schnauzbart und künstlerischer Mähne und wird von uns „Der
Waldschrat" genannt. Mir gegenüber verhielt er sich zunächst loyal, lobte vor
den Assistenten meine Tüchtigkeit und Pünktlichkeit (!) („Der Erste am Morgen,
der Letzte am Abend"), geriet später aber unter den unheilvollen Einfluß seiner
wesentlich jüngeren - er war Anfang 70 Freundin Frau Dr. B e n d r a t , einer
niedergelassenen Nervenärztin, die auf sein Betreiben als eine Art Oberärztin an
unsere Klinik beordert wurde. Sie verdankte diese Anstellung weniger einer
wissenschaftlichen Qualifikation - sie hatte nichts veröffentlicht als
politischer Opportunität: Im Dritten Reich war sie noch „brauner als braun"
gewesen, im Vierten wurde sie rasch „märxer als Mark`. Ich ahnte zwar Ungutes
für mich, konnte jedoch nicht voraussehen, daß sie im folgenden Jahre sich als
„Teil von jener Kraft" erweisen würde, die stets das Böse will und stets das
Gute schafft". Sie hat jedenfalls meinen naiven Glauben an das „Ewig-Weibliche,
das uns hinanzieht", nicht gerade zu festigen vermocht!
Das Jahr 1947 begann mit der Beschlagnahme unserer Wohnung am z. Januar. Am
selben Tage erhob ich schriftlichen Einspruch beim „Wohnungsamt, Abteilung
Russenzentrale" in Leipzig aus drei Gründen: 1) Als vom Stadt-Gesundheitsamt
eingesetzter „Sprengelarzt für die Seuchenbekämpfung" könne ich die von der
Sowjetischen Militär-Administration als besonders vordringlich bezeichneten
Aufgaben eines Sprengelarztes nur erfüllen, wenn ich die Möglichkeit habe, die
hierfür erforderlichen Impfungen, Untersuchungen, schriftlichen Arbeiten usw. in
meiner Arztwohnung auszuführen. 2) Ich sei von der Deutschen Zentralverwaltung
für das Gesundheitswesen in der Sowjetischen Besatzungszone, Abteilung
Körperversehrte und Psychiatrie in Berlin im Einver
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nehmen mit der Sowjetischen Militär-Administration in Berlin-Karlshorst mit
wissenschaftlichen Sonderaufgaben betraut worden, zu deren Wahrnehmung ich die
umfangreiche Fachbibliothek in meiner Wohnung und eine ungestörte
Arbeitsmöglichkeit benötige. 3) In einem beigefügten Schreiben des Rektors der
Universität Leipzig werde gebeten, von der Beschlagnahme meiner Wohnung auch im
Interesse der Universität, insbesondere der Universitäts-Nervenklinik abzusehen,
da ich die laufenden medizinischwissenschaftlichen Arbeiten für die Klinik
ebenfalls nur unter Benutzung meiner persönlichen Fachbücherei und unter
ungestörten Arbeitsbedingungen in meiner Wohnung ausführen könne.
Schließlich habe ich darauf hingewiesen, daß ein „mit zahlreichen
eidesstattlichen Bekundungen meiner antifaschistischen Betätigung begründetes
politisches Rehabilitierungsgesuch befürwortend an den Sonderausschuß zur
Wiederherstellung des politischen Ansehens" weitergeleitet worden sei.
(Schreiben der SED Leipzig C.1, Karl-Marxplatz 7 vom 16.5.1946, Aktenzeichen
Z.Wo/Do). Dieser letztgenannte Passus ist dadurch erklärt, daß mein dankbarer
Patient B o g u s z e w s k i meinen Eintritt in die SPD beantragt hatte, die
dann - gegen seinen und meinen Willen - mit der KPD zur SED verschmolzen wurde!
Da er mit der zunehmenden Erdrückung der SPD durch die KPD nicht einverstanden
war, ist er später auch in den Westen gegangen.
Zu Punkt 1) der Begründung meines Einspruches gegen die Beschlagnahme der
Wohnung: Die „Seuchenbekämpfung" war natürlich ein Scheinargument. Aber die
Russen hatten eine panische Angst vor Seuchen, und ein Schild „Vorsicht!
Typhusgefahr!" schützte vor dem Eindringen der Soldaten in ein Wohnhaus. Zu 2):
Mitglied der Abteilung Körperversehrte und Psychiatrie in der Berliner
Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen war ich durch Empfehlung meines
Freundes Dr. Wladimir L i n d e n b e r g geworden. Bei einer Sitzung dieses
„Psychiater-Beirates", die in Gegenwart eines höheren russischen Offiziers, nach
meiner Erinnerung eines Obersten K a r p o w , stattfand, bin ich außer den
damals sehr bekannten Psychotherapeuten Schul tz-H e n c k e und K e m p e r auch
dem Nestor der deutschen Psychiatrie, dem seit 1938 emeritierten Ordinarius und
Direktor der Nervenklinik der Charité, Geheimrat Karl B o n h o e f f e r ,
begegnet. Zu seinem 75. Geburtstag war B. vom „Führer und Reichskanzler Adolf
Hitler "die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen worden. Eine
Woche danach wurden sein Sohn
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Dietrich und sein Schwiegersohn Hans von D o h n a n y i verhaftet, beide kurz
vor dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches" in den Konzentrationslagern
Flossenbürg bzw. Sachsenhausen ermordet, B o n h o e f f e r auf persönlichen
Befehl H i t I e r s ! Sein Bruder Klaus und sein Schwager Rüdiger S c h I e i c
h e r kamen in der Nacht vom 22. Zum 23. April 1945 bei einem Anschlag der SS
auf prominente politische Häftlinge im Berliner Gefängnis in der Lehrter Straße
ums Leben. Vater B o n h o e f f e r wußte natürlich, daß seine Söhne der
Widerstandsbewegung angehörten, und es besteht kein Zweifel, daß er ihre
Auffassungen geteilt hat, ohne sich aktiv als Widerstandskämpfer zu betätigen.
Wie hätte er die Verleihung der Goethe-Medaille im Jahre 1943 zurückweisen
können, ohne seine oppositionell eingestellten engsten Familienangehörigen
zusätzlich zu gefährden?
Der "Fall Bonhoeffer" und die deutsche Psychiatrie
Ich erwähne dies, weil das Persönlichkeitsbild und die ärztliche Haltung Karl B
o n h o e f f e r s lange nach seinem Tode in unverantwortlicher Weise
verfälscht und diffamiert worden sind: Anläßlich einer Ausstellung zur
Geschichte der „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" in Berlin-Wittenau, die 1988 unter
dem Titel „Totgeschwiegen 1933 - 1945" stattfand, hat Frau Ursula G re I I in
einer Broschüre - Edition Hentrich Berlin - ausgeführt, daß Karl B o n h o e f f
e r , dessen wissenschaftliche und menschliche Integrität als unanfechtbar galt,
schon als junger Wissenschaftler die geistige und körperliche Minderwertigkeit
einzelner Menschen oder ganzer Menschengruppen nachgewiesen und damit das
Argumentationsfeld für die nationalsozialistischen Maßnahmen vorbereitet habe:
das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses („Sterilisationsgesetz") bis zu
den Massenverbrechen der so genannten „Euthanasie"!
Damit erweckt sie den Eindruck, Karl B o n h o e f f e r habe mit seiner
Gesinnung den Nazis nahe gestanden und „das Menschenbild der Schöpfer dieses
Gesetzes" - des Sterilisationsgesetzes - geteilt. Nach einem von Frau Sibylle
Wirsing verfaßten Bericht über die Ausstellung unter dem Titel „Die Abschaffung
des leidenden Menschen" (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. September 1988)
gewinnt der Leser den Eindruck, die Verbindung Bon
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h o e f f e r - Wittenau bedeute, daß „aus der Geschichte des Vaters von
Widerstandskämpfern die Geschichte eines Vaters der antisemitischen
Rassenideologien" hervorgehe. Mit anderen Worten: B o n h o e f f e r sei
mitverantwortlich für die Tötungsmaschinerie gewesen, an der auch die Wittenauer
Heilstätten beteiligt waren. Tatsache ist, daß B. vor 1945 nichts mit diesen zu
tun hatte. Er war als Direktor der Universitäts-Nervenklinik der Charité und
Ordinarius für Psychiatrie bereits 1938 emeritiert worden und ist erst in den
letzten drei Jahren seines Lebens, nach dem Kriege, von 1945 bis 48, nicht als
„Dirigierender Arzt", sondern beratend an wöchentlich zwei bis drei Vormittagen
in Wittenau tätig gewesen. 1957 hat die Stadt Berlin zur Würdigung seiner
herausragenden Verdienste um die Psychiatrie die Wittenauer-Heilstätten in "Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik"
umbenannt.
Karl B o n h o e f f e r hat mit der Euthanasie nichts und mit der Sterilisation
nur insoweit etwas zu tun, als er, wie ausländische, schweizerische,
amerikanische und andere Fachkreise lange vor dem Nationalsozialismus auch, die
Möglichkeit einer Sterilisation in bestimmten Fällen für diskutabel hielt, aber
eine Zwangssterilisation grundsätzlich ablehnte. Er hat keinen seiner Patienten
nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses dem Amtsarzt gemeldet und
in seinen Lebenserinnerungen geschrieben, daß es ihm „geboten schien, die Stelle
des sachverständigen Psychiaters beim Erbgesundheitsobergericht zu übernehmen,
um Einfluß auf die Begutachtung der Gerichte zu bekommen". An eine Rücknahme des
Zwangsgesetzes sei bei der Mentalität das Nationalsozialismus nicht zu denken
gewesen. „So blieb nur die Möglichkeit übrig, zu hemmen und durch Publikation
und psychiatrische Lehrgänge auf die besonderen diagnostischen Schwierigkeiten
im Erbgesundheitsverfahren hinzuweisen." „Daß die Tätigkeit der Berliner Klinik
auf dem Gebiet der erbbiologischpsychiatrischen Lehrgänge und der entsprechenden
Publikationen im Braunen Haus in München unangenehm empfunden wurde, ergab sich
daraus, daß die (von ihm eingeführten) Kurse nach zweijährigem Bestehen vom
Innenministerium nicht mehr gestattet wurden." (!) Frau Wirsing und Frau Grell
scheinen diese Tatsachenfeststellungen in B o n h o e f f e r s
Lebenserinnerungen nicht zur Kenntnis genommen zu haben, sonst hätten sie sie in
ihren Ausführungen erwähnt! Aber das paßte nicht in ihr „Entlarvungs"-Konzept!
319
Als ich Geheimrat B o n h o e f f e r 1946 in dem Psychiater - Beirat der (Ost-)
Berliner Zentralverwaltung persönlich kennenlernte - er war damals 79 Jahre alt
- , gewann ich den Eindruck eines in seiner Bescheidenheit und in der sorgfältig
abwägenden Klarheit seiner Diskussionsäußerungen ungemein sympathischen
Gelehrten und Klinikers. Damit und aus meiner Kenntnis seiner wissenschaftlichen
Veröffentlichungen -sein Hauptwerk handelte von den „akuten exogenen
Reaktionstypen" oder „symptomatischen Psychosen", die er als Erster
herausgearbeitet und subtil beschrieben hatte - bestätigte sich für mich das,
was sein Schüler Prof. Jürg Z u t t in einem Nekrolog 1948, Heidegger zitierend,
von ihm gesagt hat „Nötig ist in der heutigen Weltnot die Strenge der Besinnung,
die Sorgsamkeit des Sagen's und die Sparsamkeit des Wortes". An ihm wurde
deutlich, sagt Z u t t weiter, „wie fern die Person B o n h o e f f e r s den
Gefahren zeitbedingten Verfalls war und wie nahe den Quellen echter Kultur". Das
schwere Leid, das er mit der Ermordung seiner beiden Söhne und der anderen
Familienmitglieder zu tragen hatte, war dem verehrungswürdigen Mann nicht
anzumerken. Er arbeitete damals an einem Aufsatz über „Vergleichende
psychopathologische Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen" (Nervenarzt 18, 1-4
(1947), ein Thema, mit dem ich zur gleichen Zeit auch beschäftigt war. In seinem
Nachlaß fand sich ein bisher unveröffentlichter Beitrag über
„Führerpersönlichkeit und Massenwahn", der nach Kriegsende 1946 entstanden und
in einer von J. Z u tt , E . S t ra u s und H. S c h e I I e r herausgegebenen
Schrift zu Karl B o n h o e f f e r s Hundertstem Geburtstag am 31. März 1968
(Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1969) zum erstenmal publiziert
worden ist. B. schickt voraus, daß für den Psychiater im allgemeinen der
Grundsatz gelte, sich über den Geisteszustand eines lebenden Menschen nur dann
verantwortlich zu äußern, wenn man ihn selbst untersucht oder zumindest
gesprochen hat. Bei der Fülle von Gerüchtbildungen um die Person H i t I e r s
sei doppelte Vorsicht bei der Urteilsbildung geboten . ... Eine sichere Diagnose
sei nicht bloß vom psychiatrischen Gesichtspunkte aus von Interesse, es sei auch
für die Beurteilung seiner großen Gefolgschaft im deutschen Volke nicht
gleichgültig, ob sie sich von einem schweren Psychopathen oder von einem
wirklich Geisteskranken durch zwölf Jahre habe führen lassen. Mit aller Vorsicht
beschränkt B. sich auf die Feststellung einer durch die menschenverachtenden
Handlungen H i t I e r s bewiesene Gefühlsroheit, die „auf das engste verbun
320
den war mit einem Defekt des Gefühls für Recht und Vertragstreue, mit einem
offenbaren Mangel an Selbstkritik, an staatsmännischer Mäßigung und klarem
Überblick über die internationalen Machtverhältnisse und die Bedeutung ethischer
Werte". „Auf der anderen Seite zeigte er eine ungewöhnliche Befähigung, sich den
primitiven Masseninstinkten anzupassen und diese mit rhetorischem Geschick und
mit moralischer Phraseologie sich dienstbar zu machen ...." „Die Entscheidung,
ob man es mit einem ethisch Defekten, fanatischen und pseudologischen
Psychopathen oder mit einem aus dem Umkreis des Schizophrenen kommenden,
wirklich wahnkranken Paranoiden zu tun hat, muß bis zur Aufdeckung weiteren
Materials offen bleiben." - Nun - ich denke, und ich habe es oben zu begründen
versucht, daß H i t I e r kein wahnkranker Schizophrener gewesen ist.
Zum Schluß weist Karl B o n h o e f f e r noch auf die Bedeutung der
Massensuggestion hin, die Hitler „unter Ausnutzung aller modernen Mittel zur
Massenwirkung und Nivellierung des geistigen Niveaus in Radio, Kino und
Lautsprecher ausgeübt hat ..." Es mag einem durch jahrelange Notzeit
geschwächten Volke als Milderung der Schuld angerechnet werden, wenn es durch
diese von allen Seiten und alltäglich einstürmende Propaganda mehr und mehr dem
Massenwahn verfällt."
Dietrich B o n h o e f f e r
In Karl B o n h o e f f e r s Lebenserinnerungen heißt es: „Dem Sieg des
Nationalsozialismus im Jahre 1933 und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler
betrachteten wir von vornherein und zwar einheitlich in allen Gliedern der
Familie als ein Unglück ..." „... Der zunehmende nationalsozialistische Druck
wirkte sich natürlich auch in der Familie aus, vor allem waren die Zwillinge
Dietrich und Sabine unsere Sorgenkinder, und zwar in zunehmenden Maße. Für
Dietrich ergab sich im Kampf gegen ,Deutsche Christen' und den ,Reichsbischof (
M ü I I e r ) die Alternative: Bekenntniskirche oder Dozentur. Die Wahl war für
ihn nicht zweifelhaft; er legte die Dozentur nieder..."
Ich habe Dietrich B. selbst nicht kennengelernt, aber mich seit langem mit ihm
und seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus alleine aus zwei persönlichen
Gründen beschäftigt: Bei seinen Besuchen in Pommern und Ostpreußen
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- sie führten zu Aufenthaltsmeldepflicht, Rede- und Schreibverbot wegen der
Gefahr „volkszersetzender Tätigkeit" - war er mit anderen Pfarrern der
Bekennenden Kirche auch Gast der evangelisch strenggläubigen Mutter Antonias,
unserer lieben „Omi", in Skaisgirren. Der andere Grund: Dietrich B. war eng
befreundet mit meinem Schulkameraden und Banknachbarn im Braunsberger Gymnasium
Hosianum Franz H i I d e b r a n d t , der als Kirchenpräsident und enger
Mitarbeiter Dietrichs in der ehemaligen DDR zu den herausragenden
Widerstandskämpfern der Bekennenden Kirche
gehörte. Franz H i I d e b r a n d t , einer kinderreichen Pfarrersfamilie in
der Diaspora Braunsberg entstammend, wußte damals schon, daß er Pfarrer
werden würde und lernte, neben mir sitzend, heimlich Hebräisch, was mir sehr
imponierte - seine, wie er in einem Brief an die „lieben Schwestern und Brüder
aus unserer heimatlichen Kirche" am 18. Februar 1986 schrieb, „immer noch
liebste Sprache"!
Bei aller Bewunderung des theologischen Denkens und seelsorgerischen Wirkens
Dietrich B o n h o e f f e r s habe ich mich seiner radikal christozentrischen
Dogmatik nicht recht annähern können. Auch sein Begriff des „religionslosen
Christentums" bereitet mir Schwierigkeiten. Denn „re-ligio" bedeutet Rückbindung
an Gott, und das ist doch der Kern des christlichen Glaubens. B o n h o e f f e
r hat gewußt, schreibt Otto D u d z u s in seinem Vorwort zum Bonhoeffer-Brevier
(Chr. Kaiser Verlag München, 1963), „daß alles Reden von dem ,Letzten'
(Rechtfertigung des Sünders, Glaube, Erlösung, Ewigkeit) unbarmherzig,
unwirklich, illusionär sein muß, wenn nicht die ,vorletzten' Dinge unseres
Lebens (Recht, Wahrheit, Freiheit, soziale Gerechtigkeit) bedacht und ernst
genommen werden". Dem mag man, wenn auch vielleicht nicht in der Schärfe der
Formulierung, zustimmen. Denn er meinte damit die verhängnisvolle
Geringschätzung dieser ,vorletzten' Dinge innerhalb der protestantischen
Kirchlichkeit und wurde so zu ihrem unbequemen Warner und Helfer!
Er war, wie D u d z u s sagt, „ein Mann mit ungewöhnlich wachem Sinn. Er
witterte Gefahren, wo andere noch ganz ahnungslos waren ... und gab sich niemals
mit nur überkommenen Antworten zufrieden". Er denkt scharf und spart nicht mit
Kritik an seinen Glaubensbrüdern, im besonderen auch an den Predigern. Es hat
mir gefallen, daß er zum Beispiel zu Markus 10,43 („Wer unter euch will groß
werden, der soll euer Diener sein") geschrieben hat: „Der erste Dienst, den
einer dem andren schuldet, besteht darin, daß er ihn anhört ... .
Christen, beson
322
ders Prediger, meinen so oft, sie müßten immer, wenn sie mit anderen Menschen
zusammen sind, etwas „,bieten'. Sie vergessen, daß Zuhören ein -größerer Dienst
sein kann als Reden..."
Kompromißlos - konsequent ist sein Widerstand gegen H i t I e r und das Regime,
an dem er sich aktiv durch die Unterstützung der Vorbereitungen seines Schwagers
Hans v o n D o h n ä n y i und dessen Chef Oberst Oster zu einem
Staatsstreich beteiligt hat, und zwar als Agent des Geheimdienstes bei
Auslandsreisen. Den Wagemut und die Kraft, die damit verbundenen Gefahren für
Leib und Leben auf sich zu nehmen, schöpfte er aus seinem unbeirrbaren Glauben
an die Heilsbotschaft Christi. Für sie ist er in den Tod gegangen.
Selten hat mich ein Buch von der menschlichen Seite her so ergriffen wie die
„Brautbriefe Zelle 92 - Dietrich B o n h o e f f e r - Maria von W e d e m e y e
r 1943-45", die 1993 in zweiter Auflage von Marias Schwester Ruth-Alice v o n
Bismarck und Ulrich K a b i t z herausgegeben und von Dietrichs Freund Eberhard
Bethge mit einem Nachwort versehen worden sind. In einem Brief aus dem
Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in der Berliner
Prinz-Albrecht-Straße, in das ihn die Gestapo nach 1 '/Z-jähriger Haft in Zelle
92 des Tegeler Gefängnisses gebracht hatte, schreibt Dietrich an seine „liebste
Maria" am 19. Dezember 1944, in den letzten Abenden seien ihm „ein paar Verse"
eingefallen, die der Weihnachtsgruß für sie, die Eltern und Geschwister seien.
Die vielzitierte letzte Strophe dieses Gedichtes hat dazu beitragen können, die
depressive Not mancher meiner Patienten, denen ich sie vorlas, zu lindern: „Von
guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist
mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiß an jedem neuen Tag."
Ob Gott auch bei Dietrich B o n h o e f f e r war, als er am frühen Morgen des
9. April 1945 an den Galgen gehängt wurde? Er hat es fest geglaubt. Payne B e s
t , ein englischer Häftling des Konzentrationslagers Flossenbürg, hat dem
Bischof von Chichester, George B e I I , mit dem Dietrich seit seiner
Pfarramtszeit in London 1933 eng befreundet war, seine an ihn gerichteten
Abschiedsworte übermittelt: "This is the end, for me the beginning of life."
Hitler hatte ihn hinrichten lassen, weil ihm kurz zuvor, am 5. April, berichtet
worden war, die Tagebücher des Admirals C a n a r i s hätten sich zufällig
gefunden. Sie lieferten die Beweise für die konspirativen Pläne der Gruppe
323
um C a n a r i s , zu der auch Dietrich gehörte. Als H i t I e r zugleich die
neuesten Fronteinbrüche gemeldet wurden, hatten in seinen Augen jene Verräter
ihn in diese katastrophale Lage gebracht. „Dafür sollte mit ihnen kurzer Prozeß
gemacht werden." (Aus Brautbriefe Zelle 92).
Zurück zu meinem Kampf gegen die Beschlagnahme unserer Leipziger Wohnung. Das
dritte Argument erwies sich als das wirksamste: Erhaltung der Wohnung im
Interesse der Universität zur Weiterführung wissenschaftlicher Arbeiten! Rektor
war inzwischen Hans-Georg G a d a m e r geworden, Schüler H e i d e g g e r s .
Er stellte mir eine schriftliche Bescheinigung aus, mit der die Notwendigkeit,
in meiner Wohnung unter Benutzung meiner Fachbibliothek arbeiten zu können, so
überzeugend begründet war, daß die „Russenzentrale des Wohnungsamtes" dem nichts
entgegenzusetzen hatte. Vor deutscher Wissenschaft bekundeten die Russen ganz
allgemein ebenso viel Respekt wie im besonderen vor der Medizin! Später kam ich
G a d a m e r persönlich näher durch sein Doktorandin, die meine Patientin
wurde, Frau Dr. Freia K r u s e . Sie selbst war auch Schülerin von Prof. Bruno
B a u c h in Freiburg gewesen, aus dessen Privatbesitz ich mehrere
philosophische Werke übernehmen konnte. Sie ist nach dem Kriege früh in Freiburg
gestorben, nachdem sie uns in Ilten besucht und sich dabei, immer noch
nationalsozialistisch, einem polnischen Arzt gegenüber unfreundlich geäußert
hatte. Sie gehörte zu den wenigen philosophisch begabten Frauen, hatte die
Fähigkeit, begrifflich scharf zu denken, von ihrem Vater, einem bedeutenden
Hygieniker geerbt, der mit dem Japaner S h i g a als Entdecker des Ruhr-Bacillus
in die Geschichte der Medizin eingegangen ist. Ihre - maskulin akzentuierte -
wissenschaftliche Begabung kontrastierte mit femininen Zügen, die es ihr
erschwerten, freundschaftliche Gefühle für Antonia aufzubringen. Sie war eine
interessante, innerlich zerrissene Persönlichkeit, der ich eine erste Annäherung
an das Denken H e i d e g g e r s zu verdanken habe. G a d a m e r erinnerte
sich an das „arme, kranke Mädchen", als ich mit ihm bei einer Tagung der
Hölderlin-Gesellschaft in Tübingen über sie und seine Hilfe bei meinem Kampf um
die Wohnung sprach, für die ich ihm heute noch dankbar bin. G a d a m e r sprach
damals 1982 - in freier Rede über die „Gegenwärtigkeit Hölderlins", nachdem
Albrecht G o e s und Stephan H e r m I i n ihre Beiträge „Von Hölderlin
getroffen" und „Hölderlin 1944" gele
324
sen hatten, im Alten Lesesaal der Tübinger
Universitäts-Bibliothek an der Wilhelmstraße eine Sternstunde europäischen
Geistes!
G a d a m e r wurde 1947, kurz bevor er einem Ruf nach Frankfurt folgte und
danach Nachfolger von J a s p e r s in Heidelberg wurde - er hatte das Rektorat
gerade dem Staatsrechtler Erwin J a c o b i übergeben - abends in seiner Wohnung
verhaftet und hat vier Tage in dem gleichen Gefängnis verbracht, in das man auch
mich eingesperrt hatte. Er ist von mehreren höheren russischen Offizieren
verhört und zuletzt einem Scheinverhör unterzogen worden, bis sich
herausstellte, daß er das Opfer einer Denunziation geworden war! Der Vorsitzende
des Verhörkomitees, ein General, erklärte schließlich, es habe sich um ein
Versehen, einen „Übergriff der deutschen Polizei" gehandelt, der zu bedauern
sei! In der Denunziation habe gestanden, daß G. sich "mehrmals unvorsichtig
geäußert hätte". Nachdem ich selbst von der „Kollegin" denunziert wurde, habe
ich G a d a m e r aufgesucht und um seinen Rat gebeten. Dieser Rat lautete:
„Verlassen Sie Leipzig so schnell wie möglich. Die Frau ist gefährlich, und die
Universität hat keine Möglichkeit, Sie zu schützen!" Ich habe seinen Rat
befolgt. Dazu später.
Im Umgang mit den Russen lernte ich zwei ihrer Eigenschaften kennen: Das
Mißtrauen und die Dankbarkeit. Zum Einen: Wenn sie merkten, daß man ihnen
ängstlich und unsicher begegnete - was bei vielen Deutschen der Fall war - ,
wurden sie mißtrauisch. Ein „Polit-Offizier" sagte mir:; „Hat ein Deutscher
Angst vor uns, wir wissen, er hat schlechtes Gewissen, und wir trauen ihm
nicht!" Zum Anderen ein Beispiel aus meiner poliklinischen Praxis: Ein
russischer Major erscheint zur neurologischen Untersuchung zusammen mit seinem
„Burschen" (das gab es in der „klassenlosen" Gesellschaft genau so wie in der
alten deutschen Armee!). Die Diagnose war ebenso einfach wie die Therapie: Ein
tetanisches Syndrom (charakteristische Muskelkrämpfe „Pfötchenstellung" der
Finger - durch Calciummangel bei Unterfunktion der Nebenschilddrüse). Ich
injizierte dem Offizier eine Calciumlösung intravenös. Kurz vor Beendigung der
Injektion sinkt er kollabierend zusammen. Zugleich wird sein Bursche ohnmächtig
und kollabiert ebenfalls. So sah ich „zur Rechten und zur Linken je einen Russen
niedersinken!" Ganz wohl war mir nicht dabei. Aber es war klar, daß der
Doppel-Kollaps nicht durch die Injektion selbst und durch das Caicium
hervorgerufen, sondern durch die psychische Wirkung der Einspritzung
325
und deren Anblick ausgelöst wurde! Major und Bursche erholten sich entsprechend
schnell und verließen fluchtartig die Ambulanz. Ich blieb zurück mit dem
unbehaglichen Gefühl, einem peinlichen Verhör durch die Kommandantur
entgegensehen zu müssen. Das geschah nicht. Statt dessen erschien der „Bursche"
am nächsten Tage in meiner Poliklinik - ich untersuchte gerade eine Patientin -
und legte wortlos ein dickes, in Zeitungspapier gewickeltes Paket auf den
Schrank. Es enthielt ein großes Stück Speck, auf dem sich die Buchstaben der
Zeitung abgedruckt hatten! Ich glaubte daraus schließen zu können, daß der
Patient von seiner Tetanie befreit war und daß es sich herumgesprochen hatte, es
gebe in der Universitätsklinik einen Arzt, der das Kunststück fertigbringt, mit
einer Spritze zwei russische Vaterlandsverteidiger „umzulegen". Das hatte sie
nicht etwa mißtrauisch, sondern dankbar gemacht und ihnen anscheinen sogar
imponiert!
Im Januar 1947 fragte mich Theodor L i t t - er hatte sich 1937 auf eigenen
Wunsch emeritieren lassen, nach dem Zusammenbruch des NS-Systems 1945 aber
wieder sein Ordinariat für Philosophie und Pädagogik übernommen - , ob ich
interessiert sei, an einer geistes- und naturwissenschaftlichen
Arbeitsgemeinschaft teilzunehmen. Ich war ihm durch die Behandlung seines Sohnes
Rudolf, der im Kriege eine Nervenschußverletzung des Armes erlitten hatte, näher
gekommen und hatte mir schon 1944 nach Gesprächen mit ihm sein Buch „Kant und
Herder als Deuter der geistigen Welt" (1930 bei Quelle und Meyer, Leipzig)
besorgt. Das Geschichtliche und das Philosophische - diese beiden Problemkreise,
die mich mehr und mehr beschäftigten und bis heute nicht Ioslassen, sah ich
durch L i t t s vertiefte, oftmals verschlungene, aber meisterhaft klare und
sprachlich elegante Gedankenführung in den Gegensätzen zwischen Kants und H e r
d e r s Denken dargestellt, eine schwierige, aber bereichernde Lektüre. Durch
sie ist mir, wenn auch nur annähernd, deutlich geworden - ich habe es nicht
geschafft, das ganze Buch zu lesen - , daß die Gegensätze zwischen dem
„weltumspannenden Enthusiasmus" H e rd e rs und der „kritischen
Selbstbescheidung" Kants sich in einem Punkte treffen: Im Begriff des
„Menschen", bei H e r d e r als Idee der Humanität, bei K a n t im Begriff eines
„vernünftigen Wesens überhaupt". Diesen fast banal erscheinenden Gedanken
geistvoll, auch unter psychologischen Gesichtspunkten, begründet zu sehen,
bedeutete bei aller Schwierigkeit der Lektüre hohen Genuß. Im Ge
326
spräch mit L i t t und bei den Diskussionen in seinem Arbeitskreis - deren
geistiger Mittelpunkt er war - fiel immer wieder seine bei
Universitätsprofessoren nicht gerade häufig anzutreffende Begabung auf: Seine
Fähigkeit, aus dem Stegreif auch kompliziertere Gedankengänge druckreif
darzustellen. Als ich einmal mit ihm darüber sprach, sagte er: „Ja, die Gedanken
liegen natürlich immer bereit und warten nur auf ihre Formulierung. Die kommt
dann von selbst, ohne daß ich sie mir überlegen oder etwa mit ihr ringen muß.
Ich nenne das meinen ,Sprechanismus'!"
Bei der ersten Zusammenkunft der Arbeitsgemeinschaft, an der ich teilnahm,
sprach der Sinologe E r k e s über „Tao als persönliche Gottheit". Es war mir
neu, daß der so schwer faßbare, ins Deutsche kaum übersetzbare Inhalt des
Begriffes „Tao" („Weg", "Sinn") mit der Vorstellung des „Persönlichen" verbunden
werden könnte. Das Überpersönliche, Unpersönliche schien mir gerade das Wesen
von "Tao" zu sein. Leider erinnere ich mich nicht, wie E r k e s das von ihm
gewählte Thema im einzelnen begründet hat. Er hatte lange in China gelebt und
wirkte in einem langen mantelartigen Gewande, mit seinen verschränkten Armen und
gemächlich - langsamen Bewegungen selbst wie ein alter Chinese. Er erwähnte die
gegenseitige Toleranz in den Beziehungen der einzelnen Religionen und
Weltanschauungen in China. Beim Begräbnis eines Chinesen könne es sein, daß
hinter dem Sarge der Tao-Priester, ein Buddah-Mönch, ein Konfuzianer, vielleicht
auch ein Christ einträchtig miteinander einhergehen.
Zu der Arbeitsgemeinschaft gehörten auch Dedo M ü I I e r (Praktische Theologie,
Ethik), von Jan (Romanistik), Hermann B e e n k e n (Kunsthistoriker), Ludwig L
e n d l e (Pharmakologe), J a c o b i (Staatsrechtler) und natürlich G a d a m e
r mit seinem Schüler Volkmann-Schluck als Philosophen. Mit B e e n k e n verband
Antonia und mich bald, mit Lendl e später ein freundschaftliches Verhältnis.
Volkmann -Schluck zum Beispiel sprach über den Substanzbegriff aus
philosophischer und naturwissenschaftlicher Sicht, und die nachfolgende
Diskussion zeigte, wie wichtig und fruchtbar die Auseinandersetzung zwischen der
geisteswissenschaftlichen mit der naturwissenschaftlichen Denkweise sein kann. L
i t t s geschliffene Rhetorik war so bestechend, daß man versucht schien,
Probleme für gelöst zu halten, bevor sie an ihrem Kern angefaßt waren. Diesen
Kern sah L i t t in einer kla
327
ren Absage an den Anspruch der Naturwissenschaft, aus ihren Erkenntnissen
metaphysische Schlüsse zu ziehen. Ich versuchte, auf die notwendige
Unterscheidung zwischen dem für die naturwissenschaftliche Forschung geltenden
Begriff der „Richtigkeit" und dem der „Wahrheit" hinzuweisen, der den Bereich
des Geistigen konstituiert, eine Unterscheidung, die ich G u a rd i n i s
Schriften verdanke. Was hätte L i tt wohl zu der Überschreitung der durch die
Atomphysik gewonnenen neuen Richtigkeiten in der Richtung auf die Frage nach
philosophischer Wahrheit gesagt? So weit ging die Diskussion damals noch nicht.
Aber sie war, wie alle folgenden höchst lebendig und anregend.
17. Januar 1947 :Ich spreche im Leipziger Kulturbund über „Psychisch-nervöse
Störungen unter dem Einfluß des Zeitgeschehens", bin aber nicht ganz zufrieden
mit mir, habe das Gefühl, keinen rechten Kontakt mit den zahlreichen, meist
nicht-ärztlichen Hörern zu finden. Trotzdem war man interessiert und stellte
anschließend viele Fragen. Reizvolles, wenn auch schwieriges Thema, fast zu
aktuell, als daß es mit dem nötigen Abstand behandelt werden könnte.
Januar - Februar 1947 (Tagebuch-Auszüge): Neurologischen Teil des
Neurochirurgischen Kapitels in dem von Prof. H e I I e r herausgegebenen
Lehrbuch überarbeitet. Mühsam! Liegt mir nicht so recht. Konnte Heller aber
nicht absagen. Sein Dank war knapp. An dem Erlös des Buches beteiligte er mich
nicht.
Lektüre: Thomas von Aquin : Summa theologica. J a s p e r s :Die Schuldfrage
(wichtig, klärend!): Der Begriff "Wahrheit" bestimmt das Grundthema der
„Vorlesungsreihe über die geistige Situation in Deutschland", die J a sp e r s
im Wintersemester 1945 - 46 in Heidelberg gehalten und in der er die Schuldfrage
gesondert behandelt hat. „Jeder für sich wirke an seiner Stelle mit, daß
Wahrheit offenbar werden." Für uns Deutsche bedeute das: Wir tragen die
politische Verantwortung für unser Regime und seine Taten. Moralische Schuld
liegt immer nur im einzelnen Menschen, wenn er sein Gewissen befragt. Kriminelle
Schuld trifft nicht das deutsche Volk, sondern einzelne wegen bestimmter
Verbrechen angeklagte Deutsche. Ihnen steht das Recht auf Verteidigung zu.
Kollektivschuld können wir nur fühlen: Wir fühlen uns als Deutsche mitbetroffen
von allem, was aus dem Deutschen erwächst, das heißt: Wir tragen alle eine
Mitschuld dafür, daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens, in
unserer Überlieferung die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime (!).
328
Dieses Gefühl einer nicht greifbaren Mitschuld ist nach J a s p e r s die
Bedingung einer "Wiedererneuerung des Menschseins aus dem Ursprung", Bedingung
der Aufgabe, „nicht deutsch zu sein, wie man nun einmal ist, sondern deutsch zu
werden, wie man noch nicht ist, aber sein soll!" Metaphysische Schuld ist „der
Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen" ... "Diese
Solidarität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen
geschehen ..." „Wir haben es vorgezogen, leben zu bleiben mit dem schwachen,
wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nichts helfen können." ... „Daß
wir leben, ist unsere Schuld!
Der Weg der Reinigung von Schuld führt über die Klärung der Schuld, und das
heißt: über die Wahrheit. „Die Reinigung macht uns frei". »Erst aus dem
Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung,
ohne die Freiheit nicht möglich ist." „Demut und Maßhalten ist unser Teil." Mit
diesem Satz schließt J a s p e r s seine Gedanken zur Schuldfrage. Viel wäre zu
ihnen zu sagen, auch Kritisches und Abweichendes, zum Beispiel zum Problem der
Kollektivschuld". Steckte wirklich nur in den geistigen Bedingungen des
deutschen Lebens und in seiner Überlieferung die Möglichkeit, ein totalitäres,
tyrannisches Herrschaftssystem hervorzubringen? Theodor H e u s s hat treffender
von Kollektiv-Scham gesprochen. Der Begriff „Metaphysische Schuld" wird den
meisten Menschen etwas wirklichkeitsfremd erscheinen, sie werden ihn auf sich
nicht angewandt wissen wollen. Er berührt sich mit dem, was D o s t o j e w s k
i seinen Staretz Sossima aussprechen läßt: „... in Wahrheit ist jeder vor allen
für alle schuldig, nur wissen es die Menschen nicht. Wenn sie es aber wüßten, so
wäre sofort das Paradies auf Erden."
Interessant, wenn auch nicht neu ist ein Faktum, von J a s p e r s betont, das
Kollektiv- wie metaphysische Schuld im Deutschen trotz aller
Menschenrechtsverletzungen durch H i t I e r und sein Regime gar nicht erst
aufkommen ließ oder zumindest abgeschwächt hat: Alle Staaten erkannten das
Hitler-Regime an: "Man hörte Stimmen der Bewunderung". In einem offenen Brief C
h u r c h i I I s an H i t I e r in der Times 1938 kamen Sätze vor wie dieser:
„Sollte England in ein nationales Unglück kommen, das dem Unglück Deutschlands
1918 vergleichbar wäre, so werde ich Gott bitten, uns einen Mann zu senden von
Ihrer Kraft des Willens und des Geistes ..."(!!) (Zitiert nach R ö p k e ).
329
Eines erscheint mir noch wichtig, weil ich selbst Soldat, allerdings als Arzt
und Reservist, war: J a s p e r s unterscheidet zwischen der soldatischen Ehre
und dem politischen Sinn: „... das Bewußtsein soldatischer Ehre bleibt
unbetroffen von allen Schulderörterungen. Wer in Kameradschaftlichkeit treu war,
in Gefahr unbeirrbar, durch Mut und Sachlichkeit sich bewährt hat, der darf
etwas Unantastbares in seinem Selbstbewußtsein bewahren. Dies rein Soldatische
und zugleich Menschliche ist allen Völkern gemeinsam. Hier ist Bewährung nicht
nur keine Schuld, sondern, wo sie unbefleckt durch böse Handlungen oder
Ausführung offenbar böser Befehle wirklich war, ein Fundament des
Lebenssinnes..."
Weitere Lektüre im Januar 1947: Otto, „Die Götter Griechenlands", Victor v o n W
e i z s ä c k e r : „Der Gestaltkreis° (nur zum Teil verstanden!) R i I k e
„Stundenbuch" (Teile aus ihm Antonia vorgelesen). „Malte Laurids Brigge« über
den kleinen und den großen Tod. Plan, etwas über eine „Zeitgeschichtliche
Psychopathologie des Suizids" zu schreiben. B o I I n o w :
„Existenzphilosophie°, „Das Wesen der Stimmungen".
Dichter Georg Maurer bei B e e n k e n s kennengelernt. Besonderer menschlicher
und geistiger Gewinn. M. unverbildet, rein, naiv (im guten Sinne), erfreulich
„unmodern" und doch mitten in der Zeit stehend und über sie hinausweisend. Zum
30. März 1947 schrieb er für Antonia „Zur Erinnerung an den von Ihnen, liebe
gnädige Frau, so entzückend geplanten und durchgeführten Vor-Ostern-Vormittag
ein Gedicht, Befreiung`:
„Ich, nach all dem Schmerz sammi' ich Tau der Gnade, drin ich nun mein Herz wie
im Frühling bade.
Unbewegt quillt Regen, der die Erde weicht. Von dem vollen Segen ist mir seltsam
leicht.
Alle Reifen springen, die die Selbstsucht legt. Und nun kann es singen tief aus
mir bewegt.
Habe weggeschoben, ach! Das liebe Ich. Und nun drängt nach oben alles Gute sich.
Ist es noch so klein, spüre ich es glänzen in dem goldnen Schein flutend ohne
Grenzen.
330
Wie im Äther schwimmt jedes Stäubchen golden, das als Sonne glimmt an den
Sternendolden.
Liebe streift durchs All, zündet da und dorten in den Weltensaal Licht an
allerorten."
Später schrieb er in unser Gästebuch „In allerherzlichster Dankbarkeit" die
Verse: Bevor das Ungewisse sich noch teilte, dem Vorhang gleich und dem bewegten
Meer, daraus ersehntes Land erscheint - enteilte die Zeit, die drohend schwere,
minder schwer in all der Herzlichkeit, die uns umfangen in diesem Haus, das
immer gastlich war. So hegen wir ein einziges Verlangen: bewahren und stets
erneuernd dessen zu gedenken, was einzig aufrecht hielt in dunklen Jahren, Mit
freier Menschlichkeit sich zu beschenken.
Eva und Georg Maurer ."
Im Februar 1947 kam es zu einem Rencontre mit der „braun-roten" Nervenärztin
Frau Dr. B e n d r a t , das den Anstoß zu meiner unfreiwilligen Emigration aus
der Deutschen „Demokratischen" Republik bildete: Mitarbeiter berichteten mir,
daß Frau Dr. B. ohne mein Wissen klinische Visite gemacht und einige meiner
therapeutischen Anordnungen abgeändert habe. Ich bat sie daraufhin zu mir ins
Dienstzimmer und sagte ihr, ich sei gerne bereit, mit ihr zusammenzuarbeiten,
aber nur unter der Bedingung, daß dabei die Regeln kollegialer Fairness gewahrt
blieben. Dies sei leider nicht der Fall gewesen, wenn sie, ohne sich mit mir zu
besprechen, meine Anordnungen korrigiere. Damit überschreite sie nicht nur ihre
Befugnisse, da sie nicht meine Dienst-Vorgesetzte sei, sondern sie mindere auch
meine ärztliche Autorität den Patienten gegenüber, die durch unterschiedliche
therapeutische Maßnahmen und Ansichten nur verunsichert werden. Ich müsse sie
daher bitten, in Zukunft entweder gemeinsam mit mir Visite zu machen oder mich
zuvor wissen zu lassen, daß sie in meiner Vertretung allein Visite machen wolle!
Es war natürlich höchst kühn von mir, als ehemaliger Pg und „aus dem
Staatsdienst entlassener" Oberarzt, dessen weiteres Verbleiben im Dienst nur von
Monat zu Monat verlängert wurde, derart entschieden gegen eine in roter Gunst
stehende, nach akademischen Weihen strebende Polit-Ärztin aufzutreten.
Ihre Reaktion bestand aber nicht etwa in einem Hinweis auf diese Unsicherheit
meiner Stellung, sondern in - Tränen! Tränen, die sie mir nie verziehen
331
hat. Wir schieden zwar nach dem Gespräch in beiderseitigem Einvernehmen sie
akzeptierte meine Bedingungen für gute Zusammenarbeit - , aber die Rache kam
später!
Tagebuch: Abends zu Gast bei L e n d I e , unserem bedeutenden Pharmakologen und
derzeitigen Prorektor, der über sein wissenschaftliches Fachgebiet weit hinaus
vielseitig gebildet und geistig ungemein lebendig ist. Gespräch über D o s t o j
e w s k i und Probleme unserer Zeit.
Geistig und menschlich gewinnreicher Abend bei Dr. theol. Becker , dem
katholischen Studentenseelsorger von Leipzig, einem Schüler G u a rd i n i s ,
mit dem katholischen Pfarrer Kraft aus Braunsberg, der auch am dortigen
Gymnasium Hosianum Abitur gemacht hat, und mit Georg M a u r e r .
Weiter: Unerhörte Dauerkälte! Erschreckende Mortalität! Katastrophale
Unterkühlung der Krankenräume! Arbeit sehr erschwert. Füße angefroren. Rasanter
Betrieb in der Klinik. Schwierige Fälle.
Berufung in den Psychiater-Beirat der Deutschen Zentralverwaltung für das
Gesundheitswesen in Berlin.
An den Sonntagen Lektüre über das Problem der Wahrheit ( Kierkegaard , Heidegger
, Platon (Höhlengleichnis), Thomas , G u a r d i n i . Gespräche mit Martin D o
e r n e , Professor für praktische Theologie, im besonderen Homiletik
(Predigtlehre), interessanter Mann, aus eigenem Erleben Verständnis für
Persönlichkeitsprobleme. Diskussion über Psychopathologie und Zeitgeschehen.
Gebe ihm meinen Vortrag über dieses Thema zur Durchsicht. Wolodja L i n d e n b
e r g hat Lizenz für neue Monatsschrift für Medizinische Psychologie und
Neurologie erhalten, in der mein Vortrag veröffentlicht werden soll.
Dr. K o n i t z e r , Dezernent für das Gesundheitswesen in der
Zentralverwaltung, verhaftet! Gründe unbekannt. Neue Denazifizierungswelle? K.
war aber nie Parteimitglied.
1. März 1947: Mancherlei Verdruß, auf den ich - bei Kalorienmangel mit leichten
Hungerödemen! - überempfindlich, fast paranoid reagiere. Überbewertung von
Alltagsärgernissen aus dem Gefühl der Existenzunsicherheit. Zum Teil unnötige,
wenn auch motivierbare Befürchtungen. Bei Einladung eines dankbaren Patienten,
des Antiquitäten- und Kunsthändlers Karl-Heinz W i e I a n d , idealistischer
Kommunist und daher bei den Russen höchst angesehen, zum Essen
332
in seinem Hause: Ungewohnt üppige, fettreiche Darbietungen, dazu Alkohol,
Coffein, Nikotin - ich muß plötzlich das Speisezimmer verlassen und stürze im
Flur wie ein gefällter Baum der Länge nach auf den Boden, bin für Sekunden
bewußtlos, werde von Antonia und dem Gastgeber emporgehoben, kann wieder -
schwankend - stehen und erlebe in hellwacher Wahrnehmung die körperliche
Erschlaffung, den Blutdruckabfall mit dem Gefühl der Blutleere im Kopf. Zugleich
entlädt sich in einem enthemmten Aussprachebedürfnis alles, was sich an
Befürchtungen und Verdrießlichkeiten angestaut hatte. Interessante
Selbstbeobachtung: Gegenspiel von körperlicher Erschlaffung und
emotionalgedanklicher Übererregbarkeit als kompensatorische Selbstbefreiung von
der langen seelischen "Einpanzerung". Nach dem Collaps folgt der Ausatmung eine
anormal lange Atempause. Dadurch Anreicherung des Blutes mit Kohlensäure, mit
Reizwirkung auf das Atemzentrum und vertiefte Wiedereinatmung, also eine
wunderbare Schutzreaktion des Organismus! Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß
ich nicht mehr, Erinnerungslücke durch die vorübergehende Sauerstoffverarmung
des Gehirns.
Der gute Karl-Heinz W i e I a n d litt an einer Sehnervenatrophie und war fast
völlig blind geworden. Seine kommunistische Weltanschauung hinderte ihn nicht,
durch Handel mit Orientteppichen, Porzellanen, Bronzen, Gemälden, China- und
Japankunst ein höchst wohlhabender Mann zu werden und einen erfolgreichen
Rennstall mit dem berühmten Rennpferd „Birkhahn" zu unterhalten. (Er hat mir am
12. Dezember 1948, als wir schon in Ilten waren, geschrieben, er „freue sich
riesig, daß wir beiden Lieben nun endlich im Westen Ruhe gefunden haben°.
Professor P f e i f f e r , den er nach meinem Weggang in Anspruch genommen
habe, habe ihn „durch die Spritzerei so kaputt gemacht", daß er mit „Angst und
Schrecken daran zurückdenke." Er habe das Vertrauen zu der Klinik nach meinem
Fortgang verloren, und er bitte mich um Ratschläge zur Erhaltung seines
Augenlichtes. Leider habe ich ihm auch nicht zur Verbesserung seiner hochgradig
herabgesetzten Sehfähigkeit verhelfen können.)
Leipziger Messe. Viel Besuch. Zwei große Konzerte: Sergiu C e I i b i d a c h e
mit den Berliner Philharmonikern, Nachfolger des politisch belasteten (?) F u
rtw ä n g I e r . Tänzerisches Element der Kunst des Dirigierens. Faszination
auf Kosten des geistigen Gehaltes, der Innerlichkeit des Werkes. Mitreißende
Farbigkeit, besonders be i R a v e I . S c h u m a n n s Vierte Symphonie
333
nicht geglückt. Deutsche Romantik, Faustisches Ringen liegt nicht in der
musikalischen Welt des Rumänen. Aber große Begabung! Auch Mathematiker!
K e i I b e rt h mit den Dresdener Philharmonikern. Großartige Leistung. Ideale
Einheit von Vitalität und Geistigkeit, auch bei R e g e r s Hiller-Variationen.
H i n d e m i t h s Violinkonzert mir unverständlich.
Lektüre: Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz . Ernst Jünger: Gärten und
Straßen. Unterschied zwischen Nihilismus und Anarchie. (Gespräch mit seinem
Bruder): Der Nihilismus kann sich ausgedehnte Ordnungsformen zu eigen machen.
Sichtbare Ordnungen müssen im selben Maße wachsen, in dem die innere Harmonie
verloren geht. So wächst die Zahl der Ärzte im gleichen Maße, in dem die
Heilkraft sich verliert ... Durch den Darwinismus wird die Schöpfung wie mit
dem Stahlstift nachgezogen. Friedrich Georg J ü n g e r: „Die Tiere gleichen
dort den Blumen, die aus Zinkblech nachgebildet sind." Schopenhauer habe in
seinen Ausführungen über die Vergleichende Anatomie alle derartigen Versuche
schon vor ihrem Entstehen entkräftet." (?)
L a B r u y e r e : „Ein wenig mehr Zucker im Urin, und der Freigeist geht in
die Messe." In der Tat beginnen wir zu glauben, wenn es uns schlechter geht.
(Der atheistische Kommunist Dr. S c h ö I m e r i c h , ursprünglich katholisch,
bekreuzigte sich im Luftschutzkeller!)
... "Das Geheimnis liegt darin, daß das Leiden höhere, heilende Kräfte erzeugt."
... „Es gibt keine verkannten Genies. Jeder findet im Leben den ihm angemessenen
Platz. Wir werden genau mit dem soziales Potential geboren, das wir
verwirklichen."
Denunziert
August 1947: Ich sage im Kreise meiner Mitarbeiter, in Gegenwart
der Frau Dr. B e n d r a t : „Die Methoden des jetzigen „Vierten Reiches"
unterscheiden sich von denen des Dritten dadurch, daß sie nicht unter einem
braunen, sondern unter einem roten Etikett angewandt werden", und ich führe
einige konkrete Beispiele an. Einige Tage danach wird Antonia von Frau Dr. Z a n
d e r , Assistentin der Universitäts-Frauenklinik, angerufen - ich befand mich
in der Klinik - und gebeten, sich mit ihr an einer Straßenbahnhaltestelle zu
treffen. (Frau Dr. Z. war Mitglied der in die SED übergeführten
Sozialdemokratischen Partei). Dieser Treffpunkt war nötig, da mit dem Abhören
eines Telephonats
334
gerechnet werden mußte. Denn: Frau Dr. Z. teilte Antonia - streng vertraulich
mit, daß ich bei dem Betriebsrat der SED-Gewerkschaft an der Universität
denunziert worden sei und Leipzig so schnell wie möglich verlassen müsse. Von
dem Betriebsrat gebe es einen direkten Draht zum NKDW, zum Sowjetischen
Geheimdienst!
Bevor ich Leipzig verließ, was ich denn doch nicht Hals über Kopf tun wollte,
begab ich mich nacheinander zum Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. H u e c
k , zum Prorektor, Prof. L e n d I e , zum Rektor, Prof. G a d a m e r , und
schließlich zu meinem Freunde Dr. Wladimir L i n d e n b e rg, dem von der
Sowjetischen Administration eine Art Staatsekretärstelle bei der Deutschen
Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in Berlin übertragen worden war. Alle
sagten mir übereinstimmend, sie bewunderten meinen Mut, mit dem ich mich so
kritisch über das SED-Regime geäußert habe (mich müsse wohl "der Hafer gestochen
haben"!), und sie ständen moralisch natürlich hinter mir, aber weder die
Fakultät, noch der Rektor noch die Zentralverwaltung könnten mich praktisch
stützen und verhindern, daß Fr. Dr. B.. ("Die Frau ist gefährlich!") mich dem
NKDW ausliefert und nach Sibirien oder Workuta verschicken läßt. Wolodja meinte
noch - er hoffe, in seinem Berliner Dienstzimmer nicht abgehört zu werden -: „An
Deiner Stelle würde ich Leipzig lieber heute als morgen verlassen!" Alle
Genannten sind dann auch wenig später selbst in den Westen emigriert, Wolodja
aus dem Sowjetischen in den Französischen Sektor von Berlin.
Flucht aus der "DDR"
Nun mußte es schnell gehen: Ich telefonierte mit einer Ärztin am
Krankenhaus in Gleicherode am Harz, meiner ehemaligen Doktorandin, und ihrem
dortigen Kollegen, einem früheren Patienten, und bat sie, mir ein Telegramm mit
der Bitte um ein dringendes Consilium zu schicken, zu dem auch als Internist der
Oberarzt der Medizinischen Klinik, Dozent Dr. H a u ß , hinzugezogen werden
solle. Mit Hilfe dieses Telegramms konnte ich für ihn und für mich ein Taxi
mieten, mit dem wir über Halle nach Bleicherode fuhren, das dicht vor der Grenze
noch auf ostzonalem Gebiet liegt. Unser Start am 13. August 1947 war mit
Schwierigkeiten verbunden: Der Wagen erschient erst nach mehrfachem Nachfragen
zwei Stunden später, es fehlten Brennstoff und ÖI, beides mußte
335
gegen Tapeten aus einer Fabrik, die Angehörigen von Werner H a u ß gehörte,
eingetauscht werden, dreimal hatten wir Reifenpanne. Alles zusammen kostete uns
Stunden, während deren ich jeweils Antonia anläutete, um ihr mitzuteilen, daß
wir noch in Leipzig seien! Als wir endlich, an mehreren russischen
Militärkolonnen vorbei, in Bleicherode landeten, taten wir so, als ob wir die
vermeintliche Patientin im Inneren des Krankenhauses untersuchten, während der
Taxi-Chauffeur draußen wartete. Nach etwa einer Stunde ging ich zu ihm und
sagte, die Patientin sei so lebensbedrohlich krank, daß wir es nicht
verantworten könnten, sie zu verlassen. Wir bedauerten daher, ihn bitten zu
müssen, zunächst nach Leipzig zurückzufahren, bis wir uns wieder melden würden,
damit er uns aus Bleicherode abholt. Er wartet heute noch auf diesen Abruf. Wir
entlohnten ihn reichlich und verbrachten bei gastfreier Aufnahme einen
angenehmen Abend im Krankenhaus, ich schwamm in einem nahegelegenen Waldbad und
schaute dankbar zum bestirnten Nachthimmel empor. Von ferne erklang leise Musik.
Am nächsten Morgen fuhren wir in dem Mercedes meines früheren Patienten, des
Bleicheroder Assistenzarztes, bis in die Nähe der Grenze. Ein Grenzpolizist bot
sich als Führer an, lehnte die 250,- Mark, die wir ihm anboten, ab und übergab
uns zwei Lotsen („Fluchthelfer"), die uns durch dichten Wald bis zu dem
Stacheldraht führten, der damals die Grenze bildete. Im Walde ertönten Schüsse,
die offenbar nicht uns, sondern dem Wild galten, das von Russen gejagt wurde. Es
war nicht schwer, den niedrigen Stacheldrahtzaun zu überklettern, Werner mit
Aktenmappe und Radioapparat, ich mit Köfferchen und Aktenmappe. Der Augenblick,
in dem ich meinem Fuß auf den Boden der Englischen Zone setzte, gehört zu den
glücklichsten meines Lebens!
Der Schatten auf diesem Glücksstrahl: Antonia mußte zurückbleiben und die
Risiken einer möglichen „Sippenhaftung" auf sich nehmen, die Gefahr, wegen der
"Republikflucht" ihres Mannes bespitzelt, „registriert" oder gar verhaftet zu
werden. Aber es gab keine Alternative. Wir wollten nicht unsere gesamte Habe in
Leipzig zurücklassen, sondern zu retten versuchen, was zu retten war. Das ist
Antonia später, im Oktober, auch gelungen in einer abenteuerlichen Flucht, die
noch zu schildern sein wird. Immerhin: Ich war in Freiheit! Frau Dr. B e n d r a
t hatte sich als ein „Teil von jener Kraft" erwiesen, die „stets das Böse will
und stets das Gute schafft."
336
Neues Leben im Westen
Das Gute bestand zunächst darin, daß wir über Osterhagen mit der Bahn nach
Göttingen gelangten und dort von der Tochter Irmgard meines Lehrers B o s t r o
e m und von Professor S c h o e n (Ordinarius der Inneren Medizin), Bach man n
(Anatom) und Kornmüller , einem der Wegbereiter der Elektrenkephalographie
("EEG", Gehirnstromschreibung) gastfrei und hilfsbereit empfangen wurden. Nach
Abschied von Werner H a u ß , der nach Frankfurt ging und dort Oberarzt bei dem
berühmten Internisten V o l h a r d werden konnte, fuhr ich am 15. August nach
Hannover, angenehm berührt von dem positiven Urteil Kornmüllers über meine
Epilepsiearbeiten (»Konstitution und Krampfbereitschaft bei Epileptikern" usw.),
aber noch im Ungewissen über die Aussichten, als Chefarzt in Ilten eine neue
Existenz gründen zu können. Hier hatte der nahezu unbegrenzt hilfsbereite
Corpsbruder Dr. jur. Bernhard B e h r e n d t eine Verbindung zu den
Geschwistern W a h r e n d o rf f eingefädelt, indem er mich zu Rechtsanwalt S t
i s s e r in Sehnde bei Hannover brachte, dessen Frau mit Frau Erika C o r n e I
s e n , geb. Wahrendorff, befreundet war. Herr S t i s s e r verhielt sich
zunächst betont kühl und zugeknöpft, taute aber bald auf, zumal seine Frau sich
bei Frau C o r n e I s e n nach dem Stande der Sache erkundigen wollte und sich
erbot, meine Fürsprecherin zu sein. („Gute Beziehungen schaden nur dem, der sie
nicht hat!")
Mit Ministerialrat Dr. med. B u u r m a n n vereinbarte ich telefonisch ein
Gespräch im Niedersächsischen Sozialministerium über die Frage, ob und wann
Prof. Willige , der derzeitige Chefarzt der Wahrendorffschen Anstalten, sich
pensionieren lassen würde - er berief sich auf einen für seine Lebenszeit
geltenden Anstellungsvertrag! -, und wie das Ministerium über meine Nachfolge
denkt.
Am 16. August fuhr ich nach Bremen, um unseren Freund Dr. Klaus J e n s c h mit
seiner Frau Cécile, einer Litauerin, Ärztin, charmant, klug, französisch
gebildet und sprechend, zu besuchen. Einladung zur Familie Dr. Dr e ß I e r ,
einem Industriellen der Bierbranche - Blick in eine für mich neue Welt:
Wohlhabender, kultivierter Haushalt, üppiges Essen, vielerlei Getränke,
reichlicher Alkoholkonsum, lebhafte, etwas oberflächliche Gespräche - nein ana
337
chronistisches Fettauge auf der mageren Bouillon des ausgepowerten Deutschland"
trug ich in mein Tagebuch ein! Am Schluß dieses Abends kam es zu einem Mißklang
zwischen zwei Gästen, der uns zu vorzeitigem Verlassen des gastlichen Hauses
veranlaßte.
Am 18. August morgens ohne Fahrkarte auf dem Puffer des letzten Wagens eines
Zuges nach Hamburg, unrasiert und geschwärzt wie ein Schornsteinfeger vom Rauch
der Lokomotive - vorschriftsmäßiger Habitus eines Ostflüchtlings! Von den
Freunden M u m m e in Flottbek reizend aufgenommen, eine Stunde lang im Bad des
Hauses verbracht. Abends bei Arthur und Ilse J o r e s in Othmarschen.
Wohltuende Wiederbegegnung. Einklang mit Beiden. 19. August 1947: Zu Prof. Mauz , dem Nachfolger B o s t r o e m s , jetzt
Ärztlicher Direktor des großen Hamburgischen Staatskrankenhauses der Psychiatrie
in Langenhorn, der mich mit offenen Armen empfängt und mir die Erste
Oberarztstelle anbietet, zweites Eisen im Feuer, falls ich länger auf Ilten
warten müßte. ( Mauz war von den Alliierten in ein Internierungslager bei
Marseille - wie auch J e n s c h - gesteckt und erst vor kurzem freigelassen
worden!) Abends Bummel über die Reeperbahn, deren Glanz verblaßt ist. 20. August 1947: Nach Hannover. Gespräch mit Ministerialrat Dr. B u u rm
a n n , einem weißblonden Ostfriesen, offen und sympathisch, anscheinend mir
wohlgeneigt. Stellungnahme der Ärztekammer müsse aber noch abgewartet werden. W
i I I i g e scheine seine Chefarztposition nicht freiwillig räumen zu wollen!
Abends nach Bremen zu Klaus und Cécile J e n s c h 21. bis 24. August 1947: Mit Klaus und Victor, Céciles Bruder, im Wagen
an die Nordseeküste nach Nesmerssiel, von dort mit Motorboote auf die Insel
Baltrum, von Cäcile und Alice (Victors Schwester) freudig empfangen. Herrliches
Bad in der See! Labsal! Entschlackung! Am 22. mit Dampfer nach Norderney,
unvergeßlich schöne Fahrt, Wunsch, später einmal Urlaub auf einer der
Ostfriesischen Inseln zu verbringen. Jetzt endlich ruhiges Atemholen nach den
Spannungen der letzten Zeit. Tagsüber am Strand. Sonnenbrand mit nächtlichem
Fieber. Wehmütiger Abschied vom lieben Inselchen. Zurück nach Bremen. Kampf um
die künftige Existenz steht noch bevor.
25. August 1947: Nach Bielefeld zu S c h o r s c h s (Chefarzt der Betheler und
Bodelschwinghschen Anstalten). Da ich erst am späten Abend in Bethel eintraf und
das Ehepaar Sch. nicht stören wollte, übernachtete ich in einer Epileptiker
338
Abteilung mitten unter den Kranken. Für einen Psychiater kann es ganz nützlich
sein, selbst zu erleben, was es heißt, nicht als Arzt über den Patienten
zustehen, sondern mit ihnen die Gemeinschaft in einem Krankensaal zu teilen!
Gerhard Sch. gab mir einen Brief zu lesen, den Prof. W i I I i g e an ihn
geschrieben hat, um ihn zu beschuldigen, mit mir eine „Stellenbesetzungsaktion"
betrieben zu haben, mit der er nicht einverstanden sein könne. (Er wünschte sich
einen Bundesbruder, den Göttinger Dozenten Dr. T r o s t d o r f , zum
Nachfolger!) Der Brief war offenbar unter dem Einfluß von W i I I i g e s
damaligem Oberarzt Dr. S e r n a u , einem schon recht betagten Kollegen,
zustandegekommen. Später erfuhr ich, daß W i I I i g e sich hinter die
Ärztekammer gesteckt und zu bedenken gegeben hatte, daß nur ein politisch
Unbelasteter Chefarzt werden solle! Er selbst war Mitglied der NSDAP gewesen! Es
wurde also mit der „politischen Keule" gegen mich intrigiert.
Gute Gespräche mit den freundschaftlich-hilfsbereiten Schorschs und mit dem
Jenaer, auch in den Westen emigrierten Dozenten Dr. Schulte .
Ich notierte mir die Anrede Anselm von C a n t e r b u r y s an den „Creator
spiritus": „...der Du im Glücke die Seele wahrest und in der Not ihr Bestand
bist, der Du von Missetaten reinigest und Wunden heilest, Du Lehrer der
Demütigen und Richter der Hoffärtigen, Du Hoffnung der Armen, Du Labung der
Matten, Du Stern auf dem Meere, Du Hafen im Schiffbruch!" 26. August 1947: Frühmorgens nach Dissen im Teutoburger Wald zu Herrn
Hugo H o m a n n und seiner Frau Emmy, geb. Wahrendorff. H. H., Inhaber der
gleichnamigen Margarinewerke und einer mit ihnen verbundenen
Nahrungsmittelindustrie, ist der für die Besetzung des Chefarztpostens in Ilten
maßgebende Sprecher der Wahrendorffschen Kommanditgesellschaft, der Gerhard S c
h o r s c h um Vorschläge für die Nachfolge W i I I i g e s gebeten hatte. Im
Gespräch waren auch die noch aus ihren Ämtern entfernten Professoren
Bürger-Prinz , Hamburg und Störring , Kiel gewesen. Schorsch hatte mich
vorgeschlagen. Ehepaar H o m a n n empfing mich sehr freundlich, und Frau Emmy,
mit der ich im großen Mercedes nach Bielefeld zurückfuhr, versicherte mir, wenn
ihr Mann etwas als richtig erkannt habe - und das sei meine Wahl zum Chefarzt -,
dann setze er es auch durch. H o m a n n hat dann einige Tage danach mit seinem
Schwager, dem Leiter der Niedersächsischen Staatskanzlei Dr. v o n C a m p e ,
gesprochen, der den Ministerialrat
339
Dr. B u u r m a n n bitten wolle, als neutraler Mittelsmann über den
Ärztekammerpräsidenten Dr. S i e v e r s auf. Prof. Willige einzuwirken, er möge
die von H o m a n n angebotenen günstigen Bedingungen (Pension, Wohnung,
Hirnverletztenabteilung in llten) annehmen und sich mit dem 70. Lebensjahr
pensionieren lassen. Anderenfalls müßte ein Schiedsgericht entscheiden, was aber
nach Möglichkeit vermieden werden solle.
Mir erschien dies alles höchst verzwickt und wenig behaglich, und die
kapitalistische Welt mit ihren privaten Interessen und Verflechtungen kam mir
nach über zwei Jahren Leben im Sozialismus seltsam vor. Aber ich fügte mich,
denn es ging um meine künftige berufliche Existenz und um die reizvolle Aufgabe,
eine große psychiatrisch-neurologische Einrichtung, die höchst reformbedürftig
war, zu übernehmen und so weit wie möglich zu modernisieren. B u u r m a n n
hatte mir gesagt, die Mißstände in llten seien dem Ministerium bekannt und
hätten ein Ausmaß erreicht, das zum Politikum, das heißt, zum Gegenstand einer
Anfrage beim Niedersächsischen Landtag zu werden drohe! Das Ministerium habe die
Hoffnung und setze das Vertrauen in mich, daß es mir gelinge, in absehbarer Zeit
eine Sanierung zu erreichen. Wenn das nicht möglich sein sollte, müsse die
Wahrendorffsche Erbengemeinschaft mit der Verstaatlichung der Anstalten rechnen!
Das wollten H o m a n n und die Familienmitglieder natürlich vermeiden, und das
wurde für mich - mit dem Ministerium als Aufsichtsbehörde im Hintergrund -
später zum Druckmittel auf die Kommanditisten, wenn ich Investitionsmittel für
die dringend notwendige Erhöhung der Zahl an Ärzten und Krankenpflegepersonal,
Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen Methoden, bauliche
Sanierungsmaßnahmen usw. fordern mußte. Insoweit war ich ein „teurer Knabe" für
die Familie Wahrendorff. Aber ich versuchte sie davon zu überzeugen, daß eine
Nichtbewilligung dieser Mittel bedeutet hätte, die Anstalten auf dem Niveau
einer bloßen „Bewahranstalt" zu belassen und das Risiko einer Verstaatlichung
einzugehen. H o m a n n unterstützte mich dabei konsequent und soll später zu
den Kommanditisten, die mein forsches Vorgehen kritisierten, gesagt haben: Ein
schnelles Pferd könne man zügeln, aber einen lahmen Gaul nicht antreiben!
Ich greife jetzt vor. Vorerst waren noch weitere Schwierigkeiten zu überwinden.
Zunächst tauchte ich in meinem Flüchtlings-Asyl bei Adalbert und Vera C o n n o
r in Billerbeck im Münsterland unter und schlief mich zwei Tage lang
340
endlich aus, schrieb viele Briefe und besuchte, von den Connoren rührend
betreut, mit Adalbert seinen Freund, den Bergwerksdirektor Bergassessor Rudolf W
a w e r s i k in Recklinghausen und mehrere westfälische Bauernhöfe. An Antonia,
die in Leipzig Zurückgebliebene, konnte ich auf Postkarten nur schreiben, als ob
ich ihre Schwester Vera wäre. Ich wagte es aber, ihr auch Briefe zu schreiben in
der Hoffnung, daß sie nicht geöffnet wurden. Sie sind zum großen Teil erhalten
geblieben. Am 28. August 1947 ( G o e t h e s Geburtstag) versuchte ich ihr
tapferes Ausharren - angesichts unseres Hochzeitstages am 6. September - im
Geiste des Wortes „Einer trage des Anderen Last" zu sehen und sie fühlen zu
lassen, daß ich mit ihr die Belastungen und Prüfungen, die uns auferlegt sind,
als ein Schicksal verstehe, das wir nicht als etwas Fremdes oder Feindliches
empfinden dürfen, sondern uns zu eigen machen müssen: "Es gehört zu unserem
gemeinsamen Leben und wir sollten ,Ja!' zu ihm sagen, ganz gleich, was es uns
bringt. Die Kraft zu diesem Ja gibt uns die Liebe, die uns verbindet, und die
Gewißheit, daß allem, auch dem Schweren und Widrigen, ein Sinn innewohnt, der
uns innerlich reifen läßt und unserem Dasein die eigentliche Tiefe verleiht.
Vielleicht gelingt es uns dann sogar, unser Schicksal zu lieben (,Amor fati'!)
Gott schütze und erhalt' uns Beide!"
Inzwischen erhielt ich eine Einladung zu dem ersten westdeutschen
Psychiaterkongreß in Tübingen unter dem Präsidium Ernst K r e t s c h m e r s .
Meine Teilnahme war aber von der Bewilligung eines Interzonenpasses abhängig,
den ich mit Hilfe eines Dolmetschers der englischen Kommandantur über eine
Befürwortung durch das Landratsamt in Coesfeld von der Militärregierung in
Münster erhielt, und zwar innerhalb von zwei Tagen, was als Rekord galt! Für die
Fahrt mit dem D-Zug von Dortmund nach Stuttgart brauchte ich noch eine
Sondergenehmigung für den Übergang von der englischen zur französischen Zone!
Sie wurde von Connors Freunden E n g e I (Leni und Friedrich Wilhelm,
Vorsitzender des Vorstandes der H o e s c h - Werke in Dortmund) besorgt.
Deutschland war zu einem "Interzonesien" geworden . Die drei westlichen Zonen
nannte man „Trizonesien"!
Ehepaar E n g e I bewirtete mich gastfrei und großzügig im Kasino der
HoeschWerke in Dortmund. Im Mittelpunkt des Tübinger Kongresses stand natürlich
der große Ernst K r e t s c h m e r . Mit seinen Hauptwerken »Der sensitive
Beziehungswahn" und „Körperbau und Charakter" - 1947 in 20. Auflage
341
erschienen! - hatte er Weltruf errungen. Seine Bedeutung, ja Genialität lag in
einer ungewöhnlich fruchtbaren Verbindung von wissenschaftlichem Scharfsinn mit
künstlerischer Intuition und der Gabe lebendig-anschaulicher Darstellung. Seine
Forschungen über die Beziehungen zwischen Konstitution, Temperament und
Charakter und deren Zusammenhänge mit dem manisch-depressiven und dem
schizophrenen Formenkreis sind aus der Geschichte der Psychiatrie und
medizinischen Psychologie nicht mehr wegzudenken. Sein weiter Bildungshorizont
und seine kulturhistorischen Interessen erwiesen sich auch in seinem geistvollen
Buch „Geniale Menschen", das zu lesen auch heute noch ein Genuß ist. Daß er sein
klinisch-analytisches Denken mit philosophischen Fragen zu verbinden wußte,
zeigte sich in dem Vortrag, mit dem er die Tübinger Tagung einleitete und in
einen das rein Fachlich übergreifenden Rahmen stellte; das Thema lautete, soweit
ich es in Erinnerung habe: Konstitutionstypologische Forschung aus
erkenntnistheoretischer Sicht. In seinem Aussehen wirkte er eigentlich
ernüchternd schlicht-bürgerlich, seine Gesichtszüge waren eher unbedeutend, die
Gesichtsform rundlich in weichen Umrissen. Erst später erfuhr ich durch Mauz ,
der sein Lieblingsschüler war, daß er an manischsubdepressiven Stimmungs- und
Vitalitätsschwankungen litt, deren konstitutionelle Grundlagen er so meisterhaft
herauszuarbeiten vermochte. Die großartige und vielseitige Forscherleistung, die
die Psychiatrie und medizinische Psychologie ihm zu verdanken hat, war nach
seinen eigenen Worten "Gestähltes Endprodukt innerer Hochspannung". K r e t s c
h m e r hat die Gefahren, die das wissenschaftlich-empirische Fundament der
Psychiatrie und Psychotherapie durch ein Auseinanderfallen in eine biologische,
somatisch orientierte und einseitig psychogenetisch verstandene Richtung
bedrohten, frühzeitig vorausgesehen und beide Aspekte durch sein Konzept der
„mehrdimensionalen Diagnostik und Therapie" zu verbinden gesucht. Ich habe das
Prinzip der Mehrdimensionalität einem Beitrag in der Festschrift zu K r e t s c
h m e r s 60. Geburtstag "Zum Ursachenproblem bei traumatischen Hirnschädigungen
mit psychisch-reaktiven Manifestationen", 1948, zugrundegelegt. Das
„Entweder-Oder" -Denken mit der Tendenz zur Totalisierung des einen oder des
anderen Standpunktes hat mir nie gelegen, und deshalb fand ich in K r e t s c h
m e r s Arbeiten eine überzeugende Bestätigung. In einem späteren
Festschriftbeitrag anläßtlich seines 70. Geburtstages habe ich versucht, K r e t
s c h m e r s typologischen Konstituti
342
onsbegriff durch die Dimension des Geschichtlichen, der Person des Menschen, zu
erweitern und das Individuelle, Einmalige, Nicht-Typisierbare personalen
Erlebens in den Vordergrund zu rücken - ein Schritt, der über den Bereich der
Konstitutionstypologie hinausführen und dem Ziel einer Verbindung
naturwissenschaftlicher mit geisteswissenschaftlicher Forschung dienen sollte.
Der Tübinger Kongreß brachte mir willkommene Wiederbegegnungen mit Peter B a m m
, Werner Wagner , Margarete K e ß l e r (Mitassistentin aus der Königsberger und
Leipziger Zeit), anregende Gespräche und das wohltuende Gefühl, der beklemmenden
Atmosphäre Leipzigs entronnen und endlich wieder ein Freier unter Freien zu
sein. K r e t s c h m e r kannte meine Arbeiten und hat, wie auch Wagner und die
Professoren Bürger-Prinz, Mauz , Nonne und Pette - Hamburg durch ein Zeugnis
dazu beigetragen, daß ich die Chefarztstelle in llten und später den
Professor-Titel an der Hamburger Universität erhielt. Auf der Rückfahrt machte
ich in Koblenz Halt, um unseren alten Freund Herbert Lorenz. ("Lorenzo") mit
seiner ihm erst vor kurzem angetrauten französischen Frau Madeleine in Winningen
an der Mosel zu besuchen. Wir genossen das Wiedersehen nach den Kriegsjahren,
aus denen er als Kommodore eines Kampfgeschwaders mit dem Leben davon gekommen
war. Ursprünglich Jurist hatte er sich bei der Luftwaffe aktivieren lassen und
anfangs noch an den Sieg Deutschlands geglaubt. Sein Entschluß, Flieger zu
werden, begegnete der Besorgnis seiner Mutter, die ihm den ebenso wohlgemeinten
wie gefährlichen Rat gab: „Mein Jungchen, flieg' nur immer schön langsam und
nicht so hoch!" Seine Frau Madeleine gestand mir, daß sie auf Antonia immer
etwas eifersüchtig gewesen sei, wozu sie jedoch nicht den geringsten Anlaß
hatte. Aber sie meinte, alle französischen Frauen neigten zur Eifersucht und es
gebe in Frankreich keine nichterotischen Freundschaften zwischen Mann und Frau.
Lorenzo genoß das Vertrauen der französischen Besatzungsmacht und wurde später
Bürgermeister von Saarburg. Uns verbindet eine über fünf jahrzehntelange,
ungetrübte Freundschaft. Er war, nicht nur aus Liebe zu Madeleine, sondern auch
aus Überzeugung zum katholischen Glauben übergetreten.
Auf der Weiterfahrt am Rhein entlang erklärte mir Helmut S e I b a c h ,
wissenschaftlich hochbegabter Schüler von K r e t s c h m e r , später
Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der West-Berliner Universität, die
Ge
343
schichte der Burgen und Städte des Rheinlandes, dem er entstammte. Als ich noch
ohne neue Existenz und eigene Wohnung war, bot er mir an, in seinem Dienstzimmer
der Marburger Klinik unterzukommen und an seinen Gutachteneinnahmen zu
partizipieren, damit ich mich wenigstens notdürftig über Wasser halten konnte.
Ich bin ihm heute noch dankbar für diese spontane Hilfsbereitschaft.
Von der Rückfahrt nach Münster habe ich in einem Brief an Antonia vom 16.
September 1947 folgende knappe Notizen hinterlassen: "Remagen: Wir sind in
Remagen, dem Ort der historischen Nicht-Sprengung der Rheinbrücke, die den
Übergang der Amerikaner im März 1945 ermöglicht hat. Grenze zwischen
französischer und englischer Zone. Milde Grenzkontrolle.
Bonn: Innenstadt ziemlich zerstört. Ob Theodor Litt inzwischen hier landen
konnte? Köln: Grauenhaftes Ausmaß der Zerstörungen! Nur der Dom ragt einsam als
ein Dokument der Zeitlosigkeit und Unzerstörbarkeit des Geistes aus den
niedrigen Trümmern in den Himmel. Bei Neuß über die Brücke auf das
rechtsrheinische Ufer. Düsseldorf: Trümmerhaufen! Aber viel Leben in den
Ruinenstraßen. Duisburg. Mülheim, Essen, Dortmund: Hier bin ich zum erstenmal in
meinem Leben. Entsetzliche Zerstörungen! Thyssen, Krupp, Hoesch - gespenstisches
Gewirr von verbogenen Eisenträgern der früheren Werkhallen. Selbstzerstörung der
Technik durch die Technik des modernen Krieges. Herr E n g e I gehört zu den
Männern, die mit Mut, Energie und Geschick zu verhindern suchen, daß die
rheinisch-westfälische Industrie am Boden liegen bleibt. Er verhandelt zäh mit
den Vertretern der Allierten-Kontrollkommission, namentlich auch mit dem
französischen Wirtschaftspolitiker Jean M o n n e t , dem Begründer der
Montan-Union, um die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft und Industrie zu
ermöglichen."
Am 17. September war ich wieder „daheim": In meinem Billerbecker Refugium bei
den lieben Connors, mit einigen Mitbringseln versehen: Für Olaf ein
Stoffhündchen von Steiff, für beide Kinder Klebmasse, für Julchen einen
Schwarzwälder Holzbaukasten und ein Stoff-Vögelchen, für alle vier Bouteillen
Moselwein und frische Weintrauben, die dank der langen Trockenheit besonders süß
waren - 1947 versprach eines der exzellentesten Weinjahre zu werden! - und für
Adalbert ein großes Photo vom Königsberger Schloßteich, an dessen Ufer unser
Littuania-Corpshaus gestanden hatte.
344
„Olaf und Juliane sind reizend und liebevoll, legen mir ausgehungertem
Ost-Flüchtling beim Essen immer noch mehr auf den Teller. Zum Dank habe ich
ihnen zwei niedliche Bauernhöfe aus Bilderbögen ausgeschnitten, geklebt und
bemalt, mit denen sie eifrig spielen. Die Tuschkästen, die ich ihnen mitgebracht
habe, sind ihr ganzer Stolz. Die Freude an den Kindern ist ein bißchen Ersatz
für eigenen Nachwuchs. Olafchen, der Kleine, von bezauberndem Charme: Er
betätschelte Verachen an der Brust, umhalste sie und sagte: „Du süße, schöne,
kleine Busenfrau!" (Er hatte von Freund Schulze , im Kriege
Unterseeboot-Kommandant, das Wort „Busenfreundin" gehört!). Julchen ist oft
launenhaft und „gnatzig", scheint sich aber nicht ganz gesund zu fühlen und muß
zu einem Erholungsaufenthalt an den Titisee geschickt werden."
Inzwischen erfuhr ich, daß in Leipzig Frau Dr. B e n d r a t und der politisch
opportunistische Klinik-Inspektor Dietrich mit kleinen Giftpfeilen nach mir
geschossen haben sollen. Mich störte das wenig. Ich hatte mich aus der
Schußlinie begeben und interessierte mich nicht für die "Kollegialitäten" oder
Bürokratismen böswilliger Leute, für die ein "Republikflüchtling" ein Verräter
am Aufbau des „Sozialismus" war. Kleinliche und törichte Rachegelüste aus Ärger
darüber, daß ihnen wieder einer entgangen war, mögen mitgesprochen haben. "Es
gibt soviel Gutes und Kluges in der Welt, daß es nicht lohnt, sich mit Törichtem
und ,Miesem' zu beschäftigen" schrieb ich aus Billerbeck an Antonia in Leipzig.
Über Prof. P f e i f f e r als „Kliniker" hörte ich von kompetenten
Persönlichkeiten in Tübingen, Göttingen und Hamburg nur Negatives. Seine
Bedeutung als Hirnforscher bleibt davon aber unberührt.
Mit Antonia blieb ich in enger brieflicher Verbindung, bei der es auch um die
schwierige Frage ging, ob und wie unsere Möbel, die Bücher, der Steinway-Flügel
und alles andere in den Westen transportiert werden könnten. Antonia hatte schon
mit einem Spediteur Krok in Berlin Kontakt aufgenommen und begonnen, Kisten mit
Büchern zu packen und abzuschicken. Dabei half ihr der Chef meiner dankbaren
jüdischen Patientin Gertrud B o g n i t z e r , die es dann selbst auch fertig
bekam, einen illegalen Transport über die Grenze zu arrangieren. Als Antonia sie
fragte, welche Leute dieses riskante Unternehmen ausführen sollten, sagte sie:
"Zwei ehemalige SS-Männer - absolut sichere, zuverlässige Leute!!" Allmählich
wurde mir das Geld knapp, obwohl ich mich um größtmögliche Sparsamkeit bei
meinen Reisen bemüht hatte und vielfach ein
345
geladen wurde. Meine Gedanken gingen nach Leipzig zurück. Ich war beruhigt, daß
Antonia nicht allzuviel allein sein mußte, sondern von Freunden besucht wurde:
von Ruth P i p e r ,(wir nannten sie nach dem gleichnahmigen Buch des Alten
Testaments "Die Ährenleserin"), die dann den Inhaber der Blüthner-Flügel-Fabrik
Rudolf B l ü t h n e r- H a e ß l e r heiratete - sie hatte ihn durch Anton ia
kennengelernt -, von Wolodja L i n d e n b e r g , Georg M a u re r , von
Professor S u t e r , Kunsthistoriker wie Hermann B e e n k e n , einem großen,
dürren Schweizer mit schütterem rötlichen Spitzbart, Junggesellen, skurrilen,
liebenswerten Gelehrten, dem Antonia ein Küßchen auf die strubbelighaarige Wange
gedrückt hatte - Der erste Bart meines Lebens!" - . S u t e r war uns durch Bern
C a r r i e r e s Mutter Ragna und durch Hermann B e e n k e n nahegekommen, der
sich inzwischen auch entschlossen hatte, dem Kommunismus den Rücken zu kehren.
Er besuchte Connors, als ich in Tübingen war. Adalbert entfernte seinem Söhnchen
Jan (von Vater Hermann nach einem der Brüder V a n E y c k , über die er ein
Buch verfaßt hatte, so getauft) die stark gewucherten Rachenmandeln, was er auch
sonst wegen der damals aktuellen Lehre von der Bedeutung der „Herd-Infektion"
für die Entstehung zahlreicher Erkrankungen so oft wie nötig und möglich tat, so
daß man von ihm sagte, er habe die halbe Bevölkerung Westfalens „entmandelt".
Hermann B e e n k e n
Zu Hermann B e e n k e n s Flucht in den Westen hatte sein
abgemagerter Zustand beigetragen, an dem auch Antonias Fürsorge - er verzehrte
einmal bei uns 13 Teller der Mehlsuppe hintereinander, die unser
Hauptnahrungsmittel geworden war! - nichts Wesentliches zu ändern vermochte. B.
erkrankte später an einer Lungen-Tuberkulose und ist 1952, erst 56 Jahre jung,
bei einer Studienund Vortragsreise in Madrid gestorben. Die Freundschaft mit ihm
und seiner Frau Lieselotte (» Lo"), geborenen v. B r e d o w , gehört zu dem
besonderen menschlichen und geistigen Gewinn unserer Leipziger Zeit. Damals
erfreute sich Jean-Paul Sartres "L´^Etre et le Néant" -das grandiose
Mißverständnis der H u s s e r I schen Phänomenologie! - und mit ihm natürlich
auch Hei d e g g e r s Sein und Zeit", größter Aktualität, und unsere Gespräche
bewegten sich gewöhnlich um das Sein und das Nichts. Die Damen hörten geduldig
346
und nachsichtig zu. Aber einmal meldete sich Lo B e e n k e n doch zu Wort und
meinte: "Hermannchen, warum macht Ihr es Euch so schwer mit dem Sein und dem
Nichts. Das ist doch ganz einfach: Wenn wir Kartoffeln haben, dann ist das das
Sein, und wenn wir keine haben, dann ist das das Nichts! Das stimmt doch. Oder
nicht?" Darauf Hermann: „Lo, das ist ja grausig!"
Ich habe der Freundschaft mit Hermann B e e n k e n geistige Anregungen zu
verdanken, die heute noch nachwirken. Er war nicht nur einer der bedeutenden
Kunsthistoriker seiner Zeit, sondern auch ein philosophischer Kopf, seine
Fragestellungen und Untersuchungen richteten sich immer auch auf den
geistesgeschichtlichen Hintergrund der Kunstwerke und Kunststile, die er mit
großer Gelehrsamkeit, aber immer klar und anschaulich darzustellen und zu
interpretieren wußte. Neben seinen Büchern über die Brüder V a n E y c k und den
»Meister von Naumburg" - „für uns Deutsche in dem langen Zeitraum zwischen
Antike und Neuzeit der Größte, der schöpferischste Genius unter den
abendländischen Bildhauern" - galt als sein Hauptwerk „Das neunzehnte
Jahrhundert in der deutschen Kunst" (bei F. Bruckmann, München, „im Spätsommer
des Kriegsjahres 1943 abgeschlossen"!. In diesem - schon in seinem Umfang von
541 Seiten! - imponierenden, mit reichem Bildmaterial ausgestatteten Buch (er
hat es dem Maler Ludwig v o n H o f m a n n , einem Vorfahren Bern Carheres ,
gewidmet) wollte er nicht eine Darstellung der deutschen Kunst dieses Zeitalters
geben, sondern das Zeitalter selbst untersuchen, „wie es sich in der deutschen
Kunst und ihren Erscheinungen spiegelt". Das Werk bereichert den
geistesgeschichtlich interessierten Leser durch eine Fülle von Gedanken und
Analysen zu Themen, die das Neuartige und Besondere, den „Geist des
Jahrhunderts" im Sinne H e rd e rs , kennzeichnen und sich im „Stil" des
Kunstwerkes ausprägen - wohlgemerkt: des deutschen Kunstwerkes!
Es sind Themen wie „Baugesinnung und Bauaufgaben", „Der Historismus", ,Um die
Freiheit der Kunst", »Natur und Mensch", „Das Erleben des Todes", ,Das Ende der
christlichen Bildkunst", »Gesellschaft und Gemeinschaft", "Das Bild des
Menschen", »Denkmäler", schließlich »Das 19. Jahrhundert als
geistesgeschichtliche Einheit".
Unter den Einzelheiten findet sich manches zeitgeschichtlich Interessante, zum
Beispiel im Abschnitt Freiheit der Kunst" eine Äußerung Kaiser W i I h e I m s
II. zur modernen Kunst, mit der er deren »Grenzenlosigkeit, Schran
347
kenlosigkeit und Selbstüberhebung" tadelt und die Künstler ermahnt, „... durch
ihre Arbeit das Volk in allen seinen Schichten aus dem Getriebe des alltäglichen
Lebens zu den Höhen der Kunst zu erheben und das den germanischen Stämmen
besonders eigene Schönheitsgefühl und den Sinn für das Edle zu hegen und zu
stärken!" B e e n k e n bemerkt dazu, unter der Flagge eines solchen Programmes
werde aber leicht jede Art patriotischen Kitsches segeln. „Man sah die
Siegesallee und konnte über diese Art künstlerischer Volkserziehung nur
hohnlachen". Jedenfalls seien die vom Kaiser geförderten Kunstinteressen von
denen des „reinkünstlerischen Prinzips", den Repräsentanten der künstlerischen
Moderne auf das schärfste bekämpft worden.
B e e n k e n selbst schien von der Neigung zur Idealisierung der deutschen
Kunst nicht ganz frei zu sein, und der patriotische Zug in seiner geistigen
Haltung äußerte sich am Schluß des Buches in der Erwartung, daß sich "der heute
währende Krieg und die harte Zeit, die ihm folgen wird, als die unerbittlichen
Prüfer der Völker erweisen werde." »Das Bedrohtsein eines Volkes in seiner
ganzen physischen und geistigen Existenz", einer „rings in der Welt von Haß
umbrandeten Gemeinschaft", der „deutschen Nation, die wir vertreten und
vertreten wollen," , werde etwas ganz Neues, ein modernes Front- und
Gefahrbewußtsein" hervorbringen, wie es sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges
1914 nur eben als nein hauch des unbekannten eingefühls" (Stefan G e o r g e)
angekündigt habe. An jedem einzelnen von uns vollziehe sich die Prüfung, "ob das
Bewußtsein dieser Gemeinschaft zur Leistung, zur Tat und zum Opfer herausfordert
und das Volk bis in das Mark hinein umwandeln kann." .. „Eine neue Idee und ein
Glaube, die eben erst kräftigere Wurzeln zu schlagen begonnen hatte, sind -
allzu früh fast, durch diesen Krieg auf die letzte Bewährungsprobe gestellt.."
Dies schrieb der Idealist Hermann B e e n k e n , und es hat ihm nach 1945
sicherlich politisch geschadet. Er wurde zu Unrecht - er war ein viel zu
unpolitisch denkender Gelehrter, als daß er ein „Nazi" hätte sein können - in
die Nähe der NSIdeologie gerückt, und das mag dazu beigetragen haben, daß sein
so bedeutendes Hauptwerk, soweit ich es beurteilen kann, heute kaum noch
beachtet und, wenn überhaupt, nur noch von Wenigen gelesen zu werden scheint.
Gesprochen haben wir darüber nicht. Aber ich empfand es als ein Zeichen des
Versuches, sich von dem kränkenden Verdacht einer intellektuellen
348
Komplizenschaft mit dem Hitlerismus zu befreien, daß er sich nach dem Kriege
ganz auf übernationale, geisteswissenschafltich-philosophische Themen
konzentrierte. Er tat es in drei Abhandlungen: Die Frage nach den
Möglichkeiten", „Zur Begründung der Werte" und „figura cuncta videntis".
In der erstgenannten untersucht B e e n k e n , von Heinrich W ö I f f ! i n s
Wort: „Es ist nicht alles zu allen Zeiten möglich" ausgehend und den Gedanken
Jakob v o n U e x k ü I I s von der Eigenwelt des Tieres, seiner spezifischen
Merkwelt" und seiner spezifischen "Wirkwelt" aufnehmend, die Frage nach der
Strukturverwandschaft zwischen der stilistischen Ordnung in der abendländischen
Kunst, namentlich der Baukunst, und den morphologischen Ordnungsprinzipien der
Tierwelt, zwischen dem historischen und dem biologischen Ordnungsbereich. (Er
hätte auch die Kunstformen in der Pflanzenwelt erwähnen können!). Ohne etwa die
Gefahr unwissenschaftlicher Analogieschlüsse von naturwissenschaftlichen auf
geisteswissenschaftliche Methoden (Oswald S p e n g I e r !) zu verkennen, sieht
er hier eine Möglichkeit, die Welt des Geistes nicht mehr als etwas in sich
Abgesondertes und Absolutes, der Natur grundsätzlich Fremdes gegenüberzustellen,
sondern eine Koordinierung geistigund naturwissenschaftlicher Forschung
anzubahnen. Es gehe um die Frage nach den Möglichkeiten im Dienste einer neuen
Verständigung von Wissenschaft zu Wissenschaft.
Der zweite Aufsatz (,Dem Freunde H.-W. J. mit Dank und Gruß!") behandelt die
alte, aber in einer deutschen geistigen Neubesinnung neu zu stellende Frage nach
den Werten, vor allem nach dem Absolutheitscharakter der „solange in
verhängnisvoller Weise in Frage gestellt gewesenen" ethischen Werte. Auf
gedanklich verzweigten Wegen gelangt B. zu der Auffassung, daß es erst vom
Standpunkte der Metaphysik oder von dem der Religion selber her gestattet sein
mag, Wertelehre und Ethik gleichsam nur als das Vorfeld eines Eigentlicheren und
Wesentlicheren, eines inneren, heiligen Bezirks anzusehen und sich im Grunde
alles doch auf Gott bezogen und" von ihm als der personifizierten (?
Fragezeichen von mir!) Weltvernunft und Weltordnung seine Rechtfertigung
empfangend zu denken". Der Aufsatz schließt mit einem Hinweis auf Max S c h e I
e r s Vorarbeit zur Begründung einer Lehre von den Werten in unserem eigenen
Zeitalter und auf dessen Bezug zu Edmund Husserl, dem »tiefsten und
umfassendsten Denker unserer Epoche" (Martin H e i d e g -
349
g e r s Lehrer). „Auch diese Ausführungen wollten im Sinne H u s s e r I s
phänomenologische sein."
In seiner dritten Nachkriegsarbeit greift Hermann B e e n k e n den Begriff der
"figura cuncta videntis" des N i c o I a u s v o n C u e s in der für die Mönche
von Tegernsee verfaßten Schrift „de visione Dei" auf („Das göttliche Sehen ist
zugleich Gottes Liebe, Güte und Wirken") und entwickelt aus ihm eine eigene
geistesgeschichtliche Phänomenologie des Blickes. N i c o l a u s von C u e s
versucht seinen Begriff an Bildern anschaulich und verständlich zu machen - sie
sind alle nicht erhalten! -, auf denen der gemalte Blick, das Auge eines
Antlitzes (Christi), mit dem Betrachter mitwandert, aber sich zugleich auf alles
Andere richtet. „Gottes Sehen" umschließt, losgelöst von jedem an Raum und Zeit
gebundenen Standpunkt, alle Weisen des Sehens. Es ist nicht nur dem Ganzen,
sondern auch dem Einzelnen zugewendet und damit stets auch Liebe und
Barmherzigkeit. Das Sein der Geschöpfe ist sowohl Gottes Sehen wie sein
Gesehenwerden. Gott (als der Deus absconditus) bleibt selbst aber immer auch
unsichtbar. Er ist jenseits der unersichtlichen Sicht, der "Mauer der
coincidentia oppositorum. An der subtilen Analyse einzelner Bildwerke des frühen
Christentums, der byzantinischen Kunst und der spätmittelalterlichen Malerei
(Jan v o n Eyck , Rogier van der Weyden , Masaccio ) stellt H.B. die „Verdiesseitigung"
der figura cuncta videntis dar: So, wie sie uns in den neuen Bildern begegnet,
nimmt sie Stellung zu uns und unserer Welt . ... Sie ist ein objektives
Gegenüber für uns und erschließt sich als solches dem Menschen der Renaissance
und des Barock durch sein individuelles Stellungnehmen die Welt. In der
zentralperspektivischen Bildprojektion wird sie als sichtbare Welt meßbar,
berechenbar, genau wie später in der Projektion des naturwissenschaftlichen
Experiments auch die physikalische Welt meßbar und berechenbar wurde. „Für die
Menschen unseres eigenen Zeitalters hat die Weit aufgehört, ein objektives
Gegenüber zu sein. Das zentralperspektivische Sehen ist zum Sehen des
photographischen Apparates geworden, nicht mehr Sehen des Menschen. Zu Beginn
des 19. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung der figura cuncta videntis völlig
gewandelt. ,Figurae cunctae videntiu'" sind in Bildern Caspar David Friedrichs
die Rückenfiguren von Landschaftsbetrachtern, die nicht mehr dem Einzelnen und
Individuellen in der Natur zugewandt sind, sondern andachtsvoll dem Allgemeinen
in ihr. Diese Gestalten sind nunmehr Pro
350
jektionen unseres eigenen Ichs in die Welt des Bildes hinein, Vorwegnahmen und
Verkörperungen unseres subjektiven Gefühls." „Die Welt wird nicht mehr objektiv
gespiegelt, sie ist zum subjektiven Erlebnis geworden."
„Geistesgeschichtlich gesehen sind beide (die ideale Projektionsebene des
zentralperspektivischen Sehens wie die Projektionsebene des
naturwissenschaftlichen Experiments) ähnlich wie die Vorstellungen der figura
cuncta videntis zeitgebundene Phänomene der schöpferischen Auseinandersetzung
zwischen Mensch und Welt, die sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende von
Epoche zu Epoche in folgerichtigem Ablauf vollzieht. Diese Phänomene und dieser
Ablauf haben ihre festen Strukturen, die zu erkennen und zu beschreiben unsere
Aufgabe ist, sofern wir die Kunstgeschichte als Spiegelung einer
Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes begreifen wollen."
Hermann B e e n k e n s Gedanken zur „figura cuncta videntis" scheinen sich,
wenn auch nur entfernt, zu berühren mit dem Wort aus Rilkes Archaischer Torso
Apollos". „...denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben
ändern," mit Heideggers Hinweis auf P a r m e n i d e s , der im Menschen das
„vom Seienden angeschaute Wesen sieht" (in: Die Zeit des Weltbildes" in den
„Holzwegen") und mit Goethes : „Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt'
es nie erblicken; Läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns
Göttliches entzücken?"
B e e n k e n hat nach seiner Emigration aus Leipzig als Ordentlicher Professor
der Kunstgeschichte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen
gewirkt. Er ist in seiner Heimatstadt Bremen beigesetzt worden. Antonia und ich
trauern ihm nach.
Mit N i c o l a u s v o n K u e s verbindet mich, ungeachtet seiner
konfessionsgebundenen Anschauungen, die Einheit von Philosophie und Frömmigkeit,
die das Denken und Handeln dieses großen Geistes bestimmt hat.
Oktober 1947: Endlich - nach langem Bangen - Antonias Flucht aus Leipzig in den
Westen! Der Exodus in die Freiheit vollzog sich so abenteuerlich, daß seine
Schilderung immer noch abendfüllend bleibt!
Antonias Flucht aus Leipzig in den Westen
Zunächst mußten die Bücher in Kisten verpackt werden. Das
Zunageln - mit
351
Hilfe Frau Elfriede W i I k e s - hatte möglichst unauffällig zu geschehen, da
die Hammerschläge bei den Nachbarn Verdacht auf Fluchtabsichten erwecken
konnten. Verhandlungen mit Spediteuren waren vorausgegangen. Der Chef meiner
Patientin Frau Gertrud B o n i t z e r , Herr P f e i f f e r (nicht zu
verwechseln mit dem „Waldschrat" Pf.!) half dabei. Gefahr drohte, als Antonia
bei einer amtlichen Stelle Lebensmittelkarten für mich beantragte und meine
Anschrift im Westen angeben sollte. Die Beamtin verschwand, eine neben Antonia
stehende fremde Frau flüsterte ihr zu: „Verschwinden Sie!", was sie auch
umgehend tat. Ihr hätte sonst die schon von den Nazis praktizierte Sippenhaft"
gedroht. Sie telefonierte mit Frau B o n i t z e r , bat vertraulich um
Fluchthilfe. Frau B.: „Ich besorge Ihnen zwei Männer, die Sie für 15 000,- Mark
über die Grenze bringen!" Auf Antonias Frage, wer die Männer seien: „Ganz
zuverlässige Leute. Frühere SS-Männer!" (Seite 342!) Um die 15 000,- Mark zu
beschaffen, mußte Mamchens goldene, mit Brillanten besetzte Uhr und weiterer
Familien schmuck verkauft werden. Eines Morgens erschien ein offener Lastwagen
mit den beiden Gangstern" vor der Störmthalerstraße 5, die Möbel wurden mit
Hilfe einiger abgemagerter Männer, von Antonia mit einem Topf Kartoffelsalat
gestärkt, heruntergetragen, und es ging Ios. Plötzlich: Ein Wagen fährt hinter
ihnen her, überholt sie und hält vor ihnen. Sein Fahrer: „Ein Sessel hat sich
gelöst, schleift hinter ihnen her! Ich wollte Ihnen das nur sagen!" Aufatmen!
Ein Risiko war das Passieren der Grenze zwischen dem früheren Freistaat und der
Provinz Sachsen (bei Halle). Zum Glück keine Kontrolle. Abends Rast in einem
Gasthof, bei der Einfahrt Tor umgerissen. Antonia aufgeregt, Herzklopfen.
Primitive Unterkunft. Nicht geschlafen. Ein Fest wurde gefeiert, Antonia
hinzugebeten, neben einen Pfarrer gesetzt. Am nächsten Tag zu den Eltern eines
der beiden SS Männer. Der Vater betrachtete begehrlich das goldene Armband
Mamchens, das Antonia noch trug. Die SS-Männer baten sie in ein Hinterzimmer und
forderten die 15 000,- Mark. Antonia lehnte ab, gab ihnen die Hälfte und stellte
die ganze Summe bei der Ankunft in Hannover in Aussicht, womit man einverstanden
war. Am nächsten Tag in aller Frühe weiter nach Niedersachswerfen. Barcken,
primitives Gasthaus. Antonia von den SS-Männern alleingelassen, verpflichtet,
mit niemand zu sprechen. Am Nebentisch ein Mann, der ihr seine ganze
Lebensgeschichte erzählte, von seiner Frau verlassen war. Antonia sei
352
die passende Frau für ihn! Antonia bedauerte, sie sei glücklich verheiratet.
Darauf packte er aus einem Behälter einen riesigen Hering aus, schenkte
ihn ihr und blieb traurig zurück. Die beiden "Gangster" kamen wieder, waren
böse, weil Antonia sich nicht an das Sprechverbot gehalten hatte, wollten den
Heringsmann zurückdrängen, der ihr nur noch Gute Reise" wünschen konnte. Es ging
weiter, der Grenze entgegen, vor der man mehrere Stellen abfahren mußte, um die
günstigste Obergangsmöglichkeit zu erkunden. Auf einer Anhöhe ein Russe: Er
richtete sein Gewehr auf sie und gab mehrere Schüsse ab! Wildes Hin- und
Herfahren, um aus der Sichtweite des Russen zu gelangen, rückwärts einen Berg
hinunter, ganz knapp an Häusern vorbei auf einen anderen Weg. Durch einen Wald
auf schmalster Schneise, knackende Zweige, schwankender Wagen, ängstliche
„Gangster", über eine Wiese, die von den Russen einzusehen war, dann vor ihnen
zwei Grenzstangen, über die erste, sie durchbrechend, hinweg, die zweite
hochgehoben - auf englischer Seite in Freiheit! Antonia war übel geworden, mußte
erbrechen (in den Hut eines der "Gangster"!). Ein englischer Militärwagen
stoppte sie, verlangte Papiere, Antonia wurde von Taschenlampe angeleuchtet.
Angst! Engländer aber: "O.K.!" Erklärung des Vorfalls: Die „Gangster" wollten am
nächsten Tage eine englische Spionin über die Grenze bringen, deren Papiere sie
besorgt hatten. Antonia wurde für diese Spionin gehalten! Gegen 12 Uhr nachts
Ankunft in Hannover auf dem Hof der Spedition Walterstein. Antonia völlig allein
mit den ausgeladenen Möbeln. Kalte Nacht, drei Mäntel. Eine ganze Flasche Kognak
ausgetrunken, um sich zu wärmen, auf einem Sofa sitzend. Keine Spur betrunken.
Am Morgen erscheinen Arbeiter und Herr Walterstein. Koffer mit allen Kleidern
ist gestohlen worden. Macht fast nichts. Hauptsache: Antonia ist da! Noch am
selben Tage liegen wir uns in den Armen!
Zeitgeschichtlich anmerkenswerter Rückblick auf Antonias abenteuerliche
„Schweinefahrt" 1944: Opi H e I I w i c h , aus der Tilsiter Niederung nach
Sachsen geflüchtet, hatte als Kenner der Landwirtschaft erklärt: "Kinderchen,
auf diesem mageren Boden verhungert Ihr!" Also wurde beschlossen, ein Schwein zu
„organisieren". Das konnte nur in der heimatlichen Niederung geschehen. Also
zurück nach Skaisgirren, solange Ostpreußen noch nicht verloren ist! Am 4.
Dezember 1944 fuhren Opi und Antonia zum letzten Mal nach Skaisgirren zurück.
Dort war schon der Kanonendonner der nahegerückten so
353
wjetischen Armee zu hören. Antonias Elternhaus war vom z. Stab einer deutschen
Division besetzt. Ein Offizier trug gerade eine Biedermeier-Uhr unter dem Arm
mit der Bemerkung zu Antonia: „Die können Sie ja doch nicht mehr retten!"
Antonia nahm sie ihm weg mit den Worten: „Ich werde sie doch retten!" (Später
mußte sie allerdings gegen Lebensmittel verkauft werden!) Übernachten mußte man
auf unbezogenen Betten im gegenüberliegenden Hotel Krause. Das Schwein sollte
von einem Kleinbauern namens E rz b e rg e r beschafft werden. Er war Kommunist
und hoffte daher, von den Russen verschont zu bleiben, täuschte sich aber und
wurde von ihnen erschossen. Für das Schwein verlangte er einen horrenden Preis,
da Verkauf und Schlachtung von der Wehrmacht streng verboten waren. Da Opi
gerade nicht aufzufinden war und alles schnell gehen mußte, fuhr Antonia - bei
strömendem Regen - mit Erzberger mit, um das Schwein zu holen, und zwar wegen
der Geheimhaltung in tiefer Dunkelheit. Antonia, "naß wie eine Katze", aber von
einem Bisampelz erwärmt, saß auf einem glitschig-nassen Brett des Wagens und
rutschte auf den holperigen, verschlammten Wegen hin und her. Der
Schweinebeschaffer wurde zudringlich, legte seinen Arm um ihren Hals und
versuchte, in den Busen zu greifen. Antonia verbat sich das, aber „Herr"
Erzberger meinte, er sei doch ein Mann und müßte eine solche Situation
ausnutzen! Als er dies erneut versuchte, drohte Antonia, sie werde ihrem Vater
berichten, was er sich erlaubt habe. Erzberger: „Dann fahre ich alleine weiter!"
Antonia stieg vom Wagen, fiel in einen Graben und torkelte in der Dunkelheit
umher, ohne zu wissen, wo sie war. Zwei deutsche Soldaten leuchteten sie mit der
Taschenlampe an und fragten, woher sie komme und wohin sie wolle, brachten sie
zu ihrem Vater, der inzwischen eingetroffen war und denn Schweinekerl" zu
erschießen drohte. Antonia riet davon ab, weil das Schwein wichtiger sei als ein
toter Erzberger. Opi sah das ein, eilte zu Erzberger, und das Schwein wurde
streng geheim - geschlachtet, in Stücke geschnitten, dick mit Salz bestreut, auf
ein Pferdefuhrwerk geladen und nach Labiau zur Bahn gebracht.
Aber es dauerte runde vier Monate, bis es - sehnlichst erwartet -, im
Güterwaggon gefroren, dann aber aufgetaut, in Großweitzschen eintraf. Frau
Elfriede Wilke , unsere kartenlegende "Pythia", hatte schon prophezeit: "Das
Schwein ist in Eurer Nähe!" Der Bahnhofsvorsteher des Bestimmungsortes fragte
unseren Opi, ob die eingetroffene Kiste vielleicht Leichenteile enthielte. Denn
aus ihr
354
lief die konservierende Salzlake heraus! Das Schwein wurde von Omi sachgerecht
zerlegt, von den Eltern, Vera, den Kindern und uns nach und nach aufgegessen und
hat uns Allen das Leben gerettet! Es war zum Glücksschwein geworden!
Nun waren wir im Westen Deutschlands angelangt, aber die Zukunft lag noch dunkel
vor uns, schwach erhellt durch die Aussicht auf eine neue Existenz in llten. Wir
hausten als Flüchtlinge in Connors Billerbecker schönem Mietshaus ,Auf dem Berge
1" - mit dessen egoistischem Inhaber Adalbert großen Ärger hatte -, schliefen zu
Sechst (mit Adalberts Schwester Lottchen, der Pianistin und Klavierlehrerin) auf
engem Raume, Antonia auf einer zusammenbrechenden Chaiselongue, ich auf einer zu
ebener Erde liegenden Matratze, und wurden von den Connoren liebevoll betreut.
Ilten schien wegen der gegen mich eingefädelten Intrigen in weiter Ferne zu
liegen, wir hatten keine Wohnung und - kein Geld. Antonia wünschte sich nur ein
kleines, bescheidenes Dachkämmerchen, eine Behausung, in der wir unbehauste
Menschen uns allein und geborgen fühlen konnten. Trost und Ermutigung suchten
wir bei Rilke und Hölderlin: Aus den „Briefen an einen jungen Dichter":
„Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf
waren, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im
tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will..." Mit den „Drachen" und
dem „Schrecklichen" konnte auch das Ungewisse der Zukunft, das „Geworfensein" in
eine ungesicherte Existenz gemeint sein, dachte ich damals. Und immer wieder
dachte ich dem tiefen Bildgedanken H ö I d e r I i n s nach: „Des Lebens Woge
schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn ihr der alte, stumme Fels,
das Schicksal, nicht entgegenstände!"
Intermezzo Hamburg 1947 - 48
Zunächst mußte ich noch um meine „Entnazifizierung"
(entsetzliches Wort!) kämpfen. Sie war die Voraussetzung für eine Anstellung in
HamburgLangenhorn, mit der ich, dem Angebot Professor M a u z' folgend, die
Wartezeit bis zur Obernahme Iltens zu überbrücken hoffte. (Seite 334!) Das war
schwierig, da ich zunächst nur in die Gruppe 4 eingestuft wurde, obwohl mehrere,
zum Teil eidesstattliche Erklärungen meine Gegnerschaft zum NS-System
355
bekundet hatten. (Da sie zeitgeschichtlich interessante Dokumente bilden, seien
sie hier als Photokopien eingefügt). Erst am 1. Februar 1949 wurde meiner
Berufung gegen den „Einreihungsbescheid" der Militärregierung vom 22.11.1947
stattgegeben und meine politische Entlastung mit der Einstufung in die
„Kategorie V" vom Berufungsausschuß in Celle beschlossen. Vorsitzender dieses
Ausschusses war der frühere Regierungspräsident von Lüneburg, Herr von L e n t h
e , ein vornehmer Mann, dem ich mich durch Vermittlung eines Herrn N a t h ,
Treuhänders der britischen Militärregierung, persönlich vorgestellt hatte. Es
bedurfte weiterer Vermittlungen, die ich u.a. einem Assessor E v e rtz in
Nottuln/Westfalen und Evchen M o m m s e n verdanke, um an ein Mitglied der
Hamburger Bürgerschaft und den Gesundheitssenator, Herrn S c h m e d e m a n n ,
einen ehemaligen Eppendorfer Krankenpfleger, heranzukommen und schließlich zu
erreichen, daß ich als „hospitierender Arzt" an der psychiatrischen Abteilung
des Hamburger Allgemeinen Krankenhauses Langenhorn tätig sein durfte. Ende
Februar 1948 kam ein Telegramm aus Hamburg an: „Anstellung und Unterkunft
geregelt. Erwarte Sie so bald wie möglich. M a u z." Es war soweit. Am 1. März
zog ich mit Antonia von Billerbeck nach Hamburg. Uns wurde in Zimmerchen mit
Balkon innerhalb des Anstaltskomplexes zugewiesen, und ich arbeitete ohne
Gehalt, für „freie Station" mit der Möglichkeit, ein paar Mark durch Gutachten
zu verdienen. Aber ich war glücklich und dankbar, in M a u z einen menschlich
schätzens- und liebenswerten, klinisch und wissenschaftlich hervorragenden
„Chef` und mit der Übernahme einer etwa 150 Betten großen, neu aufzubauenden
Frauenabteilung ein selbständiges und interessantes Arbeitsfeld gefunden zu
haben.
Wir nahmen es daher in Kauf, in dürftigen Verhältnissen leben zu müssen, zumal
wir hoffen durften, in absehbarer Zeit - trotz aller Hemmnisse - in Ilten eine
gesicherte Existenz zu finden. Bei der Währungsreform am 20. Juni 1948 erhielt
Jeder ein „Kopfgeld" von 40,- neuer D-Mark, aber die waren rasch verbraucht, und
wir hatten keinerlei Reserven. Bevor einige Gutachteneinnahmen „kleckerten",
besaßen wir kein Geld, um das Porto für Briefe bezahlen zu können! Die
Anstaltsverpflegung war äußerst dürftig, sie bestand aus Haferflockensuppe am
Tage und einem Stück stinkenden Käse zum Abendbrot. Als Antonia die
Fleischmarken, die uns zustanden, einlösen wollte, erklärte ihr der zuständige
Verwaltungsbeamte, die Fleischrationen seien leider nur für die Familien der
356
Senatoren bestimmt. Er würde sich strafbar machen, wenn er
Fleischportionen an Andere abgeben lassen würde. Er müßte dann sogar damit
rechnen, daß er seine Stelle verliert! Das wollte Antonia natürlich nicht, und
wir verzichteten auf die Fleischration. Da unser Zimmerchen nicht mit Blumen
geschmückt war, wollte Antonia aus der Anstaltsgärtnerei ein
Alpenveilchentöpfchen kaufen. Auch hier bedauerte man, erklären zu müssen, daß
die Ausgabe von Blumen ausschließlich an Senatsbeamte erfolgen dürfe, und der
Anstaltsgärtner bat Antonia eindringlich, auf die Blumen zu verzichten, weil er
sonst seine Stelle verlieren würde. Auch das wollte sie nicht, und unser Zimmer
blieb blumenlos. Als Trost erwies sich indes die Hilfsbereitschaft des in
unserer Nähe wohnenden Corpsbruder-Ehepaars Peter und Fränze O r I o w s k i .
Eines Morgens, als wir bei trockenem Brot und Bliemchenkaffee frühstückten und
feststellten, daß es uns eigentlich noch nie so kümmerlich gegangen sei, klopfte
es an der Tür und Hannchen, Orlowskis Tochter, überbrachte uns einen großen
Brathering! Vater Peter hatte auf den Feldern um Hamburg Kartoffeln „geklaut"
und unseren Kalorienbedarf mit ihnen wenigstens partiell gestillt. Wir werden
ihnen das nie vergessen! Inzwischen waren Antonias Schuhsohlen so durchgetreten,
daß sie stellenweise auf den Strümpfen laufen mußte. Ein Patient mit Beziehungen
zum Schuhgeschäft erbot sich, uns preiswerte Schuhe zu besorgen. Wir konnten von
dem Angebot keinen Gebrauch machen, weil uns das Geld fehlte!
„Reich ist man nicht durch das was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was
man mit Würde zu entbehren weiß!"
Die Wahrheit dieses Kant -Wortes galt auch für uns, wenngleich der Begriff
„Würde" etwas zu hoch gegriffen erscheinen mag. Es war ganz einfach die
Notwendigkeit des Verzichtes, die sich aus der damaligen Situation ergab.
Antonia hat sich hier vorbildlich bewährt. Ohne ein Wort der Klage hat sie die
äußere Einschränkung unseres damaligen Lebens hingenommen. Erst drei Jahre,
nachdem ich Ilten übernommen hatte, konnte sie sich ein neues Kleid kaufen. Wir
lebten von einem Bruttogehalt von 1000,- DM und mußten davon die Eltern Hellwich,
meinen Patensohn Gerhard R i e d e i und drei verarmte Corpsbrüder unterstützen.
Wer weiß heute in unserer Wohlstandsverwöhnungs-Gesellschaft noch etwas vom Gebot
und der „Tugend" des Verzichts? Wenn wir an unsere Hamburger Zeit zurückdenken,
erscheint sie uns sogar als eine glückliche. So arm wir waren, so dankbar sind
wir für das, was sie uns an Berei
357
cherungen gegeben hat. Wie schön war es, wenn wir im Sommer 1948 auf unserem
geräumigen Balkon unter freiem Himmel schliefen, über uns als Mückenschutz
Antonias Brautschleier, den sie seltsamer Weise .gerettet hatte. Oder ein Abend,
zu dem wir 13 Gäste eingeladen hatten, darunter einen Kunsthistoriker, der
gerade über P i c a s s o arbeitete, und andere interessante Leute, mit denen
es, auf engem Raum zusammengepfercht, zu höchst lebendigen Gesprächen mit viel
Munterkeit kam. Jeder mußte etwas zum Essen mitbringen, und Antonia bereitete
uns auf einer Kochplatte unter dem einzigen Fenster unseres Zimmers einen
köstlichen Eierkuchen! Eiweiß war gut gegen meine noch eindrückbaren Leipziger
Hungerödeme an den Füßen!
Zu den positiven Seiten der Langenhorner Zeit gehörte neben der ebenso
anregenden wie harmonischen Zusammenarbeit mit M a u z und den für mich als
klinisch orientierten Universitätspsychiater neuen und wichtigen Erfahrungen in
der Anstaltspsychiatrie auch die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit. Ich
schloß die schon im Hirnverletztenlazarett Berlin-Reinickendorf begonnene Arbeit
über das Kausalitätsproblem bei traumatischen Hirnschädigungen mit
psychisch-reaktiven Manifestationen ab. Da ich nun mehr Zeit hatte, überfrachtete
ich den Text mit etwas zu verfeinerten Begriffsanalysen, so daß er nicht ganz
leicht zu lesen war. Er wurde dann in der Festschrift zu K r e t s c h m e r s
60. Geburtstag veröffentlicht. Außerdem beschäftigte ich mich mit
experimentellen Untersuchungen zur Differentialdiagnostik bestimmter
psychopathologischer (depressiver, schizophrener, neurotischer) Phänomene mit
Hilfe der (für den Patienten unschädlichen) intravenösen Injektion eines
Weckamin-Präparates (Pervitin) und entwickelte damit die von mir so genannte
„Weck-Analyse". Ungefähr zur gleichen Zeit war von anderen Autoren die „Narkoanalyse"
erfunden worden, die dem Zweck dienen sollte, mit einem Barbitursäurederivat,
also einem Schlafmittel, ebenfalls intravenös injiziert, eine Trübung oder
Einengung des Bewußtseins herbeizuführen, durch die ins „Unbewußte" verdrängte
oder auch vergessene Erlebnisse und Konfliktstoffe hervorgeholt und sowohl
diagnostisch wie psychotherapeutisch verfügbar gemacht werden konnten. Diese
auch unter der laienhaften Bezeichnung „Wahrheitsserum" bekannt gewordene, auch
zu kriminalistischen Zwecken angewandte Methode erfreute sich damals einer
geradezu sensationellen Aktualität. Sie war von Anfang an umstritten und ist
bald wieder verlassen worden. Bei meinen Weckaminversuchen kam es im
358
Unterschied zur Narkoanalyse nicht zur Trübung, sondern zur Aufhellung, nicht
zur Einengung, sondern zur Erweiterung des Bewußtseins, so daß der Patient nicht
„umdämmert", sondern völlig klar und wach das verbalisieren konnte, was ihm
zuvor aus welchen Gründen auch immer - nicht präsent gewesen war. Die Ergebnisse
dieser Untersuchungen habe ich in der Zeitschrift „Nervenarzt" 1949 als Beitrag
zur Festschrift für Professor Cr e u t z f e I d , Ordinarius der Psychiatrie in
Kiel, zusammengestellt und veröffentlicht. Meinen Weckanalyse" hat auch ihren
Platz in dem Wörterbuch der Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete" von H a r i n g
und L e i c h e r t , F. H. Schattauer Verlag, Stuttgart-New York, 1968
gefunden. Aber auch ihr war, soweit ich weiß, keine lange Lebenszeit beschieden.
Über meine Versuche habe ich in einem Vortrag „Zur diagnostischen Verwertbarkeit
der Weckaminwirkung in der Psychopathologie" bei dem Psychiaterkongreß in
Marburg, September 1948 ' berichtet. Bürger-Prinz und M a u z hatten inzwischen
Erfahrungen mit der Narkoanalyse gesammelt und publiziert. Da M a u z für seine
klinischen Beobachtungen immer eine besonders anschaulich-lebendige, zuweilen
leicht blumig getönte sprachliche Ausdrucksform zu finden wußte, hörte ich auf
dem Marburger Kongreß, daß man ihn, spöttelnd und unzutreffend, den „Narkoanalyriker"
nannte. Damit tat man ihm Unrecht, und es fiel mir nicht schwer, für ihn
einzutreten, weil ich wußte, daß hinter seinem leicht eingängigen Sprach- und
Schreibstil ein feines Gespür, ein "biegsames" Einfühlungsvermögen für das
Innere seiner Patienten stand und mit klarer begrifflicher Präzision verbunden
war. Dabei schwang auch sein ausgeprägter „Eros therapeutikos" mit, der meiner
eigenen Neigung entsprach und mich mehr, als es der kühlere B o s t r o e m
vermocht hätte, für die „Kunst" dessen öffnete, was er schlicht „das ärztliche
Gespräch" nannte. Ein kleines Beispiel hierfür war seine Gewohnheit, die damals
übliche Behandlung der Depressionen und Schizophrenien mit Elektrokrämpfen
(fälschlich „Elektroschocks") zu behandeln, abschwächend als „Durchblutungen"
(mit elektrischen Stromstößen) zu bezeichnen. Er hoffte damit offenbar dem
Patienten die Angst vor dem sehr harten Eingriff in Funktionen und Strukturen
des Gehirns wenigstens verbaliter zu nehmen. Des zarteren M a u z robusterer
Antipode Bürger-Prinz bespöttelte diese Beschönigung und meinte, man
dürfe dem Patienten nichts vormachen und müsse ihm offen sagen, daß es sich um
eine zwar
359
therapeutisch wirksame, aber harte und nicht ganz risikolose Maßnahme handele.
Ich selbst habe - allerdings nur vereinzelt - Knochenbrüche, einmal auch den
Bruch eines Brustwirbelkörpers durch die elektrisch ausgelöste starke
Muskelverkrampfung bei einem Patienten erlebt. Später ließ sich diese Gefahr
durch vorher injizierte muskelrelaxierende Mittel vermeiden. Aber nicht zu
vermeiden waren partielle Gedächtnisausfälle durch die Stromschläge. Mit der
Einführung der antidepressiv oder antipsychotisch wirkenden „Psychopharmaka" ist
die Elektrokrampfbehandlung mit Ausnahme besonders schwerer, therapieresistenter
Psychosen überflüssig geworden. Ich habe sie schon seit den fünfziger Jahren
nicht wieder angewandt.
Ilten
Am 1. Oktober 1948 zogen wir in Ilten ein. Uns wurde eine
Wohnung in dem alten Amtshaus zugewiesen, die wir auch bei bescheidenen
Ansprüchen als unzumutbar empfinden mußten: Nicht renovierte, ungemütlich hohe
Zimmer, primitiver Baderaum, keinerlei Nebengelaß, kein Balkon, kein Gärtchen
usw. Dies alles als Kontrast zu den komfortablen Einzelhäusern, in denen die
Kommanditisten innerhalb des großen, schönen, von dem dendrologisch kundigen
Gründer, dem Geheimen Sanitätsrat Dr. med. Ferdinand Wahrendorff geschaffenen
Parkgeländes wohnten. Keine der in Ilten und dem Außenbereich der Anstalten
lebenden Wahrendorff -Enkeltöchter, Frau Marlise Starke , Frau Maria Chreutzmann
, Frau Erika Cornelsen und Frau Ingrid C o r n e I s e n war vom Bombenkrieg und
vom Flüchtlingsschicksal betroffen. Alle hatten ihren Besitz behalten und waren
wirtschaftlich in vorzüglicher Assiette. Es war daher auch nicht zu erwarten,
daß sie besonderes Verständnis für Menschen aufzubringen vermochten, die ihre
Heimat, ihre Wohnung, ihren Besitz verloren hatten. Ich hätte als Chefarzt die
mir zustehende Wohnung in dem sogenannten „Professor-Haus" beanspruchen können.
Ich tat es nicht, weil dann mein Vorgänger, Professor W i I I i g e , seine
Wohnung hätte räumen müssen. Wie wir später von der Witwe des engsten
Mitarbeiters des Gründers, Geheimrat Dr. med. H e s s e , erfuhren, hatte W i I
I i g e , als er die ärztliche Leitung von Ilten übernahm, verlangt und
durchgesetzt, daß H e s s e s ihre Wohnung räumen mußten, damit er sie
übernehmen konnte.
360
Ich wollte meine Beziehungen zu Willige nicht von vornherein belasten, indem ich
mich der gleichen Praxis bediente. Bei aller Dankbarkeit für das Glück, nicht
mehr als Asylanten leben zu müssen, baten wir um eine Wohnung in den
leerstehenden Zimmern der Privat-Abteilung der Klinik. Sie wurde uns gewährt, da
sich nur noch zwei Privatpatienten dort befunden hatten. Bevor die neue Wohnung
bezogen werden konnte, logierten wir in zwei Krankenzimmern und ließen uns von
Martchen N e u m a n n , einer aus Berlin stammenden und daher mit Humor und
Schlagfertigkeit ausgestatteten Schizophrenie-Patientin, betreuen. Sie hatte
zuvor im Hause meines Vorgängers geholfen und soll mit der autoritären Art
seiner Frau, der „Königin-Mutter" von Ilten, nicht recht einverstanden gewesen
sein. Sie machte bei uns zunächst nur probeweise die einander gegenüberstehenden
- Betten. Antonia trug damals zwei goldene Haarnadeln, die sie morgens immer
wieder suchen mußte. Eines Tages sagte sie zu Martchen, die Haarnadeln hätten in
ihrem Bett gelegen haben müssen, worauf Martchen erwiderte: „Nee, ick habe sie
im Bett Ihres Mannes gefunden! Ick weeß, wie schön es beim Mann ist!" Darauf
meinten wir Beide: „Die ist richtig, die behalten wir!" Und so blieb es fast
dreißig Jahre lang, bis kurz vor ihrem Tode, vor dem sie, verwirrt und zeitlich
desorientiert, noch aus Bissendorf in die Iltener Klinik gebracht werden mußte.
Wir trauern ihr heute noch nach. Ihre Aussprüche, eine höchst originelle
Mischung von trockenem Berliner Humor, treffsicherer Menschenkenntnis und
schizophrener Skurrilität, habe ich in einem "Roten Buch" zusammengestellt und
zu ihrer eigenen Freude unseren Gästen, meinen ehemaligen Mitarbeitern, zum
Abschied von llten vorgetragen. Martchen, nicht ich, sollte im Mittelpunkt
dieses Abschiedsfestes stehen, und sie war es, die am lautesten über ihre
eigenen Geschichten lachte. Man darf nie über einen psychisch Kranken, aber soll
so oft wie möglich mit ihm lachen! Es war gewiß im Sinne Martchens, daß ich nach
der Trauerfeier an ihrem Grabe bei der Kaffeetafel in unserem Bissendorfer Hause
einige Auszüge aus dem „Roten Buch" vorlas - alle Trauergäste, auch die Pastorin
F u c h s , haben herzlich gelacht, und Martchen hätte es sicherlich auch getan!
Sie war unser „Familienpflegling" geworden, dem später der Ostpreuße L e s s i n
g und bis 1996 die Ermländerin, aus dem Kreise Braunsberg stammende Annchen S c
h a c h t und der Harburger Paulchen G o y folgten. Martchen und Lessing hatten
noch zu den inzwischen ausgestorbenen
361
„Originalen" psychiatrischer Anstalten gehört. Der zeitgemäße Zug zur
konformistischen Einebnung individueller Eigenarten und die
persönlichkeitsnivellierende Wirkung der modernen Pharmakotherapie psychischer
Krankheiten haben den alten „Originalen" den profilierenden Nährboden entzogen.
Auch den kauzigen, versponnenen, von seinen Patienten „nur durch den Besitz des
Schlüssels" unterscheidbaren Typus des Psychiaters gibt es heute nicht mehr. Ich
selbst habe bekennen müssen, daß ich mich von dem Ideal der äußeren Erscheinung
eines "Irrenarztes" entfernt habe, das von dem einstmals berühmten Psychiater J.
Ch. A. H e i n rot h (1773-1843) folgendermaßen beschrieben wurde: "Seine Rede
sei kurz, bündig und lichtvoll. Die Gestalt des Körpers komme der Seel zu Hülfe
und flöße Furcht und Ehrfurcht ein. Er sei groß, stark, muskulös, der Gang
majestätisch, die Miene fest, die Stimme donnernd!" Für diesen frühen Wortführer
einer moralistisch-theologisierenden „romantischen Psychiatrie" - als Dichter
nannte er sich „Treumund Wellenreiter"! - war die Geisteskrankheit - und das
erklärt seine strengen Forderungen - eine durch Sünde hervorgerufene „Unfreiheit
der Seele", die durch Abschreckung oder auch Gewalt rückgängig gemacht werden
müsse!
Die Iltener psychiatrische Familienpflege war von Dr. Ferdinand Wahrendorff als
neue Form einer sozialtherapeutischen Versorgung psychisch Kranker und geistig
Behinderter außerhalb der Anstalt aufgebaut und zu einer mustergültigen
Einrichtung entwickelt worden. Er vertrat von Anfang an das Prinzip einer so
weitgehend wie möglich freien Behandlung der Kranken, wie sie zuvor schon die
englischen Psychiater Gardner Hill (1829), John C o n o I I y (1847), der
Deutsche Christian Roller (1861) und mit besonderem Nachdruck und genauer
organisatorischer Gliederung auch der genial vorausschauende Leiter des „Irren-Asyls"
der Berliner Charité, Wilhelm G r i e s i n g e r (1867) gefordert hatten. G r i
e s i n g e r - als Verfasser des Lehrbuches „Die Pathologie und Therapie der
psychischen Krankheiten" (1845) und wissenschaftlicher Begründer der Theorie,
seelische Krankheiten seien Gehirnkrankheiten, der Wegbereiter der modernen
Psychiatrie - fügte dem Erfahrungssatz Rollers, viele„ Irre" könnten viel
mehr Freiheit ertragen als man gewöhnlich annimmt, die Worte hinzu: „... Können
sie sie aber ertragen, so müssen sie sie haben!" Auch „die prachtvollste und
bestgeleitete Anstalt der Welt" könne den Kranken niemals das ersetzen, was die
„familiäre Verpflegung" ihnen gewähre,
362
nämlich „die volle Existenz unter Gesunden, die Rückkehr aus einem künstlichen
und monotonen in ein natürliches soziales Medium, die Wohltat des
Familienlebens."
Wahrendorff hat wahrscheinlich einen Vortrag G r i e s i n g e r s im Jahre 1865
bei einer Sitzung der Psychiatrischen Sektion der Versammlung deutscher
Naturforscher und Ärzte in Hannover gehört und mag durch dessen kühne
Reformvorschläge auf den Gedanken der Familienpflege gelenkt oder in ihm
bestärkt worden sein. Eine bescheidene private Familienpflege hatte es bereits
seit 1921 in dem Dorfe Ellen bei Rockwinkel in der Nähe Bremens gegeben. Aber
erst Wahrendorff ist als der eigentliche Vater der Familienpflege in
Deutschland" in die Geschichte der Psychiatrie eingegangen. Er hat die schon von
dem großen französischen Psychiatriereformer Philippe P i n e I (1745 - 1826)
gerühmte „Urzelle der Familienpflege" in dem Belgischen Dorfe Gheel besucht,
dabei aber auch die Schattenseiten dieses „Paradieses der Wahnsinnigen" erkannt:
Sie bestanden in dem Weiterleben des dämonologischen Kultes zu Ehren der um das
Jahr 600 n. Chr. vor den Inzestversuchen ihres heidnischen Vaters nach Gheel
geflüchteten irischen Königstochter Dymphna, der Schutzheiligen der
Wahnsinnigen. Da sie den teuflischen Gelüsten ihres Vaters widerstanden hatte
und dafür enthauptet wurde, galt sie als Märtyrerin. Ihr zu Ehren sind noch 1874
Exorzismen "in optima forma" ausgeübt worden. 1861 hatte der Hildesheimer
Anstaltsdirektor Geheimrat S n e I I , dem Wahrendorff die Erweiterung seiner
psychiatrischen Kenntnisse verdankte, in Gheel vier Patienten gesehen, die in
der mit Eisenring, Ledergürtel und anderen Fesselungsvorrichtungen versehenen „Zeken-
oder Ghekenkammer" der „Neuvaine", einer neuntägigen Teufelsaustreibung,
unterzogen wurden. Erst 1883 konnte unter einem neuen Chefarzt, Dr. P e e t e r
s , mit den alten Mißständen aufgeräumt und eine gründliche Reform des
ärztlichen Dienstes in Gheel erreicht werden. Die ersten Schritte zu einer
Befreiung psychisch Kranker von den bisher üblichen inhumanen Zwangsmaßnahmen
sind auch nicht dem Einfluß der christlichen Kirchen, sondern dem der
Französischen Revolution zu verdanken. Philippe P i n e I war es, der im Jahre
1795 im Pariser Hospital Bicêtre und in der Salpetrière den Kranken die Ketten
abnahm. Man hatte ihn gewarnt, dies zu tun, weil der erste Kranke, den er
befreien wollte, ein englischer Hauptmann, der seit 40 Jahren angekettet war,
als „der fürchterlichste
363
aller Irren" betrachtet wurde und einem der Pfleger mit einem Schlag seiner
Handschellen einen tötlichen Schlag auf den Kopf versetzt hatte. P i n e I
näherte sich ihm, ermahnte ihn, vernünftig zu sein und niemandem Böses zu tun.
Er versprach ihm dafür, ihn von seinen Ketten zu befreien und ihm einen
Spaziergang im Hof zu gestatten. Der Hauptmann hört die Worte ruhig an, während
seine Ketten fallen. Kaum ist er frei, stürzt er an die Sonne und schreit in
Ekstase: „Wie schön das ist!" Er hat niemand mehr etwas zu Leide getan!
Zwar hatten auch der englische Quäker William T u k e 1796 in York ein
kettenfreies, ländliches Privatasyl („Retreat") gegründet und der Italiener
Vincenzo C h i a r u g i (1759 1820) im Hospital San Bonifacio in Florenz haus
wissenschaftlich-mutiger Geisteshaltung" die Abschaffung unnötiger Quälereien
erreicht. Aber dies waren Fortschritte aus privater, nicht kirchlicher
Initiative.
Zurück - oder vielmehr voran - zu Ilten: Auch in Ferdinand Wahrend o rf f war,
völlig selbständig, ein, wie er schreibt, „unbewußter, mächtiger, fast
magnetischer Zug" gereift, dem sein „Lieblingswunsch" entsprang, das ihm immer
vorschwebende Ideal freiester Irrenbehandlung selbsttätig zu verwirklichen" und
ein „Asyl" für psychisch Kranke in Ilten bei Hannover zu gründen. Nach seinem
Medizinstudium in Göttingen hatte er sich in Ilten als Praktischer Arzt
niedergelassen und sich autodidaktisch in einer fünfmonatigen Hospitantenzeit an
der damals modernen Anstalt in Prag unter einem Privatdozenten Dr. F i s c h e I
und einem Studienaufenthalt an der dortigen und der Wiener Hochschule die
nötigsten psychiatrischen Kenntnisse angeeignet. Erst 1866 wurde an der
Landesuniversität Göttingen ein Lehrstuhl für Psychiatrie - einer der ersten in
Deutschland! - unter Professor Ludwig M e y e r eingerichtet (dem Vater meines
ersten psychiatrischen Lehrers Ernst Meyer in Königsberg). Ludwig Meyer hatte
bereits 1862 im Krankenhaus Hamburg St. Georg alle Zwangsmittel abgeschafft, was
Wahrendorff zu seinem Wagnis, in Ilten ein „no-restraint"- System zu
realisieren, ermutigt haben mag. Am 24. Juni 1862 nahm er den ersten Patienten,
einen geistig hilfsbedürftig gewordenen ehemaligen Hannöverschen Offizier, in
seine Privatwohnung im Iltener Amthause auf. Nachdem sich allerdings gezeigt
hatte, daß „ein harmonisches oder auch nur erträgliches Zusammenleben mit
mehreren Geisteskranken in der Familie" ohne Verbindung mit einer „noch so
kleinen Anstalt ... zu den Unmöglichkeiten gehört", erbaute Wahrendorff 1864 ein
eigenes Anstaltsgebäude, dem
364
weitere Neu- und Ausbauten folgten. In diesem Hause wohnten wir bis 1962, und
hier hatte ich mein Dienstzimmer, das Vorzimmer für die Sekretärin und das
Wartezimmer für die Privatpatienten.
Nach dem Tode Ferdinand Wahrendorffs 1898 übernahm sein Sohn Rudolf Dr. med.,
später Sanitätsrat, eine vielfältig gegliederte, räumlich weit ausgedehnte,
arbeitstherapeutisch mit einem großen Landwirtschaftsbetrieb, mit Werkstätten,
Gärtnereien usw. gut durchorganisierte Anstalt mit 635 Kranken und einem
Personalbestand von 145 Mitarbeitern. In der Iltener Familienpflege lebten und
arbeiteten seit ihren Anfängen im Jahre 1880 inzwischen 134 männliche Kranke,
wie der Gründer in seinem zweiten Anstaltsbericht 1895 mitteilt. Sie hätten
darin „eine neue Heimat gefunden, die sie der früheren Pflege in der
geschlossenen Anstalt bei weitem vorgezogen haben". Außer nur wenigen
unumgänglichen geschlossenen Abteilungen gab und gibt es in Ilten-Köthenwald
keine restriktiven Einrichtungen, keine Mauern, keine Gitter vor den Fenstern,
keine „Gummizellen" (die ich während meiner gesamten psychiatrischen Tätigkeit
nirgends gesehen habe und nur vom Hörensagen kenne).
Inzwischen ist die Iltener Familienpflege leider bis auf wenige Patienten,
darunter unsere Annchen und Paulchen, geschrumpft, und zwar durch die wesentlich
kürzer gewordene Verweildauer der Patienten, durch die Rationalisierung der
Landwirtschaft und die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung, psychisch Kranke
oder geistig Behinderte in die eigene Familie aufzunehmen. Dafür sind andere,
neue Formen der sozialtherapeutischen Versorgung außerhalb des Anstaltsgeländes
geschaffen worden: "Komplementäre Einrichtungen", Wohngemeinschaften,
beschützende Werkstätten, tages- und nachtklinische Möglichkeiten mit arbeits-
und beschäftigungstherapeutischen Maßnahmen und dem Ziel der beruflichen und
sozialen Rehabilitation. Über die weitere Entwicklung der Wahrendorffschen
Krankenanstalten - sie nennen sich heute „Kliniken" habe ich in einer Abhandlung
„Hundert Jahre Ilten - Hundert Jahre Psychiatrie" (Würzburger medizinhistorische
Mitteilungen, Band 2, 1984, S. 147-203) berichtet. Der zum hundertsten Jahrestag
der Gründung der Wahrendorffschen Anstalten am 24. Juni 1962 vorgetragene, bis
zum Jahre 1984 erweiterte Text bildet zugleich einen Beitrag zur Geschichte der
Psychiatrie seit ihrem ersten Aufschwung zu einem erfahrungswissenschaftlich
begründeten Bereiche der Heilkunde.
365
Das persönliche Lebenswerk Ferdinand Wahrendorffs gehört zu den großen
Pionierleistungen der „Gründerjahre". Es verdankt seine Bedeutung der
glücklichen, damals noch möglichen Verbindung von gleichermaßen psychiatrischer,
organisatorische und wirtschaftlicher Begabung in einer Person, aber auch dem
Mut zum Risiko und dem Selbstvertrauen, ohne das kein Wagnis gelingen kann.
Dieses Selbstvertrauen gründete sich auf die intuitive Oberzeugung, mit der
Gründung einer „humanen Heil- und Pflegeanstalt für das gestörte Gemüts- und
Geistesleben" nach dem Grundsatz der von Zwangsmitteln freien Behandlung einen
notwendigen und richtigen Weg zu beschreiten. Wahrend o rf f verschweigt aber
auch nicht, daß er für seinen Entschluß, ein solches „Asyl" zu schaffen, „von
Bekannten, Freunden, ja selbst Verwandten gar wenig Ermutigung erhalten" habe
und daß ihm „Seelenkämpfe nicht erspart geblieben" seien: Die Frage, ob für
diese neue Lebensaufgabe seine Begabung, seine Willensenergie, überhaupt seine
Individualität ausreiche und geschaffen sei, hat in strenger Selbstprüfung sein
Gewissen belastet. Aber 25 Jahre nach der Gründung konnte er, drei Jahre vor
seinem Tode, den zweiten Teil seiner Anstalts-Chronik mit den Worten schließen:
„Und wenn ich nun das große Glück hatte, für die Unglücklichsten aller Leidenden
Helfer und Pfleger sein zu können und manchem Leidenden sein Los erträglicher zu
gestalten, wenn ich somit vorgesetzte schöne Ziele erstrebe, in humanen und
idealen Richtungen meine schwachen Kräfte betätigen durfte, so darf ich an
dieser Stelle wohl mit dem nicht zu egoistischen Wunsche schließen, daß das
Glück auch ferner unserem Asyle treu bleiben, und seine Wirksamkeit in gleichem
Geiste auch ferner sich fortsetzen möge. Das walte Gott!"
Interessant ist, daß er als Gründer und Besitzer eines großen Krankenhauses in
privater Trägerschaft erwähnt, er habe „nie der Reklame bedurft°, ja sie sogar
grundsätzlich vermieden, „weil eine gute Sache sich selbst Bahn bricht sie
gedeiht unter Gottes Segen".
Der Geist der Freiheit und die Idee der Familie waren die prägenden Elemente des
Wirkens Ferdinand Wahrendorffs, seiner Nachfolger und der Mitarbeiter - sie Alle
bildeten eine große Familie. Sie entsprachen auch meinem eigenen Wesen und
meiner ärztlichen Haltung, und sie haben es mir erleichtert, die schwierige
Leitung des „größten privaten Psychiatrie-Krankenhauses Europas" zu übernehmen
und den Problemen und Widerständen zu begegnen, die
366
mich erwarteten. In einer Ansprache bei der Betriebsversammlung kurz nach meinem
Dienstantritt habe ich mich mit einigen Gedanken zu dieser neuen Aufgabe
vorgestellt:
Ansprache anläßlich der Übernahme der ärztlichen Leitung der Dr.
Wahrendorffschen Privat-: Heil- und Pflegeanstalten Ilten bei der
Betriebsversammlung am 6. Oktober 1948
Sehr verehrter Herr Professor!1)
Meine lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!
Wenn die ärztliche Leitung der Wahrendorffschen Anstalten nunmehr von Ihnen,
sehr verehrter Herr Professor, auf mich übergeht, so ist das für uns Alle, die
wir uns hier zusammengefunden haben, ein bedeutsames Geschehnis. Für Sie, sehr
verehrter Herr Professor, bedeutet dieser Wechsel den Abschluß Ihrer
Lebensaufgabe, die Sie drei Jahrzehnte lang in verdienstvoller und erfolgreicher
Arbeit der Anstalt gewidmet haben. Der Übergang in den Ruhestand schließt für
eine zeitlebens so tätige, mit Ilten und seinen Menschen so eng verbundene
Persönlichkeit wie Sie einen schmerzlichen Verzicht ein. Deshalb freue ich mich,
Ihnen die Schwere dieser Umstellung dadurch etwas erleichtert haben zu können,
daß Ihnen ein bestimmter Tätigkeitsbereich noch weiterhin verbleibt. Damit
werden Sie, Ihrem persönlichen Wunsche entsprechend, statt eines "otium cum
dignitate° - einer „Muße mit Würde" - mehr eine „dignitas sine otio" - eine
„Würde ohne Muße" - genießen. Ich glaube in dieser nicht gerade alltäglichen
Form der Aufeinanderfolge zweier Ärztegenerationen den Ausdruck unseres inneren
Einvernehmens trotz des äußeren Altersunterschiedes sehen zu dürfen.
Es ist nun einmal ein historisches Gesetz, daß die jüngere Generation es in
vielem anders macht als die ältere, und es ist eine psychologische Grundregel,
daß sie meint, es besser zu machen. Und dies mag auch hingehen, sofern dieser
Anspruch der Jüngeren von ernsthaftem Bemühen um Fortschritt und von echter
Begeisterungsfähigkeit getragen wird, die nicht auf persönliche Geltung, sondern
auf sachliche Leistung gerichtet ist. Aber der Fortschrittsfreudigkeit, mit der
die jüngere Generation an ihre Aufgabe herangehen muß, steht eine sehr
367
ernste Seite gegenüber: Einmal der Umstand, daß wir in allem, was wir denken und
tun, „auf den Schultern derer stehen, die vor uns waren", wie G o e t h e sich
in seiner Pietät vor den Werken unserer geistigen Väter - sinngemäß ausdrückte.
Das andere ist der Preis an Mühen, Zweifeln und Rückschlägen, mit dem je der
Fortschritt erkauft werden muß! Diese beiden Tatsachen allein sind geeignet, uns
Jüngere nachdenklich und bescheiden zu machen und uns davor zu bewahren, daß wir
unsere Leistungen über und die der Generation vor uns unterschätzen! Wenn sich
die scheidende und die kommende Generation in diesem Geiste die Hand reichen,
dann, glaube ich, werden sich die oft so heiklen Gegensätze von Tradition und
Entwicklung am ehesten ausgleichen lassen.
Für mich persönlich bedeutet die Wahl zum Nachfolger eines so verdienstvollen
und weithin angesehenen leitenden Arztes eine schöne und große Aufgabe. Ich
freue mich darauf, meine klinischen, wissenschaftlichen und organisatorischen
Erfahrungen hier verwerten zu dürfen, die ich in meiner Tätigkeit an den
Universitätskliniken in Königsberg und Leipzig, als Universitätsdozent und
Vertreter des Klinikchefs, namentlich bei der Weiterführung der Leipziger
Nervenklinik nach deren Zerstörung im Jahre 1943, sowie bei der Umorganisation
und Modernisierung der psychiatrischen Abteilung des Staatskrankenhauses
Hamburg-Langenhorn sammeln konnte. Aber ich gebe mich auch keinen Illusionen
über die Schwierigkeiten hin, mit denen die Nachkriegsbedingungen und die
besonderen Verhältnisse einer großen Privatanstalt wie Ilten mich nicht
verschonen werden. Wann und wieweit es mir möglich sein wird, die Fülle von
Aufgaben und Plänen, vor denen ich stehe, zu verwirklichen, dies allerdings wird
nicht von mir allein, sondern ganz wesentlich auch von der Mitarbeit aller, die
zu Ilten gehören, abhängen. Es ist mir darum zu tun, daß bei der Einzelarbeit,
die Jeder von Ihnen zu leisten hat, der Wille zur Zusammenarbeit für das Ganze
lebendig und wirksam bleibt. Wir werden nur vorankommen, wenn die ärztliche
Leitung mit allen an der Anstalt Tätigen und Interessierten, mit den Besitzern,
mit der Verwaltung und dem Betriebsrat unter Berücksichtigung der jeweiligen
Sonderaufgaben und Sonderinteressen ein einheitliches Ganzes zum Wohle der
Kranken bildet. Von Ihnen, meinen Mitarbeitern, erfordert mein Dienstantritt
eine Umstellung und eine Anpassungsbereitschaft, welche denen, die in jahre- und
jahrzentelanger Arbeitsgemeinschaft mit der Anstalt verbunden sind, - darüber
bin ich mir im Klaren - nicht immer ganz leicht fallen wird. Ich gehöre zwar
nicht
368
zu denen, die eine Reform nur um des Reformierens willen anstreben. Ich will in
meinen neuen Arbeitsbereich weniger hineinstürmen als hineinwachsen. Es kommt
mir aber darauf an, die Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die ich
praktisch und wissenschaftlich erprobt und als richtig erkannt habe, unter
Ausnutzung aller erreichbaren Möglichkeiten anzuwenden. Das Gleiche gilt für
sanitäre, bauliche und soziale Einrichtungen, soweit sie in den Bereich der
ärztlichen Verantwortung fallen. Ich weiß, daß dies alles nicht von heute auf
morgen gehen wird, sondern einer geduldigen, zähen, einer sorgsamen und planvoll
aufbauenden Arbeit bedarf. Ich setze bei Jedem von Ihnen den guten Willen zur
Mitarbeit an dieser Aufgabe voraus. Alles Weitere wird sich, so hoffe ich,
ergeben, wenn wir einander mit Verständnis, Offenheit und Vertrauen begegnen. Es
wird mir besonders viel daran liegen, zwischen den Interessen der Einzelnen,
soweit es irgend geht, ausgleichend zu wirken. Ich kann das aber nur, wenn Sie
sich mit allen Anliegen, die sich nicht durch Rücksprache mit Ihren
unmittelbaren Vorgesetzten regeln lassen oder nicht rein
verwaltungsorganisatorischer Art sind, an mich wenden. Tragen Sie etwaigen Ärger
nicht unausgesprochen mit sich herum, fressen Sie einen Verdruß nicht in sich
hinein, scheuen Sie ein offenes Wort nicht, üben Sie Kritik, wenn sie sachlich
begründet ist - und wir werden bald eine lebendige Arbeitsgemeinschaft bilden!
Bei aller Bereitschaft zum Ausgleich halte ich es aber für meine Pflicht, Sie
über Eines nicht im Unklaren zu lassen: Für alles Neue, das ich vorhabe, und für
alles Alte, das bestehen bleiben soll, wird immer nur das Wohl der Kranken den
Ausschlag für meine Entscheidungen geben! Die Interessen des einzelnen
Mitarbeiters werden von mir immer nur soweit gewahrt werden können, als sie
nicht im Widerspruch zu dem Gesamtinteresse der Kranken stehen! Denn es sind
nicht die Kranken für uns da, sondern wir sind für die Kranken da! Wenn wir auch
noch so viel für unsere Kranken getan zu haben glauben, so bleiben wir ihnen
doch immer noch etwas schuldig. Wir können nie genug für sie tun, denn wir, die
Gesunden, schulden ihnen die Hilfe, die sie sich selbst nicht geben können!
Was wir unseren Kranken zu geben bemüht sein müssen, das zeigen uns eindringlich
die Erfahrungen mit der Arbeitstherapie, die ja gerade hier in Ilten dank der
Vorarbeit des Gründers der Anstalt, Geheimrat W a h r e n d o rf f s , ihre
segensreiche Wirkung entfalten konnte. Sie lehren uns in besonderer Wei
369
se, daß nicht ein Kranker wie der andere ist, sondern daß jeder seine
individuelle Eigenart hat. Diese Tatsache bedeutet, daß wir die Kranken nicht
nach ihrem bloßen Nutzwert als Arbeitsmaschinen ., verwenden" dürfen, sondern
nach ihrem Eigenwert als Menschen behandeln sollen, die den Anspruch erheben
können, in der Arbeit einen Sinn und eine Befriedigung zu sehen. Die Arbeit ist
es, die der scheinbaren Sinnlosigkeit des schweren Schicksals seelisch Kranker
einen sichtbaren Sinn gibt, der ihr Dasein zu erfüllen vermag. Und dieser Sinn
ist mehr und etwas ganz anderes als der unmittelbare Nutzen, der von der Arbeit
der Kranken jeweils erwartet wird. Der Sinn alles dessen, was wir am seelisch
Kranken zu tun versuchen, liegt - nicht nur in der Arbeitstherapie, sondern
überhaupt - etwa darin: In dem Allgemeinen, das wir als bestimmte Krankheitsform
(Schizophrenie, Epilepsie, Schwachsinn usw.) vorfinden, das Individuelle, von
dem dieses Allgemeine mitgeformt wird, aufzusuchen. Denn gerade in diesem
Individuellen, tritt uns das eigentlich Menschliche und damit zugleich auch das
Heilbare. Gesundgebliebene im Kranken entgegen. Auch in dem seelisch Kränksten
und im geistig Zerfallenen lebt oft noch mehr von diesem Menschlichen,
Gesundgebliebenen, als man bei oberflächlicher Betrachtung erkennt. Der seelisch
Kranke wird noch nicht dadurch gesund oder in seinem Zustand gebessert, daß man
einfach das unpersönliche Kranke in ihm durch Schocks und Medikamente zu
beseitigen sucht, sondern es muß auch das Gesundgebliebene, Individuelle in ihm
angesprochen und entfaltet werden! Darauf richtet sich ganz wesentlich unser
Bemühen in der modernen Therapie der Psychosen.
Meine lieben Mitarbeiter! Die eigentliche Not unserer Zeit liegt im Grunde
darin, daß sie so arm an echter Liebe geworden ist. Hier, in dem engen Bereich
unserer Arbeit für die Kranken, haben wir die Möglichkeit, dieser Not
entgegenzuwirken. In der großen, namentlich in der politischen Welt gelten heute
wie ehedem die Scheinwerte: Herrschaft, Macht und Unterwerfung. Setzen wir doch
diesen Formen des Machtstrebens die echten Werte: Lieben und Dienen entgegen!
Jeder einzelne Kranke soll in seiner seelischen Not oder Hilfsbedürftigkeit
Mahnung und Auftrag sein, die Welt an Liebe zu bereichern! "Liebe und Diene!":
Dies waren die Leitworte, die der Psychiater R o I I e r vor genau 100 Jahren
(1848) der von ihm gegründeten Anstalt Illenau in Baden auf ihren Weg mitgab. Es
mag kein Zufall gewesen sein, daß es gerade dieser Hausspruch von Illenau war,
der mir zuerst vor die Augen kam, als ich unlängst in einem
370
Sammelwerk über die deutschen Heil- und Pflegeanstalten nach Angaben über die
Anstalt Ilten suchte. Möge sich der tiefe Sinngehalt dieser Leitworte an dem
neuen wie auch an dem alten Geiste lltens erfüllen: Wir wollen unsere Kranken
lieben, um der Idee des Leidens willen, das uns in ihnen entgegentritt, und wir
wollen ihnen dienen um der Idee des Helfens willen, zu dem uns ihr Schicksal
verpflichtet. Mit diesem Gelöbnis will ich mit Ihnen Allen gemeinsam an die
Arbeit gehen!
Hans-Werner J a n z
Dozent Dr. med. Habil.
1) Prof. Dr. med. Hans W i I I i g e , Leitender Arzt von 1918 bis 1948
Auch mir blieben „Seelenkämpfe nicht ersparte, als ich feststellen mußte, daß
ich mit den Anstalten Ilten und Köthenwald eine veritable „Schlangengrube"
übernommen hatte. Ich habe meine Reaktion in der Chronik j00 Jahre Ilten 100
Jahre Psychiatrie" nur etwas anders formuliert: n... die Abteilungen für die
,Fürsorgepatienten' hatten durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse einen
Zustand erreicht, der wenig geeignet erschien, dem Leitenden Arzt zu einem
ruhigen Schlaf zu verhelfen ...": Seuchenhygienisch unverantwortliche
Verhältnisse, zweistöckige Betten, Patientinnen auf zum Teil verjauchtem Stroh
liegend, einige von ihnen neurologisch nicht untersucht, sodaß z.B. bei einer
Kranken erst durch die Lumbalpunktion eine nicht erkannte und behandelte
Paralyse festgestellt werden konnte, die Frauen ohne Binden, Zahnbürsten nicht
vorhanden, ihr Gebrauch unbekannt, zerissene Kleider auf der Erde herumliegend,
zerschlagene Fensterscheiben durch Holzplatten ersetzt, alles in allem
unbeschreiblich und heute unvorstellbar! Ich habe es vermieden, die ärztliche
Leitung dafür verantwortlich zu machen, konnte aber nicht verschweigen, daß der
damalige Verwaltungsdirektor die für die nötigsten Sanierungsmaßnahmen
erforderlichen Gelder für die Geschwister Wahrendorff "gehortet" hatte, getreu
dem Versprechen, für sie sorgen zu wollen, das er ihrem Vater, dem Sanitätsrat
Dr. Rudolf W., geben mußte.
Nur dadurch, daß diese Mißstände offen, auch den Aufsichtsbehörden gegenüber,
zugegeben wurden, konnte etwas Wirksames zu ihrer Beseitigung geschehen. Ein
solches Eingeständnis entsprach auch ganz dem Grundsatz Ferdinand Wahrendorffs,
der niemals Scheu getragen hat, den jedes
371
maligen Stand der Anstalt den kritischen Blicken der Fachgenossen und der
revidierenden Behörden vorzuführen". Mein Bemühen, die hier nur angedeuteten
Mängel Schritt für Schritt zu beheben, wurde gleich zu Anfang erleichtert durch
die Freigabe von zwei größeren Abteilungen, die bis dahin als Lazarett der
ehemaligen Wehrmacht gedient hatten (und in einem ramponierten Zustand
hinterlassen wurden!). Damit konnte eine erste Renovierung vorgenommen und die
viel zu große Belegungsdichte aufgelockert werden. Meine Planung richtete sich
auf das Ziel, zu verhindern, daß die „Fürsorgeabteilungen" endgültig den
Charakter einer reinen „Bewahranstalt" annahmen. Sie sollten vielmehr nach und
nach zu Einrichtungen entwickelt werden, die den Erfordernissen einer modernen
Anstaltspsychiatrie entsprechen. Darüber hinaus wollte ich einen Teil der
Anstalten auf den Stand einer Klinischen Psychiatrie für die Diagnostik und
Therapie akuter und subakuter psychischer Krankheiten und neurologischer
Krankheitszustände umstellen. Die Ausweitung und Differenzierung der
nervenärztlichen Aufgaben durch die Zunahme der Behandlungsbedürftigkeit
neurotischer Erkrankungen, durch die Folgen der Kriegsverletzungen des
Nervensystems, durch das Anwachsen der Depressionen und nervösen
Erschöpfungszustände erforderte auch in den so genannten „Heil- und
Pflegeanstalten" - so nannten sich die Wahrendorffschen Anstalten damals die
Anwendung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden; die bisher den Kliniken
vorbehalten waren. Die instrumentellen, baulichen und personellen
Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Aufgaben zu schaffen, ohne die
wirtschaftliche Existenzgrundlage der Anstalt ernstlich zu gefährden, sah fast
nach einer Formel für die „Quadratur des Kreises" aus. Der Wirtschaftsdirektor
Herr Willi Meyer , (genannt „Kassen-Meyer") hatte es denn auch für erforderlich
gehalten, in einem ausführlichen Exposé Herrn H o m a n n zu erklären, daß man
mit mir nicht die richtige Wahl getroffen habe! Ich wolle aus Ilten eine
„Psychiatrische Universitäts-Klinik" ,zur Fortbildung der Ärzte und zum Wohle
der leidenden Menschheit" machen. Denn ich sei ja „der typische Wissenschaftler
und sehne mich mit jeder Faser (!) nach einer Professur an einer Universität".
Wörtlich: „Dieses wissenschaftliche Arbeiten und das Schaffen der
Voraussetzungen für eine Professur des Herrn Dr. Janz zahlen letzten Endes nur
die Kommanditisten!" Man sei mit mir „von einem Extrem ins andere gefallen!"
„Wenn vorher ärztlich wenig geleistet wurde, so wird jetzt des Guten zuviel
getan, aber das sind Dinge, die man als Laie
372
einem Arzt, und vor allem einem tüchtigen und strebsamen Arzt, wie Herr Dr. Janz
es ist, nicht gut sagen kann, den eines steht vollkommen fest, über die
wissenschaftliche Qualifikation und über das ärztliche Können des Herrn Dr.
Janz ist überhaupt kein Wort zu verlieren. Er steht in dieser Hinsicht über
bisher in Ilten dagewesenen Ärzte. Aus diesem Grunde ist auch der ärztliche Ruf
der Anstalt schon ein ganz anderer als früher und trotzdem wird dies alles zu
teuer erkauft ...".
Und nun kommt es: „Wenn wir einen durchaus tüchtigen früheren Oberarzt einer
Heil- und Pflegeanstalt, der moderne Grundsätze in ärztlicher Betreuung mit der
größtmöglichen Sparsamkeit in allen Aufwendungen vereinigt, als leitenden Arzt
genommen hätten, würde die Leistungsfähigkeit der Anstalt auf ärztlichem Gebiet
und damit der ärztliche Ruf derselben auch gehoben worden sein, ohne daß wir die
Anstalt in eine der modernsten Kliniken Deutschlands umwandeln müssen. Diese von
Herrn Dr. Janz beabsichtigte Aufnahme-Abteilung für akute Psychosen, die zwar
für ihn und seine Herren Wissenschaftler (ich hatte zwei habilitierte Fachärzte
eingestellt) außerordentlich wertvoll sind, die aber wirtschaftlich nichts
einbringen, im Gegenteil vielleicht noch Geld kosten, hätten wir m. E. ruhig den
Universitätskliniken und evtl. den Landesanstalten ... überlassen sollen, aber
Herr Dr. Janz kann hierauf nicht verzichten. Er wird Ihnen ohne weiteres sagen,
daß die modernen psychiatrischen Behandlungsmethoden in ganz Deutschland
gegenwärtig eingeführt werden, daß diese Entwicklung längst noch nicht
abgeschlossen ist, daß man von dem reinen Verwahrsystem in den Pflegeanstalten
immer mehr zu modernen Behandlungssystemen übergehen wird und daß die Anstalt in
diesem Punkte auf keinen Fall zurückstehen könnte, wenn sie nicht altmodisch und
rückständig bleiben wollte."
Damit hatte Herr M e y e r genau den richtigen Punkt getroffen! Und dies war
auch das Argument, mit dem ich den merkantilen Tendenzen der
Kommanditgesellschaft Wahrendorff - die Geschwister sprachen von der Firma"! -
am ehesten begegnen konnte, unterstützt von dem weitsichtig denkenden Hugo H o m
a n n und dem Niedersächsischen Sozialministerium. Namentlich der Dezernent für
die Psychiatrischen Krankenhäuser, Dr. K ü h n e I , selbst Psychotherapeut und
Schüler von K r e t s c h m e r , stellte sich mit Nachdruck hinter mein
Konzept, mit der der geradezu „himmelschreiende" Kontrast zwischen der baulich
gepflegten Privatabteilung und den verwahrlosten „Fürsorge"
373
Abteilungen so weit wie möglich überwunden werden sollte. Ich hatte K ü h n e I
schon in Hamburg bei M a u z kennengelernt, und er hatte mich betont frostig
begrüßt, weil er annahm, ich sei als Verwandter der Wahrendorffs zum Chefarzt
erkoren worden. Als ich diesen Irrtum berichtigte, hellte sich sein Antlitz
schlagartig auf, und wir haben in den folgenden Jahren vertrauensvoll
zusammengearbeitet. Auch mit Willi M e y e r verband mich später eine ungetrübte
Vertrauensbeziehung. Von seinem kritischen Exposé an H o m a n n wußte ich
nichts, bis er es mir nach meiner Pensionierung zu lesen gab! Er sah aber seine
Bedenken gegen mein „unwirtschaftliches" Sanierungs- und Modernisierungsprogramm
nach und nach ausgeräumt. Denn inzwischen war es mir gelungen, den
Tagespflegesatz für die „Fürsorge"- (chronischen) Patienten, der am 1. Oktober
1948 2.80 DM (!) betragen hatte, in beharrlichen Verhandlungen mit den
Kostenträgern, dem Land Niedersachsen und den Kommunen, Schritt für Schritt zu
erhöhen und die Einstufung der Wahrendorffschen Anstalten in die Gruppe 1 der
Krankenhäuser Niedersachsens zu erreichen. Hinzu kam die Erhöhung der Einnahmen
durch den Aufbau klinischer Abteilungen, für die die Krankenkassen den auch für
die Behandlung körperlich Kranker geltenden höheren Tagespflegesatz zahlten.
Damit begann sich meine zunächst so riskante, die wirtschaftliche Existenz der
Anstalten vermeintlich gefährdende Reformpolitik so zu rentieren, daß wir bis
zum Ende meiner Tätigkeit Finanzmittel in Höhe von etwa 28 Millionen DM für
Sanierungen und Modernisierungen investieren konnten, ohne - außer einem
zinsverbilligten kurzfristigen Kredit für den Neubau einer geriatrischen
Frauenabteilung - eine Landesbeihilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Daß nach
meiner Pensionierung (1976) und dem Ausscheiden des getreuen „Kassen-Meyer"
riesige Schulden (weit über 100 Millionen DM!) entstanden
sind, die zu einem Vergleichsverfahren, zu einem Liquiditätsdefizit mit
langdauernder Nichtauszahlung der Betriebsrenten und -pensionen sowie zu
staatsanwaltlichen Ermittlungen geführt haben, steht auf einem Blatt der
Geschichte des „Klinikums Wahrendorff' (heutiger Name), das nicht mehr zu meiner
persönlichen Biographie gehört.
Schon ein Jahr nach meinem Dienstantritt, am 23. November 1949, konnte im
Besichtigungsprotokoll der "staatlichen Besuchskommission", einer Exekutive der
Aufsichtsbehörden, festgestellt werden, es seien „gegenüber dem Befund bei der
letzten Besichtigung am 9. April 1948 Verbesserungen in nennenswer
374
tem Umfange vorgenommen worden", darunter: Vermehrung der Zahl der Ärzte von 6
auf 11, Neueinstellung von 16 Schwestern und Pflegerinnen, Einrichtung einer
Insulinstation im modernisierten Haus 2 in Köthenwald, einer Neurologischen und
HirnverletztenAbteilung mit Röntgenlaboratorium und klinischem Labor, Anstieg
des Aufwandes für medikamentöse Behandlungen von monatlich 900,-- DM auf
3.400,-- DM im Durchschnitt, im Jahr 48.000,-- DM. (1975 betrug er, wobei
allerdings der allgemeine Preisanstieg zu berücksichtigen ist: 678.569,71 DM!),
Neubeschaffung von Krankenkleidung, Wäsche, Eßgeschirr, Schuhwerk,
Hygieneartikeln, Verbesserung der sanitären Anlagen, Renovierung des
Küchengebäudes und weiterer Häuser in Köthenwald, Beseitigung der Strohlager und
doppelstöckigen Betten, Auflockerung der Belegungsdichte usw. usw.
Der Krankenstand, der im Jahre 1937 1022 betragen hatte, erhöhte sich nach 1949
auf 1232 im Jahre 1962. Die »Jahres-Rotationsziffer", d.h. die Zahl der
Aufnahmen und Entlassungen stieg von 1377 im Jahre 1948 auf 2208 im Jahre 1957.
Sie betraf durchweg die krankenkassenversicherten Patienten der neuen
Neurologischen und Klinischpsychiatrischen Abteilung, während die Frequenz der
Privatabteilungen mit durchschnittlich 500 Aufnahmen und Entlassungen im Jahr
seit 1949 konstant geblieben, aber wesentlich höher als in den Vorjahren war.
In dem Protokoll der staatlichen Besuchskommission vom 7. August 1970 heißt es
dann: „Dank der ärztlichen und wirtschaftlichen Initiative hat die Entwicklung
der Wahrendorffschen Krankenanstalten einen Stand erreicht, der den
Erfordernissen der modernen Krankenhauspsychiatrie voll entspricht. Die
Wahrendorffschen Krankenanstalten können damit als vorbildlich für die
psychiatrische Krankenhausplanung im Land Niedersachsen gelten."
Dieses Urteil war nun schon fast zu wohlwollend. Denn am Ende meiner Tätigkeit
blieb noch Vieles zu verbessern übrig. Ein so großes Krankenhaus ist ein
schwerfälliges Gebilde und läßt sich nicht in kurzer Zeit grundlegend
reformieren. Immerhin hatten wir erreicht, daß die von der „Enquete-Kommission
zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin" (der
ich angehört habe) geforderten „Humanisierungsmaßnahmen" zur Versorgung
psychisch Kranker in wesentlichen Teilbereichen bereits realisiert worden waren.
Das Schwergewicht dieser Fortschritte hatte ich in drei Punkten gesehen:
375
1. Ausbau und Reform der Milieutherapie,
2. Erweiterung der Sozialtherapie und
3. Förderung der wissenschaftlichen- und Öffentlichkeitsarbeit.
Zu 1.) Das traditionelle Milieu einer psychiatrischen Anstalt war gekennzeichnet
durch therapiefeindliche Einflüsse, die von den „Total-Institutions" ausgehen,
wie der amerikanische Psychiatriekritiker G o f f m a n sie bezeichnet hat. Er
meint damit die autoritäre Macht des Anstaltspersonals, der Ärzte und
Pflegekräfte, die den Kranken in einen Zustand der Abhängigkeit versetzt, wie er
im Leben draußen nicht zu bestehen pflegt. Er wird von dem Kranken, der aus
seinen normalen Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen herausgelöst und in eine
„Marginalsituation" versetzt worden ist, als erzwungen, als unnatürlich
empfunden. Die unerwünschten Folgen dieser Situation äußern sich in Rebellion,
innerer Isolierung, Realitätsentfremdung oder Resignation, Apathie, Abstumpfung.
Der englische Psychiater F re u d e n b e rg hat dieses „Anstaltssyndrom" einer
genaueren Analyse unterzogen. Ähnliches gilt auch für orthopädische und
Lungenheilstätten, Waisenhäuser, Gefängnisse usw. Im Gleichmaß des Tagesablaufs
lassen Initiative und Spontaneität nach, bei der Arbeit in Gruppen entwickelt
sich eine Art von „Kolonnen-Hospitalismus". Hingegen kann in dem Widerstand
gegen ein Leben unter Kranken der Ausdruck eines durchaus gesunden, vernünftigen
Selbstschutzes gegen das Leben unter Kranken gesehen werden. Unser
Familienpflegling Martchen sagte zum Beispiel auf die Frage, warum sie von einer
anderen Kranken so unfreundlich behandelt worden sei, : „Wissen Se, ick bin der
zu normal!" Damit sprach sie etwas aus, was in der früheren Psychiatrie viel zu
wenig beachtet worden ist, die Tatsache nämlich, daß im psychisch Kranken,
gerade auch im Langzeitkranken, so gut wie immer noch Persönlichkeitsbereiche
gesund geblieben, vom Krankheitsprozeß nicht betroffen sind. Lange vor den
erwähnten Veröffentlichungen zum Problem der "Total Institutions" und des
„Anstaltssyndroms" hatte mich ein anderes Wort Martchens sehr nachdenklich
gestimmt: „Nee, ick bin eben keen jeborener Anstaltsmensch!" Sie hatte recht:
Sie gehörte nicht in eine Anstalt überlieferten Stiles und vertrat damit die
Notwendigkeit einer in größerem Umfange zu entwickelnden psychiatrischen
Versorgung außerhalb des Anstaltsbereiches („extramural") in Form der
Familienpflege oder komplementärer Einrichtungen; oder, wenn dies aus
diagnostischen oder organisatorischen Gründen nicht an
376
gebracht oder möglich ist, in einer den berechtigten Interessen des Patienten
entsprechenden Verbesserung der „Milieutherapie", des „therapeutischen Klimas"
in der Anstalt.
Dieser Aufgabe dienten neben einer Erweiterung der schon von dem Gründer eingeführten und gut durchorganisierten Arbeitstherapie (in der Landwirtschaft, den Gärtnereien, Werkstätten, Wirtschafts- und Küchenbetrieben) deren
Ergänzung und Differenzierung durch die Beschäftigungstherapie (heute
"Ergotherapie" genannt). Im Jahre 1953 habe ich im Rahmen der ersten Staatlichen Schule für Beschäftigungstherapie in Deutschland an der Orthopädischen
Heil- und Lehranstalt „Annastift" in Hannover und der Zusammenarbeit mit deren
Chefarzt Professor Dr. L i n d e m a n n und der dortigen Ausbildungsleiterin
Frau Annemarie B o I I eine beschäftigungstherapeutische Abteilung aufgebaut. Die damit ermöglichte Ausbildung der - meist weiblichen - Schüler in der
Psychiatrie, Neurologie und medizinischen Psychologie bildete die Voraussetzung dafür, daß die Schule 1956 von der "World Federation of Occupational
Therapists" anerkannt und der neu geschaffene Berufsverband staatlich anerkannter Beschäftigungstherapeuten der Bundesrepublik Deutschland e.V." auf
dem 2. Weltkongreß dieses Verbandes in Kopenhagen 1958 als Mitglied aufgenommen wurde. Ich habe an diesem wie auch an dem vorangegangenen Internationalen Kongreß in Edinburgh teilgenommen und außer mehreren Einzelpublikationen den Band II des Lehrbuches der Beschäftigungstherapie mit einem
einführenden Beitrag „Beschäftigungstherapie in der Psychiatrie -
Grundlagen,
Aufgaben, Ziele, Wirkungen und Grenzen" herausgegeben (in dritter, neubearbeiteter und erweiterter Auflage 1979 im Georg Thieme Verlag Stuttgart er
schienen).
Beschäftigungs- (Ergo-) Therapie
Unter „Beschäftigungstherapie" verstehe ich eine therapeutische
Hilfe mit Betätigungen, die einem ästhetischen Sinngehalt dienen und die
Möglichkeiten künstlerischer oder kunsthandwerklicher Gestaltungsfähigkeit, das
„schöpferische Unbewußte" im Kranken, wecken und entfalten sollen. Im
Unterschied zur resozialisierenden Wirkung der Arbeitstherapie hat die
reindividualisierende bei der Beschäftigungstherapie den Vorrang. Mit dem
„bildnerischen Gestalten" (Malen, Zeichnen, plastischem Formen, Schnitzen
377
usw.) wird der individuellen, freien Phantasie ein Spiel-Raum gelassen, der an
bestimmte Form- und Farbgesetze gebunden sein sollte. Der Unterschied zwischen
„Beschäftigung" in diesem Sinne und „Arbeit" sei an folgendem Beispiel
verdeutlicht: Ein Stück Holz wird in der Arbeitstherapie in zahlreiche Teile
zersägt oder zerspalten, die für den reinen Nutzzweck des Verheizens bestimmt
sind. Das Holz ist hier das „Material" der Arbeit. In der Beschäftigungstherapie
wird ein Stück Holz zu einem einzigen Gebilde geschnitzt, das einem ästhetischen
Sinn dienen, also „schön" sein soll. Hier bildet das Holz den Stoff der
Beschäftigung. Im ersten Falle ist der Patient mit dem Gegenstand nur durch das
zeitlich begrenzte Gesetz des praktischen Zweckes verbunden, aber von ihm durch
das Instrument, das er benützt - Säge oder Axt - getrennt. Das Material ist
nichts als das Objekt seines Tuns. Im zweiten Falle hingegen besteht eine weit
„innigere" Beziehung zwischen dem Patienten und dem Holz: Es wird nicht nur von
dem Schnitzmesser be-"arbeitet", sondern auch von der anderen Hand getastet,
gedreht, vom Auge betrachtet und geprüft, also in einer sich wandelnden Form
„wahrgenommen" (Aisthesis" heißt Wahrnehmung) gestaltet und erlebt. Dabei wirkt
das Holz zugleich unsichtbar lenkend auf die Bewegung der Hände und Augen
zurück: Es ist als gestalteter „Stoff` nicht nur Objekt, sondern wird so auch
zum Subjekt der Tätigkeit des Patienten - eine Verwandtschaft mit dem Wesen des
Spiels, von dem B u yte n d i j k (in ,Wesen und Sinn des Spiels". Der Neue
Geist, Wolff, Berlin 1933) sagt, daß „nicht nur einer mit etwas spielt, sondern
daß auch etwas mit dem Spieler spielt". Wir können den gestalteten Stoff - im
Unterschied zum Material - auch mit K a n d i n s k y („Über das Geistige in der
Kunst", 4. Aufl. Bümplitz, Bern 1952) als ,Wesen mit eigenem Leben" verstehen,
dessen Formen und Farben die „Saiten" des „Klaviers" der Seele in Schwingung
versetzen. Ähnliches gilt für die seelische Wirkung der Farben beim Malen. So
kann bildnerisches Gestalten sowohl innerseelische krankhafte, nicht
verbalisierte Vorgänge zum Ausdruck bringen wie auch positive Wirkungen auf das
Gefühlsleben, die Stimmung, die Antriebsdynamik des Kranken ausüben, also
diagnostisch wie therapeutisch hilfreich werden.
Beim Nachdenken über den Unterschied zwischen der Bearbeitung eines „Materials"
und der Gestaltung eines „Stoffes" lag es nahe, sich an Schillers
Gedanken zu den zwei Grundtrieben zu erinnern: dem Sachtrieb und dem
378
Formtrieb (In: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von
Briefen. Schillers philosophische Schriften und Gedichte, hrsg. von E. K ü h n e
m a n n , Philosophische Bibliothek, Bd. 103, Meiner, Leipzig (o.J.). Der
Sachtrieb entspreche der körperlichen, sinnlichen Natur des Menschen, er richte
sich auf die Vielheit der Materie, schaffe Veränderliches und gebe so der Zeit
einen Inhalt. Indem er Begrenzungen setzt, binde er den Geist an die Sinnenwelt
und bleibe so dem Wechselnden am Menschen, seinem Zustande verhaftet. Der
Formtrieb hingegen gehe aus von der "vernünftigen Natur" des Menschen, er ziele
hin auf Freiheit, auf Harmonie und Einheit in der Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen, erhöhe das Sinnliche zum Geistigen, hebe die Zeit, den Wechsel
auf und behaupte so das Unveränderliche am Menschen, seine Person. Diesen beiden
Trieben stellt S c h i I I e r einen dritten gegenüber, in welchem sie
miteinander verbunden wirken: den Spieltrieb. Er vereint das Sinnliche mit dem
Geistigen, das Wechselhafte mit dem Bleibenden, er hebt alle Zufälligkeiten wie
allen Zwang auf, indem er den Menschen körperlich und moralisch in Freiheit
setzt. Während für S c h i I I e r der Gegenstand des Sachtriebes das „Leben",
des Formtriebes die „Gestalt" ist, wird der Gegenstand des Spieltriebes, weil er
beides vereint, zur „lebenden Gestalt" und damit zu einem Begriff, der allen
ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was
man in weitester Bedeutung „Schönheit" nennt, zur Bezeichnung dient. Schiller
selbst fragt hier: „Wird aber nicht das Schöne dadurch, daß man es zum bloßen
Spiel macht, erniedrigt und den frivolen Gegenständen gleichgestellt, die von
jeher im Besitze dieses Namens waren?", und er antwortet: „Nein!" Denn „Spiel"
bedeutet nicht Einschränkung, sondern Erweiterung, da es eben den Sachtrieb mit
dem Formtrieb vereint. Mit dem Ideal der Schönheit fordert er auch ein Ideal des
Spieltriebes, „das der Mensch in allen seinen Spielen vor Augen haben soll". Mit
anderen Worten: „Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur
mit der Schönheit spielen", und ... "um es endlich auf einmal herauszusagen: Der
Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist
nur da ganz Mensch, wo er spielt".
Nun - im Alltag des beschäftigungstherapeutischen Wirkens wird weder S c h i I !
e r s Ideal der Schönheit noch das des Spieltriebes zu erreichen sein. Aber
seine Gedanken vermitteln uns doch ein geistiges Leitbild für das, was mir als
Wesensmerkmal der Beschäftigungstherapie vorgeschwebt hat, nämlich für
379
ihren Spielcharakter in seiner Beziehung zur Idee der Schönheit und der
Freiheit. Ich wollte damit den „homo faber" der Arbeitstherapie ergänzen durch
den „homo ludens" der Beschäftigungstherapie, den Huizinga in seiner berühmten
Schrift: "Homo ludens" (2. Aufl., Köln 1938) so definiert hat: „Spiel ist eine
freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter
Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden
Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem
Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des Andersseins als das
gewöhnliche Leben."
Dies alles hat nichts mit „Spielerei" oder gar „Verspieltheit" zu tun. Ich habe
mir vielmehr gedacht, mit einer so verstandenen psychiatrischen
Beschäftigungstherapie den Formtrieb und den Spieltrieb im Patienten
anzusprechen und ihm damit zu helfen, sich zu lösen von seiner Gebundenheit an
krankhafte Veränderungen des Antriebes, der Stimmung, des Gefühlslebens, der
Motivation, der Willensimpulse, des Denkens und des Sozialverhaltens. Mit dieser
lösenden, befreienden Wirkung soll sie dazu beitragen, daß er aus seiner
pathologischen Selbstentfremdung (im Französischen ist der psychisch Kranke ein
"aliéné", ein sich selbst und der Mitwelt Entfremdeter!) wieder zu sich selbst
zurückgeführt wird, daß sich ein Wandel von der krankhaften Geteiltheit, der
Dividualität der Persönlichkeit in der Depression, der Schizophrenie, der
Neurose zur gesunden Einheit, der „Unteilbarkeit", der In-dividualität anbahnt
oder vollzieht. Friedrich Theodor V i s c h e r hat einmal gesagt ("Das Schöne
in der Kunst", Berlin, 1898), das Schöne habe die Kraft, aus dem geteilten
Menschen den Ganzen wieder herzustellen, und dies sei gleichbedeutend mit dem
Gesunden!
Im Geiste der Elemente des Schönen, des Siels und der Freiheit haben wir
versucht, innerhalb der Anstalt eine therapeutische Gemeinschaft als
Gemeinschaft der Individualitäten, nicht als „Kolonne", aufzubauen, in der die
Beschäftigungstherapie ihren angemessenen und aus dem Repertoire psychiatrischer
Hilfen nicht mehr wegzudenkenden Platz hat. Zu dieser Gemeinschaftsordnung
gehört die vom Kranken selbst mitzugestaltende Pflege alles dessen, was ihn nach
innerer und äußerer Gelöstheit im sinnvollen Wechsel mit Spannung streben läßt.
Im einzelnen sind dies: Bewegungsspiele, sportliche und rhythmische Übungen,
Gesellschaftsspiele, Denk- und Ratespiele, Schachspielgruppen (Dr.
380
N i c o l a u s ), Puppenspiele (Marionettentheater), Theateraufführungen,
Bewegungs- und Ausdruckspädagogik mittels des Klanges und Rhythmus (Artur C o b
u r g e r ), Stegreifspiele, Volks- und Gesellschaftstanz, Gruppensingen,
Musizieren (mit neu eingestellten Musikerzieherinnen!), Patienten-Orchester,
bildnerisches Gestalten nach Vorlagen oder als frei improvisiertes, auch durch
Musik angeregtes Malen und Zeichnen (Frau Irmela H e i n i s c h e n ),
therapeutisches Gruppenwandern (Dr. T h i e m a n n ), pädagogisch orientiertes
Rollenspiel, das Morenosche „Psychodrama", „Bibliotherapie", festliche
Veranstaltungen, wie sie auch früher schon üblich waren: Ernte, Sommer-,
Weihnachts-, Faschingsfeste. Auch die Pflege des Sinns für Heiterkeit und Humor,
dieses unentbehrlichen Ferments eines Einklanges des Menschen mit sich selbst
und dem Mitmenschen, sollte dabei nicht zu kurz kommen. So hofften wir, und es
ist uns auch mehr oder weniger gut gelungen, einen Hauch von Freude in die
ernste Situation des seelisch Kranken und geistig Behinderten hineinwehen zu
lassen.
Ich habe Wert darauf gelegt, daß zwischen Beschäftigungs- und Arbeitstherapie
kein Wert-, sondern nur ein methodischer Unterschied gemacht wird. Beide Arten
des helfenden Umgangs mit dem seelisch Kranken oder geistig Behinderten müssen
gleichrangig neben- und miteinander wirken und sich wechselseitig ergänzen.
Beide dienen gemeinsamen Wirkungszielen: Sie sollen den natürlichen
Betätigungstrieb ansprechen, der auch in einer schizophrenen depressiven oder
manischen Erkrankung oder nicht zu schweren geistigen Behinderung nicht
erloschen zu sein pflegt, sie zielen auf den gesunden Wunsch, Werte zu schaffen
und Freude am Selbstgeschaffenen zu empfinden, das Selbstwertgefühl durch eigene
Leistung zu stärken, diese nach Möglichkeit noch zu verbessern, mit dem
Mitmenschen zu wetteifern, ohne daß Neidgefühle geweckt werden, Selbstvertrauen
mit Gemeinschaftsgefühl und Mitverantwortung für den Anderen zu verbinden, sie
sollen alles das, was an Interessen und Fähigkeiten im Kranken erhalten oder
zumindest als Möglichkeit angelegt ist, aber vom Krankheitsprozeß, von der
Einförmigkeit des Alltages, vom Hang zur Trägheit, Müßiggang, Bequemlichkeit
verschüttet wurde oder zu werden droht, zu wecken, anzuregen und zu entfalten
suchen. Daß dies auch eine erzieherische Aufgabe für die
Beschäftigungstherapeutinnen, die Ärzte, das Pflegepersonal und andere
nichtärztliche Helfer bedeutet, bedarf keiner Betonung. In einem
381
fortschrittlich geführten psychiatrischen Krankenhaus wird daher auch eine
pädagogisch orientierte Förderung der Eigenverantwortlichkeit und
Selbständigkeit der Patienten, z.B. durch den Aufbau eines „Patientenparlaments"
und einer demokratischen Selbstverwaltung, der Gewinnbeteiligung an der
Produktion usw. von besonderem Gewicht sein müssen!
Natürlich gibt es Überschneidungen zwischen arbeits- und
beschäftigungstherapeutischen Komponenten, etwa bei gärtnerischen Arbeiten, bei
der Kunstweberei und -tischlerei, beim Flechten von Bastzöpfen, Holzarbeiten
usw. Eine ordnende Gestaltung der Form und Farbe im Geiste des "Schönen" ist
nicht möglich ohne Mühe, Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit, also ohne Arbeit.
Franz Marc hat dazu in seinen „Briefen aus dem Feld" gesagt (Rembrandt,
Berlin, 5. Aufl. 1959): „... daß die Form von selber kommt ... das scheint mir
nicht wahr. Beständige Meditation über die Form, beständigen Willen zur Form,
den man immer wieder korrigiert, verwirft, neu ansetzt ... ohne das geht's
nicht. Bloß auf die Form warten wie die Blumen auf den Frühling, das war und ist
nie produktive Kunst. Das Werk freilich muß den dornenvollen Weg ganz vergessen
machen." Der arbeitstherapeutische Nutzzweck hat zwar gegenüber dem ästhetischen
Sinngehalt in der Beschäftigungstherapie nicht den Vorrang. Aber er sollte auch
in ihr nicht vernachlässigt werden. Daß jedem kunstnahen Tun eine Nützlichkeit,
freilich eine Nützlichkeit besonderer Art, innewohnt, sagt uns August Rodin
mit dem schönen Gedanken („Die Kunst". Gespräche des Meisters, gesammelt von P.
G s e I I . Wolff, Leipzig 1937): „Ich nenne alles nützlich, was uns in einen
glücklichen Zustand versetzt. Nun gibt es auf der Welt nichts, was uns
glücklicher macht als Vergeistigung und Phantasie. Das vergißt man heute gar zu
sehr."
Von diesem Sinn der Vergeistigung und Phantasie mag etwas, sei es auch nur ganz
schlicht und angedeutet, in der Beschäftigungstherapie spürbar werden, wenn sie
ihrer Aufgabe im Rahmen einer reformierten „Milieutherapie" in der Psychiatrie
in rechter Weise dienen soll!
Therapeutische Modernisierungen
Es war die schon von dem Gründer des „Asyls Ilten" dankbar betonte „Gunst der
Zeit", die es auch mir ermöglichte, die sich allgemein anbahnende
382
Weiterentwicklung der psychiatrischen „Anstalten" zu Fachkrankenhäusern mit zu
vollziehen: Es waren die jüngsten Fortschritte der psychiatrischen
Pharmakotherapie und es war die Einführung individual- und
gruppenpsychotherapeutischer Methoden in die Behandlung der Psychosen, der man
früher - bis auf die Anwendung von Narkotika, Schlafmitteln, „Dämmerschlaf"-,
oder „Elektrokrampf" („Schock"-) - Verfahren verhältnismäßig hilflos
gegenübergestanden hatte. Skeptiker sprachen vom „therapeutischen Nihilismus" in
der Psychiatrie. Die neuen „Psychopharmaka" (Neuroleptika, Antidepressiva,
Tranquilizer) bedeuteten zwar geradezu eine Revolution es gab keine
Jobstationen", keine Dauerbäder mehr, man konnte auf mechanische Zwangsmittel
verzichten. Aber die chemische Ruhigstellung, die Aggressionsdämpfung der
Patienten drohten so etwas wie eine „Friedhofsruhe" in den Krankenstationen
entstehen zu lassen.
Wie jeder Fortschritt, so hatte auch dieser seine Kehrseite: Die neuen psychisch
wirksamen Medikamente waren nicht frei von unerwünschten, zum Teil sogar über
die Anwendungszeit hinaus bestehenden Nebenwirkungen, und sie verführten durch
die psychomotorische Ruhigstellung des Patienten zur Passivität des ärztlichen
und nichtärztlichen Helfers. Man neigte dazu, ihn sich selbst, d.h. der Wirkung
des Mittels, zu überlassen. Aber bei genauerer Beobachtung zeigte sich, daß sie
zu Reaktionen führen konnten, die ich als „neuroleptische
Wirkungsdissoziationen" bezeichnet habe, zum Beispiel zu einem Mißverhältnis
zwischen dem chemisch erzeugten körperlichen Schwere- und Lahmheitsgefühl und
dem klar bleibenden Bewußtsein, mit dem diese Wirkung vom Kranken als
„Vergrößerung!", „Verkörperlichung" der Persönlichkeit und damit als etwas
unnatürlich Einengendes, Freiheitswidriges empfunden wird. Dies bedeutet, daß
der Patient eines besonderen Verständnisses für die Unvermeidbarbeit, aber auch
die medikamentöse Beherrschbarkeit störender Nebeneffekte und einer
entsprechenden persönlichen Zuwendung und Führung bedarf. Ich habe auf diese und
andere Risiken einer „Chemisierung der Seele" frühzeitig hingewiesen: In einem
Referat unter dem Titel „Medikamentöse Beeinflussung der Psyche - ein Problem
unserer Zeit", zu dem ich vom Deutschen Ärzteverlag anläßlich des
Internisten-Kongresses in Wiesbaden 1959 aufgefordert worden war (Ärztliche
Mitteilungen - Deutsches Ärzteblatt Nr. 23, B. Juni 1959), in einem Vortrag
„Über neuroleptische Wirkungs-Dissoziationen" bei einer französisch
383
deutschen Tagung in Lyon, 21./22. November 1959 (In: Entretiens Franco-Allemands
sur la Therapeutique Psychiatrique, La Revue Lyonnaise de Medecine, Sonder-Nr.,
September 1959) und in einem Beitrag zum Symposion „Neurolepsie und
Schizophrenie", veranstaltet von der Universitäts-Nervenklinik Mainz am 23. Und
24. März 1962 in Bad Kreuznach (Thieme Verlag Stuttgart 1962).
Nach dem erstgenannten Referat bei einem Presse-Empfang des Deutschen
Ärzteverlages in Wiesbaden kam es nicht nur zu zustimmenden, sondern auch zu
vehement-polemischen Besprechungen in der Fach- und Laienpresse, unter anderem
von Ludwig M a rc u s e in der „Zeit", der sich darüber empörte, daß ich es
wagte, ihm den Gebrauch seiner geliebten Schlafmittel „madig zu machen", die er
so nötig brauche und auf die er nicht zu verzichten gedenke, um sich seine
geistige Produktivität am nächsten Tage zu erhalten. Dabei hatte ich gar nicht
vor einem vernünftigen Gebrauch, sondern nur vor einem Mißbrauch der angst- und
spannunglösenden und schlafanstoßenden „Tranquilizer" wegen ihres Gewöhnungs-
und Abhängigkeitspotentionals gewarnt. Die bei psychischen Krankheiten - an
einer solchen litt L.M. offenbar nicht - angewandten Pharmaka, die Neuroleptika
und Antidepressiva, führen nicht zu süchtigen Abhängigkeiten! Leider haben sich
meine Bedenken gegen einen nicht genügend reflektierten Fortschrittsglauben an
die Perfektibilität der psychiatrischen Pharmakotherapie im Laufe der Jahre
bestätigt.
Abgesehen von den unbezweifelbaren praktischen Erfolgen dieser neuen
Behandlungsverfahren - man sprach von einem „Ereignis" in der Geschichte der
Heilkunde - haben sie eine Fülle von neuro-chemischen, psychopharmakologischen,
pathophysiologischen Forschungsimpulsen und -richtungen ausgelöst und den
Grundlagen einer biologisch orientierten Psychiatrie als Gegenentwurf zu der
ebenfalls aktuellen soziologischen Psychopathologie die Wege geebnet - beides
jeweils mit der Gefahr der Einseitigkeit und Verabsolutierung! Ich habe
versucht, einige Probleme, die sich aus der Doppelfrage: "Was macht das
Medikament mit der Persönlichkeit?" und: ,Was macht die Persönlichkeit mit dem
Medikament?" ergeben unter klinischen, medizin, geistes- und
zeitgeschichtlichen, erkenntniskritischen, anthropologischen und
verhaltensphysiologischen („ethologischen") Aspekten in einer Monographie zu
erörtern: „Psyche und Pharmakon-Ergebnisse und Probleme der Phamakotherapie
seeli
384
scher Störungen" (Verlag für Psychologie Dr. C.J. Hogrefe, Göttingen 1963). Das
kleine Buch schließt mit dem Satz: „Wir stehen hier vor der wahrscheinlich
problemreichsten und empfindlichsten Art aller Therapie überhaupt: Vor der
Aufgabe, dem seelisch Kranken und dem existentiell gefährdeten Menschen unserer
Zeit mit stofflichen Mitteln zu helfen, ohne daß die Rücksicht außer acht
gelassen werden darf, die der unstofflichen Eigenart und Einmaligkeit seiner
Persönlichkeit gebührt."
Im Jahre 1951 haben wir eine neurologische und Hirnverletzten-Abteilung
eingerichtet, zu deren Einweihung ich Professor N o n n e , den damals
90jährigen Altmeister der Neurologie, eingeladen hatte. N o n n e hielt nicht
allzuviel von der Psychiatrie. Der einzige Psychiater, den er gelten ließ und
sogar schätzte, war mein Lehrer B o s t r o e m , und daraus ergab sich eine
freundliche Beziehung zu mir. (Nur eines hat er B o s t ro e m übelgenommen: Daß
er nicht seine einzige Tochter Clara geheiratet hat!). Bei der Besichtigung
unserer Neurologischen Abteilung wunderte er sich, daß wir die Stufen und
Türschwellen nicht begradigt hatten. Das wäre doch nötig gewesen, um zu
verhindern, daß die Tabiker (Patienten mit Gleichgewichtsstörungen durch eine
syphilitische Erkrankung des Rückenmarks) stolpern und hinfallen. Ich sagte ihm,
das sei nicht nötig. Denn es gebe keine Tabiker mehr! (Die Tabes dorsabis war
dank der modernen Lues-Therapie so gut wie ausgestorben). N o n n e war erstaunt
und ich glaubte ihm anzumerken, daß das Forschungsgebiet, um das er sich so
große, international anerkannte Verdienste erworben hatte, die syphilitischen
Erkrankungen des Nervensystems, um einen wichtigen und interessanten Teilbereich
ärmer geworden war. Beim Abendessen hielt er eine kleine Dankesrede, zu deren
Abschluß er einen Apfel vom Nachtisch in die Hand nahm, um ihn als Königssohn
„Paris" einer der drei anwesenden Töchter W a h re n d o rf f , Marlise Starke
oder Maria Creutzmann oder Erika Cornelsen überreichen zu wollen. Alles wartete
gespannt, wer die Erwählte wohl sein würde, „Hera", „Athene" oder „Aphrodite°.
Da er offenbar in keiner der statiösen Töchter eine Aphrodite sah (der
respektlose Schwiegersohn Werner S t a r k e hatte sie einmal zu Antonia als
„Denkmäler" bezeichnet), schnitt er den Apfel in drei Teile und bedachte jede
der drei Göttinnen galant mit einem Drittel! Am nächsten Morgen gerieten wir in
einige Bedrängnis, weil wir mit unseren Gästen nachts, leicht beschlürft zum
Drei-Tage-Rennen nach Hannover gefahren waren
385
und erst am frühen Morgen zurückkehrten. Wir wußten, daß N o n n e bereits um 7
Uhr zu frühstücken pflegte, und erfuhren, daß er sich kurz davor im lltener Park
unserer Wohnung bedrohlich näherte. Antonia mußte in äußerster Eile den
Frühstückstisch decken, und es gelang ihr mit Mühe und Not, das Ehepaar N o n n
e noch rechtzeitig zu empfangen und den Unmut des für seine minutiöse
Pünktlichkeit berüchtigten Altmeisters abzuwenden. Beim Abschied versammelten
wir uns mit unseren Gästen um ihn herum, er bewegte seine Hand über Antonias und
meinen Kopf als Zeichen des Segens und sagte: "Bei meinen Pppatienten (er
stotterte leicht) nehme ich dafür 20 Mark, bei Ihnen mache ich es umsonst!" Als
ich ihn zum Auto begleitete, verabschiedete er sich mit den Worten: „Es hat mir
bei Ihnen sehr gut gefallen. Ich werde Ihnen zum Dank auch alle meine
Privatpatienten überweisen. Leider habe ich kkkeine mehr!"
Schon ein Jahr zuvor hatten wir eine Abteilung für 50 geistig hochgradig
behinderte, schulbildungsunfähige Knaben eingerichtet, um auf Bitte des
Niedersächsischen Sozialministeriums und Landessozialamtes dem Notstand in der
Versorgung behinderter Kinder als "Landesaufgabe" abzuhelfen. Wir übernahmen
damit eine besonders schwierige Aufgabe, die an die Mitarbeiterinnen und den
Abteilungsarzt ungewöhnliche, zum Teil methodisch neuartige Anforderungen
stellte. Alles, was hier, namentlich auch durch die Jugendleiterin Frau S c h u
m a n n und den Abteilungsarzt Dr. H i I I e r s , in mühevollem, aufopferndem,
unendlich geduldigem Bemühen um die Weckung und Entfaltung unentwickelt
gebliebener, einfachster Möglichkeiten des Menschseins, zum Beispiel einer
geordneten Bewegung im Raum, des Spiels, des Musikhörens, bei Sprachunfähigen
auch der Ansätze zu sprachlicher Lautbildung, erreicht werden konnte, gehört zu
den therapeutisch-psychagogischen Erfolgen, auf die wir glauben stolz sein zu
dürfen. Einige Anregungen für diese Arbeit verdanke ich meinen Besuchen
ähnlicher Einrichtungen in England und den Niederlanden.
Als ich Nonne durch unsere Schwerstbehinderten-Kinder-Abteilung führte, meinte
er, es wäre doch wohl besser, diese bedauernswerten Wesen durch einen
„Gnadentod" zu erlösen als sich eine derartige Mühe mit ihnen zu machen. Ich
erwiderte, daß einen Euthanasie" unvereinbar mit den ethischen Grundlagen des
Arzttums wäre. Je hilfsbedürftiger ein Mensch ist, desto größter müßten die
Anstrengungen sein, ihm zu helfen, auch dann, wenn diese Hilfe zu
386
keinem praktischen Nutzen für die Gesellschaft führe. N o n n e s Antwort: "Ich
achte Ihre Ansicht, aber ich teile sie nicht!"
Zum Problem der ..Euthanasie" in der deutschen Psychiatrie
Natürlich bin ich, wenn auch erst sehr spät, gefragt worden, was
ich von den Auswirkungen der „Euthanasie"-Aktion im NS-Staat auf die
Wahrendorffschen Anstalten wüßte. Ich wußte nichts Konkretes. Als früherer
Universitätskliniker war ich von den damaligen Tötungsaktionen an psychisch
Kranken und geistig Behinderten persönlich nicht betroffen, und in Ilten wurde
über dieses düstere Thema nicht gesprochen. Es vergingen überhaupt viele Jahre,
bis die deutsche Psychiatrie sich mit den als Gemeinnützige Kranken-Transport-AG"
zynisch getarnten Mord-Maßnahmen auseinanderzusetzen begann. Erst durch eine von
Joachim Ernst M e y e r , Psychiatrie-Ordinarius in Göttingen, dem Sohn meines
Königsberger Doktorvaters, angeregte Arbeit seines Doktoranden S ü s s e ist
Genaueres über das bekannt geworden, was auch in Ilten-Köthenwald während der
NS-Zeit geschehen ist. Meyer hat hierüber in einer Festrede zur 125-Jahr-Feier
der Wahrendorffschen Anstalten 1987 berichtet: Zur Amtszeit meines Vorgängers,
Professor W i I I i g e , 1940, „trafen dort die ersten Meldebögen ein, deren
Ziel die Tötung psychisch Kranker war": Bis zum Ende der „offiziellen
Euthanasie-Aktionen" im Herbst 1941 sind ihnen insgesamt mindestens 70 000
Kranke zum Opfer gefallen. „Der Widerstand der Kirchen, vor allem auch die Rede
des Bischofs von Münster, Graf G a I e n , und die wachsende Beunruhigung der in
der Nähe der Tötungsanstalten wohnenden Bevölkerung veranlaßte H i t I e r , im
Herbst 1941 die ,T4Aktion offiziell zu beenden. Die Tötung der Kranken wurde
aber - besonders auch in den Anstalten in den von deutschen Truppen besetzten
Ostgebieten - fortgesetzt. Bei dieser ,wilden Euthanasie' sind mindestens noch
einmal 70 000 Kranke getötet worden. „.."Professor Willige hat - zusammen mit
Dr. W e r t h und dem Oberpfleger Fischbach - in großem Umfang die Diagnosen
gefälscht, vor allem aber die Angaben zur Arbeitsfähigkeit der Kranken, so daß
wegen zu weniger Meldungen Ende 1941 eine Ärztekommission aus Berlin eintraf, um
die Kranken persönlich zu untersuchen." Dabei gelang es Willige und Fischbach ,
einen Teil der Schwerstkranken (also nicht arbeitsfähigen)
387
nicht vorzustellen. Schließlich waren 300 Patienten zur "Verlegung" vorgesehen,
von denen 70 im Oktober 1941 von der „Gemeinnützigen Kranken-Transport-AG" zum
Bahnhof und von dort mit dem Zug nach Regensburg abtransportiert wurden. Herrn
Fischbach gelang es trotzdem, einen Teil dieser Kranken zurückzuholen (darunter
unser „Manchen"!). „Unterstützt von Landesrat A n d r e a e von der
Hannoverschen Provinzialverwaltung wurde es so möglich, viele Patienten der
Wahrendorffschen Anstalt vor der Tötung zu bewahren." „1944 sollte dann
liten-Köthenwald als Ausweichkrankenhaus für Hannover geräumt werden. Diesmal
war es Werner S t a r k e , Schwiegersohn von Rudolf Wahrendorff , dem es unter
großem persönlichen Einsatz gelang, die Räumungsaktion zu stoppen. Noch kurz
vorher, im November 1944, wurden 90 Männer und 53 Frauen nach dem - wegen der
Tötungsaktionen gegen Ende des Krieges besonders gefürchteten - Kaufbeuren
verlegt, über deren Schicksal nichts mehr bekannt wurde." Soweit Joachim Ernst
Meyer
Die Vorgeschichte des Euthanasieproblems in seiner Bedeutung für die deutsche
Psychiatrie geht weit zurück: Im Jahre 1920 haben der Leipziger
Strafrechtslehrer B i n d i n g (Vater des heute fast vergessenen Dichters
Rudolf. G. B.) und der Freiburger Psychiatrie-Ordinarius H o c h e eine Schrift
„Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" veröffentlicht, in der die
Tötung „unheilbar Blödsinniger" oder „geistig Toter" empfohlen wurde, wobei B i
n d i n g sich mit Vorschlägen über die Frage befaßte, wie die Freigabe durch
eine Staatsbehörde erfolgen könne! H o c h e sprach von „leeren Menschenhülsen"
und „Ballastexistenzen". Ihnen mit Mitleid zu begegnen, sei Zeichen eines
„Denkmangels". In seinem 1934 erschienenen Altersrückblick Jahresringe
Innenansicht eines Menschenlebens" (mit einem geistvollen „Vorwort zu jeder
Selbstdarstellung") schreibt er (Seite 290): „... ich lehne den Standpunkt ab,
daß der Arzt die bedingungslose Pflicht hat, Leben zu verlängern ...: es gibt
Umstände, unter denen für den Arzt das Töten kein Verbrechen bedeutet ..." In
der bereits ein Jahr später erschienenen zweiten Auflage der damals viel
gelesenen Autobiographie H o c h e s ist diese Passage weggelassen worden! Er
hätte sie ruhig stehen lassen können, da sie heute wieder höchst aktuell
geworden ist und die sogenannte aktive Euthanasie, das heißt die Tötung eines
Schwerkranken durch den Arzt von dem deutschen Chirurgen H a c k e t h a I und
holländischen Ärzten für berechtigt gehalten und auch praktiziert wird. H o c h
e ,
388
der mit einer Jüdin verheiratet war, hat später, 1940, die unter Berufung auf
seine und B i n d i n g s Ansichten erfolgten Tötungsmaßnahmen des NS-Staates
aufs schärfste mißbilligt! Ihm war vor kurzem die Asche einer Verwandten
zugeschickt worden, die man wahrscheinlich der „Euthanasie" »unterzogen" hatte!
Es waren sozialdarwinistische Argumente, mit denen H o c h e und dann H i t I e
r und seine Gefolgsleute die Ermordung der „Ballastexistenzen" als Befreiung von
einer unerträglichen Belastung der Volkswirtschaft nach dem verlorenen Ersten
Weltkrieg, in den zwanziger Jahren und im Beginn des Zweiten Weltkrieges zu
rechtfertigen gesucht hatten. Interessant ist, daß es, wie Joachim Ernst Meyer
nachweisen konnte, an einer offenen Auseinandersetzung mit den Thesen B i n d i
n g s und H o c h e s in den deutschen psychiatrischen Zeitschriften und
Publikationen in den Jahren 1920 bis 1932 gefehlt hat. „Die Mehrzahl der
deutschen Psychiater war nicht vorbereitet, dem NS-Regime in dieser Frage
rechtzeitig Widerstand zu leisten." ,
Der Göttinger Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. Volker Z i m m e r m a n n hat in
einem Beitrag im Niedersächsischen Ärzteblatt (19/1992, Seite 31-32) berichtet,
daß aus der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt in insgesamt vier Transporten 238
Patienten im Jahre 1941 der »Euthanasie" zum Opfer gefallen sind. Professor
Ewald , der Leiter der Anstalt, zugleich dortiger Psychiatrie-Ordinarius, konnte
129 zum Transport vorgesehene Patienten durch Zurückstellung retten. Ewald
zählte ungeachtet seiner positiven Einstellung zum ,Dritten Reich" zu den
wenigen deutschen Ärzten, die persönlich und beruflich Widerstand gegen dieses
medizinische Verbrechen leisteten". An die Universitätskliniken, also auch an
unsere Leipziger Klinik, wagte man sich nicht heran, zumal in ihnen nicht
chronisch, sondern akut oder subakut Kranke behandelt wurden. Ich erinnere mich,
daß B o s t r o e m im August 1940 uns kurz berichtete, er sei „zur Erörterung
dringender kriegswichtiger Maßnahmen auf dem Gebiet des Heil- und Pflegewesens"
nach Berlin eingeladen worden, und habe an einer Sitzung am 15. August in der
Tiergartenstraße 4 (daher die Bezeichnung „T4" für die Berliner
Euthanasie-Zentrale!) teilgenommen. Was dort besprochen worden ist, sagte er
nicht. Er war, wie die anderen Gesprächsteilnehmer, zum Stillschweigen
verpflichtet. Wir hatten ja auch keine „Meldebögen" zu erwarten. Es war H i t I
e r daran gelegen, die Euthanasieaktion unter strenger Geheimhaltung schnell und
unbürokratisch" ohne Einschaltung staatlicher
389
Stellen durchführen zu lassen. Zu diesem Zweck hatte er bereits im August 1939
dem Reichsleiter B o u h I e r und seinem Begleitarzt Brandt , die beide schon
mit der „Kindereuthanasie" befaßt waren, den zunächst mündlichen, dann mit dem
1. September 1939 datierten schriftlichen Auftrag in folgen dem Wortlaut
erteilt: „Adolf H i t I e r Berlin 01.09.1939 Reichsleiter B o u h I e r, Dr.
med. B ra n d t sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich
zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar
Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod
gewährt werden kann. Adolf Hitler"
Für dieses Schreiben war ein Privatbogen Hitlers aus dessen Privatkanzlei
verwendet worden. "Um nach außen hin jede Verbindung zwischen ,T'" und der
,Kanzlei des Führer'" zu verschleiern, benutzten führende ,T4-Mitarbeiter'"
Decknamen, soweit sie bei der Tötung in Erscheinung traten." (nach Gerhard K n e
u k e r , Wulf S t e g I i c h : "Begegnungen mit der Euthanasie in Hadamar",
Psychiatrie-Verlag, Rehburg-Loccum 1985). Die Tötungen erfolgten in sechs dazu
besonders eingerichteten Anstalten: Grafeneck in Württemberg, Bernburg in
Anhalt, Sonnenstein bei Pirna, Hartheim bei Linz, Brandenburg und zuletzt in
Hadamar in Hessen. In Hadamar sind allein in acht Monaten zwölftausend Kranke
ermordet worden. Zur Verbrennung des zehntausendsten Patienten im Sommer 1941
wurde in Hadamar einen Feier" für das Personal mit Bier veranstaltet! Ermordet
wurde anfangs mit tödlichen Injektionen (Veronal, Luminal, Scopolamin-Morphium),
später in einem als „Duschraum" bezeichneten Vergasungsraum.
Auf den Protest des Bischofs H i I f r i c h , des evangelischen Pastors Braune
, des Württembergischen Landesbischofs Wurm und Anderer wurden die Mordaktionen
in Grafeneck eingestellt. Aber sie gingen in Hadamar mit „bestem geschultem und
eingespieltem Personal" weiter!
Durch die mutige Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von G a I
e n angeregt, hat sich der gefeierte Kriegsheld Oberst M ö I d e r s , ein
gläubiger Katholik, zu Wort gemeldet und gegen die Ermordungen protestiert. Er
soll dadurch erreicht haben, daß Hermann Göring selbst bei H i t ! e r
protestierte. Die Hadamarer Hauptverantwortlichen, der Verwaltungsleiter K I e i
n , der Oberpfleger R u o f f und der Pfleger W i ! I i g sind im
390
März 1946 „durch Befehl Nr. 4 der Militärkommission des Befehlshabers der
Siebenten Armee der Vereinigten Staaten" durch Erhängen hingerichtet worden.
Die früheste Dokumentation der von Ärzten begangenen Verbrechen ist Alexander M
i t s c h e r I i c h und Fred M i e I k e zu verdanken („Das Diktat der
Menschenverachtung Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen", Verlag Lambert
Schneider, Heidelberg, März 1947). Es ist eine grauenhafte Dokumentation, in der
der Gegenstand der Anklage vor dem amerikanischen Militärgericht Nr. 1
festgehalten wird: Experimente an Menschen (Unterdruckversuche,
Unterkühlungsversuche mit „biologischer" Wiedererwärmung durch Frauen aus dem
Konzentrationslager Ravensbrück (!), Fleckfieberund Sulfonamidversuche,
Euthanasieprogramm für "unheilbare Kranke", Massensterilisationen). Angeklagt
waren 23 SS-Ärzte und Wissenschaftler, darunter 9 Universitätsprofessoren und
eine Ärztin, Frau Dr. med. Hertha O b e r h e u s e r . Hitlers Begleitarzt,
Prof Dr. med. Karl Brandt , Reichskommissar für das Sanitäts- und
Gesundheitswesen, Generalleutnant der WaffenSS, Hauptangeklagter, berief sich
auf „übergeordnetes staatliches Interesse, dem sich der Arzt zu unterwerfen
habe!" Er ist zum Tode verurteilt und durch Erhängen hingerichtet worden. Als er
mich zur Besichtigung meiner Sanitätseinheiten in Rußland besuchte, wußte ich
nichts von der verhängnisvollen Rolle, die ihm von H i t I e r übertragen worden
war. Er fühlte sich auch an seine Schweigepflicht dem „Führer und Obersten
Befehlshaber" gegenüber gebunden.
Ich erwähnte schon, daß das Problem der „Euthanasie" inzwischen wieder aktuell
geworden ist. Um jenes anrüchig gewordene Wort zu vermeiden (man spräche
richtiger von „Kakothanasie"), heißt es jetzt „Sterbehilfe". Nach
Meinungsumfragen bejahen fast 80% der Bevölkerung Deutschlands den Gedanken, daß
unerträglich, sinnlos oder unnütz gewordenes Leben von Ärzten beendet werden
sollte. ( D ö r n e r , Deutsches Ärzteblatt, 48, 1987). Eine umfangreiche, zum
Teil emotional und kontrovers geführte Diskussion ist im Gange. 1980 hat sich
eine „Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben e.V." konstituiert, deren
Gründer und Vorsitzender Atrott sich zur Zeit (1993) allerdings in
Untersuchungshaft befindet. Ihm wird - neben Steuerhinterziehungen -
vorgeworfen, Cyankali zu überhöhten Preisen zum Zwecke der Selbsttötung
verschickt zu haben. Seine Nachfolge hat mein Göttinger Fachkollege Prof. P o h
I m e i e r übernommen. Das wichtigste Ziel dieser Gesellschaft ist die
391
Reform des § 216 Strafgesetzbuch mit der Forderung, daß Tötung auf Verlangen
straffrei werden soll. Dies wäre unvereinbar mit der grundsätzlichen
Schutzwürdigkeit des Lebens, die auch, für den Arzt ethisch verpflichtend ist.
Hingegen erscheint berechtigt, daß in einem in den USA bereits weit verbreiteten
„Patiententestament" der Wunsch nach Vermeidung einer künstlichen
Lebensverlängerung festgelegt werden kann.
Ich habe mich zum Thema „Sterbehilfe" in der Zeitschrift „Medical Tribune
Internationale Wochenzeitung, Ausgabe für Deutschland" (Jahrgang 11, Nr. 21, 21.
Mai 1976) an Hand praktischer Beispiele geäußert und in einem Vortrag bei der
Tagung der religionspädagogischen Arbeitsgemeinschaft Sehnde am 17.12.1975 meine
Ansicht in fünf einfachen „Thesen" zusammengefaßt:
1. Alleinige Aufgabe und Verpflichtung des Arztes ist es, Leiden zu lindern und
Leben nach Möglichkeit zu erhalten.
2. Dem Arzt steht kein Urteil über den Wert oder den Unwert des Lebens eines ihm
anvertrauten Kranken zu. Menschliches Leben ist grundsätzlich schutzbedürftig
und schutzwürdig.
3. Aktive „Euthanasie", Tötung eines Kranken ist mit den ethischen Grundlagen
des Arzttums unvereinbar, auch dann, wenn der Kranke sie wünscht! Beihilfe zur
Selbsttötung sollte strafbar sein!
4. Passive Sterbehilfe kann ärztlich gerechtfertigt und auch geboten sein, um
Leiden unheilbar Kranker, dem Tode geweihter Menschen zu lindern. Wenn mit
dieser Sterbehilfe (man sollte eher von „Lebenshilfe" sprechen) durch
medizinische Maßnahmen eine Verkürzung der Lebensdauer verbunden ist, kann und
muß dies als unvermeidbar in Kauf genommen werden.
5. Die Beendigung eines nur noch mit technologischen Mitteln aufrecht zu
erhaltenden, rein vegetativen Lebens durch Abschaltung des Beatmungsgerätes ist
ärztlich nur dann verantwortbar, wenn mit absolut zuverlässiger Methodik der
irreversible Hirntod des Kranken nachgewiesen ist.
Für die Entscheidung des Arztes in Grenzfällen gibt es keine
allgemeinverbindlichen Richtlinien. Sie kann nur nach strenger Prüfung seines
Gewissens unter Berücksichtigung aller medizinischen Gesichtspunkte getroffen
werden. Die Last der Verantwortung trägt er alleine!
392
Psychiatrie im Umbruch
Eine psychiatrische Einrichtung wie Ilten ist in ihrer
Entstehung, Struktur und Entwicklung nicht nur ein Abbild des jeweiligen Standes
der Seelenheilkunde, sondern auch der gesellschaftlichen und geistigen Einflüsse
der Zeit, ihrer Wandlungen und Krisen. Ebenso wie Kultur und Gesellschaft
befindet sich heute auch die Psychiatrie in einem tiefgreifenden
Umwandlungsprozeß. Er nimmt überall da ein krisenhaftes Gepräge an, wo die
Gegensätze zwischen dem überstürzten Fortschreiten wissenschaftlicher,
technologischer, ökonomischer Entwicklungen und dem Stehenbleiben auf
überlieferten Ordnungen und Anschauungen sich verschärfen. Von der Problematik
dieser Situation wird jede Analyse des Milieus eines psychiatrischen
Krankenhauses und damit auch jede Überlegung, wie es künftig zu gestalten sei,
auszugehen haben. Das heutige Anstaltsmilieu - dies gilt nicht nur für Ilten -
ist noch weitgehend von der beunruhigenden Tatsache geprägt, daß neuen
Erfordernissen der Unterbringung und Behandlung psychisch Kranker veraltete
Organisationsformen gegenüberstehen: z.B. dem wachsenden Bedarf an
psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten die Raumnot durch Überfüllung der
Anstalten, der Notwendigkeit eines individuell gelenkten Umganges mit dem
einzelnen Kranken, die Zusammenballung größerer Patientenzahlen in
wartesaalähnlichen Schlaf- und Tagesräumen, dem therapeutischen Vorzug kleinerer
Krankengruppen der Mangel an Pflegepersonal usw.
Zu diesen Hemmnissen, die eine Verbesserung des Anstaltsmilieus erschweren,
kommen beim Kranken selbst als Kind seiner Zeit psychologische Besonderheiten,
die uns vor neue schwierige Fragen und Aufgaben stellen und uns täglich vor
Augen führen, daß die Psychiatrie von heute nicht mehr die von gestern ist: Im
Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Umstrukturierung in unserem
technologisch-ökonomischen Zeitalter und der damit einhergehenden Änderung des
Lebensgefühls und Lebensstils, der Erwartungen und Ansprüche haben sich die
Entstehungsbedingungen wie auch die Erscheinungsformen seelischer Krankheiten
gegen früher geändert und kompliziert: Berufliche, eheliche, familiäre
Konflikte, zeitgeschichtlich bedingte Entwurzelungs- und Vereinsamungssituationen,
393
soziale Milieuschäden können die Bereitschaft zu psychischen
Erkrankungen entstehen lassen oder verstärken und zur Ausformung ihrer
Symptomatik beitragen. Dies gilt nicht nur für neurotische Entwicklungen und
Suchtkrankheiten, sondern auch für depressive und schizophrene Psychosen. Manche
psychische Krankheiten weisen daher ein anderes Gepräge auf als zu Zeiten
unserer psychiatrischen Vorfahren. Depressionen und Suchtkrankheiten sind
häufiger geworden. Abhängigkeitskrankheiten (krankhafte, süchtige Abhängigkeit
von Alkohol, psychotropen Medikamenten oder illegalen Drogen) bilden heute an
psychiatrischen Krankenhäusern den größten Anteil der Aufnahmeraten und
-frequenzen. Allein diese Entwicklung ist zu einer Herausforderung ersten Ranges
für die klinische Psychiatrie geworden, zumal Suchtkranke als die „ungeliebten
Kinder der Psychiatrie" gelten. Bei den Abhängigkeitskrankheiten steht der
Alkoholismus weitaus an erster Stelle. Ich habe mich, wie viele meiner
Fachkollegen, daher - mehr nolens als volens - empirisch und wissenschaftlich
mit dem Komplex der Abhängigkeitskrankheiten in Vorträgen, Vorlesungen und
zahlreichen Publikationen beschäftigen müssen. Über das für uns Psychiater
völlig neue Thema des Rauschmittelmißbrauches bei Jugendlichen, dem wir anfangs
ziemlich hilflos gegenüberstanden, habe ich Anfang der siebziger Jahre alleine
74 Vorträge gehalten. Ich sah in den jugendlichen Drogenabhängigen keineswegs
„ungeliebte Kinder", sondern eben Kranke, die der Hilfe bedürfen, bin dafür aber
auch oft genug bitter enttäuscht worden. Wir mußten erst lernen, mit den Risiken
der moralischen Depravation unserer jugendlichen Drogenabhängigen, ihrer
Unglaubwürdigkeit, ihrer Unfähigkeit, ein in sie gesetztes Vertrauen zu
rechtfertigen, kritisch umzugehen.
Bei den depressiven und schizophrenen Psychosen galt es, den traditionellen
Begriff des „Endogenen", Anlagebedingten, einer Relativierung zu unterziehen und
den psychosozialen, zeitgeschichtlich akzentuierten Komponenten ihrer Entstehung
einen angemessenen Stellenwert zuzuerkennen.
Daß sich mit dem Wandel des „Zeitgeistes" auch die Symptomatik psychischer
Krankheiten wandelt, läßt sich an folgenden Beispielen ablesen: Im Laufe der
letzten Jahrzehnte ist der früher sehr häufige Versündigungs- und Verarmungswahn
bei depressiven Erkrankungen deutlich hinter hypochondrischen
Krankheitsbefürchtungen zurückgetreten, ein Vorgang, der nach statistischen
Erhebungen in den USA mit der ständig wachsenden Massenkommunikation-
und
394
Informationsflut zusammenhängt. Bei schizophrenen Psychosen wähnen die
Patienten nicht mehr, wie noch in früheren Zeiten, Gott oder Christus zu sein,
sondern von der Gestapo oder GPU (NKWD) bespitzelt oder von „Atom"- oder „Laser"-Strahlen
beeinflußt zu werden usw.
Mit der Einführung der psychiatrischen Pharmakotherapie hat sich auch ein neuer
Typus von Kranken herausgebildet: Er umfaßt Patienten, deren psychischer Zustand
zwar durch die medikamentöse Behandlung bis zur Entlassungsreife, aber noch
nicht bis zur Fähigkeit, im freien Leben selbständig zu bestehen, gebessert
werden konnte. Sie bedürfen meist der Weiterbehandlung mit psychisch wirksamen
Medikamenten unter ärztlicher Überwachung. Daran fehlt es aber häufig, und es
ergeben sich Schwierigkeiten der Wiedereingliederung in die Familie, den Beruf
und die Gesellschaft. Erschwerend wirkt hier auch die fehlende Bereitschaft,
einen teilgesundeten, auf verständnisvollen, geduldigen Umgang angewiesenen
Angehörigen in den Familienverband aufzunehmen. Nicht selten werden psychisch
Kranke oder geistig Behinderte von ihren Familien „abgeschrieben"!! Wir haben es
erlebt, daß die Schwägerin unserer Annchen es ablehnte, sich nach unserem Tode
um sie zu kümmern, mit der Begründung: „Dann liegt sie uns nur auf der Tasche!"
Die Zahl der aus psychiatrischen Krankenhäusern Entlassenen beträgt in
Deutschland jährlich mehr als die Einwohnerzahl einer Großstadt! In nur etwa
einem Drittel gelingt die Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit. Für die anderen
zwei Drittel müssen daher Möglichkeiten einer neuen sozialtherapeutischen
Übergangsform zwischen Anstalt und freiem Leben geschaffen werden. Das sind die
auf Seite *** erwähnten „Komplementären Einrichtungen".
Der Versuch, im Großraum Hannover eine Familienpflege aufzubauen, ist
gescheitert. Nur im Bereiche des Landschaftsverbandes Rheinland ist es dank der
Initiative des Chefarztes der Rheinischen Landesklinik für Psychiatrie in Bonn,
Dr. Thilo H e I d , gelungen, nach französischem Muster eine psychiatrische
Familienpflege, allerdings mit hohem personellem und finanziellem Aufwand, zu
entwickeln. Überhaupt können wir von Erfahrungen im Ausland manches lernen:
Lange vor uns hat es in der Sowjetunion, in den USA und in England Nacht- und
Tageskliniken" gegeben, die sich außerordentlich bewährt haben: Teilgesundete
Kranke schlafen in der Anstalt und werden von ihr ärztlich versorgt, sie
arbeiten tagsüber in handwerklichen oder industriellen Betrieben
395
und erhalten eine ihrer Leistung entsprechende Entlohnung oder sie werden am
Tage therapeutisch versorgt und können zu Hause oder in einem Wohnheim schlafen.
In der Sowjetunion hat man, soweit ich weiß, zuerst neue Wege zu einer „sozialen
Rehabilitation durch Leistungssteigerung" in der Psychiatrie beschritten:
Stufenweise erhöhte Anforderungen, zunächst noch in der Anstalt, dann
versuchsweise in Werkstätten und Industriebetrieben, schließlich in freier
Arbeit, aber bei Fortdauer der ärztlichen Behandlung.
Der allgemeinen Trend" lautet: Heraus aus den Anstalten, hinein in die Gemeinde!
Stichwort! „Gemeindepsychiatrie"! Das mit ihm korrespondierende Schlagwort
heißt: „Gesundschrumpfung". Damit ist die größtmögliche Verkleinerung der
traditionellen „Mammut"-Anstalten gemeint, zu denen auch Ilten-Köthenwald
gehört, wenn es auch aus zwei einzelnen Bereichen besteht. Reformatorische
Heißsporne wie der italienische Psychiater B a s a g I i a haben sogar - auch
aus ideologischer Motivation - die völlige Auflösung der psychiatrischen
Anstalten gefordert. Daß dies eine zwar gutgemeinte, aber gefährliche Utopie
ist, beweisen die Erfahrungen in Italien selbst: Die ohne soziale und ärztliche
Betreuung aus der psychiatrischen Anstalt in Triest entlassenen Kranken
streunten in Mailand und anderen Städten als arbeits- und erwerbsloses
Proletariat umher. In den USA sind die Betten in den State Mental Hospitals um
etwa 50% reduziert worden mit dem Ergebnis, daß diese chronisch Kranken heute
meist in heruntergekommenen Hotels oder Heimen leben müssen. Auch in Deutschland
hat man, um die Anstalten zu verkleinern, Langzeitpatienten in Heime verlegt und
erfahren müssen, daß die "Gesund"- eher eine „Krank"-Schrumpfung war: Die
meisten chronisch Kranken wurden in ein therapeutisch und soziales Vakuum
ausgegrenzt und gerieten in außerpsychiatrischen Behinderteneinrichtungen ins
Abseits der Psychiatriereform, wie der Chefarzt der Landesanstalt Merxhausen,
Heinrich K u n z e berichtet hat (zitiert nach Joachim Ernst M e y e r in seinem
Festvortrag zum 125. Jubiläum der Wahrendorffschen Kliniken).
In Ilten ist dieser Fehler vermieden worden. Aber die chronisch Kranken sind und
bleiben wenn nicht das Stief-, so doch das Sorgenkind der Psychiatrie! Bei allen
Reformbestrebungen sollte nicht vergessen werden, daß bereits im Jahre 1868! von
Wilhelm G r i e s i n g e r , dem genialen Wegbereiter der neueren Psychiatrie,
Maßnahmen gefordert worden sind, die zum Reformprogramm
396
der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung einer Enquete über die Lage
der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin 1975 gehören:
Abbau der Überfüllung in psychiatrischen Krankenhäusern, Gemeindenähe (!),
Entflechtung in Kliniken, kleinere städtische und größere ländliche „Asyle",
grundsätzliche Gleichstellung der psychiatrischen mit hallen übrigen Kliniken",
Abwehr der Hospitalisierungsschäden durch Liberalisierung des Umganges mit den
Kranken und durch Arbeitstherapie, Einrichtung psychiatrischer Abteilungen an
Allgemeinkrankenhäusern, ambulante Dienste, wissenschaftliche Erforschung der
Psychopathologie Langzeitkranker, wirtschaftliche Hilfen für sozial Schwache,
"flankierende" Einrichtungen („Freie Colonien"). G ri es i n g e r hat diesen
Wünschen die beherzigenswerte Mahnung hinzugefügt: „Nur auch hier keine
Pedanterie und keine sogenannten Systeme, die alles über einen Leisten
schlagen!" Es ist eben nicht alles „modern", was sich so nennt!
Die wirklichkeitsfremde Utopie einer Abschaffung der psychiatrischen
Krankenhäuser oder auch ihrer radikalen Verkleinerung ohne komplementäre
Einrichtungen gehört zum Glück ebenso der Vergangenheit an wie die Absurditäten
einer „Antipsychiatrie", für die es nur eine kranke Gesellschaft, aber keine
psychisch Kranken gibt. Allein das geschichtlich Gewachsene, ideologisch
vorurteilsfreie, durch Erfahrung kritisch und selbstkritisch Überprüfte bleibt
der zukunftsträchtige Boden, auf dem das erwachsen kann, was „Fortschritt"
genannt zu werden verdient - eine Herausforderung nicht nur an die Psychiater,
sondern auch an die politisch Verantwortlichen!
Als Vorstufe zu einer „Außentherapie" in Form komplementärer Einrichtungen haben
wir 1975 eine „Sozialtherapeutische Abteilung" geschaffen, in der die Patienten
auf die Entlassung vorbereitet werden sollen; und zwar nach den Grundsätzen der
therapeutischen Gemeinschaft mit Arzt, Klinischer Psychologin, Sozialpädagogin
(grad.), einem Fachtherapeuten für Alkoholkranke, einer
Beschäftigungstherapeutin und Krankenpflegediensten unter Mit-Verantwortung und
Mitbestimmung der Patienten. Wir hatten schon lange vorher gute Erfahrungen mit
der Beteiligung von Kranken an Diskussionen über Probleme des Lebens in der
Anstalt gemacht. Es ermutigte uns zum Ausbau des Mitverantwortungs- und
Mitbestimmungsrechtes der Kranken, als wir feststellen konnten, daß die Frauen
in unserem völlig veralteten, heruntergekommenen Frauen-Pfleghaus durchaus
vernünftige und realisierbare Vorschläge für Verbesserungen
397
vorbrachten. Mein Mitarbeiter Dr. L a p p hat mit Hilfe der von J. L. M o re
n o , dem Begründer der gruppentherapeutischen Methode des „Psychodramas",
entwickelten Soziometrie die Gruppenstruktur und -dynamik dieser
Frauen-Abteilung analysiert und Verbesserungen der Plazierung und des
Zusammenlebens der Patientinnen ermöglichst. Diese soziometrischen Analysen
dienten zugleich dem Zweck, die Patienten nach Möglichkeit zum Gedankenaustausch
über allgemein interessierende Themen anzuregen, das Bewußtsein ihrer
Mitverantwortung zu wecken, ihre Kommunikationsfähigkeit zu fördern und mit
alledem das therapeutische Milieu anzuheben. Unsere Erfahrungen mit diesen
Methoden - auch in ihrer Bedeutung für die Beschäftigungstherapie - sind von Dr.
Lapp in der Zeitschrift „Der Nervenarzt" (1959), „Gesundheitsfürsorge" (1960)
und in der amerikanischen Zeitschrift „Group Psychotherapy" (1961)
veröffentlicht worden. In dem früheren Frauen-Pfleghaus, nach dem Neubau „Luise-Wahrendorff-Haus"
benannt, mit 84 Plätzen, davon 39 Plätzen für gerontopsychiatrische
Patientinnen, wurden 1963 außer Räumen für die Beschäftigungstherapie und
Tagesräumen mit Fernsehen, eine Verkaufsstelle für Lebensmittel und
Bedarfsartikel für Patienten (gegen „Patientengeld" im Wert 10:12) auch ein
Frisiersalon und eine Cafeteria für Patienten und ihre Besucher eingerichtet.
Für die Erfordernisse und Möglichkeiten einer Mitbestimmung der Kranken war es
wichtig, zu fragen und zu wissen, wie sie selbst ihre Krankheit und die Wirkung
der Therapie erleben. Diese subjektive, die eigentlich „phänomenologische" Seite
ist in der früheren Psychiatrie zu Gunsten der einseitig objektiven Feststellung
der Symptomatik vernachlässigt worden. Ich habe daher Wert darauf gelegt, die
Patienten zu befragen, wie sie auf die Art und Dosierung der jeweils verordneten
Psychopharmaka reagieren, um sie damit auch - in den gebotenen Grenzen! - im
ärztlichen Gespräch über die medikamentöse Behandlung mitbestimmen zu lassen.
Inzwischen (1993) haben Hornung und B u c h k r e m e r an der Psychiatrischen
Universitätsklinik in Münster 797 ambulant behandelte, „erfahrene" Patienten
(Schizophreniekranke) nach ihren Erfahrungen im Umgang mit den verordneten
Neuroleptika befragt. Ergebnis: Die Meisten hatten ihre Medikation auf eigene
Faust geändert und sowohl die Steigerung wie auch die Reduzierung der Dosis als
überwiegend vorteilhaft erlebt. Hingegen hatte sich das eigenmächtige Absetzen
der Medikamente als ungünstig erwiesen. („Nervenarzt", Bd. 64, S. 434). Die
Hälfte der in Münster
398
untersuchten Kranken will künftig eigenständiger mit den Mitteln umgehen! Die
beiden Autoren empfehlen daher, die berechtigten Wünsche der Kranken nach mehr
Selbstbestimmung zu erkennen und zu fördern. So könne eine Zusammenarbeit
entstehen, in der die Kranken in die Behandlung einbezogen werden und dazu
beitragen, die „oft als unberechenbar erlebte Krankheit zu bewältigen" (FAZ 6.
Oktober 1993, Nr. 232). Nach meiner Ansicht sollte aber diese Zusammenarbeit
grundsätzlich gemeinsam mit dem behandelnden Arzt erfolgen und damit auch der
Sicherung und Festigung des beiderseitigen Vertrauensverhältnisses dienen.
Unerläßlich für die Verbesserung der therapeutischen Hilfen war die Umschulung
des Pflegepersonals von den früheren „Wärtern" zu fachlich aus- und
weitergebildeten Krankenpflegern. Im vorigen Jahrhundert hatte es noch.
Anstalten gegeben, in denen ehemalige Soldaten Wärterdienste nach militärischem
Drill verrichteten, den Kranken Kommandos erteilten und sie mit Holzgewehren
exerzieren ließen! Das ist in llten zwar nicht geschehen, aber der Oberpfleger F
i s c h b a c h in Köthenwald führte dort lange Zeit ein strenges Regiment. Mit
meinem Dienstantritt änderte sich dies. Der Krankenpfleger Karl S c h i m m e r
hat hierzu in der Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum der Wahrendorffschen
Kliniken 1987 folgendes geschrieben: „Ein Jahr, nachdem ich angefangen hatte,
bekamen wir mit Prof. Dr. Janz einen neuen Chefarzt. Das brachte für meine
Kolleginnen und Kollegen und mich eine Reihe gravierender Änderungen mit sich.
Janz führte ein - das klingt aus heutiger Sicht wahrscheinlich unglaublich -,
daß jeder Patient eine Zahnbürste bekam. Einschneidender war noch sein Einfluß
auf unser Verhalten den Patienten gegenüber. Wir wurden ja zu jener Zeit noch
Wärter genannt, und von dieser Vorstellung war auch unser Verhältnis den
Patienten gegenüber bestimmt. Die Patienten galten damals für viele - auch
außerhalb der Anstalt als Menschen zweiter Klasse. Janz verlangte von uns, wir
sollten mit ihnen wie mit gleichberechtigten Personen umgehen, auf ihre Wünsche
und Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Dieses Ansinnen war für uns damals ein
schwerer Brocken."
Wir haben 1960 eine staatlich anerkannte Krankenpflegeschule eröffnet und ein
Wohnheim für Schwesternschülerinnen und Krankenpflegehelferinnen neu erbaut. Mit
diesen beiden Einrichtungen, die für die Zukunft unserer Anstalt lebensnotwendig
geworden waren, hofften wir dem bedrohlich werdenden
399
Mangel an Schwesternnachwuchs begegnen zu können. Es konnten dann auch laufend
Lehrgänge nach dem Krankenpflegegesetz vom Jahre 1957 durchgeführt und Prüfungen
von der staatlichen Kommission mit gutem Ergebnis abgehalten werden.
Diese und zahlreiche weitere Neubauten und Einrichtungen wären nicht
zustandegekommen, ohne das Verständnis und die Initiative des
Generalbevollmächtigten der Wahrendorffschen Erbengemeinschaft, Cornelsen.
Es gehörte für mich auch zur „Gunst der Zeit", daß sich mit der Rückkehr des
Schwiegersohnes Dr. Rudolf Wahrendorffs , des Forstmeisters Robert Cornelsen,
aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1950 eine Zusammenarbeit zwischen den
wirtschafts-, finanz-, bau- und verwaltungsorganisatorischen Planungen und der
ärztlichen Leitung ergab, mit der die Verschiedenartigkeit dieser Bereiche bei
aller notwendigen Begrenzung der Kompetenzen und Selbständigkeiten sich in
glücklicher Weise zum Dienst an einer gemeinsamen Verpflichtung und Zielsetzung
verbinden konnte. Die ärztlichen Erfordernisse fanden bei Robert Cornelsen
ein dankenswertes Verständnis, und so ließen sich Personal- und Sachprobleme mit
unbürokratischer Großzügigkeit auch da lösen, wo in einem Staatsbetriebe
Hemmnisse durch Etats- und Zuständigkeitsfragen zu erwarten gewesen wären.
Überhaupt konnte die familiäre, offenherzige, von gegenseitigem Vertrauen
bestimmte Atmosphäre des Zusammenwirkens - Roberts Frau Erika nannte uns „die
Dioskuren" - manche Schwierigkeiten des Ineinandergreifens von ärztlichen und
administrativen Befugnissen vermeiden helfen - ein Vorzug der Tradition Iltens,
von der Ferdinand W a h r e n d o r f f gesagt hatte, „der familiale Charakter
sei dem Asyle unverändert erhalten geblieben"! Das war einmal!
Der Vorsitzende des Betriebsrates Werner H o r n schrieb hierzu in der
Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Wahrendorffschen Kliniken 1987: „Als
bisher letzte patriarchalische Vertreter im positiven Sinne können der
wirtschaftliche Leiter Forstmeister Cornelsen und Prof. Dr. J a n z als
Chefarzt angesehen werden. Von deren Fürsorge und Verständnis für die Nöte der
Beschäftigten kann man heute noch viel hören. Beide waren es aber auch, die den
Grundstock zur heutigen Entwicklung gelegt haben, indem sie sich als Kaufmann
und Arzt ideal ergänzten." Es ist im wesentlichen der vorausschauenden Planung
Robert Cornelsens zu verdanken, daß insgesamt Häuser
400
mit 740 Plätzen neu gebaut und Häuser mit 256 Plätzen renoviert und saniert
worden sind, außerdem ein Gemeinschaftshaus als Sozialzentrum, eine Zahnstation
und ein Frisiersalon in Köthenwald, ein Lehrlingsheim, eine Gutshof-Station (in
der ich zusammen mit Frau Marlise W a h r e n d o r f f sehr praktische
Nachtschränke nach Mustern, die wir in englischen Psychiatrie-Kliniken gesehen
hatten, von unserer Tischlerei einbauen ließ). Hinzu kam der Neubau einer
Wäscherei mit Nähstube, in der weibliche Kranke arbeitstherapeutisch tätig sind.
Von einem Ersatzneubau des Hauses 2b und der Renovierung der Häuser 3 und 3a in
Köthenwald hieß es im Protokoll der amtlichen Besuchskommission vom 14. Juli
1969: „Beide Häuser bedeuten für das Gesamt-Krankenhaus eine wertvolle
Bereicherung. Damit haben 244 Betten des Gesamt-Krankenhauses eine grundlegende
und sehr zu begrüßende Modernisierung erfahren."
Eine der letzten und wichtigsten Neubauten zu meiner Zeit war die am 15. August
1972 eröffnete Klinische Aufnahmeabteilung in Köthenwald mit je 45 Plätzen für
männliche und weibliche Kranke mit Wachstation, offener Abteilung,
Funktionsräumen für Beschäftigungstherapie, klinischem Zentrallaboratorium,
Räumen für physikalische Therapie unter Leitung eines Masseurs und medizinischen
Bademeisters (Bewegungstherapie, Massage, Wärmebehandlungen, elektrische
Bäderbehandlung, Gegenstromanlage, Hallenbad, Kneipp-Anwendungen, Sauna) sowie
einer Cafeteria. „Der Gesamtbau dieser Klinischen Aufnahmestation muß als
vorbildlich bezeichnet werden." (aus dem Protokoll der amtlichen
Besuchskommission vom 6. November 1972).
Besonders am Herzen lag mir auch die Einführung musiktherapeutischer Methoden in
die Behandlung von Langzeit- und klinisch Kranken durch die Einstellung einer
Musiktherapeutin (1973). Diese Neuerung hatte sich aus unseren guten Erfahrungen
mit dem ergeben, was ich „psychiatrische Ausdruckstherapie" genannt habe. In
Verbindung mit einem von meinem Mitarbeiter Arthur C o b u r g e r gemeinsam mit
der argentinischen Ergotherapeutin Lila Pena
(Anm: mit span. Circumflex)
angewandten, bewegungstherapeutischen Verfahren, der „Rhythmischmusikalischen
Erziehung", konnte erreicht werden, daß Patienten mit schweren, chronifizierten
Schizophrenien, die weder mit psychopharmakologischen Mitteln noch mit
Arbeitstherapie zu beeinflussen waren, bis zur Vorstufe der beruflichen
Re-Integration gefördert wurden. Der Verlauf dieser neuen Therapieform ist in
401
einem Dokumentarfilm eindrucksvoll veranschaulicht worden, der zuerst bei dem
Weltkongreß der Psychiatrie in Madrid 1968, später auch in Wien, Rio de Janeiro
und anderen Städten gezeigt wurde. In einem Vortrag auf der 22. Jahrestagung der
Chilenischen Gesellschaft für Neurologie, Psychiatrie und Neurochirurgie in
Santiago de Chile 1965 und in einer Vorlesung vor der Medizinischen Fakultät der
Universidad Nacional de Cuyo in Mendoza (Argentinien) 1965 habe ich über
Grundlagen, Praxis und Ergebnisse unserer „Psychiatrischen Ausdruckstherapie" an
Hand von Farbdiapositiven bildnerischer Gestaltungen psychisch Kranker berichtet
(in spanischer Sprache) und eine lebhafte Diskussion ausgelöst. An der
Erarbeitung der therapeutischen Methodik hatten außer Herrn C o b u r g e r und
Frau P e n a meine Mitarbeiter Fritz H i I I e r s und Hans L ü t z e n k i r c
h e n , sowie Frau Dr. Oda K e i t e I mitgewirkt. Professor Armando R o a ,
Catedrático (Ordinarius) für Psychiatrie an der Katholischen Universität in
Santiago de Chile, den ich bei meinem Freunde Prof. Francisco L I a v e r o in
Madrid kennengelernt hatte, ließ sich von meinen Gedanken zu einer neu
konzipierten Beschäftigungstherapie zur Einladung nach Santiago und einem
Beitrag in der Zeitschrift Rev. Psiquiat. Clin Cantiago de Chile 2 (1963) Nr. 2
anregen („Hans-Werner Janz y algunos conceptos sobre Terapia Ocupacional y
Laborterapia"). Mit Armando R o a und Professor Herrera , dem
Psychiatrie-Ordinarius im westargentinischen Mendoza, verband mich eine
freundschaftlich-kollegiale Beziehung, die durch eine glückliche geistige und
menschliche Übereinstimmung mit dem Philosophie-Ordinarius Espinosa und seiner
deutschen Frau Ingrid in Mendoza erweitert wurde. Die von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft bewilligte und finanzierte Reise nach Chile und
Argentinien führte mich mit unseren lieben Freunden Ursula und Ottilio K ü s t e
r m a n n in Buenos Aires und Moron zusammen. Ulla war meine Apothekerin in
Ilten gewesen und hatte ihren Ottolio bei einem Rosenmontagsfest in unserer
Wohnung kennen und lieben gelernt. Wir feierten Weihnachten unter dem Kreuz des
Südens im Freien - dort ist es dann Sommer - bei Asado, Rotwein und
argentinischen Liedern.
Musik als Therapeutikum haben wir in Ilten-Köthenwald gefördert durch den Aufbau
von Sing- und Instrumentalgruppen, zwei Patientenorchestern, durch
Tanznachmittage und Schallplattenabende, Teilnahme der Patienten an Konzerten.
Leider sind diese musiktherapeutischen Aktivitäten nach meinem
402
Weggang nicht fortgesetzt worden. Dafür hat mein Nachfolger Dr. Jan C o r n e I s e
n die Idee des schöpferischen Gestaltens mit einem von der Niedersächsischen
Landesregierung geförderten Mal- und Theaterprojekt, der „AuE-Kreativschule"
seit 1989 erfolgreich beleben und weiterentwickeln können. Das „schöpferische
Unbewußte" im psychisch Kranken geweckt und in deren bildnerischem Gestalten
dargestellt zu haben, ist das Verdienst Hans P r i n z h o r n s . Er hat an der
Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik etwa 6000 Bildund Textzeugnisse,
Skulpturen und textile Arbeiten von rund 500 Patienten aus psychiatrischen
Kliniken und Anstalten aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und den
Niederlanden gesammelt und nicht nur als Krankheitssymptome, sondern auch als
Ausdrucksformen einer epochalen "Entfremdung der Wahrnehmungswelt"
interpretiert. Zahlreiche Künstler wie Hans A r p , Paul K I e e , Max E r n s t
, ließen sich dadurch inspirieren, und für die Surrealisten wurde P r i n z h o
r n s Untersuchung zu einer Art „Bibel". Eine Heidelberger Bürgerinitiative hat
neuerdings den Bau eines „Prinzhorn-Museums" gefordert, ohne bei dem
Wissenschaftminister des Landes Baden-Württemberg auf finanzielle Gegenliebe
gestoßen zu sein. Eine ständige öffentliche Präsentation könnte, wie Thomas W a
g n e r in der FAZ vom 7. Juli 1993 schreibt, „das Bewußtsein wachhalten, daß
Kreativität unteilbar ist" und damit „der noch immer vorhandenen Tendenz zur
Stigmatisierung und Ausgrenzung psychisch Kranker entgegenwirken". Aber Geld hat
heute Vorrang vor kulturellen und sozialtherapeutischen Aufgaben! Der neue
Besitzer der Wahrendorffschen Kliniken, Dr. med. W i I k e n i n g hat die
dortige „Kreativschule für Ausdruck und Erleben" („AuE") stillegen lassen, weil
sie ein zu teueres „Freizeitvergnügen" für die Patienten sei!
Das von P r i n z h o r n angestoßene Thema „Psychopathologie und Kunst" ist in
seinen diagnostischen und therapeutischen Aspekten, auch in sei ner Beziehung
zur modernen Kunst von zahlreichen Autoren aufgegriffen und vertieft worden (Bader,
von Baeyer und Häfner, in der Beeck, Birnbaum,
Delay und Volmat, Gauger, Hellpach, Irene Jakab, Lemke, Lieser, Morgenthaler, Richard
Arved Pfeiffer (Leipzig), Rennert, Spoerri, Winkler u.A.
Nicht vergessen werden sollte, daß Karl Jaspers, dervon1909 bis1915 als
Volontärassistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg tätig
gewesen ist, mit seinen Studien über Van Gogh, Strindberg 403
und Nietzsche die Grundlagen für eine wissenschaftliche Pathographie
geschaffen hat.
Ich erinnere mich übrigens, daß mein Braunsberger Schulkamerad und späterer
Freund Ernst L i c h t e n s t e i n mir erzählte, er habe - ich glaube, es war
1923 - in Heidelberg den inzwischen zum Ordinarius für Philosophie ernannten
Karl J a s p e r s mit Begeisterung gehört und in ihm den kommenden großen
Philosophen gesehen. Erst viel später, aber noch bevor ich mich dem Denken H e i
d e g g e r s öffnete, habe ich die philosophischen Arbeiten von J a s p e r s
und dann vor allem auch sein fundamentales Werk Allgemeine Psychopathologie"
gelesen, die Frucht seiner Heidelberger Psychiatrie-Zeit.
Anstaltspsychiatrie und Forschungsarbeit
Wenn ich auch als vielbeschäftigter leitender Arzt der - für nur einen Chefarzt
erheblich zu großen Wahrendorffschen Anstalten nie aufgehört habe,
wissenschaftlich zu arbeiten, so hätte ich mich auf Karl J a s p e r s berufen
können, der in seiner „Allgemeinen Psychopathologie" sagt: „... die
Anstaltspsychiatrie ist ihren Mitteln und ihrem Material nach jedenfalls berufen
zu einer wissenschaftlichen Arbeit, die an Bedeutung ihrer ruhmvollen Vorzeit
nichts nachzugeben braucht. Sie allein kann in dem engen, regelmäßigen
Zusammenleben mit den Kranken durch lange Zeiten hindurch die psychiatrischen
Persönlichkeiten bilden, die auf Grund ihrer reichen Anschauung feiner
beobachtete Biographien Kranker liefern, ein tiefer in die seelischen
Zusammenhänge des Kranken eindringendes, nacherlebendes Einfühlen entwickeln."
Er fügt hinzu: „Es sind Stimmen laut geworden, daß Anstaltspsychiater nichts
Wissenschaftliches mehr leisten können. Hier wie immer handelt es sich darum, ob
Persönlichkeiten da sind, die von sich aus die Initiative zu eigener
wissenschaftlicher Arbeit ergreifen. Dann geht es immer."
Dem füge ich hinzu: Wer aber annehmen sollte, wissenschaftliche Durchdringung
psychopathologischer Phänomene könne schwer vergleichbar mit ärztlichem Helfen
sein, dem ließen sich die Worte Wilhelm G r i e s i n g e r s zur Eröffnung der
Psychiatrischen Klinik an der Berliner Charité entgegenhalten: „Meine Herren!
Glauben Sie nicht, daß die menschliche Teilnahme erlöschen müsse, wo die
wissenschaftliche Forschung beginnt."
404
Es gehört zu den „Spiral-Bewegungen" in der Geschichte der Psychiatrie, daß die
Forschung, die von der Anstaltspsychiatrie ausgegangen war und sich seit G r i e
s i n g e r allmählich in die Universitätskliniken verlagert hatte, wieder in
ihre Ursprungssstelle zurückkehrt. Diese Entwicklung ist schon deshalb zu
begrüßen, weil allein die neuen pharmakologischen und psychotherapeutischen
Behandlungsmethoden eine solche Fülle von Fragen aufgeworfen haben, daß sie von
den Kliniken alleine nicht untersucht werden können. Zudem verfügen die
Anstalten über ein Krankengut, das sich in seiner Vielseitigkeit, im besonderen
in dem großen Anteil an Langzeitpatienten, von den überwiegend akuten und
subakuten Erkrankungen an den Kliniken unterscheidet. Die Langzeitpsychiatrie
ist eine andere als die Kurzzeitpsychiatrie. Auf das Gesundgebliebene im
psychisch Kranken bin ich überhaupt erst durch täglichen Umgang mit meinen
Langzeitpatienten aufmerksam geworden. Neue Möglichkeiten für das interessante
Studium des Stilwandels psychotischer Symptome ergeben sich erst durch
vergleichende Untersuchungen an Anstaltspatienten, die vor Jahrzehnten und
solcher, die erst vor kurzem erkrankt und deren Wahninhalte von dem Wandel der
geistes- und gesellschaftlichen Entwicklung geprägt sind. Zu einer
Auseinandersetzung der konstitutionstypologischen Lehre Ernst Kretschmers
und dem Versuch, die Dimension des Geschichtlichen in die psychopathologische
Phänomenologie einzuführen, bin ich erst durch meine Arbeit in Ilten angeregt
worden.
Nicht nur in der Klinik, auch im psychiatrischen Krankenhaus, der „Anstalt" muß
die Forschung der Praxis und die Praxis der Forschung dienen. Es soll mit
wissenschaftlichen Methoden an der Vervollkommnung diagnostischer und
therapeutischer Praktiken, im besonderen auch an einer Verbesserung der
Versorgung der Sorgen- und Stiefkinder, unseren Langzeitkranken, gearbeitet
werden; und die klinische Beobachtung der Symptomatik und des Verlaufes
psychischer Krankheiten soll zu theoretischen Überlegungen anregen, die dann
wieder Impulse für neue Erkenntnismöglichkeiten geben können. Dieser geistige
Kreislauf wurde auch von uns in Ilten-Köthenwald angestrebt und in einer Reihe
von Veröffentlichungen meiner Mitarbeiter erreicht. Editha v. Borcke,
Bern Carrière, Lothar Habel, Fritz Hillers, Egon Höhnke,
E. Jahnke und E. Le Beau, Bernhard Knick, Ernst-August
Lapp, Francisco Llavero, Klaus Lührs, Wolfgang Quensel,
Klaus
405
Römer, Emil Thiemann, Hans W i e h I e r . Von mir selbst sind in
meiner Iltener Zeit (1949-76) insgesamt 103 Arbeiten, darunter mehrere Lehr- und
Handbuchbeiträge, publiziert worden. Die Zahl der Vorträge, die ich in
Deutschland und im europäischen und außereuropäischen Ausland gehalten habe,
habe ich nicht im Kopf. Angaben hierzu finden sich in mehreren Ausgaben von
Kürschners Deutschem Gelehrtenkalender von "Wer ist Wer - Das deutsche Who is
who", von „Who is who in Germany" und in „Who's Who in Europe", Edition 1
1964-65 Bruxelles. Die schriftliche Fixierung solcher
wissenschaftsbiographischer Angaben ist immer mit dem unbehaglichen Gefühl der
narzißtischen Selbstdarstellung verbunden, dessen man sich um so weniger
erwehren kann, je älter man wird. Aber man soll „sein Licht auch nicht unter den
Scheffel stellen". Nach meiner Pensionierung, im "wohlverdienten" Ruhe"-Stand,
habe ich außer den angegebenen noch weitere 13 Arbeiten veröffentlicht.
Hier muß ich dankbar meiner fruchtbaren Zusammenarbeit mit Professor Francisco L
I a v e ro , Catedràtico (Ordinarius) für Psychiatrie, dem führenden, inzwischen
weltbekannten Repräsentanten der spanischen Psychiatrie, gedenken. L I a v e r o
hatte in München bei B u m k e und in Zürich bei dem Physiologen und
Nobelpreisträger H e s s gearbeitet und war auf meine Arbeit
„Psychopathologische Reaktionen der Kriegs- und Nachkriegszeit" aufmerksam
geworden. Er schrieb mir, und ich lud ihn zu einem „Wochenendgespräch" in Ilten
ein. Er kam sofort, und das Wochenende dauerte zwei Jahre. Sein Ertrag war eine
bedeutende wissenschaftliche Leistung, das im Thieme-Verlag 1953 erschienene
Buch „Symptom und Kausalität - Grundfragen der Neurologie und Psychiatrie", und
eine enge, über 40 Jahre anhaltende und ungetrübt gebliebene Freundschaft.
Francisco („Paco" oder „Tio", auch unser „Tiochen") wurde in den Nach-Iltener
Jahren zum kämpferischen, auch publizistisch äußerst produktiven Wegbereiter
einer Reform der Psychiatrie und des Hochschulwesens in Spanien, Ehrenmitglied
des Weltverbandes der Psychiatrie und Präsident bei den Weltkongressen der
Psychiatrie in Athen und Rio de Janeiro mit grundlegenden Beiträgen zu seinem
Konzept einer „Anthropologischen Psychiatrie". Bei meiner offiziellen,
öffentlichen Verabschiedung am 27. Oktober 1976 hielt er eine von meinem
ehemaligen Mitarbeiter und späteren Freund Bern C a r r i e r e in Deutsch
vorgetragene Rede, die er mit einer Laudatio auf Antonia abschloß:
406
„... Mit Absicht stelle ich an den Schluß meiner Ausführungen die Erwähnung
einer Frau mit angeborener Sympathie und gutem Geschmack, eine große und kluge
Persönlichkeit, voller Menschenkenntnis, mit feinem und sicherem Instinkt, die
allen sie umgebenden Personen das Leben angenehmer zu gestalten wußte und auch
jetzt noch weiß, eine Persönlichkeit, die alle diese Tugenden mit einem
lebhaften Temperament vereinigt: Es handelt sich um die unermüdliche Frau
Professor Janz. In liebevoller Erinnerung an meinen Aufenthalt hier, bei dem mir
so viele Erleichterungen für meine Arbeit geboten worden sind, bleibt mir zum
Abschluß nur noch übrig, aus vollem Herzen Dank zu sagen und meine große
Dankbarkeit für alles an Alle zum Ausdruck zu bringen..."
Mit der Belebung des ärztlichen Tuns in einer Psychiatrischen Anstalt" al ten
Gepräges durch wissenschaftliche Arbeit läßt sich der Gefahr entgegenwirken, daß
dieses Tun im Gleichmaß und in der Routine des Alltags erstarrt. Man sagte
früher, - wenig zartfühlend, aber nicht ganz unzutreffend - von Mittag an
beginne die Anstaltsdemenz" ! Durch wissenschaftliche Bemühungen kann so der
Obergang von der früheren Anstaltsatmosphäre zu einer „Klinik der
Anstaltspsychiatrie" ermöglicht werden, wie der frühere Leiter der-
Westfälischen Landesanstalt Gütersloh und spätere Ordinarius der Psychiatrie in
Tübingen, Walter Schulte , den neuen Typus des Psychiatrischen Krankenhauses
genannt hat. Auf diese Weise ließe sich auch die Kluft zwischen der Kliniks- und
der Anstaltspsychiatrie wenigsten teilweise überwinden. .
Psychiatrie Kritik und Vorurteil
Die Forschungsimpulse, die sich heute in den Anstalten regen, könnten überdies
beitragen zum Abbau der teils berechtigten, teils unberechtigten Vorurteile
gegen die Psychiatrie im allgemeinen und gegen die Anstaltspsychiatrie im
besonderen.
Not- und Mißstände in Psychiatrischen Anstalten sind, auch von Patienten selbst,
zur Genüge und bisweilen in verzerrenden Verallgemeinerungen, angeprangert
worden (Ernst K I e e , „Psychiatrie-Report", Fischer Taschenbuchverlag 1978,
Frank F i s c h e r , „Irrenhäuser - Kranke klagen an", Verlag Kurt Desch 1969)
psychiatrische Anstalten wurden als „furchtbare Ghettos" bezeichnet, (Jan P o h
I Süddeutsche Zeitung Nr. 1/1978 ) usw. Vieles an berechtigter
407
Kritik des „Elends der Psychiatrie" und an veralteten Einstellungen der
Psychiater selbst teile ich. Anderes aber bedarf selbst schärfster Kritik, etwa
Ernst Klees Worte: „Früher wurden sie vergast, heute ..." oder „die herrschende
Psychiatrie ist antipsychiatrisch, in Lehre und Praxis ..." oder wenn er vom
„Niederknüppeln psychischer Leidenserfahrung mit der Pillenkeule" spricht. So
braucht es nicht zu verwundern, wenn ich mir von intelligenten gebildeten
Angehörigen eines Patienten vor dessen Aufnahme in unsere Klinik sagen lassen
mußte, er habe eine panische Angst vor dem Irrenhaus", weil er fürchte, die
Türen der „Klapsmühle" würden sich für immer hinter ihm schließen, die „Wärter"
könnten ihn mit Lederriemen oder Stöcken schlagen - und sie, die Verwandten,
teilten seine Befürchtungen! Ein Zeitungsreporter fragte mich einmal ganz
offenherzig, ob unsere Pflegern "bewaffnet" seien!
Vorurteile dieser Art beruhen nicht alleine auf tatsächlichen Mißständen,
sondern auch auf irrationalen Nachwehen dämonologischer Vorstellungen aus dem
Mittelalter, die in seelisch Kranken vom Teufel Besessene sahen und sie mit
Verbrechern zusammen in »Zucht-, Tob- und Narrenhäusern" einsperren ließen. Auch
die unheilvolle Erinnerung an die organisierten Massenmorde an psychisch Kranken
und geistig Behinderten im "Dritten Reich" mag noch nachwirken, wie man an Klees
scharfer Formulierung sieht.
Bei aller notwendigen Selbstkritik des Psychiaters steht ihm aber auch das Recht
zu, vor sachlich unbegründeten, zum Teil ideologisch motivierten Anschuldigungen
oder Verdächtigungen geschützt zu werden. Dazu kann er selbst beitragen, indem
er Vertreter der Presse und der Massenmedien einlädt, sich über die schwierigen
Probleme der Unterbringung und therapeutischen Versorgung psychisch Kranker
sachgemäß, auch an Ort und Stelle, zu informieren und der Öffentlichkeit darüber
zu berichten. Kritisieren ist leicht, Bessermachen schwer! Mehr denn je hat die
Psychiatrie heute auch eine öffentliche Aufgabe. Ihrem Zweck dienen Vorträge vor
Laien über praktische und wissenschaftliche Themen aus dem Gesamtgebiet der
Psychiatrie, Vorlesungen in Volkshochschulen, Jugendgruppen und in den
Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Veröffentlichungen in kulturpolitisch,
geistes- und gesellschaftswissenschaftlich orientierten Zeitschriften, in der
Laienpresse und im Fernsehen. Durch Zusammenarbeit mit Medizinjournalisten kann
die von manchen Ärzten zu Unrecht gescheute Popularisierung der Wissenschaft
gefördert und ihre vermeintliche
408
Degradierung zur „Demimonde des sciences" am ehesten vermieden, unsachgemäß
entstellenden Presseberichten vorgebeugt und die Öffentlichkeit zum Verständnis
für die mühevolle Arbeit des Psychiaters motiviert werden. Leider sind die
Reformvorschläge der 1975 vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlichten
„Psychiatrie-Enquete" (1800 Seiten!), in deren Zwischenbericht 1973 es hieß:
„Die Lage der psychisch Kranken ist teilweise noch menschenunwürdig und
unmenschlich", im Ganzen gesehen bisher noch Utopie geblieben. Ich habe dieser
Expertenkommission für den Bereich der Abhängigkeitskrankheiten selbst angehört.
Auch hier konnte vor allem in der Vorbeugung, der Gesundheitserziehung und der
Nachsorge mit gesundheitspolitischen Reformvorhaben noch nichts Entscheidendes
erreicht werden. Ich bin mir manchmal wie ein Don Quichote oder ein Prediger in
der Wüste vorgekommen, wenn ich einen „gemäßigten staatlichen Dirigismus" für
die Aufgaben einer wirksameren Abwehr des gesundheits- und sozialpolitischen
Notstandes der Alkoholgefahren gefordert habe. Besonderen Wert habe ich auf den
Austausch mit Erfahrungen ausländischer, auch außereuropäischer Psychiater
gelegt, aus denen ich bei Vortrags- und Kongreß- oder Studienreisen und durch
die Tätigkeit von Gastärzten viel lernen konnte.
Der psychisch Kranke als "Irrer"
Als ärgerliches Hemmnis der Aufgabe, die Öffentlichkeit sachgemäß über das Wesen
psychischer Krankheiten und die Bemühungen der Psychiater zu informieren,
empfinde ich den noch weit in unser Jahrhundert hinein gebräuchlichen, heute von
manchen Journalisten im abwertenden Sinne gemeinten Ausdruck „Irrenhäuser",
"Irre", „Irrenärzte". Die abfällig klingende Bedeutung des Wortes mag auf einer
uneingestandenen Angst beruhen, selbst „irre", also Gegenstand psychiatrischer
Observanz, zu werden oder, wie man nicht selten hört, als Gesunder in einer
„Irrenanstalt" zu verschwinden. Immer wieder habe ich versucht, dieser Angst
entgegenzuwirken - Angst macht dumm! - , indem ich betonte, daß ein seelisch
Kranker unser Mitmensch und kein Mensch minderen Wertes sei, daß er nicht mehr
„irre" oder „verirrt" ist als ein Gesunder, sondern daß er nur auf andere Weise
als ein „Irrender" oder „Verirrter" verstanden werden müsse. Man brauche deshalb
keine Angst vor ihm oder vor dem Psychiater
409
zu haben. In meiner Dankesrede zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes habe
ich erwähnt, auf nichts sei ich so stolz wie auf die Äußerung eines früheren
Patienten, ich hätte ihm „die Angst vor dem Psychiater genommen".
Es entsprach daher ganz meinem Verständnis von der Person des psychisch Kranken,
daß der frühere Hamburg-Eppendorfer, spätere Gütersloher Psychiater Klaus D ö r
n e r und die Psychologin Ursula P I o g ein sehr gescheites, im besten Sinne
modernes und dazu gut lesbares Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie unter dem
etwas waghalsigen Titel „Irren ist menschlich" veröffentlichten. (Psychiatrie
Verlag Rehburg-Loccum, völlig neubearbeitete Ausgabe 1984). Der Titel, so
schreiben die Autoren, soll „daran erinnern, daß die Psychiatrie ein Ort ist, wo
der Mensch besonders menschlich ist, d.h. wo die Widersprüchlichkeit des
Menschen oft nicht auflösbar, die Spannung auszuleben ist: so das Unmenschliche
und Übermenschliche, das Banale und Einmalige, Oberfläche und Abgründige, das
Kranke und Böse, Weinen und Lachen, Leben und Tod, Schmerz und Glück, das
Sich-Verstellen und Sich-Wahrmachen, das Sich-Verirren und Sich-Finden."
„Sozialpsychiatrie"
In diesem Buch fehlt übrigens der inzwischen gängig gewordene Begriff
„Sozialpsychiatrie". Die Verfasser halten ihn zu Recht für überflüssig, für eine
Tautologie. Denn „Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder sie ist keine
Psychiatrie". Gleichwohl haben wir einer unter diesem Namen
institutionalisierten Orientierung der Psychiatrie an sozialen Aufgaben, auch im
Sinne der von der Psychiatrie-Enquete empfohlenen Reformvorhaben seit etwa 1960
wesentliche Fortschritte zu verdanken. Ich nenne nur die Namen F i n z e n , K i
s k e r , Kulenkampff , Bauer , Häfner , Bosch , Wulff . Besondere Verdienste um
eine Annäherung an die Ziele einer verbesserten Versorgung psychisch Kranker und
Behinderter und damit auch um die Förderung der Information und eines größeren
Interesses der Bevölkerung, auch als Appell an die Verantwortung der Politiker,
hat sich die von dem Bundestagsabgeordneten der CDU Walter P i c a r d
gegründete und von ihm und Prof. Caspar K u I e n k a m p f f vertretene „Aktion
psychisch Kranke" erworben.
410
Also: Es ist schon einiges auf den Weg gebracht worden. Aber der Weg ist
mühselig und das Ziel ist fern! Eines der schwersten Probleme der
Krankenhaus-Psychiatrie ist und bleibt die Versorgung der Langzeitpatienten. Es
wird geschätzt, daß je ein Drittel von ihnen voll rehabilitierbar oder zu
bessern ist, daß aber ein Drittel hospitalisierungsbedürftig bleibt. Etwa 200
000 Menschen müssen jährlich in der Bundesrepublik Deutschland von
psychiatrischen Kliniken, Krankenhäusern und Abteilungen aufgenommen und
behandelt werden!
Vieles blieb bei meinem Weggang aus Ilten 1976 noch zu tun übrig, und ich machte
mir einen Satz, den Ferdinand W a h re n d o rf f in dem Schlußwort seines
zweiten Anstaltsberichtes im Jahre 1895 niedergeschrieben hat, Wort für Wort zu
eigen: „Niemand kann mehr als ich selbst der Unvollkommenheiten des Geschaffenen
und der eigenen Unzulänglichkeit sich bewußt sein und fühlen, wie weit dieses
Geschaffene hinter dem Gewollten und Gesollten noch zurückblieb, wie viel den
nach mir Kommenden zum Ausbau des unfertigen Gebäudes zu tun übrig bleiben
wird."
Aber es hat seinen Sinn, daß wir nichts Vollkommenes schaffen können. Das
Unvollendete, „Imperfekte", ist ein Merkmal des Lebens. „Perfekt", abgeschlossen
ist nur der Tod. Wäre alles, was wir schaffen, vollkommen, gäbe es nichts zu
erstreben und zu erhoffen. Ohne die Unzulänglichkeiten, vor die uns das Leben
stellt, ohne die Möglichkeiten, die es offen läßt, gäbe es kein Fortschreiten
auf dem Wege zum Besseren. Ein wirklicher Fortschritt aber ist nur möglich, wenn
der Sinn für Tradition lebendig bleibt.
Besinnung auf Tradition
Besinnung auf Tradition heißt nicht, auf ihr stehen zu bleiben,
sondern eine neue Tradition vorzubereiten, heißt aber auch Achtung vor dem, was
unsere Vorfahren geschaffen haben, „auf deren Schultern wir stehen", wie G o e t
h e gesagt hat. Sie schützt uns vor Überschätzung der eigenen Leistung, vor dem
selbstzufriedenen Irrtum, jetzt, mit den Nachfahren, beginne erst der
eigentliche Fortschritt. Sie kann uns auch bewahren vor Irrtümern und Irrwegen,
die früher begangen worden sind. Aber das Bewußtsein einer lebendigen
Verbundenheit mit dem, was vor uns geleistet und uns überliefert worden ist,
enthält noch mehr als einen pädagogisch-pietätvollen Sinn für das geschichtlich
Gewordene: Es ist
411
eine Bedingung aller Kultur. Gabriel M a r c e l hat den Begriff Tradition als
unser geistiges Erbe mit den Begriffen Gnade und Dankbarkeit verbunden, die das
Französische in dem Doppelsinn des Ausdrucks „action de grâce" vereinigt.
Traditionslosigkeit bedeute daher auch Danklosigkeit. „Darum können wir jemanden
als Enterbten betrachten, der nicht mehr die Kraft der Dankbarkeit besitzt." Wir
dürfen somit sagen: Das Schwinden der Dankbarkeit in unserer Zeit ist ein
Merkmal jenes Typus des Menschen, der nicht sein geistiges Erbe, sondern nur
noch sein Ich kultiviert, für den es nur Ansprüche, keine .Gnade' mehr gibt "
Wir, die Nachfahren, habe ich in meiner Schrift .100 Jahre Ilten - 100 Jahre
Psychiatrie" von meiner Generation geschrieben, wollen nicht zu den ,;Enterbten"
gehören, sondern denen danken, ohne deren Schaffen unser eigenes Wirken und
Weiterstreben nicht möglich wäre. „Im Namen unserer Kranken sei jedem gedankt,
der bemüht war und ist, ihnen im Geiste des Gründers zu helfen! Denen aber, die
künftig hier tätig sein werden, sei gewünscht, daß es ihrer Arbeit gelingen
möge, unserem Ilten-Köthenwald den alten Ruf einer Heimstatt des Helfens zu
bewahren und das überlieferte zu neuen, verbesserten Formen des Dienstes am
seelisch kranken oder gefährdeten Mitmenschen zu entfalten!"
Nebenbei sei erwähnt, daß der jetzige Besitzer des „Klinikums Wahrendorff`, Dr.
med. W i I k e n i n g , die Büste des Gründers aus dem Amtshaus, der Keimzelle
des „Asyls Ilten", hat entfernen lassen!
Was unter meinem Nachfolger Dr. med. Jan C o r n e I s e n an Neuerungen
geschehen und geplant ist, habe ich im Einvernehmen mit ihm in einem „Nachtrag
und Ausblick" zu „100 Jahre Ilten - 100 Jahre Psychiatrie" für die Zeit von 1976
- 1984 dargestellt.
Das allgemeine Ziel einer künftigen Psychiatrie bleibt das, was es bei allen
Unzulänglichkeiten, Irrwegen und Rückschlägen seit jeher gewesen ist: „Den sich
selbst und seiner Mitwelt entfremdeten Kranken (den `Aliéné') von seiner teils
krankheits-, teils gesellschafts-, teils auch institutionsbedingten Isolierung
oder ,Ausgrenzung' so weit wie möglich zu befreien und ihn gemeinschaftsfähig
werden wie ihn zu sich selbst zurückfinden zu lassen. Ich füge hinzu: Ohne seine
personale Individualität soziozentrischen Dogmen und hypertrophierenden
Gruppenpraktiken zu opfern!"
412
So mag dieser Rückblick und Ausblick in eine psychiatriegeschichtliche
Erinnerung münden: in die Worte, die Wilhelm G r i e s i n g e r im Jahre 1868
an seine Hoffnung knüpfte, „die große Reform in der praktischen Psychiatrie, das
Werk des unsterblichen C o n o I I y , möge dazu führen, daß „mehr und mehr die
Zahl der freien Colonisten die Zahl der Bewohner der geschlossenen Anstalt
überwiegen wird"! „Es ist dies aber eine Frage der Zukunft, der wir dann getrost
auch Etwas zu tun überlassen dürfen, wenn wir selbst in der Gegenwart das
Unsrige tun." Vielleicht sollte man sich auch an den Gedanken eines Schweizer
Psychiaters aus dem 19. Jahrhundert erinnern: Der Zustand psychiatrischer
Einrichtungen sei ein Maßstab für das kulturelle Niveau eines Landes!
Ich hätte für Ilten, meine Lebensaufgabe, nichts tun und bewirken können ohne
meine ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mir
geholfen haben, eine zuverlässige, von gegenseitigem Vertrauen getragene
Arbeitsgemeinschaft aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Trotz der Zweiteilung
in den Iltener und den Köthenwalder Bereich bildeten wir, was auch Robert C o r
n e l s e n immer betonte, eine große Familie. Mit Dr. Josef W e r t h , der
sich schon unter meinem Vorgänger, Prof. Willige , hervorragend bewährt hatte,
konnte ich einen Oberarzt übernehmen, der mich in die - für mich fast völlig
neue - Arbeit mit den Köthenwalder Langzeitpatienten einführte und mit deren
praktischen Problemen (Bekleidung, Essen, Arbeit usw.) vertraut machte. Josef W
e rt h war ein Arzt, der vornehme Gesinnung mit gütiger Haltung, klarem Urteil,
leisem Humor und musischem Geist verband - ein Glücksfall für die
Wahrendorffschen Anstalten! An seinem Grabe - er starb 1992 nach langem,
qualvollem, vorbildlich ertragenem Leiden, von seiner Frau Annelore
bewundernswert betreut - habe ich versucht, in wenigen Worten seiner zu
gedenken: „Von einem Freunde, wie unser Josef W e rt h es war, Abschied nehmen
zu müssen, ist besonders schwer. Er war der Freund seiner Kranken. Jeden
einzelnen hat er gekannt. Er war der gute Geist von Köthenwald. Er hat den Geist
eines Arzttums vorgelebt, von dem wir nur wünschen können und hoffen dürfen, daß
er beispielgebend nachwirken möge! Dafür haben wir Alle ihm zu danken. Ich danke
ihm im Namen der Kranken, die ihm anvertraut waren. Ich danke ihm im Namen
seiner ehemaligen Mitarbeiter, der ärztlichen und der nichtärztlichen. Ich
selbst werde ihm immer dankbar bleiben für das, was er mir
413
in jahrzehntelanger vertrauensvoller und freundschaftlicher Zusammenarbeit
bedeutet und gegeben hat!"
Schon in meiner ersten Iltener Zeit hatte ich das Glück, fachlich
hochqualifizierte, erfahrene, darunter zwei habilitierte Kollegen, K ü h n und Q
u e n s e I , und einen jugendund kinderpsychiatrisch vorgebildeten Arzt,
zugleich DiplomPsychologen, H i l I e r s , gewinnen und dann auch jüngere,
befähigte, für psychiatrische und neurologische Aufgaben meist passionierte
Ärzte einstellen zu können. Von den vielen Mitarbeitern, die nach ihnen gekommen
sind und Dankenswertes für unsere Kranken geleistet haben, nenne ich namentlich
nur die, mit denen sich im Laufe der Jahre eine freundschaftliche Verbundenheit
mit mir entwickelt hat. Ihr Vertrauen und ihre Treue bedeuten mir ein Geschenk,
das mein spätes Leben bereichert. Bern und Jutta C a r r i e r e , Günther und
Helga C i c h o n , Lothar H a b e l , Egon H ö h n k e , Eugen Sturm , Rolf-
Vahlbruch , Hans Wiehler.
Daß ich auch einige menschlich schwerwiegende Enttäuschungen erleben mußte,
gehört zur allgemeinen Lebenserfahrung und verdient nicht näher erwähnt zu
werden.
Aber ich muß noch der jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit Frau Marlise
Wahrendorff gedenken, deren bei Neuerungen bisweilen unbequeme Sparsamkeit durch
ihren Humor gemildert wurde. Das Letzte, was wir miteinander - wohlgelaunt -
erlebten, war eine Studienreise zu psychiatrischen Einrichtungen in „Leningrad°,
dem heutigen St. Petersburg, und Moskau im Jahre 1975. Frau Marlise,
passionierte Jägerin, starb auf der Fahrt zur Jagd, deren Ergebnis als Festessen
für die Feier ihres 75. Geburtstages vorgesehen war, durch einen Autounfall.
Vortrags- und Vorlesungstätigkeit
Mein Debüt in der Öffentlichkeit gab ich mit zwei Vorträgen über
„Psychopathologische Probleme der Daseinkrisis unserer Zeit" im Außeninstitut
der Technischen Hochschule Hannover und im Außenstitut der Bergakademie
Clausthal-Zellerfeld im Januar und Juli 1949.
414
In einer Rezension der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung war - rühmend - zu
lesen: „... In sehr kluger und treffsicherer Weise behandelte Dr. Janz als Arzt
und Philosoph, erkenntniskritisch und gefühlsmäßig zugleich, die ,Krankheit
unserer Zeit', ging ihren vielfältigen Ursachen und Wirkungen nach - sie sind
nach ihm das Endergebnis einer längeren, bereits nach der Jahrhundertwende oder
noch früher einsetzenden, zur Vermassung, Entpersönlichung und Entgötterung
neigenden, verhängnisvollen Entwicklung - und vergaß schließlich auch nicht,
Wege zur Überwindung der vielfachen ,Fehlreaktionen' anzudeuten.
Wohlabgewogenheit des Urteils, die dem Einzelwesen wie auch der Zeit, der
Persönlichkeit wie der Geschichte ihren Anteil an dieser Entwicklung zuteilt,
war ein hervorstechendes Merkmal des weitgespannten Vortrags..."
Ausführlicher, unter dem etwas mißverständlichen, von Georg B e r n a n o s
entlehnten Titel „Krisis des schlechten Gewissens" wurden meine Gedanken von
Professor U r b a c h in der gleichen Zeitung besprochen. „Der bekannte
Psychiater" habe gesagt, die Merkmale der „Daseinskrisis unserer Zeit" seien
etwa zu umreißen als Abfall von Gott, Fehlen einer klaren Idee als allgemein
verbindlicher und wirksamer Glaubenskraft, Abkehr von der Innenwelt zur
Außenwelt, Dasein ohne Wesensmitte, Nivellierung, -Versachlichung und Entseelung,
schroffes Nebeneinander von Triebgebundenheit und Rationalität, neben dem
intelligenten Machtmenschen mit seinem expansiven Geltungs- und Leistungsstreben
ohne geistige und ethische Ziele, der Kollektivmensch mit seinen entfesselten
vitalen Triebkräften (Sex, Suchten, Sensationsgier). Die Sinn-Entleerung des
Daseins führe zu Angst, Mißtrauen, Unwahrhaftigkeit. Die angestauten Ängste
äußerten sich in Neurosen, Depressionen, Häufung der Suizide, vegetativen Herz-
und Magenfunktionsstörungen. Die seelischen Belastungen des Zweiten Weltkrieges
hätten ein kälteres Bewußtsein geschaffen, aus dem die großen Gefühle, der
innere Schmerz, die tiefe Trauer, der heilige Anruf des Todes verdrängt und
geschwunden seien. Aber wir müßten uns zu den nihilistischen Ursprüngen dieser
Gefahren, zu unserer unbewältigten Daseinsangst bekennen, um aus der allgemeinen
und der individuellen Krisis zu uns selbst zurückzufinden.
So ungefähr hat der Rezensent versucht, den Inhalt meines Vortrages
wiederzugeben. Ich besitze kein Manuskript mehr, habe das Thema in seinen
vielfältigen Aspekten in meinen Hamburger Vorlesungen zu behandeln versucht,
415
aber nie zum Abschluß gebracht. Es wuchs mir, wie manches andere, über den Kopf.
Die Entwürfe liegen in meinen Schubladen. Unter dem gleichen Titel habe ich noch
einmal auf Einladung des Außeninstitutes der Bergakademie Clausthal-Zellerfeld
am 5. Juli 1949 gesprochen und bei den dortigen Studenten und Dozenten eine
höchst lebendige Diskussion ausgelöst. Überhaupt fand ich in Clausthal ein
ungemein anregendes geistiges Klima vor, und ich freundete mich schnell mit
Professor Dr. E. P i e t s c h an, dem Direktor des Instituts für anorganische
Chemie und Grenzgebiete der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der
Wissenschaften. Er hatte mich zu dem Vortrag eingeladen und schenkte mir mit
einer dankbaren Widmung die in Buchform 1949 erschienenen Beiträge einer auf
hohem Niveau stehenden Arbeitstagung seines Institutes »Naturwissenschaft,
Religion, Weltanschauung", in die er selbst mit Gedanken zum Problem "Vernunft
und Glaube" eingeführt hatte. Er schließt mit einem Zitat von Max P I a n c k :
"Gott steht für die Religion am Anfang, für die Naturwissenschaft am Ende des
Denkens. Wohin und wie weit wir blicken mögen: Zwischen Religion und
Naturwissenschaft finden wir nirgends einen Widerspruch. Wissenschaft und
Religion sie bilden in Wahrheit keinen Gegensatz, sondern sie benötigen einander
in jedem ernsthaft nachdenkenden Menschen zu gegenseitiger Ergänzung."
Nach mir sprach in Clausthal der Kölner Kunsthistoriker Heinrich L ü tz e l e r
, ein durch hochgradige Wirbelsäulenverkrümmung erschreckend kleinwüchsiger
Mann, über Edvard M u n c h , mit dem Kopf gerade noch über das Katheder
herausragend, aber sprühend vor Geist und Temperament. (Nebenher hat er ein
köstliches Büchlein über den Kölner Humor verfaßt.) Zu dem Gesprächskreis um
Prof. P i e t s c h gehörten auch ein bulgarischer Philosoph Dr. Georgi S c h i
s c h k o f f und eine enthusiastische "Jüngerin" des berühmten Verfassers des
„Reisetagebuchs eines Philosophen" Graf Hermann K e y s e r l i n g . („Als
Gottes Atem leiser ging, schuf er den Grafen Keyserling.") S c h i s c h k o f f
, mit Prof. Eduard M a y , Berlin, Herausgeber des „Philosophischen
Literaturanzeigers", eines Referate-Organs für die Neuerscheinungen der
Philosophie und ihrer gesamten Grenzgebiete, das ich damals eifrig gelesen habe,
war dem kommunistischen Bulgarien entflohen wie ich der „Deutschen
Demokratischen Republik". Als ich ihn fragte, wie er die Leute des
416
Regimes in Sofia beurteile, gab er die einfache Antwort: „Alles Verbrecher!"
Lebhafte Diskussionen folgten.
Auch mein Vortrag in Hannover führte zur Anbahnung persönlicher Beziehungen.
Gleich ein erstes Gespräch mit Professor Walter S c h e e I e , dem Begründer
und Leiter des Institutes für Kautschukchemie an der Technischen Hochschule
(später „Universität") und Dirigent des dortigen „Collegium Musicum", stieß bei
ihm auf lebhafte Resonanz zum Problem der „Daseinsangst" des heutigen Menschen.
Er selbst hatte unter ihr zu leiden, ohne daß ihm dies recht bewußt geworden
wäre, bevor er durch mein Vortragsthema blitzartig" seine eigene innere
Problematik erkannte. Später erst wurde mir klar, daß sie mit dem Tode seiner
geliebten Schwester Meta zusammenhing: Sie, eine kochbegabte
Literaturwissenschaftlerin, Verfasserin eines bedeutenden Werkes über Rembrandt,
war als Schizophreniekranke ein Opfer der »Eu"-Thanasie im NS Staat geworden.
Walter wie auch seine Frau Hanna - mit uns verband sie später eine herzliche,
durch gemeinsame Interessen, Humor und Munterkeiten beschwingte Freundschaft -
versuchten ihre tiefsitzende Angstbereitschaft durch zwei haltgebende Kräfte zu
kompensieren: Durch die Liebe zur Natur und zur Musik. In jedem Urlaub fuhren
sie an den Ratzeburger See, dessen stille Schönheiten sie innig liebten - er
dirigierte das Orchester der Technischen Hochschule - wir erlebten ein
herrliches Gastkonzert unter seiner Stabführung im Celler Schloßtheater -, und
Hanna war eine konzertreife Liedersängerin. Auch mit der Zuneigung zu Bierchen
und Schnäpschen wußten sie ihre inneren Ängste erfolgreich im Zaum zu halten.
Diese brachen aber durch bei der Begegnung mit allem Technischen, auch mit
baumlosen Straßen, mit hohen Gebäude und steinernen Denkmälern. Als Walter sich
auf einer Vortragsreise in den Vereinigten Staaten von Amerika befand, wurde er
von einer geradezu panischen Angst vor den Riesengebäuden in New York erfaßt,
die sich, wie er sehr eindrucksvoll pantomimisch darstellte, darin äußerte, daß
er immer wieder zu seiner Brusttasche griff, um sich zu vergewissern, ob die
Rückfahrkarte nach Europa noch da war. Erst, als er auf dem Schiff stand und
sich wieder den heimatlichen Wäldern und Seen näherte, konnte er tief aufatmen.
Auch die Boulevards in Paris, der Eiffelturm, die Monumente der Stadt lösten
Ängste in ihm aus.
417
Ich habe versucht, dieses Hin- und Hergeworfensein zwischen Technik und Stein
auf der einen und Natur und Musik auf der anderen Seite ontologisch zu
interpretieren: Dort Unbewegtheit, Gemachtes, Abgeschlossenes („Per-fectum") als
Gleichnis des Todes hier Melodie und Rhythmus, Bewegtheit, Unabgeschlossenes als
Merkmal des Lebens. Also Angst vor Technik und Stein gleich Angst vor dem Tode,
Liebe zu Natur und Musik gleich Hang zum Leben. Eine Bewältigung des
„Geworfenseins" zwischen Todesangst und Lebenshang gelang den lieben Scheeles
nicht, da es ihnen am festen Halt im Glauben an eine transzendente Mitte fehlte,
die Tod und Leben in dem Geheimnis einer irdischen und überirdischen Einheit
verbindet.
Zu den Gegensätzen - nicht Widersprüchen! - im Wesen Walter Scheeles , eines
namentlich in der Kautschuk-Chemie international hochangesehenen, auch
mathematisch begabten Gelehrten, gehörte seine kindliche Freude an Albernheiten,
die er mit mir teilte. Wir hatten z.B. eine „Dummensprache" erfunden, die aus
sinnlosen, unartikulierten Lautbildungen bestand, die in wechselnder Modulation,
mit Betonungen und Abschwächungen, scheinbaren Fragen und Antworten so
vorgetragen wurde, daß sie einen sinnvollen Inhalt und eine gegenseitige
Verständigung vortäuschte und unsere Zuhörerinnen und -hörer sehr erheiterte.
Nach einem „Gespräch" in unserer Dummensprache war es gar nicht leicht, wieder
zur Normalsprache zurückzukehren.
Hamburger Vorlesungen
Nach der Umhabilitation von Leipzig nach Hamburg mußte ich für
meine Vorlesungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik als Gast-Dozent bei
Prof. B ü r g e r- P r i n z Themen wählen, die nicht zum Pflichtpensum und zur
Examensvorbereitung der Medizinstudenten gehörten, sondern „Für Hörer aller
Fakultäten" bestimmt waren: Studenten, auch ältere Semester der Psychologie,
Pädagogik, Philosophie, Sozialwissenschaften, unter ihnen auch ein
Schweizerischer Ethnologe, Dr. phil. C a s p a r . Er hatte zwei Jahre als
einziger Europäer unter den Tu pari, einem zwischen Brasilien und Bolivien noch
im weit vortechnischen Entwicklungsstadium lebenden Indianerstamm, verbracht und
seine hochinteressanten ethnopsychologischen Beobachtungen in Buchform
veröffentlicht. Auf meine Einladung sprach er darüber auch anschaulich und
lebendig
418
vor meinen Mitarbeitern und Patienten in Köthenwald, und wir kamen diesem
gescheiten und sympathischen Mann auch persönlich näher. Er erzählte übrigens,
daß er der Aufforderung des Stammeshäuptlings, seine Tochter zu heiraten und
Stammesmitglied zu werden, nur mit Müh' und Not, fast unter Lebensgefahr,
entgehen konnte. Seine Weigerung wurde als Beleidigung verstanden. Die Tupari
pflegten sich nur in größeren zeitlichen Abständen bei rituellen Anlässen
kollektiv mit einem bierähnlichem Gebräu zu betrinken. Individuelles Trinken und
Alkoholismus gab es ebensowenig wie Diebstahl, Mord und sonstige kriminelle
Handlungen. Die Tupari sind nach C a s p a r s Zeit durch die Masern, die
anscheinend von Händlern oder Missionaren eingeschleppt wurden, nahezu
ausgerottet worden. Sie hatten keine Immunabwehr gegen diese dort zum erstenmal
aufgetretene Infektionskrankheit entwickeln können. Das übrige scheint ähnlich
wie bei den nordamerikanischen Indianern - der Whiskey geschafft zu haben.
Meine Hamburger Vorlesungen hatten Seminarcharakter, und den anschließenden
Colloquien habe ich selbst - docendo discimus - durch kritische Fragestellungen
meiner Hörer manche Anregungen zu verdanken. Nach den kulturell mageren
Kriegsjahren bestand in der Nachkriegszeit ein lebhafter geistiger Hunger, der
nach Sättigung auf Gebieten verlangte, die außerhalb des reinen Fachstudiums
lagen. Meine Hörer folgten daher auch interessiert neuen Fragestellungen, mit
denen die engeren Kompetenzen ihrer und meiner Fachbereiche überschritten
wurden. Für sie erforderte dies ein konzentriertes Mit- und Nachdenken, für mich
eine intensive Vorbereitung auf jede Vorlesung, die ich nach altem Stil im
wörtlichen Sinne vor-las als Einleitung zu der nachfolgenden Diskussion. Im
Laufe der Jahre ließ dieses fachübergreifende Interesse der Studenten allmählich
nach, und sie beschränkten sich mehr und mehr auf die Vorlesungen, die sie für
ihre Examina brauchten. Dies und die Anstrengung, alle 14 Tage nach Hamburg
fahren und am Nachmittag eine Doppelstunde Kolleg halten zu müssen, waren die
Gründe, aus denen ich auf das Angebot Professor Karl Peter K i s k e r s , des
neuen Psychiatrie-Ordinarius an der jungen Medizinischen Hochschule Hannover im
Jahre 1967, hier eine Honorarprofessur zu übernehmen, bereitwillig einging. Mit
Karl Peter und Frau Christa K i s k e r hat uns eine enge, geistig überaus
anregende und durch spätere Nachbarschaft sehr lebendige Freundschaft verbunden.
419
Nun zu den Themen der Hamburger Vorlesungen: Ich begann zunächst mit einer
Einführung in allgemeine Fragen einer „Psychosomatischen Medizin" und ging dann
über zu „Beiträgen zur psychopathologischen Anthropologie des (modernen)
technisierten Krieges." Im Winter 1954-55 folgte eine Vorlesungsreihe über
„Geistesgeschichtliche Hintergründe psychopathologischer Phänomene", mit der ich
die Einführung der Dimension des „Geschichtlichen" in die Psychopathologie, eine
„HistorioPsychopathologie" zu begründen suchte. Ich wagte mich damit auf ein
Forschungsfeld, das zum erstenmal in der Frühzeit der Psychiatrie als
Wissenschaft, Anfang des 19. Jahrhunderts, von den Franzosen Calmeil , Pinel ,
Esquirol und von den Deutschen Ideler und J a c o b i betreten worden war, dann
aber unter dem Einfluß der naturwissenschaftlichen Orientierung unseres
Fachgebietes wieder verlassen wurde. Karl J a s p e r s widmete diesem wichtigen
Bereich in der letzten Auflage seiner "Allgemeinen Psychopathologie" nur die
kurze Bemerkung: "Eine Geschichte der (psychischen) Krankheiten ist als eine
Geschichte im Rahmen der Sozialund Geistesgeschichte denkbar ... Leider gibt es
nur wenig solches Material."
"Historiopsychopathologie"
Wenn geschichtliche Fragestellungen bisher nur „Randzonen" der
Forschung waren, so gehören sie nach meiner Ansicht zu deren „Kernzonen". Denn
die Frage nach der Bedeutung geschichtlicher Entwicklungen und Situationen für
die Erscheinungsformen und Entstehungsbedingungen psychischer Krankheiten zielt
auf das Eigentliche des Menschseins: auf den Menschen als geschichtliches Wesen.
Unter „Geistes"-Geschichte wollte ich verstanden wissen die Geschichte des
menschlichen Geistes als eines „tätigen", schlechterdings lebendigen
"Bewusstseins von sich selbst", etwa im Sinne H e g e I s
Die Phänomene, deren Analyse und Therapie Aufgabe des
geschichtspsychopathologisch denkenden Psychiaters ist, können den Geist einer
Epoche, denn Zeitgeist" zwar bis zum Krankhaften übersteigert und verzerrt, aber
gerade damit besonders scharf profiliert hervortreten lassen. Häufig enthüllt
erst eine seelische Störung das, was der Gesunde hinter rationalen oder
konventionellen Masken verbirgt. In dieser demaskierenden Wirkung des
Pathologischen liegt eine noch unausgeschöpfte Quelle neuer Einsichten. Ihre
Bedeutung für die
420
Geistesgeschichte als einen Weg zum Selbstverständnis des Menschen und für die
Psychopathologie als ein Mittel zur Erhellung seines geschichtlichen Daseins
wird nur dann hinreichend erkannt werden können, wenn das wissenschaftliche
Gesichtsfeld nicht durch die traditionellen Schranken zwischen den Fachgebieten
eingeengt bleibt. Freilich bedarf es hierzu, wenn die jeweiligen Kompetenzen
nicht auf Kosten strenger wissenschaftlicher Erkenntnis überschritten werden
sollen, der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Forschungsgebieten, in erster
Linie der Psychopathologie und der geistesgeschichtlichen Forschung vorerst noch
eine utopische Vision!
Nach allgemeinen Vorbemerkungen zum Gesundheitsbegriff des A r i s t o t e I e s
(„Gesundheit als Logos in der Seele, ärztliche Kunst als Logos der Gesundheit,
das Gesundmachen des Arztes als Wiederherstellung der rechten „Mitte" - "Mesótes")
und zum Begriff der Krankheit des Geistes" „Geisteskrankheiten sind
Gehirnkrankheiten" nach G r i e s i n g e r - und zu psychischen Krankheiten -
»Krank ist nur, wer körperlich krank ist" nach Kurt S c h n e i d e r - ging ich
von drei Fragestellungen aus:
1. Was wissen wir von den Erscheinungsformen psychischer Krankheiten aus der
vorchristlichen Antike, aus dem christlichen Mittelalter, aus der neueren und
der neuesten Zeit?
z. Was ergibt der Versuch eines Vergleiches zwischen den wichtigsten
Erscheinungsformen psychischer Gesundheitsstörungen in diesen Epochen der
Geistesgeschichte?
3. Welche Schlüsse lassen sich aus einem solchen Vergleich auf die Bedeutung des
jeweiligen geistesgeschichtlichen Hintergrundes für die Gestalt und den Wandel
psychopathologischer Phänomene ziehen?
Damit hatte ich mich auf ein äußerst schwieriges und wissenschaftlich unsicheres
Gebiet begeben, das mir ein mühsames, aber höchst interessantes Studium der
verfügbaren Literatur abverlangte. Hierzu gehörten nicht nur die Schriften
antiker und spätantiker Ärzte (Hippokratische Schule, Cornelius C e l s u s , A
r c h i g e n e s aus Apameia, S o r a n o s von Ephesus, A I e x a n d r o s
aus Tralleis, A r e t a i o s von Kappadokien, G a l e n o s und Anderen),
sondern auch die Gestalten des „Wahnsinns" in der griechischen Mythologie bei A
i s c h y I o s , Euripides , Homer . Viel habe ich
421
außer den erwähnten französischen und deutschen Psychiatern des 19. Jahrhunderts
dem dänischen Autor H e i b e r g zu verdanken. So erfahren wir über die Formen
des Wahns aus der Vor- und frühchristlichen Antike (in Stichworten):
Wahn als akute schwere Erregung („Raserei" = mainesthai, davon abgeleitet der
heutige psychiatrische Begriff „Manie") mit Verkennung der Wirklichkeit ( A i a
s wird durch gekränkten Ehrgeiz in Raserei versetzt und tötet eine Schafherde,
die er für seinen Rivalen O d y s s e u s hält, und A g a m e m n o n , dessen
Urteilsspruch ihn verletzt hat, oder wir hören von Verfolgungs- und
Vergiftungswahn, auch von stillem Wahn, krankhafter Traurigkeit (Melancholie)
mit Angst, Menschenscheu und Todeswünschen, auch von krankhafter Heiterkeit (die
wir heute als „Manie" bezeichnen) mit einem Selbsterhöhungswahn (Gott, Redner,
Schauspieler zu sein). Es gab den Tierverwandlungswahn (Hahn, Nachtigall,
Schlange, Wolf, Hund usw. zu sein), den DingVerwandlungswahn (in Lehm, Leder,
Erde verwandelt zu sein) und den Liebeswahn, und man kannte die motiv- und
inhaltlose Angst, heute das Merkmal neurotischer Persönlichkeitsstrukturen.
Christliches Mittelalter und neuere Zeit:
Besessenheitswahn (Teufels-, Dämonen-, Hexen-, Massenwahn, Flagellanten,
Kinderkreuzzüge), krankhafte Ängste und Schrecknisse (Zerreißen der Kleider,
Umherirren auf Gräbern), Erotomanie (besonders in der ritterlichen Zeit nach den
Kreuzzügen), religiöse Melancholie (namentlich seit der Reformation) in
Verbindung mit Dämonomanie, Begnadungs- und Erlösungswahn: Im Übergang vom 18.
zum 19. Jahrhundert profaner Verfolgungswahn (Polizei usw.). Wir wissen, daß es
im antiken Griechenland der historischen Zeit keine Epidemien religiösen
Wahnsinns gegeben hat, wie sie im Mittelalter den Occident heimgesucht haben.
Der Alkoholismus hat in der griechischen und römischen Antike im Gegensatz zur
neueren Zeit und in der Gegenwart eine äußerst geringe Rolle gespielt.
Neunzehntes Jahrhundert bis zur Gegenwart (hierzu habe ich mit meinem
Mitarbeiter Dr. H i I I e r s eine große Zahl von Krankengeschichten
durchgesehen, in denen die Inhalte des Wahns und der Halluzinationen beschrieben
sind und je nach den Jahrgängen miteinander verglichen werden können)
Selbsterhöhungs- (Größen-)wahn: Kaiser, König, Prinz, Fürst usw.) Zahlen- und
Besitzwahn
422
noch im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, dann mehr und mehr technische, im
besonderen elektrotechnische, chemische, naturkundliche, auch
stoffwechselpsysiologische Themata. Mit der Ausbreitung der totalitären
Gesellschafts- und Staatssysteme politischer Verfolgungswahn (Gestapo, NKWD,
CIA).
Es ist nun geistes- wie psychiatriegeschichtlich fesselnd, zu beobachten, wie
nahezu sprunghaft -innerhalb der letzten 100 bis 150 Jahre - ein Wandel der
bisher vorherrschenden Wahnthemata von mythisch-magischen und
christlich-religiösen Vorstellungen zu technisch-ökonomischen Denkmodellen
vollzogen hat. An die Stelle einer für den glaubensfesten Christen gültigen
Wirklichkeit über- oder unterirdischer, himmlischer oder höllischer Mächte,
denen der Mensch unterworfen ist, setzt sich eine irdische, mit dem Verstand
erfaßbare Wirklichkeit, die vom Menschen beherrscht wird. Die Wirklichkeit der
unmeßbaren, unwägbaren und überzeitlichen Transzendenz Gottes wird abgelöst von
der meßbaren, wägbaren und zeitlichen Immanenz der Technik. In der krankhaften
Verzerrung und Übersteigerung des psychotischen Erlebens wird es drastischer und
plastischer als im gesunden Geistesleben deutlich, mit welcher Vehemenz der
Säkularisierungsprozeß das Weltbild des abendländischen Menschen verändert hat.
Wir sehen dies an der auffallenden Häufung des Selbsterhöhungswahns (nicht nur
beim Größenwahn der Paralytiker, sondern auch der Schizophrenen!) im Laufe des
19. Jahrhunderts und in der gleichzeitig zunehmenden Bedeutung riesiger Zahlen,
beides als Ausdruck des Anspruchs des Menschen auf irdische Macht und
größtmöglichen Reichtum anstelle der Andacht und Demut vor der Macht Gottes.
Zugleich zeigt sich, daß der psychisch Kranke sich immer weniger von personalen
und immer mehr von apersonalen Kräften beherrscht oder überwältigt erlebt. Die
schon von C a I m e i I Anfang des vorigen Jahrhunderts angedeutete
„Vermenschlichung" der Wahnthemata hat sich mit ihrer Versachlichung, ihre
„Humanisierung" mit der „Materialisierung" verbunden. Hierzu nur wenige
Beispiele, in denen zum Teil alte Vorstellungen neben neuen stehen: »Gott
spricht zu mir mittels der Eisenbahn". „Im Jahre 1878 hat sich mir die Königin
von Ägypten elektrisch offenbart." „Ich bin Kaiser Wilhelm und muß eine Hofjagd
in Springe veranstalten. Meine Großmutter ist die Gräfin von Donnersmarck." "Ich
besitze ein Orlog-Schiff Santa Katharina mit 14 000 Kanonen und habe außerdem 14
000 Schiffe." eich bin gewissermaßen krank. Die Physik
423
stimmt nicht." „Der Stoffwechsel in den Räumen mit vielen Menschen stiftet
Unfrieden." „Chloroform wird ins Zimmer geworfen." „Ich habe den Weltschmerz
Byrons elektrisch gemacht."
Der neuzeitliche Säkularisierungsprozeß hat sich in seinem Einfluß auf den
Wandel der Wahnthematik in Frankreich etwa um die Wende vom 18. zum 19.
Jahrhundert abgezeichnet. E s q u i r o I schreibt dazu: „Die Indifferenz für
die Religion ist in Frankreich so groß, daß bei uns keine Geisteskrankheiten
mehr durch religiösen Fanatismus oder Mystizismus hervorgerufen werden ... so
sehen wir auch nicht mehr die Dämonomanie, die drei Jahrhunderte hindurch eine
Plage der civilisierten Welt war." ... Auch die Liebe, die so oft die Erotomanie
... verursacht, hat ihre Macht in Frankreich verloren, die Indifferenz hat sich
der Herzen bemächtigt, die verliebten Leidenschaften haben weder die Exaltation
noch die Reinheit, die ehemals den erotischen Wahnsinn hervorriefen.
Diese Beobachtungen lassen sich auch für Deutschland nur bestätigen. Einen
echten Liebeswahn habe ich bei Schizophreniekranken nur noch ganz vereinzelt
gefunden.
Es würde die Leser dieser „Memorabilien" ermüden, wollte ich jetzt auf die
Unterschiede zwischen Wahn und Irrtum, Wahnsinn und Irrsinn, echtem Wahn und „überwertiger
Idee" und auf die Unterschiede zwischen erlebnisreaktiven Wahnformen (wie den
mittelalterlichen und neuzeitlichen Massen-Wahn-Epidemien und dem primär
anlagebedingten psychotischen Wahn) eingehen. Die Wahn-Inhalte eines
Schizophrenen können durchaus verstehbar aus seiner Lebensgeschichte und
bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Auffassungen sein, ohne daß ihre
Entstehung verstehbar ist. Sie beruht nach allem, was wir wissen, auf
körperlichen, hirnstoffwechselpathologischen Bedingungen, mit denen etwas Neues,
qualitativ Anderes, Fremdartiges, die Sinnkontinuität des Lebens
Unterbrechendes, eben Unverstehbares in die Persönlichkeit des Kranken
einbricht. Auch der Unterschied zwischen „Entwicklung" und KrankheitsProzeß, den
J a s p e r s zuerst herausgearbeitet hat, soll hier unerörtert bleiben. Ich
habe auch immer vermieden, von Geistes"-Krankheiten zu sprechen, da Geistiges
als etwas Immaterielles nicht erkranken kann. Krank werden können immer nur
leibliche Bedingungen, unter denen sich geistiges Leben manifestiert. Ob auch
die „Seele" selbst erkranken kann, ist eine eher metaphysische als
wissenschaftliche Frage. Bei den Neurosen, den „abnormen Erlebnis
424
oder Konfliktreaktionen", den psychosomatischen Syndromen liegt die Annahme
nahe, daß das seelische Gefüge der Persönlichkeit nicht "in Ordnung" oder außer
Ordnung geraten ist, wobei man aber auch nicht weiß, ob körperliche, vegetative,
endokrine, stoffwechselbedingte Störungen mitsprechen. Ich will damit nicht etwa
das Leib-Seele-Problem berühren, das richtiger ein Leib-Seele-Geist-Problem
heißen müßte.
Es ging mir bei den Hamburger Vorlesungen und es geht mir auch heute noch nur um
den Versuch, in der geschichtlichen Betrachtungsweise nach dem Sinn
psychopathologischer Phänomene, im besonderen des „Wahn-Sinns" zu fragen. Sowohl
lebensgeschichtlich wie geistesgeschichtlich gesehen läßt sich in ihm ein Sinn
erkennen, in dem sich der Geist einer Epoche, der "Zeit eist" eindrucksvoll
widerspiegelt, wie z. B. in dem neuzeitlichen Wandel vom theozentrischen zum
anthropozentischen Weltbilde, vom mythologisch-religiösen Erleben zum
technisch-ökonomischen Denken.
Die Texte dieser Hamburger Vorlesungen lagern immer noch in meinen Schubladen.
Veröffentlicht sind sie, in stark fragmentarisierter Fassung, nur in
französischer und spanischer Sprache unter den Titeln „Histoire de I'esprit et
Psychopathologie" in: La Table ronde, Librairie Plon, Paris Nr. 134, Fevr. 1959
und „Historia del Espiritu y Psicopatologia" in: Punta Europa, Madrid Nr. 39, 57
(1959).
Als mein Freund Francisco L I a v e r o von llten in seine spanische Heimat
zurückgekehrt war, arrangierte er mehrere Vortragsreisen für mich, die uns nach
Madrid, Cadiz, Lissabon, Salamanca und Zaragoza führten. Von den Direktoren der
Psychiatrischen Universitätskliniken in Zaragoza und Barcelona wurde ich später
auch allein zu Vorträgen eingeladen. Die Themen lauteten: „Daseinsangst,
Technizismus und Neurose", „Psychopathologische Probleme der Krisis unserer
Zeit", „Nihilismus und Neurose" und „Neue Probleme der psychiatrischen
Pharmakotherapie".
Wenn ich heute die Manuskripte dieser Vorträge aus den Schubladen, in denen sie
noch ruhen, heraushole und durchsehe, erscheinen mir die Texte vielfach
gedanklich so differenziert, zum Teil auch etwas schwerfällig und begrifflich so
befrachtet, wie ich sie, älter geworden, nicht mehr zu Papier bringen und
vortragen würde. Es gehört zu den Vorzügen des Alters, daß man lernt, sich
kürzer zu fassen und auf das Wesentliche zu beschränken. Gleichwohl
425
fand ich bei meinen spanischen und portugiesischen Hörern eine wohl nicht nur
höfliche, sondern auch wirklich verständnisvolle Resonanz, wobei auch mitsprach,
daß ich den Inhalt jeweils in spanischer Sprache vortragen konnte. Die
Manuskripte waren zuvor in Madrid ins Spanische übersetzt worden, eine Arbeit,
die bei Worten wie „Dasein", „Sein", „Seiendes" auf Schwierigkeiten stieß. (ich
pflegte damals noch unter dem persönlichen Einfluß des „Meisters von
Todtnauberg" zu "heideggern"!). Spanisch hatte ich bei einem Sprachlehrer zu
lernen versucht - mit mäßigem Erfolg. Im Umgang mit meinen spanischen
Gesprächspartnern im Landes selbst lernte ich dann, mich zu unterhalten und an
Diskussionen in Spanisch zu beteiligen.
Vor meinem ersten Vortrag im „Ateneo Literario, Artistico y Cientifico" in Cadiz
ereilte mich ein Mißgeschick, das dieses Debüt fast zum Scheitern gebracht
hätte: Um mich ungestört auf das Vorlesen des Textes einzustimmen, fuhr ich
allein mit der Straßenbahn vom Hotel zum Strand des Atlantik, legte das fertig
übersetzte, mit zahlreichen roten Unterstreichungen und Randstrichen versehene
Manuskript zusammen mit meinen Kleidern in vermeintlich gehöriger Entfernung vom
Wasser auf den Strand und schwamm wohlig weit hinaus in den angenehm
temperierten Ozean. Das muß ziemlich lange gedauert haben, denn als ich ans Land
zurückkehrte, waren Manuskript und Kleider, auch die Schuhe inzwischen von der
herangenahten Flut ergriffen worden, in der sie weit verteilt herumschwammen. In
äußerster Eile raffte ich alles zusammen, dessen ich habhaft werden konnte,
Kleider, Schuhe und vor allem die völlig auseinander geratenen, durchnäßten
Manuskriptblätter. Ich hatte Glück - sie waren vollzählig da, wenn auch
zerknüllt und mit verlaufenen roten Unterstreichungen, jedoch noch lesbar. Als
ich zum Hotel zurückkam, müssen sich meine davor sitzenden Freunde in meinem
durchnäßten, zerknitterten Anzug für einen aus Seenot geretteten Matrosen
gehalten und nicht erkannt haben, denn sie nahmen von mir keinerlei Notiz.
Inzwischen kleidete ich mich rasch um und konnte noch rechtzeitig mit Francisco
(„Paco") im kleinen Hörsaal des „Ateneo" erscheinen. Er saß neben mir, und wir
hatten vereinbart, daß er mir leicht auf den Fuß treten würde, wenn ich stecken
bleiben sollte. Er wollte dann an meiner Stelle weiterlesen. Etwa in der Mitte
des Vortrages schien es so weit zu sein. Denn das erste Ablesen des spanischen
Textes hatte mich doch recht angestrengt. Aber dann packte mich der Ehrgeiz, ich
schob seinen Fuß von meinem herunter und las
426
tapfer und ziemlich flüssig das ganze Manuskript zu Ende. Schon hier in Cadiz
wie auch bei den folgenden Vorträgen fiel mir auf, mit welchem Interesse die
Hörer gerade auch den philosophischen Einsprengseln meiner Gedanken folgten und
wie gut sie über die deutsche Existenzphilosophie, namentlich über H e i d e g g
e r und J a s p e r s , Bescheid wußten - besser als manche gebildete Deutsche!
Am nächsten Tage hatten wir Muße, uns an Cadiz zu erfreuen, das schon
afrikanische Züge trägt und von den Spaniern „La tacita de Plata", dien silberne
Tasse" genannt wird. In der Capilla de Santa Maria entdeckten wir einige schöne
M u r i I I o s und in dem kleinen städtischen Museum mehrere kostbare Z u r b a
r a n s , die ich zum ersten Male sah. Im nächsten Jahr konnten wir auf der
Weiterfahrt vom Internationalen Neurologenkongreß in Lissabon etwas südlich von
Cadiz zum ersten Male die afrikanische Küste erblicken, was mich zu dem
begeisterten Ausruf "Aaafrika, Aaafrika!" veranlaßte, aber meine beiden
landeingesessenen Mitfahrerinnen Antonia und Vera nicht besonders
enthusiasmierte. In Cadiz hatten wir zufällig einen ebenso wohlbeleibten wie
kinderreichen Gynäkologen wiedergetroffen, der mich von meinem Vortrag her
kannte. Er lud uns dreimal hintereinander zum Essen ein. L I a v e ro hatte uns
gesagt, eine spanische Einladung sei erst ernst gemeint, wenn sie dreimal
erfolgt. Also nahmen wir an und ließen uns die „Entremeses" = Vorspeisen so
trefflich munden, daß wir annahmen, sie seien das Hauptgericht, für das dann
nicht mehr viel Appetit übrig blieb. Der Hausherr wedelte sich während des
opulenten Mahles mit einem großen Fächer frische Luft zu. Seine liebenswürdige
Frau war Deutsche, die sich in Cadiz so wohl fühlte, daß sie nie wieder in ihr
Heimatland zurückkehren wollte.
Aber nun - möglichst kurz - zu den einzelnen Vortragsthemen. Auch der zweite
Vortrag, am 16. Mai 1953 im Ateneo Literario, Artistico y Cientifico zu Madrid,
eingeführt von unserem späteren Freund Professor Raphaei C a I v o S e r e r ,
Catedrático für Neuere Geschichte und Geschichtsphilosophie an der dortigen
Universität, handelte von der auf den ersten Blick vielleicht befremdenden Trias
„Daseinsangst. Technizismus und Neurose". Was berechtigte einen Psychiater,
diese drei, verschiedenen Forschungsgebieten zugehörigen, Begriffe miteinander
zu einem Thema zu verbinden? Es war der Versuch, zu fragen ob zwischen der Angst
als einer Grundbefindlichkeit des Daseins, von der
427
die Menschheit in unserem Krisenzeitalter beherrscht zu sein scheint, mit der
Herrschaft der Technik und der offenkundigen Häufung der sogenannten „Neurosen"
ein innerer Zusammenhang bestehen können. Auf gedanklich vielfach verschlungenen
Wegen - ich würde heute alles einfacher darstellen - bemühte ich mich, möglichen
gemeinsamen geistesgeschichtlichen und metaphysischen Ursprüngen der Gefährdung
des Menschen unserer Zeit auf die Spur zu kommen. Zunächst ein Beispiel aus
meiner fachlichen Tätigkeit: Ein ursprünglich religiös gläubiger, später
atheistisch gewordener Mann gerät in einen selbstverschuldeten ehelichen
Konflikt, den er durch rationale Bagatellisierungs- und Rechtfertigungsversuche
verdrängt, anstatt zu versuchen, ihn mit Hilfe tieferer Gewissenserforschung und
der vergebenden Kraft des Glaubens als Weg zur inneren Reifung zu verarbeiten
und zu bewältigen. Die mit "nihilistischer Nonchalance" unterdrückte heilsame
Gewissensangst wandelt sich um in eine zwanghafthypochondrische Angst, sich
venerisch infiziert zu haben: Ein neurotisches Symptom hat sich an die Stelle
des verdrängten Gewissens gesetzt!
11 Nicht mehr die von Sigmund Freud und seiner Schule dogmatisierte Verdrängung
der „Libido" durch die Zensur der elterlichen Autorität und der
gesellschaftlichen Tabus, des „Über Ichs", braucht heute noch zu neurotischen
Entwicklung zu führen. Viel eher ist es die „Verdrängung" der Kräfte des
Glaubens, der Verantwortung gegenüber einer höheren Macht, die mit der Stimme
des Gewissens zu uns spricht. Nicht die triebhaften Sinne werden unterdrückt,
sondern die höheren Regungen des Herzens. Dies bedeutet auch, daß die Ängste,
die mit einem schuldhaft entstandenen Konflikt einhergehen, nicht mit den
erlösenden Hilfen des Glaubens, der Hoffnung, des Gebetes bewältigt werden
können, sondern in die „Kanäle" eines wieder nur Angst erzeugenden neurotischen
Symptoms „abfließen".
Das tertium comparationis von Angst und Neurose glaubte ich - überraschend - im
Wesen des Technizismus sehen zu können: So wie die Neurose eine „Flucht in das
Symptom" bedeutet, so ist das technizistische Denken und Tun als, eine "Flucht
in den Apparat" zu verstehen. Mit beidem wähnt der heutige Mensch sich von
seiner Angst durch Gegenständliches, diesseitig - Dingliches hier das Symptom
dort den Apparat entlasten zu können, ohne der Hilfe immaterieller, geistiger,
religiöser Kräfte zu bedürfen. Mit beidem aber bleibt er ein Gefangener im
Bannkreis der Angst. Für das Verständnis des Zusammenhanges
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zwischen Angst, Technisierung des Lebens und neurotischen Fehlentwicklungen ist
es geistesgeschichtlich interessant, daß kurze Zeit, bevor N i e t zs c h e sein
Wort vom „Tod des alten Gottes" verkündete, der amerikanische Nervenarzt B e a r
d über die außerordentliche Zunahme „nervöser Schwächezustände", von ihm „Neurasthenia"
bezeichnet, berichtet hat, die er auf die Einflüsse der Industrialisierung, den
Lärm und die Hast des Großstadtlebens zurückführte. Im Mittelpunkt ihrer
Symptome standen die verschiedenen Formen der Angst, die wir heute zu den Angst-
oder Zwangsneurosen zählen würden, darunter auch eine „Angst vor der Angst" eine
„Phobophobie". Vielleicht sei dies, so sagte ich, eine Angst „aus Nichts" und
„vor Nichts", die der tiefenpsychologisch oft nicht analysierbaren und
verstehbaren primären Angstbereitschaft neurotischer Menschen als
Selbstunsicherheit, Minderwertigkeitsgefühl, Ressentiment zugrunde liegt?
Der neurotische (oder der depressive) Mensch weiß oft nicht, warum und wovor er
eigentlich Angst hat. Er möchte lieber körperlich krank sein, etwas medizinisch
Objektivierbares, Greifbares nachgewiesen haben, anstatt sich vor der
Unbestimmtheit und Unheimlichkeit dieser nihilistischen Angst" ängstigen zu
müssen. Er will nicht wahrhaben, daß ein unverarbeiteter Konflikt, eine
unbewältigte Lebenssituation, ein Schuldproblem ihn angstkrank werden ließen,
und er klammert sich daher an ein Symptom, das er mit den Techniken der modernen
medizinischen Diagnostik und Therapie festgestellt und beseitigt wissen möchte.
Daß der Umgang mit technischen Geräten Angst zu verdrängen oder zu kompensieren
vermag, zeigt eine banale Erfahrung: Es gibt ängstlich-„nervöse" Menschen, die
sich angstfrei, ruhig und sicher fühlen, sobald sie sich an das Steuer ihres
Automobils setzen und - vielleicht unbewußt - vor ihrer Angst davonfahren oder
-rasen. Das Machtgefühl und Erfolgserlebnis, das ihnen die Beherrschung des
motorisierten Vehikels verleiht, die Geschwindigkeit, das überholen eines
anderen Wagens, die Konzentration auf die Fahrsituation - alles dies verhilft
ihnen zur Entlastung vom Druck ihrer Ängste und Besorgnisse. Ich rate daher
manchen angstneurotisch gefährdeten oder „nervösen" Menschen häufig sind es
Frauen -, zur Angstentlastung und Festigung ihres Selbstwertgefühls den
Kraftfahrzeug-Führerschein zu erwerben (ohne daß damit natürlich eine gezielte
psychotherapeutische Hilfe ersetzt werden könnte!).
429
Auf der anderen Seite wissen wir, daß der Neurose wie auch der Technik ein Zug
zur Deformierung und Selbstzerstörung innewohnt. Beiden Phänomenen unserer Zeit
fehlt es, soweit dieser Vergleich erlaubt ist, an einem „Schwerpunkt des
Menschseins", der das Herausfallen aus einer gleichgewichtserhaltenden „Mitte"
in ein Extrem verhindern kann. Bei der Technik ist es das Extrem der Erhöhung
des Menschen zum Herrscher über die Natur und seiner Erniedrigung zum Diener des
technischen Werkzeugs (er „bedient" die Maschine!), bei der Neurose der
Widerspruch zwischen der Neigung zur Selbstüberschätzung, zum Geltungsbedürfnis
und zur Selbstentwertung, zum Ressentiment. Eine maß- und haltgebende „Mitte"
zwischen diesen Extremen suchen wir in den Kräften der Liebe, des Gewissens, der
Verantwortung für den Dienst am Heiligtum des Lebens. Ihr Mangel führt zur
lebensfeindlichen Selbstzerstörung.
Die Trümmer und Materialverbiegungen eines abgestürzten Flugzeuges oder
verunglückten Automobils erinnern mich immer an die selbstzerstörerischen Sucht-
und Suizidtendenzen, an die Desintegration und innere „Zerspaltung" einer
neurotischen Persönlichkeit. Die Deformierung und Zerstückelung des
Menschenbildes, wie etwa P i c a s s o sie dargestellt hat, wäre vor dem
Zeitalter der Technik, der Angst und der Neurosen nicht möglich gewesen. Es ist
auch die mit der Technisierung einhergehende einseitige Verlagerung auf das
Verstandesdenken, die „Kopfgesteuertheit" des heutigen Menschen, die ihn
keineswegs nur selbstsicherer, sondern auch unsicher, ängstlich, „neurotisch"
werden läßt. Dem unaufhaltsamen Zuwachs an Bewußtheit, an Wissenschaftlichung
des Lebens, an Bedeutung von Analyse und Reflexion steht gewöhnlich eine
Verkümmerung des Haltes an transzendenten Kräften und an Gemütswerten gegenüber.
Ich denke dabei an den Typus des modernen Intellektuellen, und an den des
heutigen Erfolgs- und Machtmenschen: Sein Herz kommt zu kurz, wenn nur der Kopf
wissenschaftlich, technologisch, wirtschaftlich oder politisch denkt, plant und
herrschen will. Schon Nietzsche hatte das zunehmende Bewußtwerden als
„europäische Krankheit" bezeichnet.
Ein an zwanghafter, auf nihilistischer Angst beruhender Grübel- und Zweifelsucht
leidender Patient antwortete mir auf die Frage, warum und wovor er eigentlich
Angst habe: „ Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Meine Bewußtheit löst die Angst
aus!" Er habe im Leben, in der Liebe, im Glauben vergeblich einen
430
festen Halt gesucht, und zwar durch seinen Beruf als Industriephotograph, nach
dem exakt-geometrischen Prinzip, mit dem er den Standort herausfinden müsse, von
dem aus er die günstigste Bildwirkung erzielen könne. Das Ergebnis dieses
Suchens mit der „seelischen Photolinse" nach einem „archimedischen Punkt" seines
Lebens war ein gesundheitlicher und sozialer Zusammenbruch, der die Angst dieses
gleichermaßen „technisierten" wie neurotisierten Menschen bis zum Krankhaften
und Therapiebedürftigen gesteigert hat. „Meine Krankheit ist meine Bewußtheit,
meine Not beruht darauf, daß ich das Natürliche, Einfache, die Intuition durch
exaktes Berechnen ersetze", so sagte er.
Wir haben hier die psychopathologischen Konsequenzen der geistigen Ahnenschaft G
a I i I e i s („Alles Meßbare zu messen und das Unmeßbare meßbar zu machen!) und
D e s c a rt e s „doute methodique": „Das einzig Unbezweifelbare ist die
Existenz des Zweifels" vor uns. Dieser Patient litt aber nicht nur unter der
Angst vor der Dominanz seiner Bewußtheit, sondern auch unter der Angst vor
seiner sinnlichen Triebgebundenheit. Eine Partnerschaft in wirklicher Liebe oder
echter Freundschaft war ihm versagt geblieben. "Mein Herz ist zu schwach für die
Liebe", meinte er (wobei ich auf die in seiner Persönlichkeitsstruktur
begründeten Ursprünge dieser „seelischen Herzschwäche" nicht eingehen will). Und
so vergleicht er seine innere Situation verzweifelt mit einem defekten
Automaten, in dem die Räder des Zweifels und die Räder der Sinne unablässig
gegeneinander rotieren, ohne von dem „Differentialgetriebe des Herzens"
reguliert zu werden. In seinen Aufzeichnungen fand ich den Vermerk: „Ich lebe
nicht, sondern ich werde gelebt."
Erinnert ein solcher „neurotischer Automatismus" nicht an den Mechanismus des
Roboters? Als jemand gefragt wurde, wo man sich eigentlich den Sitz des Herzens
in der Apparatur einer künftigen Menschenmaschine" vorzustellen habe, gab er die
ebenso entlarvende wie törichte Antwort: „ Diesen Körperteil wird der Mensch der
Zukunft nicht brauchen!" Er hätte sich auf D e s c a rt e s berufen können, der
in den menschlichen Gefühlen nur Quellen des Irrtums und der Täuschung sah und
die Liebe zu den Affekten und Leidenschaften zählte, die ihren Ursprung in der
„res extensa" des Körpers und ihren Sitz in der Zirbeldrüse des Gehirns haben
sollten. Die mechanistische Hypothese, die den Menschen mit einer Maschine
verglich oder sogar gleichsetzte - der französische Arzt und Philosoph L a M e t
t r i e gab seinem Buch 1748 den Titel „L'homme machine" -
431
führte in ihrer letzten Konsequenz zu dem, was ich die Verlagerung des
Schwerpunktes des Menschen von seiner unsichtbaren „Mitte" zum sichtbaren
Körper, vom „Herzen" zum „Kopf" nenne. Ein neurotischer Mensch wie der eben
erwähnte ist durch die Emanzipation seines Verstandes, der D e s c a rt e s
schen „res cogitans" und seiner Triebe - von einer haltgebenden „Mitte" aus dem
Gleichgewicht geraten und damit einer unbewältigten Daseinsangst preisgegeben.
An die Stelle des „Ich denke, also bin ich" hat sich das „Ich denke, also habe
ich Angst" gesetzt. D e s c a rt e s hat die Menschen so denken gelehrt, daß sie
die Technik erschaffen konnten. So gesehen ließe sich eine geistesgeschichtliche
Beziehung zwischen dem rationalistischen und technizistischen Denken und einer
Entstehungsbedingung der Neurotisierung des Menschen unserer Zeit erkennen.
Der Preis für die Anmaßung des Menschen, die Natur durch eine unaufhaltsam
fortschreitende Technisierung des Lebens zu beherrschen, war die Weltgefahr
einer Zerstörung der Natur und des Lebens durch eben diese Technisierung. Über
dem Zeitalter der Atombombe steht das Wort P a s c a I s : „Nichts ist für uns
fest. Und das ist unser natürlicher Stand und doch unserer eigentlichen Neigung
entgegengesetzt. Wir verbrennen vor dem Wunsch nach Weisheit, nach Sicherheit,
nach einem letzten dauerhaften Grund, um auf ihm den Turm in die Ewigkeit zu
bauen. Aber dieser Grund kracht ein und die Erde darunter öffnet ihren Abgrund."
(Pensées Art. XVII). Eine neurotische Akzentuierung dieser „Angoisse Pascalienne"
deutet sich auch an in den zum Teil überrealistisch begründete Befürchtungen
weit hinausschießenden massenneurotischen Ängsten vor einer „kurz
bevorstehenden" Vernichtung der Menschheit in einem globalen Atomkrieg.
Zum Schluß meines Vortrags habe ich versucht, zu fragen, ob der Daseinsangst,
dem Technizismus und der Neurose auch positive Kräfte innewohnen, die uns hoffen
lassen können nach dem H ö I d e r I i n schen Wort: „Wo aber Gefahr ist, wächst
das Rettende auch." Wir sollten uns erinnern, daß die „große Angst", die
Daseinsangst - nicht die kleine Furcht ! - die den Menschen vor das Nichts
stellt, und daß dieses Nichts - nach einem Gedanken der Neuplatoniker und H e g
e I s mit dem Sein zusammengehört und uns damit erst das Befremdliche,
Hinfällige und Unwesentliche des „Seienden" offenbart, das dem Menschen im
alltäglichen Leben und in der bloßen Furcht zu entgleiten droht.
432
K i e r k e g a a r d erblickte in dieser Angst den „Abgrund des Gewissens", und
für H e i d e g g e r erfährt der Mensch in der Angst und in der Sorge das
Hinausstehen (ek-sistere) in die Offenheit des Daseins, in welchem „das Sein
selbst sich bekundet und verbirgt, gewährt und entzieht". Dieses „Hinausstehen",
das Existieren des Menschen aber offenbart ihm das Unveränderliche („Ewige") des
Seins im Gegensatz zu den veränderlichen, seienden Dingen des Lebens. Aus der
unbestimmten, „unheimlichen" Angst, die er in der Unruhe des Gewissens, in der
Not der Schuld oder des Leides erlebt, erwächst dem Menschen die Notwendigkeit,
eine existentielle Entscheidung zu treffen, nicht ihr auszuweichen, sondern sie
zu bestehen und damit er selbst im eigentlichen Sinne dieses Begriffes zu
werden. Dieses ontologische, von der Wahrheit des Seins her gesehene Verständnis
der Daseinsangst berührt sich - ohne mit ihr identisch zu sein - mit ihrer
sakralen Bedeutung, wie sie im Bußgebet Dav i d s (Psalm 51) ausgesprochen wird:
"Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist. Ein geängstet und
zerschlagenen Herz wirst Du, Gott, nicht verachten."
Es gibt viel Angst ohne Neurose. Aber es gibt keine Neurose ohne Angst. Die
Angst ist "das dynamische Zentrum der Neurose", hat Karen Horne y einmal gesagt.
Ich versuche daher im psychotherapeutischen Dialog meine neurotischen Patienten
auf die ontologische und die theologische Deutung der Angst hinzuweisen, sie
ihnen nahezubringen, ohne sie ihnen etwa aufzwingen zu wollen. Hilfreich pflegt
dabei auch das Eingeständnis des Therapeuten zu sein, daß er selbst auch Angst
und Ängste aus eigenem Erleben und Erleiden erfahren hat. So habe ich mich - nur
ein Beispiel - immer bei drohendem Gewitter zu einem an großer Angst vor
Gewitter leidenden Patienten gesetzt, weil er wußte, daß auch ich seit meiner
Kindheit an einer solchen Angst zu leiden hatte. So erlebten wir, wenn das
Gewitter kam, gemeinsam Angst - und spürten sie plötzlich nicht mehr! Von den
Gefährdungen des Menschen im Zeitalter der Technik und der Angst bleibt wie der
Patient auch sein Therapeut nicht unberührt, und diese zeitgeschichtliche
Schicksalsgemeinschaft kann der personalen Kommunikation zwischen ihnen nur zu
gute kommen. Wenn dann im psychotherapeutischen Dialog die Rede von der Technik
sein sollte, wäre daran zu erinnern, daß das Wort „Techne" vom Griechischen „Tiktein"
abgeleitet ist und ursprünglich „schöpferisches Hervorbringen", künstlerisches
oder kunsthandwerkliches
433
Gestalten bedeutet. Als Element der Kunst hat sie in ihrem eigentlichen Sinn der
Bereicherung, Verschönerung, Vergeistigung des Lebens zu dienen. Sie tut dies
zum Teil sogar heute noch, wenn wir nicht nur an ihre häßlichen, sondern auch an
ihre schönen Seiten denken, etwa an die Schönheit von Brückenbauten.
Ortega y Gasset hat in seinen „Betrachtungen über die Technik" (1948) gesagt:
„Die ursprüngliche Mission der Technik ist es, dem Menschen die Freiheit zu
geben, er selbst sein zu können." Dieser ursprüngliche Sinn der Technik ist zwar
durch ihre Herrschaft über den Menschen verdunkelt worden. Er sollte aber nicht
ganz vergessen werden, wenn es in der Psychotherapie um die Befreiung des
Patienten von den Fesseln seiner Angst und um die Aufgabe geht, ihn zu „sich
selbst" zu führen.
In der Neurose selbst schließlich sollten wir Therapeuten nicht nur das
Krankhafte, sondern auch etwas im Grunde durchaus Gesundes sehen, nämlich den
Ausdruck eines vielleicht unbewußten Protestes, eines Notrufes gegen die
Versachlichung und Entpersönlichung unserer technisierten Welt, gegen ihre
Verarmunq an Liebe! Der moderne Technizismus (und Ökonomismus) hat einen „Keil"
zwischen den Menschen und die Natur, zwischen den Menschen und Gott, zwischen
den Menschen und seinen Mitmenschen getrieben. In das Vakuum, das dadurch
entstanden ist, strömt die gefährlichste Gegenkraft der Liebe ein, und das ist
eben die Angst. „Furcht ist nicht in der Liebe", heißt es im Ersten Brief des
Johannes. Das bedeutet nichts anderes, als daß Angst und Liebe sich gegenseitig
ausschließen, und damit ist schon ein Grundgesetz der heutigen
Neurosenpsychologie vorweggenommen. Aber der „Schrecken der Angst", der in jenes
Vakuum strömt, der „horror vacui", verlangt nach Befreiung durch einen festen
Halt. Nie hat die Menschheit seit der späten Antike, in der sie auf einen
Messias wartete, mehr nach Befreiung von ihrer Angst gedürstet als heute, da die
Quellen eines echten Erlösungsglaubens durch die Säkularisierung des Lebens und
durch ideologische Religionssurrogate weitgehend versiegt sind. Und gerade dies
- scheinbares Paradoxon! läßt uns hoffen: Solange noch Menschen seelisch krank
werden können aus ungestilltem Hunger nach Erfüllung des Daseinssinnes, nach
Geborgenheit in der Liebe, in der Wärme des Herzens, solange ist die Menschheit
nicht verloren!
434
Vielleicht zwingt die Angst und die innere Not den Neurosekranken - und der
Therapeut sollte ihm dabei helfen - zu der Einsicht, daß er seine Lebensund
Konfliktproblematik nur bewältigen kann, wenn er einen höheren Sinn in ihr
sieht, wenn sie ihn zur Besinnung auf das Überzeitliche, Ewige, das Göttliche im
Menschen aufruft, das ihm die Kraft zu geben vermag, seine Angst zu beherrschen
oder wenigstens auszuhalten, auch wenn er sie nicht völlig überwinden kann?
Vielleicht läßt er sich an die Wahrheit des Wortes aus dem Zweiten
Korintherbrief (4,17-18) mahnen: „Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht
ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir
nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar
ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig."
Wird dieses Wort in einer technisierten und ökonomisierten Welt, die über dem
Sichtbaren das Unsichtbare, über dem Zeitlichen das Ewige aus dem Blick verloren
hat, gehört und bedacht werden? Wird das Leiden an der Sinnentleerung des
Daseins mit ihren Ängsten und seelischen Gefährdungen ein Schmelztiegel sein
können, der den Menschen unserer Zeit zu der Erkenntnis läutert: Technokratie
kann Theokratie nicht ersetzten!?
Wir können es hoffen. Wir wissen es nicht. So endet unsere Erörterung nicht in
beruhigenden Antworten, sondern im unruhigen Fragen.
Mein Vorhaben, diesen ersten spanischen Vortrag in möglichster Kürze
wiederzugeben, ist mir mißlungen. Für einen knappen Auszug erschien mir das
Thema zu wichtig. Es läßt mich noch immer - nach vierzig Jahren - nicht los. Bei
kritischer Durchsicht des Manuskripts würde ich heute - wie gesagt - manches
einfacher und auch anders darstellen. Die Beziehung zwischen den drei
Problembereichen „Daseinsangst, Technizismus und Neurose" steht
erfahrungswissenschaftlich auf etwas schwachen Füßen. Sie beruht zwar, was die-
Struktur und Entstehung der Neurosen angeht, auf objektivierbaren klinischen
Tatsachen, aber in der Verbindung mit dem Phänomen Technik - ideologisiert zum „Technizismus"
- auf Analogieschlüssen und in den an H e i d e g g e r angelehnten
seins-geschichtlichen, ontologischen Deutungen auf gedanklichen Kombinationen
und Konstruktionen. Heidegger selbst hatte mich bei einem Gespräch in seinem
Freiburger Arbeitszimmer gewarnt, sein „fundamentalontologisches" Denken auf
wissenschaftliche Erfahrungen „anzuwenden", wie der Psychiater Ludwig B i n s w
a n g e r es irrtümlich getan habe. Mein Freund,
435
der Bonner Philosoph Gerhart S c h m i d t , schreibt mir dazu am B. Dezember
1993: „Wenn Heidegger Dir von B i n s w a n g e r s Weg abgeraten hat, so ehrt
ihn das sehr. Im übrigen wird er bemerkt haben, daß Du nicht zum Jünger taugst."
Gleichwohl können und dürfen wir Psychiater - so denke ich jedenfalls - in
unserer ärztlichen Verantwortung für den existentiell gefährdeten oder kranken,
den neurotischen oder depressiven Menschen unserer Zeit nicht der Frage
ausweichen, warum und wie er die Sinn-Entleerung - oder -verarmung seines
Daseins erlebt und auf welchen Wegen ihm zur Überwindung dieser nihilistischen
Haltung verholfen werden kann. Dabei geht es um die auf seine individuelle
Situation bezogene Frage nach der Wahrheit des Seins", nach dem „Sinn des
Leidens" und nach dem „Nichts" in der Verfehlung dieses Sinns. Fragen solcher
Art sollen, über die methodisch festgelegte Diagnostik und Therapie
hinausweisend, einem tieferen Verstehen der Existenz des Patienten dienen. Aber
ich gebe zu, daß sie nicht Jedermanns Sache sind, weder die des Therapeuten noch
die des Patienten. Und ich gestehe auch, daß ich es mir selbst und meinen Lesern
und Hörern mit der "Sache" nicht ganz leicht mache.
Trotz einer gewissen Umständlichkeit, mit der ich mein schwieriges Thema
auszubreiten versuchte, glaubte ich mich nicht zu täuschen, wenn ich den
Eindruck gewann, daß der Vortrag eine nicht nur höflich gemeinte Resonanz fand
und alleine schon wegen seiner existenz-philosophischen und religiösen
Akzentuierungen bei den spanischen Hörern wohlgefällig aufgenommen wurde.
Jedenfalls war mein ehrgeiziger Freund L I a v e ro mit ihnen und auch mit mir
zufrieden.
Im Anschluß an die Vorträge, die ich über „Daseinsangst, Technizismus und
Neurose" im „Ateneo" in Cadiz und Madrid gehalten hatte, flog ich mit L I a v e
r o nach Lissabon, um in der dortigen Psychiatrischen Universitätsklinik auf
Einladung ihres Direktors, Professor B a r a h o n a F e r n a n d e s , über
„Nihilismus und Neurose" zu sprechen. Als wir vor dem Abflug im Flugzeug
nebeneinander saßen, ertappte ich meinen Freund, wie er sich heimlich
bekreuzigte! B a r a h o n a F e r n a n d e s hatte uns noch ein Telegramm nach
Madrid geschickt, in dem er uns als „Eure Exzellenzen" willkommen hieß, Ausdruck
traditioneller portugiesischer Höflichkeit.
Das überarbeitete und erweiterte Manuskript ist später, 1963 und 1964 in
spanischer und französischer Sprache veröffentlicht worden: „EI Nihilismo
436
moderno como Problema psicopatologico" (Atlantida, Revista del Pensamiento
actual. Vol 1, Num 5, Septiembre-Octubre 1963/Madrid) und :"Le nihilisme moderne
comme probleme psychopathologique". (La Table ronde, Revue Europeenne des
recherche chretien - Nr. 197 - Juin 1964, Librairie Plon, Paris).
Grundgedanke ist auch hier der Begriff des Menschen als eines geschichtlichen
Wesens nicht nur in den gesunden, sondern auch in den krankhaften und abnormen
Formen seiner Existenz. „Geschichte" sehe ich als einen möglichen Weg zum
Selbstverständnis des Menschen und „Psychopathologie" als ein Mittel zur
Erhellung seines geschichtlichen Daseins. Das 1799 von Friedrich Heinrich J a c
o b i Goethes Freund, in den philosophischen Sprachgebrauch eingeführte Wort
"Nihilismus", das von J e a n P a u I auf die romantische Dichtung angewandt
wurde, droht heute zum Schlagwort, dem geistigen Suppenwürfel unserer Zeit", wie
Werner S o m b a rt es einmal genannt hat, degradiert zu werden. Aber es
kennzeichnet immer noch die geistige Umwälzung, die sich seit der Renaissance
vollzieht. „Moderner Nihilismus" ist nicht zu verstehen als eine sophistische
Doktrin wie die des P r o t a g o r a s oder des G o r g i a s , als
erkenntniskritischer Skeptizismus wie der des P y r r h o n oder des H u m e
oder als religiöser Pessimismus im Sinne des altbabylonischen G i I g a m e s c
h -Epos oder in Teilen des Buches H i o b . Er soll auch nicht identifiziert
werden mit Atheismus, Rationalismus, Positivismus, Agnostizismus oder mit dem
Pessimismus eines Schopenhauer , - Bah n sen- , L e o p a r d i oder anderen
seiner vielfältigen Facetten. In seinem eigentlichen Wesen bedacht ist er eine
geschichtliche Macht, deren Entfaltung das Schicksal der Menschheit bestimmen
wird. Ihren Vordergrund bildet die radikale, über stürzt fortschreitende
Rationalisierung des Lebens, die aus Technizismus, Ökonomismus und
Kollektivismus den Menschen mehr und mehr der Natur und dem Geist entfremdet und
seine Orientierung nach bisher gültigen Wertmaßstäben und Glaubensordnungen
gestört oder aufgehoben hat. Mit dieser Entwicklung geht ein tiefgreifender
Wandel des Bewußtseins, des Lebensgefühls und der Erlebnisweise des Menschen
einher, ein Wandel, der sein Vitalgefüge, seine leiblichen Funktionen und
seelischen Impulse und Reaktionen nicht unberührt läßt und sich in Formen
ausprägt, die den Arzt, im besonderen auch den Psychiater zunehmend
beschäftigen.
(437)
N i e t z s c h e hat den Nihilismus als „pathologischen Zwischenzustand der
Geschichte" bezeichnet. Das berechtigt uns jedoch nicht, in ihm eine
Krankheitserscheinung, ein klinisches Phänomen zu sehen. Es wäre
begriffskritisch unzulässig, medizinische Kategorien auf geschichtliche
Phänomene zu übertragen und von einer „Pathologie des Zeitgeistes" oder gar von
einem „schizophrenen Zeitalter" zu sprechen. Aber der nihilistische Grundzug
unserer Epoche kann die Manifestation bestimmter seelischer Störungen
begünstigen, nicht im Sinne einer Ursache, jedoch als Mitbedingung. Dies gilt im
besonderen für „geschichtsnahe" psychopathologische Erscheinungen, zu denen die
sogenannten Neurosen" gehören. Ich habe versucht, diese Annahme zu begründen,
indem ich einzelne Elemente des Nihilismus in Beziehung zur Entstehung und
Struktur der Neurosen setze: Gemeinsames findet sich in dem Fehlen oder der
Verneinung einer Sinnerfüllung des Daseins. In dieses existentielle Vakuum
strömen Ängste ein, Zeichen des "horror vacui", die Seelenängste der
(geschichtlichen) Metamorphose", von denen Teilhard de Chardin spricht. Ein
Übermaß an Angst gehört zu den Merkmalen einer epochalen Krisis. Dieses Übermaß
an Angst wurzelt in der Gebrochenheit des Menschen zwischen zwei Zeitaltern, der
seine innere Heimat nicht mehr im Vergangenen und noch nicht im Kommenden zu
finden vermag. N i e t z s c h e sieht darin die Folge der Kopernikanischen
Wende: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin
bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir
nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt
es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches N i c h t
s ? Haucht uns nicht der I e e r e Raum an? ... Riechen wir noch nichts von der
göttlichen Verwesung? Auch Götter verwesen. G o t t i s t t o t . Gott bleibt
tot!"
Mit dem „toten Gott" ,meint Nietzsche den christlichen Gott als den „obersten
Wert aller Werte". Der Nihilismus sei die Geschichte der Entwertung dieser
..obersten Werte" und ihre Umwertung nach dem Prinzip des „Willens zur Macht" -
metaphysisch, nicht politisch verstanden! Dieser „Wille zur Macht" ist durch die
nahezu unbegrenzt verfügbar erscheinende Herrschaft über die technischen und
ökonomischen Mittel ins Maßlose gesteigert worden. Ihm steht der „Schwindel der
Ohnmacht" gegenüber, der den Menschen durch die Entdeckung des K o p e r n i k u
s des Haltes in einer übersinnlichen Weit, in der
438
Transzendenz, beraubt hat. Die übersinnliche Welt ist durch die
Vordergründigkeit der Versachlichung und Verzweckung des modernen Lebens
verdeckt und entwertet worden. „Sie spendet kein Leben", wie Heidegger in seinen
Nietzsche-Interpretationen sagt. Das Schwinden der Kraft, die von der
übersinnlichen, transzendenten Welt ausgeht, bedeutet nichts anderes als das
Schwinden des Glaubens an „Gott". „Man entfernt sich von Gott nur, wenn man sich
von der Liebe entfernt", heißt es in den „Pensées" P a s c a I s . Mit dem
Versiegen der Kraft des Glaubens an „Gott" als Transzendenz scheint die
Schwächung der Kraft, zu lieben, einherzugehen, beides im Zusammenhang mit der
fortschreitenden Rationalisierung des Lebens und Denkens. Treue zu. einem
geliebten oder nahestehenden Menschen und der Glaube an ihn oder an eine Idee
(nicht Ideologie!), Liebe zu Gott und Mensch sinken in der Skala der Werte. Der
Nihilist ist für T u rg e n je w („Väter und Söhne", 1862) nein Mensch, der ...
kein Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, mag es so heilig sein wie es will."
Juan Donoso C o rt e s sieht (in seinem etwas früher erschienenen Essay über den
Katholizismus, Liberalismus und Sozialismus) im Nihilismus einen „geistigen,
politischen und sozialen Auflösungsprozeß", der die Werte und Wahrheiten der
abendländisch-christlichen Oberlieferung durch rationalistische Doktrinen
entleere.
Diesen geistesgeschichtliche Signaturen des modernen Nihilismus entsprechen
individuelle-psychopathologische Elemente im Aufbau der Neurosen: Angst („horror
vacui") mit dem Schwinden des Haltes in einer transzendenten Welt, Aggressionen
nach außen („Wille zur Macht") oder nach innen („Schwindel der Ohnmacht") als -
verfehlte Versuche der Abwehr von Angst. Da neurotische Angst und wirkliche
Liebe sich gegenseitig ausschließen, (ich erinnere an das Johanneswort „Furcht
ist nicht in der Liebe"!) liebt der neurotische Mensch eher sich selbst als
einen Anderen. Er wünscht zwar, geliebt zu werden, aber es ihm versagt, sein Ich
an diesen Anderen fester zu binden - aus Angst vor dieser Bindung.
Das neurotische Geflecht von Angst, Angstabwehr, Aggressionen nach außen und
innen, Sinnverlust oder -verfehlung des Daseins wird deutlich in den
Selbstschilderungen von Patienten, zum Beispiel einer 30-jährigen
unverheirateten Frau, die durch den subjektiv empfundenen - Mangel an
einfühlendem Verständnis der Mutter für ihre konstitutionell gefährdete und
verhaltensgestörte
439
Persönlichkeit in eine tiefe „existential-neurotische" Not geraten war:
„...Meine Mutter hat mir etwas angepreßt, was mir nicht wesensgemäß ist. Dabei
ist mein wahres Gesicht zerbrochen worden. Ich habe die mir aufgepreßte Maske
aber nicht abstoßen können. Ich war nicht stark genug dazu. Sie ist nach innen
geschlagen und hat mich zur Verkrampfung und Zwanghaftigkeit erstarren lassen.
Der Widerstreit meiner Wesenskräfte gegen das mir aufgezwungene Verhalten hat
mich seelisch krank gemacht. Ich bin gleichsam in einer Wüste groß geworden.
Aber ich habe mich auch selbst verwüstet durch den Haß auf meine Mutter und dann
durch den Haß gegen mich selbst. Gehaßt habe ich mich, weil ich es nicht
ertragen konnte, meine Mutter zu hassen. Ich bin zwanghaft gegen mich selbst
aggressiv geworden ... weil ich die Aggressionen gegen meine Mutter unterdrücken
mußte. Ich habe aus meinem Seelenleben eine Hölle gemacht und mich in meiner
Selbstquälerei totgelaufen. Ich weiß - alles das ist ein Abfall von Gott."
Und nun folgt das nihilistische Resumée: „Das Netz der Versagungen zog sich
immer enger zusammen, alles endete in der Sackgasse der Vergeblichkeit. Dahinter
stand die Leere - das Nichts. In mir ist Nichts. Ich bin durchdrungen von
Nichts. Das Nichts meiner Vergangenheit macht mir Angst ... Ich habe nicht nur
in keiner Gefühlsbindung gelebt, sondern in andauernder, quälender Gefühlsabwehr
gegen meine Umgebung (Mutter) gestanden. Auch in der geistigen Entwicklung sehe
ich mehr Unterlassungen und Versäumnisse als eine positive Entwicklung, also
auch nur Negationen." "Ein Leben, das mir nichts als Versagungen und Leiden
aufzwingt, ist für mich auf die Dauer unerträglich und ohne Sinn."
Die verfehlten - weil selbstquälerischen und nur wieder Angst erzeugenden
Versuche, die im „Nichts" verborgene Angst abzuwehren, äußerten sich bei dieser
Patientin in einer zwanghaften Tendenz zur Selbstzerstörung: Sie mußte sich
stundenlang die Haut an den Fingernägeln aufreißen oder abschneiden! Zugleich
entwickelte sich bei ihr ein „Verneinungszwang": Beim Lesen blieb sie an Worten
mit verneinender Bedeutung hängen, so daß sie nicht weiterlesen oder den Sinn
des Gelesenen nicht mehr erfassen konnte! Das Nichts hatte sich an die Stelle
ihres Seins gesetzt. Die Sinn-Kontinuität des Daseins ist unterbrochen, seine
Geschichtlichkeit zu sinnleerer Punktualität nihilisiert.
440
Der moderne entgöttlichte Zeitgeist vermag dem Menschen in nihilistischer Not
keine Hilfe zu geben. Das Gebet hilft nicht. Gott hört nicht - er schweigt. „Die
Thesen des biblischen Zeitalters nützen uns nichts mehr, sprechen uns nicht an."
„Das Leben hat für mich nur Sinn, wenn Gott mir meine tiefsten Wünsche erfüllt.
Er hat es nicht getan. Deshalb kann ich nicht mehr an den Sinn des Lebens und
auch nicht mehr an Gott glauben. Er ist für mich nicht mehr da. Christus ist nur
noch ein wirklichkeitsferner Mythos. Gott und Christus, wo bleiben sie? Wo
bleibt ihre Liebe?" So oder ähnlich äußern sich Patienten, gefangen in den
Fesseln neurotischer Not. Helfen kann allenfalls noch der sachkundige, erfahrene
Arzt, der Psychotherapeut, der damit mehr und mehr an die Stelle des geistlichen
Seelsorgers tritt. An die Stelle Gottes setzt sich das Ich. Aber dieses ICH ist
„hassenswert",wie Pascal sagt, „weil es sich zum Mittelpunkt von allem macht."
„Wo ist Gott? - wir haben ihn getötet", sagt N i etzs c h e , „Ich habe Gott in
mir vernichtet und mich zerstörerischen Kräften ausgeliefert", sagt meine
Patientin. "L 'homme se fait!" ist der erste Grundsatz des S a rt r e schen
Existentialismus. „Das Ich, das sich absolut setzt, darf auch den Anspruch
erheben, sich vernichten zu können!", war die rationalistische Folgerung, die
ein anderer Patient unter Berufung auf Sartres These aus seinem neurotischen
Nihilismus ziehen zu können glaubte. Daß die Totalisierung des Ichs zu seiner
Nihilisierung und damit auch zu seiner Kollektivierung führen kann, zeigte sich
an einem Patienten, der als Soziologe seine Neurose im Zusammenhang mit dem von
David R i e s m a n geprägten Begriff der „außengeleiteten Person" zu verstehen
versuchte.: „Da ich mich in der Isolierung meines Ichs weder mit mir selbst noch
mit einem Du auseinandersetzen konnte und damit jede Selbstsicherheit verloren
hatte, war ich dem Urteil Anderer ausgeliefert, bin ich von ihm krankhaft
abhängig, ihm hörig geworden - eine Ka f k a eske Situation"!
Aus dieser Destrukturierung des Ichs ergeben sich die Möglichkeiten einer
Verschärfung der Gegensätze des Daseins im Inneren des Menschen und in seinen
Beziehungen zur Umwelt zu den neurotischen Ambivalenzen oder Antinomien auf der
einen und zu neurotischen Komplexen auf der anderen Seite. Die Gegensätze können
sich verschärfen, wenn sie nicht auf höherer geistiger oder religiöser Ebene zu
einer Einheit verbunden werden, die N i c o l a u s v o n C u e s als „coincidentia
oppositorum" mit dem Gottesbegriff identifiziert
441
hat. Damit entstehen die unverbundenen Gegensätze zwischen übersteigerten
Geltungsund Machtansprüchen des Ichs und seiner radikalen Verneinung, zwischen
dem Anspruch, geliebt zu werden und dem Unvermögen, wirklich lieben zu können
usw. Komplexe entstehen dadurch, daß einer der Pole dieser Gegensätze das
Übergewicht über den anderen gewinnt, sich verselbständigt und zu zwanghaften
ErlebnisRekapitulationen, Befürchtungen oder Aggressionen fixiert, die sich
autonom, gleichsam als „Ersatz-Ich", dem Willenseinfluß der Persönlichkeit,
ihrer Vernunft und Selbstveranwortung entziehen und von ihr als etwas Fremdes,
Feindliches empfunden werden. Sie können sich äußern in der Form einer Fixierung
an einen Elternteil („Ödipus" oder „Elektra"-Komplex) oder in dem Gefühl der
eigenen Unter- oder Überwertigkeit (Minderwertigkeitskomplex oder hysterische
Geltungssucht) oder in der zwanghaften Angst, einen Fehler zu begehen (anankastischer
Perfektionismus) oder auch in zwanghaften (hypochondrischen)
Krankheitsbefürchtungen.
Von ihrem nihilistischen Hintergrund her gesehen, lassen sich diese
psychodynamischen Vorgänge auf die Formel bringen: Der Nihilismus spaltet das
Ganze der Persönlichkeit in desintegrierte Teile, die neurotischen Antinomien
oder Ambivalenzen, und er emanzipiert einen dieser Teile zu einem beherrschenden
Ganzen, dem neurotischen Komplex.
Nihilismus und Neurose
Mein Versuch, der Frage nach den Beziehungen des modernen
Nihilismus zu neurotischen Entwicklungen nachzugehen, beschränkt sich nicht auf
theoretische Erklärungen, sondern läßt sich empirisch begründen mit der
auffallenden Häufigkeit neurotischer Komplexformen in unserer Zeit. : Es sind
die „Phobien" (Zwangsängste) und anderen Zwangssymptome (Anankasmen), die
Suchten und die Suizidtendenzen. „Die Zahl der Anankasten ist Legion" (von G e
bs a t t e I ), zumal, wenn man die vielen, noch nicht im klinischen Sinne
krankhaften Formen von Zwangserscheinungen hinzunimmt. Victor von G e b s a t t
e I hat in der phobischen Fehlhaltung einen „unfreiwillig gelebten Nihilismus"
gesehen mit der Tendenz zum „Nicht-sein-können" nach der Weise der „conduite
d'échec" (Pierre J a n e t ). Der „Phobische" lebt, wie L ö p e z I b o r sagt,
in Bezug auf seine Phobie nicht in der historischen, sondern in
442
einer zyklischen Zeit. Er wird durch die ständige Wiederkehr seiner Phobien
scheinbar! gegen jenes Erlebnis der Angst geschützt, das die unaufhaltsam
voraneilende Uhr- und Kalenderzeit, die „reißende Zeit", von der H ö I d e r I i
n im „Archipelagus" spricht, in uns hervorruft.
In der Analyse der Suchten stoßen wir, soweit sie auf neurotischen
Fehlentwicklungen beruhen, ebenfalls auf nihilistische Merkmale: Ängste und
Surrogate einer Sinnerfüllung des Daseins. Unbewältigte Konflikte,
Enttäuschungen, körperliche oder seelische Schmerz- und Leidenszustände sollen
durch die Rauschwirkung des Alkohols oder bestimmter psychotroper Drogen
nihilisiert" werden. Wir können darin eine Manifestation des Nichts sehen, die
den Menschen in ein B a u d e l a i re ssches „Paradias artificiel" entrückt und
ihn zugleich der Selbstzerstörung ausliefert. Denn Suchten sind ..Suizide auf
Umwegen". Gottfried B e n n h a t , obwohl er Arzt war, diese
Selbstzerstörungstendenz der Suchten in Kauf genommen, wenn er den Zynismus
aufbrachte, in der gezielten Verordnung des Suchtmittels Pervitin zur
Stimulierung von „Zerebralos-zillationen" bei Schülern die „natürliche
Fortführung einer Menschheitsidee" zu erblicken. Er hat sich damit selbst als
Kind und Opfer eines nihilistischen Zeitalters entlarvt.
Statistisch erwiesen ist die Zunahme der Selbsttötungen mit dem wirtschaftlichen
Aufstieg in der Bundesrepublik Deutschland nach 1948, nachdem die Suizid-Quote
in der letzten Zeit des Zweiten Weltkrieges einen in der Vorkriegs Friedenszeit
nie beobachteten Tiefstand erreicht hatte! Interessant ist, daß der bisher
erkennbare suizidhemmende Einfluß der katholischen Kirche zurückgegangen ist.
Nietzsche hat die Selbsttötung als „Tat des Nihilismus" bezeichnet und deren
Mißbilligung dem Christentum zum Vorwurf gemacht: In der vergleichenden Analyse
der Suizid-Motive stand noch vor 30 Jahren „Liebeskummer" an erster, 1955 an
letzter Stelle! In diesem Motivationswandel kommt die zunehmende Versachlichung
und Verflachung des Phänomens ,.Liebe" zum Ausdruck. Goethe würde heute seinen
„Werther` wohl nicht mehr schreiben. In Césare P a v e s e s „Tagebüchern"
finden sich die Sätze: „Die Liebe ist die billigste aller Religionen" und: „All
die heiligsten Gefühle sind nichts als eine träge Gewohnheit ". Derselbe P a v e
s e - er endete durch Selbsttötung stellte die Frage: „Gibt es etwas Banaleres
als den Tod?".
443
Eine Antwort auf diese Frage erhalten wir durch die oft erstaunliche Banalität
der Motive und die Leichtfertigkeit des Entschlusses zum Suizid bei Erwachsenen
und namentlich auch bei Jugendlichen. Nach mißlungenen Suizidversuchen hören wir
von ihnen häufig nichts von tiefergehenden Konflikten, sondern Äußerungen wie:
„Ich weiß auch nicht, warum ich nicht mehr leben wollte. Es erschien mir alles
sinnlos. Ich fühlte mich so einsam. Ich glaubte, keiner könnte mich lieben".
Dies gilt nicht etwa nur für Depressionen von Krankheitswert, sondern gerade
auch für leichtere Familienzerwürfnisse, beschämende Erlebnisse, Enttäuschungen,
Angst vor Strafe für schlechte Zensuren in der Schule. Es ist das unklare Gefühl
eines „taedium vitae", das Jugendliche aus der Langeweile oder inneren
Einsamkeit ebenso in den Tod treiben kann wie in ein Leben voller Nichtigkeiten
und Zerstreuungen, zu denen auch suchtartig sich häufende Diskothekenbesuche
gehören: Den Suizid-Motivationen fehlt das eigentlich Tragische. Leben und Tod
werden nicht mehr ernst genommen, weil man in beidem keinen Sinn zu sehen
vermag. Das Nichts entwertet beides zur Nichtigkeit eines bloßen Kalküls - eine
Konsequenz des radikalen Rationalismus. Dessen sinn- und selbstzerstörende
Bedeutung kam in den Worten eines meiner neurotischen Patienten zum Ausdruck,
der mehrere Selbsttötungsversuche hinter und wahrscheinlich auch noch vor sich
hatte: "Es gibt für mich überhaupt keine höheren Werte. Alles ist Einbildung.
Auch Gefühle sind Einbildung. Die Seele ist eine Einbildung. Das einzig
Wirkliche sind die Grunddimensionen der Physik und Chemie, aus denen das
menschliche Leben besteht. Ich kann sie vernichten, wenn ich das für richtig
halte."
Die Nihilisierung des Lebens und des Todes prägt sich besonders deutlich aus in
der ebenfalls statistisch erwiesenen Zunahme der Suizidversuche. Nach
amerikanischen Statistiken entfielen auf 12000 gelungene Suizide 100000
mißlungene Suizidversuche. 50 Selbsttötungsversuchen bei Kindern und
Jugendlichen - meist Mädchen! - stand nur eine gelungene Selbsttötung gegenüber.
Der „Suizid mit Vorbehalt" ist ein Kompromiß zwischen der Angst vor dem Leben
und der Angst vor dem Tode, ein Ausweichen vor beidem in die
Entscheidungslosigkeit. Man sielt im Grunde mit dem Leben wie mit dem Tod. Ich
habe dieses unernste Schwanken zwischen Sein und Nichtsein symbolisiert gefunden
in der Gewohnheit einer schwer neurotischen Patientin, die mehrere „kleine"
Suizidversuche unternommen hatte, jahrelang in der Handtasche neben den
444
Liebesbriefen ihres Freundes ein Fläschchen mit Schwefelsäure aufzubewahren!
Nihilismus und Depression
Auch die statistisch gesicherte Zunahme der Depressionszustände
läßt sich als Manifestationsform des nihilistischen Zeitgeistes sehen. Die
Depression stellt den Menschen vor die Schuld, die Leere, den Tod und setzt ihn
damit, wie L ö p e z I b o r gesagt hat, „plötzlich und grundlos der Drohung des
Nichts" aus. Eine Depression läßt den Fluß des personalen Erlebens stillstehen,
sie unterbricht den Ablauf der individuellen Lebensgeschichte und bildet eine
leere Stelle in deren Sinngefüge. Depressionen hat es zu allen Zeiten, auch in
der Antike gegeben. Aber die offensichtliche Häufung depressiver Verstimmungen
in Gebieten mit einem hohen Lebensstandard wie in Westdeutschland, dem Lande des
„Wirtschaftswunders", läßt keinen Zweifel an ihren besonderen
zeitgeschichtlichen Beziehungen zu. Wir haben es heute mit Depressionsformen zu
tun, wie ich sie in meiner psychiatrischen „Lehrlings- und Gesellenzeit" nicht
gekannt habe: Erschöpfungs-, Entwurzelungs-, Vereinsamungs-, bei Frauen auch
Umzugsdepressionen. In ihren Entscheidungsbedingungen sind von Bedeutung:
Oberlastungen („Streß") im beruflichen Rivalitätskampf, gehetzte Lebensweise,
Schlafmangel, Alkohol-, Arzneimittel-, Nikotinmißbrauch, Vertreibung aus der
Heimat, bei Ausländern die neue sprachfremde Umgebung, innere Vereinsamung
alleinstehender Frauen im höheren Lebensalter, Trennung von der alten beim Umzug
in eine neue Wohnung u.a.m. Wenn auch die sogenannten „endogenen",
konstitutionsbedingten Depressionen von den Einflüssen des Zeitgeistes weniger
berührt zu sein scheinen, so ist doch der Inhalt - nicht die Entstehung - von
dem Säkularisierungsprozeß der neueren Zeit nicht unbeeinflußt geblieben:
Versündigungswahn ist in den letzten Jahrzehnten ständig mehr zurückgetreten
hinter hypochondrischen-, Insuffizienz- und Kleinheitsideen (v. Orelli).
Ich habe dann noch die psychopathologischen Randzonen des modernen Nihilismus
gestreift: Hinter den Masken und Metamorphosen", in denen er sich, wie Hermann R
a u s c h n i n g sagt, äußert, verbergen sich bestimmte
445
Menschen- und Verhaltenstypen, von denen sich Verbindungslinien zur Struktur der
Neurosen ziehen lassen: Ich meine den Typus des erfolgsbesessenen „Managers", in
dessen Persönlichkeit die Verstandes- und die Trieb- und Willenssphäre
dominieren und die „Mitte", „Herz, Gemüt, Liebe" zu kurz kommt, den Typus des
Funktionärs, des Playboys, des Snobs, des politischen oder ideologischen
Fanatikers, des modernen Diktators, des Produzenten obszöner Literatur, des
Publizisten, der die Diskriminierung von Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens oder die Zersetzung tradierter Werte und Ordnungen zur Maxime erhoben hat
- alles dies gehört zu den „fragmentarischen Daseinsweisen", die R a u s c h n i
n g , wieichdenke,zuRechtzudenMerkmalenundWerkzeugen des Nihilismus zählt.
Erkenntnistherapeutische Möglichkeiten
Der moderne Nihilismus stellt uns als Zeitzeugen und als
Psychotherapeuten vor die Frage P a s c a I s : „Que deviendra donc l' homme?"
Es ist möglich, daß die Voraussagen N i e t z s c h e s oder H e i d e g g e r s
eintreffen, der Nihilismus werde zu Weltkatastrophen führen. Wir haben in der
Tat nichts anderes zu erwarten, wenn die Menschheit so verblendet sein sollte,
dem Wort Malins in W. H. A u den s „Zeitalter der Angst" zu folgen: „Wir lassen
uns lieber zerstören als ändern!" Aber: der geschichtliche wie der individuelle
Nihilismus birgt nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen: Kein Mensch will
bewußt und mit Willen das Nichts herbeirufen, damit es ihn in der Maske der
psychischen Krankheit, Störung oder Fehlhaltung beherrscht. Viele Neurosen
lassen sich als mißglückter Protest gegen die Verarmung der heutigen Welt an
Verständnis und Liebe verstehen. Aufgabe des psychotherapeutisch tätigen Arztes
ist es, den inneren Blick des Patienten für die im Grund gesunden, aber
brachliegenden Gegenkräfte des Nihilismus zu öffnen. Der Patient soll erkennen,
daß das Nichts ebenso zum Dasein gehört wie das Sein. (Er soll versuchen, auch
im Sinnlosen noch nach einem Sinn zu fragen, nach einem Sinn nämlich, der den
Gegensatz zwischen dem Nichts und dem Sein in einer übersinnlichen Welt aufhebt
und zu einer Einheit verbindet. Er soll verstehen lernen, daß sein Dasein sich
nicht nach dem Gesetz des „Zufalls" vollzieht und damit des Sinngehaltes
entbehrt, sondern von einer sinngebenden Kraft getragen und durch
446
drungen ist, die auch alles „Negative", alles
„zufällig" und sinnlos" Erscheinende, alle Schuld, alle Verstrickung und Not
einschließt. Er soll das Nichts ernst nehmen Heidegger : „Vielleicht liegt das
Wesen des Nihilismus darin, daß man nicht ernst macht mit der Frage nach dem
Nichts" - und sich seiner Angst vor ihm stellen, sich mit ihr auseinandersetzen,
auch wenn sie ihn immer wieder zu überwältigen droht. Er soll versuchen, die
Angst vor dieser Angst zu überwinden, weil das Nichts, streng gedacht, selbst
nicht schrecklich ist. Es kann nur dann ängstigen, wenn in seinem tiefsten Grund
ein ETWAS, ein Böses lauert ( W a n d r u s z k a ). Die Angst darf aber auch
nicht bagatellisiert und damit verdrängt werden. Sie ist kein "Bluff der Seele",
wie einer meiner. neurotischen Patienten mir nach der Lektüre einer
amerikanischen Anleitung zum mühelosen Daseins-Optimismus freudig verkündete.
Die Angst offenbart, wie L ö p e z I b o r einmal gesagt hat, „das Innerste der
Persönlichkeit und seine Risse". Es ist jenes „Intimum", das für Thomas von
Aquin , den „höchsten Rang von Sein und Wesen begründet" - es ist das „geistige
Selbst".
Wenn der hilfesuchende Mensch in seiner seelischen Not dies erkennt, wird er
einen Weg finden können, in den Gegensätzen und Widersprüchen, in denen er das
Dasein erfährt, einen Sinn zu sehen, der ihm hilft, seine Konflikte und Krisen
zu verarbeiten und an ihnen zu reifen.
Eine „Erkenntnistherapie" solcher oder ähnlicher Art setzt einen entsprechenden
Differenziertheitsgrad des Patienten voraus. Ich sehe in ihr eine Möglichkeit,
die Chance, die auch in dem nihilistischen Grundzug seelischer Störungen unserer
Zeit liegt, zu nutzen. Der epochale Nihilismus aber wird nicht von Gruppen,
Organisationen, Ideologien, sondern zu allererst vom einzelnen Menschen her
bekämpft werden müssen und können. Als Kinder ihres Zeitalters sind Patient und
Therapeut in einer dialogischen Gesprächs- und Schicksalsgemeinschaft
miteinander verbunden.
Nachsatz: Mein Versuch, dem Patienten in neurotisch-nihilistischer Not einen Weg
zur Erkenntnis des Sinns seiner Not, des Sinns der Widersprüche des Daseins, des
Sinns der Sinnlosigkeit zu weisen, würde von Sigmund F r e u d als Irrweg
abgetan, vielleicht belächelt und selbst als therapiebedürftig angesehen werden.
Nach ihm gibt es die Frage nach dem „Sinn des Lebens" objektiv überhaupt nicht.
Wer sie stellt, „bedarf einer Behandlung mit Mitteln der Psy
447
choanalyse, in der diese Frage verschwindet" ( Lü b b e , Hermann: Theodicee und
Lebenssinn. Arch. Filosofia 56, 407, 1989).
Wenn sich in der vielleicht zu ausführlichen Wiedergabe dieser Vortragstexte
manches überschneidet, zum Teil auch wiederholt, so mag mir zugute gehalten
werden, daß ich hier eine wenn auch eng begrenzte Möglichkeit sehe, etwas von
dem zu Papier zu bringen, was außer den spanischen und französischen
Veröffentlichungen nicht gedruckt worden ist. Psychopathologische Probleme aus
zeit- und geistesgeschichtlicher Sicht gehören zu den Themen, die ich
wissenschaftlich nur in Ansätzen, nicht in extenso monographisch bearbeitet
habe. Vordergründiger, praktisch dringlichere Aufgaben wie das klinische,
epidemiologische und sozialtherapeutische Alkohol- und Drogenproblem und die
empirische wie theoretische Fundierung der psychiatrischen Beschäftigungs- und
Ausdruckstherapie ließen es nicht dazu kommen. Das bleibt unbefriedigend, weil
mich die „Historio-Psychopathologie" seit Jahrzehnten beschäftigt und bis heute
nicht wieder Iosgelassen hat. Ich erinnere mich, von dem Gedanken des epochalen
Nichts" bei einem Spaziergang mit C o n n o rs in den Wäldern nahe den
Externsteinen blitzartig getroffen worden zu sein. Seitdem verfolgt er mich auch
außerhalb der Psychopathologie und des Zeitgeistes, natürlich belebt und
vertieft durch Kierkegaard Nietzsche und H e i d e g g e r . Ich frage nach dem
Nichts und denke es mir als eine Gegenmacht des Seins. Es ist für mich nicht
„nichts", sondern eine Dimension der Transzendenz, die unaufhörlich in unseren
Alltag hineinwirkt und sich im Ereignis des T o d e s äußert wie auch in den
Banalitäten des Lebens: In Nichtigkeiten, Gedankenlosigkeiten, in innerer Leere,
in Vergeblichkeiten, Versäumnis sen, in der Langeweile, im Gerede anstelle
des Gespräches („blabla"), in allem, was nicht ist.
Aber „Das Nichts ist niemals nichts, es ist ebensowenig ein Etwas im Sinne eines
Gegenstandes; es ist das Sein selbst ..." sagt Heidegger in den „Holzwegen"
(„Die Zeit des Weltbildes", 104). Aber es tritt auf andere Weise in Erscheinung
als das Sein, eben in allem Verneinenden. Es spricht in der Sprache zu uns, in
den Worten mit verneinender Bedeutung, im „nicht", „nein", „kein". Es gäbe
nichts Verneinendes ohne das Nichts, nichts Bejahendes ohne das Sein. Aber wie
reimt sich mein Gedanke vom Nichts als der Gegenmacht des Seins zusammen mit H e
i d e g g e r s Gleichsetzung des Nichts mit dem 448
Sein? Er unterscheidet das großgeschriebene „Nichts" vom kleingeschriebenen „nihil"
(nichts) und meint mit ihm, es besage, daß es "mit dem Sein nichts ist", daß das
nihil des Nihilismus das Sein „vergessen" läßt. Die „Seinsvergessenheit" ist die
Grundfrage seines Denkens. Nietzsche habe diese Frage, die das Wesen des
Nihilismus bestimmt, nie erkannt „so wenig wie je eine Metaphysik vor ihm".
(Nietzsches Wort Gott ist tot" in den „Holzwegen", 244).
Für Augustinus aber war das „nihil" doch „Etwas", nämlich das „Böse": Die
Bosheit des menschlichen Willens sei nicht aus seinem Natursein zu erklären,
sondern daraus, daß die Natur „aus nichts erschaffen ist". Der böse Wille könne
nicht aus der Natur entspringen, da die Natur ihrem Wesen nach gut sei. Aus
Gutem aber könne nicht Böses entstehen. Daher brauche man nach der Wirkursache
des bösen Willens nicht zu forschen. Sie liege nicht im SEIN, sondern im
NICHTSEIN, „wie ja auch der böse Wille nicht ein Schaffen, sondern ein
Erschaffen" sei... (Vom Gottesstaat, 11,2).
Anders wieder Kierkegaard, der in der Sünde keine Negation sieht,
sondern eine Position vor Gott. Das eben sei das positive in ihr. (Die Krankheit
zum Tode, z. Abschn. AX1, 210). Dieser Abschnitt beginnt mit den berühmten
Sätzen: „Sünde ist, vor Gott oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man
selbst sein wollen, oder verzweifelt man selber sein wollen. Sünde ist somit die
potenzierte Schwachheit oder der potenzierte Trotz."
Mit diesen Gedanken Kierkegaards habe ich mich nie ganz anfreunden können.
Wenn er und Augustinus das NICHTS in Verbindung mit dem Begriff „Sünde" bringen,
gehen sie mit ihm um, als ob es „Etwas", ein Gegenstand sei. Das aber ist für
Heidegger ein Greuel, eine Sinnlosigkeit. „Wer vom Nichts redet, weiß nicht, was
er tut ... . Das Reden vom Nichts ist nicht nur völlig denkwidrig, es untergräbt
jede Kultur und jeden Glauben. Was sowohl das Denken in seinem Grundgesetz
mißachtet, als auch den Aufbauwillen und Glauben zerstört, ist reiner
Nihilismus", sagt er auffallend heftig in seiner „Einführung in die Metaphysik"
1, 18 (1953). In der Grundfrage aller Metaphysik : „Warum ist überhaupt Seiendes
und nicht vielmehr Nichts?" sei der zweite Teil nichtssagend. Mit ihm sei „nicht
das Geringste für die Erkenntnis des Seienden zu gewinnen." Das Nichts bleibt
grundsätzlich aller Wissenschaft unzugänglich. Wer vom Nichts wahrhaft reden
will, muß notwendig unwissenschaftlich werden.
449
Aber dies bleibt nur solange ein großes Unglück, als man der Meinung ist,
wissenschaftliches Denken sei das einzige und eigentliche strenge Denken, es
allein könne und müsse zum Maßstab auch des philosophischen Denkens gemacht
werden. „Die Sache liegt aber umgekehrt. Alles wissenschaftliche Denken ist nur
eine abgeleitete Form des philosophischen Denkens."
Warum ereifert Heidegger sich so über das .Reden vom Nichts", da er es ja selber
tut?, frage ich! Weil er dem Denken in der Philosophie wie auch der echten und
großen Dichtung einen höheren Rang, eine wesenhafte Überlegenheit des Geistes
gegenüber aller bloßen Wissenschaft zuweist. Das ist es! Deshalb läßt er auch
ein wahres Reden vom Nichts" zu, wenn man es nicht in der „billigen Säure eines
nur logischen Scharfsinnes zerrinnen" läßt.
Das, was mich an Heidegger immer wieder anzieht und auch von der Frage nach dem
Sein und dem Nichts nicht loskommen läßt, ist sein bohrendes, nicht zur Ruhe
kommendes „sokratisches" Fragen. „Fragen können heißt: Warten können, sogar ein
Leben lang. Ein Zeitalter jedoch, dem nur das wirklich ist, was schnell geht und
sich mit beiden Händen greifen läßt, hält das Fragen für ,wirklichkeitsfremd',
für solches, was sich nicht bezahlt macht. Aber nicht die Zahl ist das
Wesentliche, sondern die rechte Zeit, das heißt der rechte Augenblick und das
rechte Ausdauer.. ,Denn es hasset Der sinnende Gott Unzeitiges Wachstum'. ( H ö
I d e r I i n , Aus dem Motivkreis der „Titanen", IV, 218). Damit schließt die
-„Einführung in die Metaphysik".
Von H e i d e g g e r abweichend versuche ich mein eigenes Fragen in den
Gedanken münden zu lassen: Das Sein und das Nichts sind als widerstreitende
Daseinsmächte zu einer höheren Einheit verbunden, die ich den „Sinn der
Gegensätze" nenne. Er entspricht etwa der „coincidentia oppositorum" des N i c o
l a u s v o n C u e s , vielleicht auch dem T a o im Tao te king. Er spricht zu
mir als „innere Stimme", als „Stimme des Gewissens", auf die ich -gewissenhaft
zu hören habe. Sie sagt mir, was Recht und Unrecht, Gut und Böse in mir ist, und
sie unterscheidet auch zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, Wichtigem und
Nichtigem, Eigentlichem und Uneigentlichem. Ich denke sie mir identisch mit dem
Sokratischen Daimonion. Es ist nicht der ..fragwürdige und bestechliche
Verstand", sondern die „STIMME DER VERNUNFT", die den Menschen fähig macht zur
rechten Führung des Lebens. „Wer sich seinen Begierden oder dem Ehrgeiz, nach
Platon den „unteren, irdischen Teilen der
450
Seele", überläßt und „unablässig nur diese beiden Kräfte übt", wird nur den
sterblichen Teil in sich großziehen. Wer hingegen sich der Lernbegierde und des
Erwerbs wahrhafter Erkenntnisse sich beflissen und die Kraft des Wissens vor
allen anderen Kräften seiner Seele geübt hat, der wird ... unsterbliche und
göttliche Gedanken in sich tragen und, soweit überhaupt die menschliche Natur
der Unsterblichkeit fähig ist, in keinem Teile dahinter zurückbleiben und, weil
er stets des Göttlichen wartet und den GÖTTLICHEN SCHUTZGEIST, der in ihm selber
wohnt, zur schönsten Vollkommenheit hat gedeihen lassen, vorzüglich glückselig -
eudaimon (Anm.: griechische Zeichen) - sein." So
steht es im T i m a i o s , (übersetzt von Franz Susemihl in P I a t o n ,
Sämtliche Werke, Verlag Lambert Schneider, Berlin, 188-189).
Auf die Gedanken P I a t o n s über den Dämon bezieht sich die Abhandlung des
Freiburger Philosophen Franz V o n e s s e n über "Das Daimonion des Sokrates in
platonischer Sicht" (In: Herbert Kessler (Hrsg.) Sokrates-Gestalt und Idee,
SokratesStudien I. Die Graue Edition, Heitersheim 1993,71-95) ,Jeder Mensch, so
lehrt P I a t o n , hat einen Dämon." .. ,Der Dämon ist es; der ihn fähig macht,
gutes und schlechtes Leben zu unterscheiden und aus den vorhandenen
Möglichkeiten immer und überall die beste zu wählen. Für diese Wahl trage allein
jeder selbst die Verantwortung .." „Der Dämon ist klüger als wir, er weiß mehr
und sieht weiter. Es gehe darum, mit Vernunft zu wählen." ,Mit Vernunft wählen
heißt aber, nicht ein Leben wählen, zu dem, als unbeachtete Kehrseite, ein
womöglich ,furchtbarer Dämon' gehört, sondern ausdrücklich den Dämon wählen, um
ihm die Führung des künftigen Lebens anzuvertrauen." ..."Weil Sokrates seinen
Dämon bewußt wählte!, habe er allein auch ein klares, bewußtes Verhältnis zu
ihm, und zwar, wie es mehrmals heißt: von Kindheit an. Er hört seine Stimme,
während die anderen Menschen nur Ohren haben für die Stimme ihrer Begierden, in
denen sich aber ihr Dämon, den sie nie richtig kennenlernen, verbirgt."
Wenn die Stimme des Daimonion, die S o k r a t e s hört, immer nur ab-, niemals
zuredet, so ist dieser Widerspruch zum Gewissen, wie wir es kennen, nach der
Interpretation V o n e s s e n s damit zu erklären, daß S o k r a t e s als
außergewöhnlicher, ja vollkommener Mensch keiner Ermahnung, keines Zuspruchs
bedarf. „Sein Gewissen hat keine andere Aufgabe, als ihn in Form
451
von Warnungen auf dem Wege zu halten, auf dem er schon ist. Es muß ihn nicht
erst dorthin weisen." (Als „vollkommener Mensch" bedürfte er aber auch keiner
Warnungen, ließe sich gegen diese Deutung einwenden!)
Hans-Georg G a d a m e r hat in seinem Beitrag zu dem genannten Sokrates-Buch
das Daimonion, die innere Stimme, die Sokrates warnte, daher auch als den
„Vorläufer des Gewissens" bezeichnet. Das Vollkommenheitsideal des menschlichen
Seins ist die areté, die Tugend, die zugleich Wissen ist. Aber mit dem Wissen
ist die Grundfrage, die Frage nach dem Guten nicht beantwortet. Was ist das
Gute? Wir wissen es nicht. "ist es etwa ähnlich wie das Göttliche und wie das
Schöne?" G a d a m e r sucht eine Antwort im späteren Dialogwerk des Platon : in
der Lehre vom zweierlei Maß :Dem Maß, mit dem man mißt wie mit dem Maßstab eines
Mehr und Weniger, und dem Maß, dem nMetrion", dem „Angemessenen", das man nicht
mehr beweisen kann. „Es hängt mit so einem rätselhaften Phänomen zusammen wie
etwa mit Takt." Sokrates hat jeden seiner Mitbürger auf die Frage
zurückgeworfen, was das Gute ist. „Auf diese Frage hat jeder nur selber die
jeweils verantwortliche Antwort zu suchen."- („Sokrates und das Göttliche",
a.a.0., 97-108).
Immanuel Kant , in dessen Denken wie in dem des Sokrates DER MENSCH den
Mittelpunkt bildet, hat sich zur Frage des Gewissens härter und bestimmter
geäußert: „Man muß völlig gewiß sein : ob etwas recht oder unrecht, pflichtmäßig
oder pflichtwidrig, erlaubt oder unerlaubt sei. Aufs Ungewisse kann man in
moralischen Dingen nichts wagen..." (Vorlesungen über Logik, IX, 69!70)
„Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum
Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende Vernunft." (Metaphysik der Sitten VI,
400) und „Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen ... ist das
Gewissen. - Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren
Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener
Achtung) gehalten, und diese ... in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er
sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt: Es
folgt ihm wie sein Schatten wenn er zu entfliehen gedenkt Er kann sich zwar
durch Lüste und Zerstreuungen betäuben ... aber nicht vermeiden dann und wann zu
sich selbst zu kommen oder zu erwachen wo er alsbald die furchtbare Stimme
desselben vernimmt..." (Metaphysik der Sitten VI, 438).
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Beim Nachdenken über das Geheimnis der Stimme des Gewissens, der inneren Stimme,
in der das Göttliche mit dem Menschlichen in uns ringt, regt sich immer wieder
die Frage nach dem Inhalt und dem Sinn meines Daseins. Es ist die „Unruhe des
Herzens," das „Mihi quaestio factus sum" des Augustinus, die mich nicht zur Ruhe
kommen läßt und zugleich nach Ruhe verlangt. Bei einem Osterspaziergang mit
meinem lieben "Tapsy", am Sonntag, dem 3. April 1994, versuchte ich einer
Antwort auf diese Frage näher, ja nahe zu kommen in einer Art von
Bekenntnis, das ich - nicht ohne gewisse Scheu niederzuschreiben wage: „Spricht,
so spricht, ach, die Seele nicht mehr". Ich bekenne, das Wesentliche meines
Lebens in den Dienst zweier Aufgaben gestellt zu haben: In den Dienst des
ärztlichen Helfens und in den des wissenschaftlichen Erkennens. Das Helfen
sollte auch dem Erkennen, das Erkennen wieder dem Helfen dienen. Das Helfen war
durchdrungen von der Liebe zum Menschen, das Erkennen von der Liebe zur
Wahrheit, beides im Geiste einer umfassenden Liebe, eines Eros im Platonischen
Sinne : Zum Leben, zum Schicksal, zum Sinn des Seins und des Nichts, zur Natur,
zu einem Schöpfergeist, zu „Gott" „Name ist Schall und Rauch"!
Kann man denn etwas so Unpersönliches, „Abstraktes" wie das „Schicksal", den
„Sinn" oder „Gott" lieben?, ließe sich fragen. Ja, wenn ich in dem, was ich mit
diesen Worten zu umschreiben suche, nicht etwas Unpersönliches, Abstraktes, von
mir Abgehobenes sehe, sondern etwas auf meine Person Bezogenes, höchst
Konkretes, ein „Etwas", von dem mein Dasein bestimmt wird. Ich weiß mich mit ihm
verbunden im Sinne des Goethe -Wortes "Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne
könnt' es nie erblicken, läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt'
uns Göttliches entzücken?" Es ist das „Göttliche" in mir, das mit der Stimme des
Gewissens zu mir spricht, oft genug mit dem Menschlichen, „allzu Menschlichen"
im Widerstreit. Die göttliche Stimme in mir liebe ich, was ich von der
menschlichen nicht uneingeschränkt sagen kann. Aber eben der innere Widerstreit
zwischen beiden ist es, der mich wach hält für das, was recht und was unrecht
ist, was ich tun und was ich lassen soll. Ihm liegt eine tiefe Ruhe zugrunde,
eine Gewißheit, geführt zu werden von einer geheimnisvollen Kraft, der ich mich
glaubend und denkend anvertraue. Glauben und Denken bedeuten für mich keine
unüberbrückbaren Gegensätze. Sie gehö
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ren zusammen als festes Bindeglied zwischen mir und „Gott". Ich kann mir „Gott"
auf der einen Seite als den „Sinn der Gegensätze" denken, auf der anderen Seite
wie ein Kind glaubend zum „lieben Gott" beten.
Diese Einheit von Glauben und Denken gibt mir in aller „Unruhe des Herzens" die
innere Ruhe und Sicherheit, ohne die ich nicht die Gewißheit hätte: Zu
allerletzt erweist sich trotz aller Gegenbeweise und Zweifel das Gute gegenüber
dem Bösen als die stärkere Kraft. Wäre es nicht so, hätte die Menschheit an
ihren Kriegen, Völkermorden, Gewaltverbrechen schon längst zugrundegehen müssen,
ein gewagter, vielleicht naiver Gedanke, ich weiß es. Aber selbst Kant weigerte
sich, an ein Ende aller Zivilisation durch wechselseitige Vernichtung „auf dem
allgemeinen Kirchhof der Menschheit" zu glauben. Vielleicht bediente sich die
Natur selbst der menschlichen Ungerechtigkeit und Angriffslust, um endlich das
möglich zu machen, was im modernen Militärstaat nicht möglich war: Die freie
Entfaltung aller im Menschen schlummernden Begabungen! Der Zweck aller Kriege
könne doch ihr endliches Aufhören und der ewige Friede sein. Aus der höchsten
Not der äußersten Gefahr würde die Umkehr kommen! Soweit Ka n t
Angesichts der Millionen Toter der beiden Weltkriege, der Massenmorde von
Auschwitz, der bedrohlich zunehmenden Kriminalisierung und Brutalisierung in der
Welt von heute liegen Verzweiflung oder Resignation allzu nahe. Aber das hieße,
vor dem Bösen zu kapitulieren, der Sinnlosigkeit den Vorrang vor einem
verborgenen Sinngehalt zu geben - und das darf nicht sein! Die ständige
Konfrontation mit Kriegen, Greueln, Haß und Verbrechen, über die uns die Medien
informieren, könnte, sollte ein Menetekel sein, das uns mit der Flammenschrift
des Abscheus immer wieder mahnt, nicht müde zu werden in dem Bemühen um Frieden,
Verständnis, Toleranz im eigenen Inneren und im Umgang mit unseren Mitmenschen
wie im Leben der Völker. Es gibt dieses Bemühen, und das läßt uns hoffen, daß
das Gute im Menschen noch nicht erstorben sein kann.
Aber zurück zur Frage des Glaubens und Denkens : In beidem sehe ich, wie ich
sagte, nur zwei verschiedene Seiten meiner Beziehung zur Transzendenz: Glauben
als Ergriffensein vom mythischen Geheimnis, Denken als Ergreifen im logischen Be
riff. Der Versuch, mythischen Glauben mit logischem Denken in Frage stellen oder
gar „widerlegen" zu wollen, wäre ebenso verfehlt wie das Gegenteil: logisches
Denken durch mythischen Glauben angreifen oder
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außer Kraft setzen zu können. Das Mythische entzieht sich dem Logischen. Denn
beides gehört zwei verschiedenartigen Dimensionen des Weltbezuges an, denen die
ihnen jeweils gemäßen Erkenntniskategorien - dort mytho-logischen, hier theo-,
onto- oder bio-logischen, angemessen werden müssen - ein Erfordernis
erkenntniskritischer Methodik!
Praktisch bedeutet dies zum Beispiel : Es ist müßig und verfehlt, wie es immer
wieder geschieht, die unbefleckte Empfängnis der Mutter Jesu, die Wundertaten
ihres Sohnes, seine „Auferstehung", seine und ihre »Himmelfahrt" mit
biologischen Argumenten als unvereinbar mit den Naturgesetzen zu bezeichnen.
Denn es sind mythologische Gleichnisse. Symbole der „Reinheit", der Überwindung
des Todes durch das Wunder der erlösenden Liebe. Von ihnen kann ich mythologisch
glaubend ergriffen werden, ohne sie logisch begreifen zu können. Auf der anderen
Seite halte ich es für verfehlt, das Leben und Wirken des jüdischen
Wanderpredigers und „Wunderheilers" Jesus von Nazareth, soweit es überhaupt
historisch dokumentierbar ist, zu mythologisieren, indem man in seiner Person
die Inkarnation Gottes sieht und sie mit Gott selbst identifiziert: Ich kann
mich jedenfalls von der logischen Unbegreiflichkeit dieses mythologischen
Glaubens nicht ergreifen lassen.
Anderes Beispiel : Ich lasse mich von dem schönen Wort im Ersten Brief des
Johannes, 4, 16: Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott
und Gott in ihm", innerlich ergreifen, auch wenn ich es logisch nicht begreifen
kann. Hingegen kann ich psycho-logisch begreifen, wenn es hier weiter heißt:
„Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus
... wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe." Damit ist schon
eine Grundwahrheit aller späteren Psychologien, im besonderen der
Neurosenpsychologie, ausgesprochen.
Ich kann es auch onto-logisch begreifen, daß N i c o 1 a u s von C u e s in
„Gott" die coincidentia oppositorum, die Einheit - das heißt für mich : den Sinn
der Gegensätze sieht.
Beides, das mythologisch-glaubende Ergriffenwerden, wie das psychologisch und
ontologisch denkende Begreifen, eröffnet mir einen Zugang zu „Gott", ohne daß
ich damit wüßte, wissen wollte und könnte, wer oder was er in Wahrheit ist. Die
„Wahrheit Gottes" bleibt ein Geheimnis, sie ist unergründlich wie die Wahrheit
selbst. Ich halte mich an das Wort L e s s i n g s ("Duplik") : „Wenn
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Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner linken den einzigen immer
regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren,
verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine
Linke und sagte: Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich
allein!"
Einen Abglanz der in Gott ruhenden, von ihm bewahrten Wahrheit, spüre ich in
meinem Gewissen. Daß es ein Gewissen gibt, ist für mich ein Beweis, daß es Gott
gibt. K a n t spricht von einem „moralischen Gottesbeweis", wenn er sagt: „Moral
führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden
moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen
dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des
Menschen sein kann und soll." (In: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft, VI, 6). Und weiter: „Der Glaube an einen Gott und eine andere Welt,
ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß , so wenig ich Gefahr
laufe, die letztere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, daß mir der erste
jemals entrissen werden könne." (In: Kritik der reinen Vernunft 111,537). Und:
„Der Kategorische Imperativ und die darauf gegründete Erkenntnis aller
Menschenpflichten als göttlicher Gebote ist der praktische Beweis vom Dasein
Gottes." (Opus postumum XXI, 74).
Aber: Wie das Böse unter einem guten Gott möglich sei, beruht auf der Frage, wie
Freiheit ... möglich sei ... Die Möglichkeit der Freiheit können wir nicht
begreifen, aber wir müssen sie voraussetzen, denn vernünftige Wesen können nur
nach der Idee derselben handeln." (Reflexionen zur Metaphysik XVIII, 453).
Hinzuzufügen wäre hier aus psychopathologischer Sicht, daß die Fähigkeit
vernünftiger Wesen, nach der Idee der Freiheit zu handeln, eingeschränkt oder
aufgehoben sein kann durch krankhafte oder abnorme Persönlichkeitsmerkmale oder
Verhaltensstörungen. Zwar sagt Kant : „Aus so krummem Holze, als woraus der
Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden" (In: Idee zu
einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, VII, 23). Aber : Von
dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt und von dem niemand frei ist, ...
kann sich ein jeder durch seine Vernunft überzeugen, und es gehört zur Religion,
sich davon zu überzeugen." (in: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft, VI, 163).
456
Was würde wohl ein Atheist zu Kants Ansicht sagen: „Es ist unmöglich, daß ein
Mensch ohne Religion seines Lebens froh werden!" (Kritik der Urteilskraft, V,
452/453) ? Am Beispiel Spinozas, der an keinen Gott und kein künftiges
Leben glaubt, zeigt er gleich anschließend, daß ein "rechtschaffener Mann", der
uneigennützig nur das Gute stiften will, ohne an Gott zu glauben, allein wegen
des sittlichen Gesetzes, das er befolgt, nicht umhin kann, „das Dasein eines
moralischen Welturhebers, das ist Gottes, anzunehmen!"
Nach diesen etwas zu weitläufigen Gedanken zum Thema Gott und Gewissen" will ich
mich an den Versuch einer kritischen Innenschau heranwagen, wobei ich mich mit
den Confessiones des Augustinus in guter Gesellschaft zu befinden denke.
Ein Rückblick auf mein Leben richtet sich auf manches, was ich als „Ungenügen an
mir selbst" empfinden muß : Unzulängliches, Unabgeschlossenes, Versäumnisse
(vermeidbare und unvermeidbare), Irrtümer, Fehlurteile, Zeitvergeudungen,
Unentschlossenheiten, Hinausschieben von Entscheidungen, Nihilismen
verschiedener Art, auch als Egoismen, Mangel an Rücksicht auf Andere, meist
unbeabsichtigt und zu spät erkannt, ungewollte Lieblosigkeiten, Unbedachtheiten,
Flüchtigkeiten, vor allem auch Eitelkeiten, schlecht getarnte Angebereien,
Gefühlsüberschwang mit der Neigung zur Oberschätzung der Wichtigkeit neuer
menschlicher Begegnungen, Optimismen mit ungenügendem Realitätssinn,
Vertrauensseligkeiten Menschen gegenüber, die kein Vertrauen verdienten, zu
späte Einsicht in meinen Irrtum, zuviel Geduld, um nicht wehzutun, wo Ungeduld
angebracht gewesen wäre. Eines hat in diesem Repertoire meiner Schwächen keinen
Platz: Ich darf mir zugutehalten, daß ich niemals in meinem Leben einem Menschen
etwas Böses angetan oder auch nur gewünscht habe! Das ist kein Verdienst,
sondern ein Geschenk, mit demmich Gott bedacht hat : Der unerschöpflichen Kraft
der Liebe im allerweitesten Sinn und der Freundschaft. Ohne Liebe zum
Mitmenschen und zur Wahrheit hätte ich nicht wissenschaftlich denkender Arzt
werden können, und ohne die Gabe, ein Freund und treu zu sein, wäre mein Leben
ärmer gewesen. Freundschaft und Liebe sind Gnadengeschenke des Himmels. Dies ist
der Grundton meines Beitrages „Geschenk der Freundschaft" in dem von Frau Ursula
v. MangoId t herausgegebenen Buche „Das Leben ist doch schön" (Otto
Wilhelm Barth-Verlag Weilheim 1962), mit dem ich einen Festvortrag zur Feier der Wiederbegegnung der Schüler meines Braunsberger Gymnasium Hosianum in
457
Münster ergänzen konnte. Von dem Wandel des Freundschaftsbegriffes in unserer
versachlichten Welt und der Verdunkelung seiner ursprünglichen Bedeutung durch
die „Gruppe", das „Team", ausgehend, habe ich versucht, Freundschaft von
Kameradschaft auf der einen und Liebe auf der anderen Seite abzugrenzen. Etwas
hymnisch schließe ich mit den Worten: „Hoffen wir für uns alle, daß der
unvergängliche Sinn der Freundschaft neu erstehen möge aus dem unsterblichen
Geiste der Liebe!"
Nicht zu trennen von dem Geschenk der Freundschaft und der Liebe, mit dem ich
bedacht wurde, ist die Gabe des Vertrauens, hier auch im weitesten Sinne des
Begriffes: Vertrauen zu Menschen (nicht selten auch enttäuscht!), Vertrauen zum
Leben, Vertrauen zu Gott. Das Vertrauen zu Gott hat mir die innere Gewißheit
verliehen, von ihm geführt zu werden, gerade auch dann, wenn ich in Gefahr
geraten war, vom rechten Wege abzuirren. Mit der Stimme meines --sehr
empfindlichen - Gewissens hat er mich "zur Ordnung gerufen" („Gott schreibt
gerade auch auf krummen Zeilen!") und durch bisweilen auch
schmerzhaft-züchtigende Schläge auf den rechten Weg zurückgeführt. Manchesmal
hat er mich auch vor größerem Unglück mit Hilfe eines kleineren bewahrt und zu
einem „Reiter über den Bodensee" werden lassen. Nicht ganz selten habe ich auch
ein Mißgeschick, ein Mißlingen, Krankheit oder andere Widrigkeiten des Lebens
als strafende Vergeltung für länger zurückliegendes Unrecht empfunden nach dem
alten Wort Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber schrecklich fein!" Mein
Vertrauensverhältnis zu Gott ließ mich in ihm einen Erzieher sehen, einen
liebenden, mahnenden, strengen oder auch strafenden. Bei aller Fremdheit Gottes
fühle ich mich mit ihm - wie die Spanier es tun - in der Vertrautheit einer „Du-
und Du"-Beziehung. „Der Herr aber redete mit Moses von Angesicht zu Angesicht,
wie ein Mann mit seinem Freunde redet", heißt es im Zweiten Buch Mose. Wenn ich
auch kein Moses bin, so führe ich doch im Stillen eine Zwiesprache mit Gott, der
im Gewissen zu mir spricht. Darin liegt auch das Geheimnis des Gebetes.
Das Vertrauen auf Gott läßt mich auch auf die Gnade der Vergebung hoffen. Dies
ist das Einzige und Eigentliche, was mich mit Jesus von Nazareth verbindet: Sein
unmittelbarer Kontakt mit Gott und sein Wirken für die Sünder. Ich bin- nicht
gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder", sagen Markus und Lukas von ihm. In
einem Gespräch mit einem Pharisäer heißt es bei Lukas,
458
7,42, daß derjenige Gott mehr lieben wird, dem Gott mehr vergeben hat. Aber auch
ohne ausdrückliche Berufung auf Jesus können wir in Kants Schrift „Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" lesen: „Zu glauben, daß es
Gnadenwirkungen geben könne und vielleicht zur Ergänzung der Unvollkommenheit
unserer Tugendbestrebung auch geben müsse, ist alles, was wir davon sagen
können..." und - im „Streit der Fakultäten": „Wo das eigene Tun zur
Rechtfertigung vor seinem eigenen (strenge richtenden) Gewissen nicht zulangt,
da ist die Vernunft befugt, eine übernatürliche Ergänzung seiner mangelhaften
Gerechtigkeit gläubig anzunehmen." Für Kant braucht also vernünftige Erwägung
gläubigem Vertrauen auf göttliche Gnade nicht zu widersprechen! So denke auch
ich!
Von zwei menschlichen Schwächen - wenn ich den harten theologischen Begriff
„Sünde" vermeiden will - bin ich, ohne mein Verdienst, verschont geblieben: Vom
Neid und von der Selbstüberschätzung. Vor dem Neid auf das, was Andere besitzen
oder erreicht haben, bin ich bewahrt worden durch genügsame Dankbarkeit für
alles Gute, was das Leben mir geschenkt hat. Mich selbst zu überschätzen,
überheblich über Andere zu denken, kam mir nie in den Sinn, weil ich eher zu
übermäßiger Selbstkritik und zur Anerkennung, zuweilen auch Bewunderung alles
dessen neige, was mir an Kenntnissen, Fähigkeiten, Begabungen fehlt!
Natürlich habe ich, wie Jeder, auch an Ängsten gelitten. Aber es waren keine
neurotischen Ängste, keine Ängste ohne Motiv und Objektiv, ohne "Warum und
Wovor", sondern Befürchtungen, bisweilen allerdings übersteigerte, aus realem
Anlaß und vor möglichen Folgen kritischer Situationen wie im Bußlandkrieg, bei
Luftangriffen in Leipzig, bei Erkrankungen oder Unfällen. Immer aber habe ich
mich dieser Befürchtungen zu erwehren gewußt durch vernünftige Überlegungen und
Gegenmotive, im Grunde auch wieder durch das Vertrauen auf eine geheimnisvolle
Kraft, die mich aus der Gefahr herausführen wird. Im allgemeinen bestätigte sich
mir dabei eine alte Lebenserfahrung, von der es natürlich Ausnahmen gibt: „Es
kommt häufig nicht so gut, wie man hofft, aber meist auch nicht so schlimm, wie
man fürchtet." Die Wirklichkeit bewegt sich gewöhnlich zwischen diesen beiden
Möglichkeiten. Ich bekenne mich auch zu dem kindlich-naiven und doch ernst zu
nehmenden Glauben an einen „Schutzengel", den ich mir in der Gestalt meines
guten Mamchens vorstelle. 459
Optimismus? Ja! Aber ein realistisch gezügelter. Und ständige Bereitschaft, es
könnte plötzlich ein Ungemach geschehen. „Toujours en vedette". Und bei allen
Unbilden des Daseins, immer wieder die Frage nach dem Sinn! Als Beispiel unter
vielen sah ich den Sinn meiner schweren Erkrankung an einem Erysipel des linken
Fußes bei einer Streptokokken-Allgemeininfektion im Jahre 1990 darin, daß mir
die mit Todesgedanken verbundene Depression in diesem Leidenszustand zu einem
vertieften Verständnis für die depressive Not meiner Patienten verholfen hat. Es
ist überhaupt sinnvoll für einen Arzt, wenn er erfährt und lernt, was es heißt,
selbst Patient zu sein! Ein Unfall im April 1994, bei dem ich mir einen
komplizierten Bruch des rechten Unterarmknochens (Radius) zuzog, versetzte mich
in den Zustand eines Menschen, der einen, auch nächtlichen, Dauerschmerz
ertragen und auf den Gebrauch der rechten Hand verzichten muß. Alle banalen
Verrichtungen mit der linken Hand, Rasieren, Knöpfeln usw. werden zum Problem,
und die Behinderung wird zum erzieherischen Bemühen um die Tugend der Geduld,
überdies auch zur Mahnung, vorsichtiger zu gehen und nicht zu vergessen, daß man
nicht mehr 20, sondern 87 ist! Auch bin ich dankbar, mir nicht das Bein
gebrochen zu haben und immer - noch! gehen zu können. So wird „der Mangel zum
Gewinn", und so habe ich in meinem Leben überhaupt, wenn mich Unbilden trafen
und nicht alle Blütenträume reiften, an die Worte Leonores zur Prinzessin in
Goethes „Tasso" denken müssen: „O frage nicht nach dem, was jedem fehlt,
Betrachte, was noch einem Jedem bleibt!"
Das Leben hat mir die unverdiente Gabe der Dankbarkeit geschenkt. Jetzt im
hochmethusalemischen Alter, bin ich dankbar für jeden Tag, an dem ich nach
Abklingen der Wirkung eines leichten Schlafmittels - erwache, dankbar, daß auch
Antonia noch lebt und daß wir beide immer noch in unserem geliebten eigenen
Anwesen wohnen dürfen, da Andere, auch viel Jüngere in Pflegeheimen
dahinvegetieren müssen, dankbar für alte und junge Freunde, die uns getreulich
besuchen oder schreiben, dankbar für gute Gespräche, für alles geistige Leben
mit vielen Büchern, dankbar für menschliche Hilfen, die wir geben können,
dankbar für Antonias in ihrer Art unvergleichliche Gastfreundschaft, mit der sie
die Herzen erwärmt, dankbar dafür, daß ich noch ärztlich in seelischer Not oder
krisenhaften Konfliktsituationen helfen kann und damit meinem späten Leben einen
sinnvollen Inhalt geben darf, so daß ich mir - noch - nicht als über
460
flüssig vorkommen muß - „Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, desto länger
hast du gelebt!" ( Kant ) , dankbar für alles, was das Leben mir geschenkt, aber
auch für das, was es mir versagt hat, um mich zum Verzichtenkönnen zu erziehen!
Mit dem Problem des Todes habe ich mich seit langem auseinandergesetzt, und
jetzt, da er bedrohlich näher rückt, mehr denn je. Der Tod selbst ist kein
Problem. Er ist ein Faktum, ohne das es kein Leben gäbe. Aber das Faktum Tod
erspart uns nicht die Frage, wie wir uns zu ihm stellen. Gibt es eine „ars
moriendi"? Ich weiß es nicht. Viele sagen, sie hätten Angst vor dem Sterben,
nicht vor dem Tod. Angst vor längerem Krankenlager, vor Schmerzen, Siechtum,
Hilflosigkeit. Davor habe ich eigentlich keine Angst, weil ich fühle und hoffe,
daß es schnell gehen wird. Aber ich habe Angst davor, daß der Abschied zu früh
kommt, obwohl ich schon sehr alt bin und ich möchte gerne noch etwas leben, dien
reißende Zeit" Hölderlins verlangsamen, die zerrinnenden Stunden
festhalten. Es ist so schwer, Abschied nehmen zu müssen, von Antonia, Vera und
allen lieben Menschen, Abschied von meinen Büchern, von dem Blick durch das
Fenster vor mir auf die maigrünen Birken, die weißblühenden Apfelbäume, von
meinen Hundchen und von allem, was mir ans Herz gewachsen ist und mein Leben
immer neu bereichert hat. Ich sollte dankbar sein für ein langes und, wie man
gerne, bei mir auch zu Recht sagt, „erfülltes" Leben, und ich bin es auch. Aber
ich denke immer noch an das Wort des guten Prälaten Buchmann, als ich
ihn im Hotel Kaiserin Elisabeth in Feldafing am Starnberger See fragte, wie es
wohl zu erklären sei, daß ich immer noch lebe„ nachdem ich auf der Liste der
Toten, die mir nahe- oder nähergestanden haben, bei Nummer 245 (inzwischen 301
!) angelangt bin. Er erhob leicht seine Hand und sagte: „Dann hat der liebe Gott
noch etwas mit Ihnen vor!" Ob er das heute noch sagen würde? (Er selbst ist
inzwischen auch schon auf meiner Liste gelandet.) Ich weiß es nicht, aber ich
hoffe es im Stillen, und ich versuche, mir ein mögliches „Vorhaben" Gottes ein
wenig zu verdienen, indem ich mich bemühe, nach dem oben zitierten Worte Kants, die mir noch verbleibende Zeit mit sinnvollem Tun und mit Liebe zu erfüllen.
Die Frage eines „Lebens nach dem Tode" beschäftigt mich nicht. Ich halte sie für
nicht beantwortbar, aber auch als Frage für müßig. Mythologische Vorstellungen
wie "Jüngstes Gericht", „Hölle", "Paradies", „Fegefeuer" liegen für
461
mich außerhalb meines Glaubens und Denkens. Alles das, was unter diesen
Mythologien verstanden werden kann, geschieht nicht in einem imaginären
Jenseits, sondern im konkreten Diesseits, in unserem Leben: Jetzt und hier
werden wir zur Rechenschaft gezogen, belohnt oder bestraft, beglückt oder
gepeinigt. Ich kann mir das „Nachher" nicht anders denken als das Vorher",
nämlich als „Nichts°. Mein Leben erlischt mit meinem Bewußtsein. Mit dem Tod
meines Gehirns ist auch mein Bewußtsein tot. Ich weiß nicht, was vor meinem
Leben war, und ich kann nicht wissen, was nach meinem Leben sein wird. Es
kümmert mich auch nicht. Mich kümmert nur, welche Aufgaben ich in diesem Leben
zu erfüllen habe, welchen Sinn ich ihm zu geben versuche.
Der buddhistisch-hinduistische, von den Anthroposophen und Theosophen
übernommene Mythos der Re-inkarnation und des Karma steht mir ganz fern. Bei
meiner Reise nach Thailand, Nepal und Indien ist mir deutlich geworden, daß
dieser fernöstliche Glaube bei allem sozialen Elend den Kommunismus verhindert.
Denn Armut wird nicht als Unglück, Besitz nicht als Anlaß zu sozialem Neid
empfunden. In der Lehre, dem Menschen werde das, was er in diesem Leben Anderen
Gutes oder Böses getan hat, in einem späteren Leben wieder zuteil, wohnt eine
große ethische Kraft. Sie kann „ein Antrieb sein zur Überwindung eines
rücksichtslosen Egoismus, der nur den momentanen eigenen Vorteil im Auge hat"
(H. von Glasenapp, Die indische Welt, 1948). Die indischen Religionen
verzichten auf die Hypothese eines „Weitenrichters" und Weltgerichtes" und
vermeiden die Ungerechtigkeit, für das Gute oder Böse, was ein Mensch während
der wenigen Jahrzehnte seines Lebens getan hat, ewige Belohnungen oder Strafen
in Aussicht zu stellen (v.G.).
Dem Buddhisten wie dem Hindu ist die christliche Lehre von der Auferstehung des
Fleisches" unverständlich, da sie in ihr den Ausdruck des „Daseinsdurstes"
sehen, der für sie ein Grundübel aller Existenz ist. Jesus Christus könne daher
auch als stellvertretend für die Menschheit Leidender nicht als ein von allem
Iosgelöster und freier Buddha angesehen werden, sondern als ein zur Vollendung
schreitender und in der Vollendung auf letzter Stufe angekommener „Bodhisattva".
Der Inder wie der Asiate im allgemeinen sieht das Leiden völlig anders als der
Christ, denn sein Ziel ist es ja, alles Leiden, das mit aller Existenz verknüpft
ist, zu überwinden und zu einem leidensfreien und existenzlosen Zustand zu
gelangen. „Deshalb fühlt sich jeder geistige Asiat - ebenso wie
462 Goethe - angesichts des Kreuzes sehr bedrückt." (Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau, „Der Atem Indiens - Tagebücher aus Asien", Hamburg 1954).
Auch mich befällt beim Anblick des Kreuzes mit dem angenagelten Corpus Christi
ein Unbehagen. Der schmerzgepeinigte Leib des Gekreuzigten lenkt für mein
Verständnis eher ab von dem eigentlichen Sinn des Kreuzes. Nach einer späteren
Deutung, die ich dem Kölner Kunsthistoriker Dr. Feldenkirchen
verdanke, symbolisiert der senkrechte Teil die Verbindung des Menschen mit Gott,
der waagerechte seine Beziehung zum Mitmenschen. Beides zusammen sei das
Sinnbild für die Überwindung der doppelten „Sünde": Der Trennung des Menschen
von Gott und von seinem Mitmenschen. Diese Deutung bedarf nicht der Gestalt des
Gekreuzigten und gibt doch den Sinn der Opfertodes wider, wie der Christ ihn
versteht. Die Stelle, an der die beiden Balken sich kreuzen, läßt sich auch ohne
das qualvolle Corpus und Antlitz des Erlösers als Ausdruck der erlösenden
Gottes- und Menschenliebe deuten, die den Tod überwindet.
Neuerdings hat sich die Physik der Frage nach der Unsterblichkeit und dem
Problem eines Lebens nach dem Tode bemächtigt: Der amerikanische Professor für
mathematische Physik an der Tulane University in New Orleans Frank J. Tipler hat soeben, 1994, ein 605 Seiten starkes Buch unter dem Titel „Die Physik der
Unsterblichkeit - Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten"
veröffentlicht (Piper Verlag München). Er glaubt hier nachweisen zu können, daß
die Begriffe „Himmel", „Hölle", Fegefeuer, Auferstehung der Toten nichts anderes
als logische Schlußfolgerungen aus physikalischen Gesetzen seien. Die Theologie
selbst sei ein Teilgebiet der Physik! Die Physiker seien in der Lage, die
Existenz Gottes und die Auferstehung der Toten mit der gleichen Exaktheit
berechnen zu können wie die Eigenschaften eines Elektrons. Dazu müsse allerdings
das gesamte Universum in Raum und Zeit gespeichert werden, eine Voraussetzung,
die das menschliche Gehirn als eine besondere Art von Maschine erfülle, die den
gleichen Gesetzen unterliege wie ein Computer. Mit Hilfe der Weiterentwicklung
des Teilchen-Beschleunigers und der Weltraumfahrt werde es möglich sein, das
Ende des Universums vorauszusehen. Die Menschheit selbst in ihrer fleischlichen
Gestalt werde dieses Ende nicht erleben. Aber Tipler entwickelt eine von
ihm so genannte „Omega-Punkt-Theorie", nach der in einer „Endsingularität des
Alls" die gesamte Information
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jemals gelebt habender Menschen auf einer Art „universaler Festplatte"
gespeichert werden könne, und dies sei es, was man früher einmal mythologisch
die „Auferstehung der Toten" nannte. Für seine „Omega-Punkt-Theorie" bemüht T i
p I e r zwar noch den allgegenwärtigen, allwissenden und allmächtigen »Gott",
beruft sich aber nur auf handfeste Ergebnisse moderner Naturwissenschaft und
nicht auf irgendeine religiöse Offenbarung. Sein Erkenntnismittel für die Lösung
aller theologischen und metaphysischen Probleme ist alleine das physikalische
Vernunftdenken (richtiger: Verstandesdenken!)
Soweit Herr Tipler! Ungeachtet seiner absurd erscheinenden physikalischen
Endzeitvision wird er von Theologen wie von Physikern erst genommen, und sein
Buch erfreut sich lebhafter Aktualität. Papst Johannes Paul II. hat ihn zu einem
Gespräch im Vatikan empfangen, und Professor Dr. David Deutsch von der Oxford-University schreibt: „Viele werden von der Physik der Unsterblichkeit
begeistert sein, viele hingegen empört reagieren. Auf keinen Fall kann man diese
Theorie jedoch einfach ignorieren." Man braucht sie - es ist übrigens keine
wissenschaftliche Theorie, sondern allenfalls eine utopische Hypothese - auch
nicht zu ignorieren. Aber man sollte sich, ohne „begeistert" oder „empört" zu
reagieren, darüber im klaren sein, daß Tipler einem alten
erkenntniskritischen Irrtum erlegen ist, wenn er meint, Glauben durch Wissen
ersetzen zu können. Mit seiner "physikalischen Eschatologie" spricht er -
offenbar erfolgreich - den Glaubensschwund und die Wissenschaftsgläubigkeit des
heutigen Menschen an. Er verkennt, daß Ideen wie „Gott", "Unsterblichkeit",
„Auferstehung" nicht mathematischphysikalisch definier- und beweisbare
Erfahrungsgegenstände sind, sondern Glaubenspostulate, die weder mit rationalen
Methoden „nachgewiesen" noch widerlegt werden können. Mit seiner These, die
Gesamtheit des Kosmos, seinen Ursprung, die Evolution und seine Zukunft mit
physikalischen Formeln enträtselt zu haben, erhebt er den Anspruch, letzte
Fragen mit wissenschaftlich begründbaren Spekulationen endgültig beantworten zu
können. Physikalisch nicht beantwortbare Fragen wie etwa die nach dem Sinn des
Daseins, des Seins, des Lebens, des Todes, der Schuld, der Liebe, der Vergebung
passen nicht in das physikalisch determinierte Schema und werden daher nicht
gestellt.
Diese letzten, eigentlichen Fragen entziehen sich dem Versuch, sie mit einer
kosmologischen Hypothese beantworten oder ihnen damit auch nur näher
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kommen zu können. Mit endgültigen Antworten auf letzte Fragen würde sich der
Mensch an die Stelle des von Tipler selbst apostrophierten, allwissenden
Gottes setzen. Er brauchte dann nicht weiter zu fragen. Denn er wüßte ja alles.
Aber ein Ende des Fragens bedeutet ein Ende des Denkens. Dies wäre die tödliche
Konsequenz des Anspruchs, mit dem menschlichen Willen zur Macht über den
göttlichen Geist verfügen zu können, ohne den es kein Fragen und kein Denken
gäbe. Fragen wird durch Denken, Denken durch neues Fragen am Leben erhalten.
Beides zusammen hat dem Geist zu dienen, ihn nicht zu beherrschen. Mit der
Anmaßung, auf letzte Fragen letzte Antworten geben zu können, würde der Mensch
den Sinn für das Geheimnis der Schöpfung, das Wunder des Lebens preisgeben.
In der Antwort auf den Brief eines Bankiers aus Colorado vom 5. August 1927, in
dem mehrere Nobelpreisträger um ihre Ansicht zur Frage nach Gott gebeten wurden,
hat Albert Einstein geschrieben: "Ich kann mir keinen persönlichen Gott
denken, der die Handlungen der einzelnen Geschöpfe direkt beeinflußte oder über
seine Kreaturen direkt zu Gericht säße . ... Meine Religiosität besteht in einer
demütigen Bewunderung des unendlich überlegenen Geistes, der sich in dem Wenigen
offenbart, was wir mit unserer schwachen und hinfälligen Vernunft von der
Wirklichkeit zu erkennen vermögen ..."
Wenn es Tipler an dieser demütigen Bewunderung für das Unerforschliche im
Erforschbaren fehlen sollte, wäre seine physikalische Kosmologie -der
Unsterblichkeit ebenso zum Scheitern verurteilt wie es einstmals der Anspruch
Ernst Haeckels, des großen Naturforschers, war, mit seinem „monadischen
Materialismus" die Welträtsel gelöst zu haben.
Nehmen wir Tiplers Thesen nicht ernster, als sie es verdienen: Als ein
interessantes, zu kritischem Überdenken und prinzipiellen Gegenargumenten
herausforderndes Gedanken-Spiel!
In einem geistvoll-fesselnden Festvortrag „Wissenschaft: Wachstum ohne Grenzen?"
hat Hubert MarkI, Professor für Biologie an der Universität Konstanz, von
1986 bis 1991 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bei der
Jahresversammlung der Deutschen Akademie der Naturforscher „Leopoldina" im April
1993 in Halle/Saale folgendes gesagt: „Das sich überstürzende Wachstum der
Wissenschaft unseres Zeitalters scheint an keine Grenzen zu stoßen. Der durch
sie bewirkte Wandel eröffnet ständig neue Herausfor
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derungen an Fragen, Problemen, Möglichkeiten, Chancen, aber auch Bedrohungen.
Nur bei einem sich sehr verengenden Blick nach unten und allein in die Mikro-,
Nano- und Pikowelt der grundlegendsten Bausteine und Grundprinzipien der Welt
könnten wir dem Eindruck verfallen, einmal sei alles Erforschenswerte erforscht,
die letzte beantwortenswerte und beantwortbare Frage gestellt und beantwortet.
Richtet sich der Blick hingegen dem Pfeil der Zeit und der Entfaltung der
schöpferischen Möglichkeiten der Welt entsprechend nach außen und oben, auf uns
selbst und um uns herum, vor allem aber nach vorne, in die Zukunft, dann will es
mir nicht nur undenkbar, sondern tatsächlich nachweislich unmöglich erscheinen,
als könnten dem Wachstum der Wissenschaften und den Herausforderungen für die
Forschung jemals natürliche Grenzen aus Mangel an gehaltvollen Fragen und
Problemen gesetzt sein. Die Schöpfung ist nicht zu Ende, sie entfaltet sich
weiter fort und mit ihr unser Bedürfnis und die Notwendigkeit, sie in ihrem
Wandel zu begreifen und in ihr unseren Platz zu finden und zu halten. Sie ist
allein deshalb nicht und niemals zu Ende, weil wir selbst ihr Teil, niemals zur
Ruhe kommender schöpferischer Erbe sind, die jüngsten Vollender, wenn nicht gar
Vollstrecker der Evolution." ... MarkI meint, zu Ende gedacht, könnte dies
vielleicht bedeuten, Physik und Chemie, Geologie und Astronomie, vielleicht
sogar die Biologie könnten irgendwann einmal an Grenzen der Herausforderung
durch neue Probleme geraten. Er glaube dies nicht. Aber selbst wenn es so wäre:
„Den Kultur- und Humanwissenschaften, den Sozial- und Geisteswissenschaften wird
der Stoff solange nicht ausgehen, wie es Menschen gibt, die ihre Kulturen
weiterentwickeln und in immer neuer Weise ausgestalten müssen. Denn wie sollte
dem Geist, der in den Wissenschaften lebt, jemals der Stoff ausgehen, der doch
aus eben diesem Geiste unaufhörlich entspringt?" Das entspricht genau dem, was
ich oben anzudeuten versucht habe. In diesem, aber auch nur in diesem Sinn
erscheint es MarkI gerechtfertigt, dem Thema "Wissenschaft: Wachstum ohne
Grenzen" das Fragezeichen zu nehmen. „Die Philosophen werden ... die letzten
sein, denen die Fragen ausgehen, weil sie wohl bis zum Ende erfolglos nach
letzten Antworten auf ihre Fragen suchen werden ...".
Ja, so ist es wohl. MarkI erinnert auch an das vielzitierte Wort des
berühmten Physiologen Emil duBois-Reymond (1818-1898) bei der 45.
Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August
466 1872: „Ignoramus et ignorabimus!", ein Wort, mit dem er, wie zu erwarten, auf
heftigen Widerspruch Ernst Haeckels stieß. Aber er erwähnt auch die
trotzige Inschrift auf dem Grabstein des genialen Mathematikers David Hilbert in Göttingen: "Wir müssen wissen, wir werden wissen:" Etwas despektierlich
fügt MarkI hinzu: „Es sind nicht die besonders Gescheiten, die alles wissen,
sondern die besonders Dummen, die alles zu wissen glauben". Wer wollte ihm
widersprechen?
So gilt sowohl Hilberts Grabspruch: Wir müssen und wir werden mehr
wissen, da der Fortschritt der Wissenschaften sich nicht aufhalten läßt, wie
auch das Wort duBois-Reymond: Wir werden niemals alles wissen.
Das „Meer des Unbekannten, in dem die Kugel des Wissens schwimmt" - eine von
MarkI mehrfach gebrauchte Metapher wird nie ganz austrocknen. Goethe sagt dazu:
„Das Höchste ist, das Erforschliche erforscht zu haben, und das Unerforschliche
ruhig zu verehren."
Reisen
Nach diesen Reisen in mein Inneres will ich
noch etwas von meinen Reisen in andere Länder erzählen. Es waren Studien-,
Vortrags-, Kongreß- und natürlich auch Erholungsreisen. Die erste Auslandsreise
ging, zusammen mit Robert Cornelsen und Frau Annemarie BoII, der
Ausbildungsleiterin unserer Staatlichen Schule für Beschäftigungstherapie, nach
England zum Kongreß des Weltverbandes der Beschäftigungstherapeuten in Edinburgh
im August 1954. Die Teilnahme an dieser Tagung war für uns wichtig, weil wir
durch sie persönlichen Kontakt mit dem (weiblichen) Vorstand der „World
Federation of Occupational Therapists" aufnehmen und damit die spätere Aufnahme
unserer B-TH-Schule in den Weltverband vorbereiten konnten. Wir drei Deutschen
wurden bei den Empfängen, unter anderen beim Präsidenten des "Royal College of
Physicians" in Edinburgh und beim Oberbürgermeister der Stadt, äußerst
freundlich, ja mit englisch gedämpfter Herzlichkeit begrüßt und mit
Spontanapplaus bedacht. Von Vorurteilen war nichts zu spüren. Die Schotten sind
Menschen, die in ihrer Kontaktfreudigkeit und Warmherzigkeit eher unseren
Süddeutschen ähnlich, während die Süd-Engländer mehr unseren kühlen
zurückhaltenden Nord
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deutschen vergleichbar erscheinen. Der Empfang im Rathaussaal von Edinburgh
vollzog sich in altehrwürdigem Stil. Von Torhütern, ähnlich uniformiert wie die
„Beefeater" in ihren malerischen Trachten aus der Tudor-Zeit am Tower in London,
wurde jeder Gast einzeln mit seinem Namen vorgestellt: "Mister Dschäänz."!, ein
Ritual, dem das Aufstampfen mit einem Heroldsstab akustischen und optischen
Nachdruck verlieh. Nach den Begrüßungsansprachen löste sich das strenge
Zeremoniell erfrischend unkonventionell dadurch, daß die Teilnehmerinnen - die
Beschäftigungstherapie ist bisher ein vorwiegend weiblicher Beruf geblieben -
sich zwanglos auf die Erde legten und dazu englische, schottische oder
skandinavische Lieder sangen. Edinburgh ist eine nicht nur schöne, sondern auch
liebenswerte Stadt, hoch überragt von dem alten Schloß. Interessanter erschien
mir der „Holyrood Palace", die Residenz der schottischen Könige, in deren Räumen
die Tragödie der Maria Stuart mit der Ermordung Rizzios begonnen hat. In der
Nationalgalerie sah ich zum erstenmal die Aquarelle von William Turner und ließ
mich von dem Licht und der Luft seiner frühen Bilder bezaubern. Auch heute liebe
ich Turner als den genialen Vorläufer der Impressionisten, der sich in seinen
späteren Ölbildern „Schatten und Dunkelheit - der Abend vor der Sintflut" und
"Licht und Farbe - der Morgen nach der Sintflut" zu Goethes Farbensymbolik
bekannt hat. Seine Mitwelt hat ihn bewundert und abgelehnt. Aber als eines
seiner Meisterwerke „Blick von den Stufen des Hotel Europa zum Zollhaus und den
Kirchen San Giorgio und Le Zitellein Venedig" in der Royal Academy in London
ausgestellt war, schrieb die Zeitschrift Athenäum, „es gehöre zu den schönsten
Bildern, die uns dieser Zauberer, der über die Geister von Luft, Feuer und
Wasser gebietet, gegeben hat. Nie sah des Dichters Auge lichtere Träume." „Die
Sonne ist Gott" soll Turner auf dem Sterbebett gesagt haben, als die Sonne nach
grauen Tagen durch den Dezemberhimmel brach und noch einmal das Haus in Chelsea
erleuchtete, das er gekauft hatte, um das Licht über der Themse beobachten zu
können. Ich habe dann sein malerisches Werk in der Londoner Tate-Gallery
bewundern können und erfreue mich jedesmal neu an den Schöpfungen dieses größten
englischen Malers, eines der größten aus neuerer Zeit überhaupt (1775-1851).
Königin Elisabeth II. hat 1987 ein Museum für ihn, die Clore-Gallery, am Themse-Ufer neben der Tate-Gallery eröffnet.
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Zurück zu Schottland: Bevor wir Edinburgh verließen, erlebten wir auf dem
Schloßhof ein "Tattoo", eine wohl typisch schottische operettenartige
Militärparade in bunten Uniformen und mit einer nur schwer erträglichen Musik
aus bunt verzierten Dudelsäcken. Die schottische Volksmusik ist auf der
Pentatonik aufgebaut, schottische Volkslieder sind von Haydn, Beethoven,
Carl Maria von Weber bearbeitet worden, und MendeIsohn hat ihre
Themen für seine „Schottische Symphonie" verwandt. Mehr als die Musik hat mich
die Landschaft der Highlands angesprochen mit ihren dunklen, schmalen Seen, den
„Lochs" - „Loch an Loch" - den Heide- und Hochmoorflächen und den sanften, meist
nicht über 1000 Meter hohen Bergen, alles etwas ernst, leise melancholisch
gestimmt und wehmütig stimmend, aber schön und einsam - „eine der letzten
ungezähmten Landschaften Europas". Fasziniert war ich von der großartigen Brücke
über den Firth of Forth, wenn sie auch nicht „wie aus farbigem Nebel" auftauchte
wie die Brücken, die William Turner gemalt hat mit „Umrissen, die sich auflösen
und, vom inneren Auge erschaffen, wieder in das Raumlose versinken". Das hat Oto
BihaIji-Merin von den Turnerschen Brücken geschrieben in einem
wunderbaren Buch „Brücken der Welt" (Bucher Verlag Luzern und Frankfurt/M,
1971), das mir meine ärztlichen Mitarbeiter einmal geschenkt haben. Sie wußten,
daß die Brücke" eine symbolische Bedeutung für mein ärztliches Bemühen hat: Das
Trennende zwischen den Menschen, im Menschen selbst und zwischen ihm und der
Umwelt durch verstehendes und handelndes Helfen zu überbrücken. In diesem von BihaIji-Merin, einem jugoslawischen Kunsthistoriker und -philosophen,
herausgegebenen Buch wird das Phänomen „Brücke" von bedeutenden Autoren wie
ApolIinaire, Kafka, Martin Luther King, Ernesto Grassi, John F.
Kennedy, Lescek (Anmerkung: c mit Cedille!)
KoIakowski behandelt: Als Brücke der Kunst, Brücke zwischen Völkern und
Kontinenten, Brücke des Humanismus, Brücke ins Unbekannte, Chronik und Mythos
des Brückenbaus. Die „Brücke aller Brücken", die „Urbrücke", findet sich
dargestellt in der Wiedergabe der „Erschaffung Adams" von Michelangelo, in der Gottes Finger sich dem Finger Adams entgegenstreckt, ohne ihn ganz zu
berühren, in der Brücke zwischen Schöpfer und Geschöpf bleibt ein kleiner
Zwischenraum offen! Ich liebe die Brücke „als geistiges und materielles Medium
der Verbindung", wie es - so die Herausgeber des schönen Buches „Brücken der
Welt" - in Lyonel Feiningers Bild Viadukt"
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gleichnishaft anklingt. Deshalb liebe ich auch Thornton Wilders „Brücke von San
Luis Rey": „... da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die
Brücke zwischen ihnen die Liebe, das einzig Bleibende, der einzige Sinn."
Zufällig erlebte ich auch einen Gottesdienst in der Kathedrale von Edinburgh mit
einem musikalisch wohl- und noch lange in mir nachklingenden Chorgesang. (Die
schottische Staatskirche unterscheidet sich von der anglikanischen durch ihr
dogmatisches Festhalten an der calvinistischen Lehre).
In Melrose besuchten wir eine malerische gotische Kirchenruine, aber auch das
Psychiatrische "Open door"-Hospital, das sich des Rufes erfreute, ohne
geschlossene Abteilungen auskommen zu können. Dieser Ruf war zwar berechtigt,
aber einfach dadurch zu erklären, daß keine aggressiven oder suizidgefährdeten
Patienten aufgenommen wurden.
Im Psychiatrischen Krankenhaus von Dumfries begegnete ich Professor Mayer-Groß,
einem der hervorragenden Repräsentanten der berühmten Heidelberger Schule in den
zwanziger und dreißiger Jahren, zur Emigration nach England gezwungen, und dort
als schlichter Anstaltsarzt lebend. Bescheiden bezeichnete er sich als "die
wissenschaftliche Tante des Hospitals".
Auf der Rückfahrt blieben wir einige Tage in London, der Stadt, die Heinrich
Heine "erdrückend und ihm das Herz zerreißend" und SheIIey "Die Hölle"
nannte, für mich vielleicht die faszinierendste Stadt der Welt, soweit ich die
Welt kenne. "Gerade weil hier alles Platz hat, fast alles geduldet wird, in
diesem Mischkrug der Hautfarben, Sprachen und Völker, tritt uns das Englische in
London am eindrücklichsten entgegen", schreibt Conrad Streit, ein intimer
Kenner und Liebhaber dieser Weltstadt. Sie habe, wie keine andere Stadt auf
Erden, einen Lebensstil hervorgebracht, der sich ihrem Fluidum an die Seite
stellen ließe. „Die 7-Millionen-Stadt ist ganz von den Ausländern abhängig - von
den Touristen, ohne die die teuren Hotels, die Theater und Opernhäuser gar nicht
bestehen könnten, von den reichen Arabern, die Hotels und Grundstücke im teuren
Stadtzentrum gekauft haben, von den ausländischen Finanziers in der City, von
den schwarzen, braunen und gelben Krankenschwestern, den schwarzen und braunen
Autobus- und U-Bahnschaffnern, die London buchstäblich am Leben erhalten.
„London nimmt sie alle relativ tolerant auf`, lesen wir bei dem Journalisten
Roland HiII. Aber: Es gibt in London keine Gettos - noch nicht!
470
Ich war danach noch zweimal in London, einmal wieder zu einem Kongreß des
Weltverbandes der Beschäftigungstherapeuten (mit Frau Marliese Wahrendorff und
Frau Irmela Heinichen) und zuletzt, 1970, auf Einladung der
Internationalen Gesellschaft für Versicherungsmedizin zu einem Vortrag bei deren
zehntem Kongreß. Ich habe über die nerven- und allgemeinärztliche Praxis so
wichtige Diagnostik der sogenannten „larvierten Depression" gesprochen, in
Deutsch, simultan übersetzt, später veröffentlicht in Englisch („Depression
Diagnostic Difficulties and Errors" in: Life Assurance Medecine, Pitman Medical
an Scientific Publishing Co. Ltd. London). Der Präsident der Sitzung, ein
sympathischer Schweizer, lobte mein Referat als eine "vorzügliche
Magistral-Vorlesung". Leider hatte auch diesmal Antonia nicht mitkommen können:
Sie erkrankte kurz vor meinem Abflug an einer Gallenkolik, und ich mußte bei
einem sehr eindrucksvollen Bankett mit dem Lord Mayor in der Guild Hall, dem
alten Rathaus der City of London, mit der Frau eines österreichischen Kollegen
vorliebnehmen. Es wäre ermüdend, den ohnehin zu reichlichen Umfang dieser
Erinnerungen zu erweitern durch eine Schilderung alles dessen, was ich in und um
London gesehen habe: das Britische Museum (3mal), die Tate-Gallery, den Tower,
White Hall, den Buckingham Palast, Windsor-Castle, Hampton Court Palace, das
Innere des House of Parliaments, die Royal Festival Hall (mit herrlichem
Ballett), die Royal Albert Hall (mit Konzert unter Sir Thomas Beecham!),
Piccadilly Circus, Hyde Park usw., usw. Meine „Memorabilia" sollen kein
Reiseführer durch große Städte sein, das Gleiche gilt auch für Paris, Madrid,
Rom, Athen, Lissabon, Petersburg, Moskau, Prag, Wien, Belgrad, Bukarest,
Istanbul, Sofia, New York, Washington, Boston, Buenos Aires, Bangkok, New Delhi
und andere bedeutende Städte, die ich erlebt habe. Von London seien nur drei
sehr verschiedenartige und -wertige Eindrücke erwähnt, an die ich besonders
gerne zurückdenke: Ein kunstgeschichtlicher, ein fachlicher und ein heiterer.
Der erste: Die Eigin-Marbles im Britischen Museum. Die auch mit Superlativen
nicht andeutbare Schönheit der Bildwerke vom Parthenon-Fries, der Festzug der
Panathenäen, der Kampf zwischen den Lapithen und den Kentauren, kam erst zur
vollen Geltung, seitdem sie 1962 einen wirklich würdigen Raum erhalten haben.
Wir können dem Earl of Elgin nicht dankbar genug dafür sein, daß er sie
„gestohlen" und damit vor der Verwitterung bewahrt hat, und es ist gut, daß die
energische Forderung der griechischen Kultusministerin Melina
471 Mercouri, sie in ihre Heimat zurückzuholen, nicht erfüllt worden ist.
Der Kampf zwischen den Lapithen und Kentauren an den Südmetopen des Parthenon,
der von dem ausgestreckten Arm des Apollon geschlichtet wird, steht auf meinem
Schreibtisch. Ich liebe gerade dieses Bildwerk, weil Apollon, „der griechischste
der Götter", hier als Heil- und Sühnegott dargestellt wird, dessen Sohn Asklepios
später als Arztgott an seine Stelle tritt.
Einen zweiten nachhaltigen Eindruck hinterließen in mir die Besuche in Londoner
psychiatrischen Krankenhäusern, im besonderen in der Tavistock-Clinic und im
Maudsley-Hospital. Ich wurde von den englischen Kollegen nicht nur sehr
freundlich empfangen und geführt, sondern ich habe auch z.B. für die
therapeutische Förderung geistig Behinderter Wichtiges gelernt, das ich in
unserem Köthenwalder Haus 5 anwenden konnte. Im übrigen wird natürlich auch in
England psychiatrisch „mit Wasser gekocht". Die Einrichtung der „Sterbekliniken"
gab es damals noch nicht.
Mit den Damen Marliese Wahrendorff und Irmela Heinichen habe ich
auch psychiatrische Einrichtungen in Oxford und Cambridge besucht, und wir
konnten von dort praktische Anregungen mitnehmen, die sich in Verbesserungen des Meublements, z.B. der Nachtschränke, auf unserer Gutshof-Abteilung umsetzen
ließen. Natürlich war es eindrucksvoll, auch die Gebäude zu betrachten, in denen
sich die Colleges der beiden Elite-Universitäten Englands befinden: In Oxford
Christ Church, das größte, prächtigste und berühmtestes, das sich selbstbewußt „The
House" nennt, in Cambridge, der „Gegengründung" zu Oxford und seiner alten
Rivalin, das King's College und die Trinity College Chapel. Zwischen diesen
"Hochburgen des Geistes" - in den vielerlei Stilen überwiegt die Gotik, die „für
Engländer mehr bedeutet als Architektur, nämlich Phantasie und Lebendigkeit"
(Renate Schostack) - Blumengärten und Parks mit dem jahrhundertelang
gepflegten Rasen, Höfe mit Statuen, Wasserbecken und Sonnenuhren, Wandelgänge,
"in denen Professoren und Studenten im Gespräch auf und ab gehen wie einst die
griechischen Philosophen im Hain des Akademos". Beide Universitäten sind aus
Klöstern hervorgegangen, in denen die Gelehrsamkeit gepflegt wurde. Am Ende des
zwölften Jahrhunderts war Oxford als Universität „voll etabliert". Wenig später
spaltete sich Cambridge ab. Das elitäre Zwiegespann bildete bis ins 19.
Jahrhundert hinein die einzigen Universitäten Englands!. Sie sind mit Bologna,
Padua, Salamanca, Paris eine der
472
ältesten Europas. Cambridge gilt mehr als Hochburg der Geisteswissenschaften,
Oxford als die der Naturwissenschaften. Cambridge beruft sich mehr auf die
platonische, Oxford mehr auf die aristotelische Überlieferung. Beide sprachen
voneinander distanziert als „the other place". Ihre traditionelle Rivalität
bekundet sich immer noch in den berühmten Regatten. Bernard Shaw hat von „Oxbridge"
- dem Namen für beide Universitäten gesagt, Ziel der Ausbildung an ihnen sei es,
„ein paar Gelehrte hervorzubringen, vor allem aber sehr viele Gentleman". Aus
dem Oxforder Christ Church College sind elf indische Vizekönige und dreizehn
Premierminister hervorgegangen - immerhin! Das Erfolgsgeheimnis von Oxbridge" -
denken wir an unsere deutschen Massenuniversitäten! liegt in dem „tutorial"-System,
dem Privatunterricht, den der Tutor seinen Scholaren jeden Tag erteilt!
Maßgeblich für die Zulassung zum Studium sind die Zeugnisse und
Empfehlungsschreiben der Schule. Es heißt, daß etwa die Hälfte der "Oxbridge"-Studenten
von angesehenen, aber kostspieligen Privatschulen kommt. Renate Schostack erwähnt, daß „Oxbridge" bis in unser Jahrhundert hinein eine Domäne der
„Herren" (domini) war. Die Professoren wurden daher „dons" genannt. Noch in den
1870er Jahren mußten die Gelehrten unverheiratet sein und dem geistlichen Stand
angehören. Erst seit 1974 "beherbergen sämtliche Männer-Colleges von Oxford auch
Frauen!"
Das Dritte, was in meiner „personalen Resonanz" einen Nachhall besonderer Art
gefunden hat, war ein makaber-spaßiges Spektakel, das ich selbst in Madame Tussauds berühmtem Wachsfigurenkabinett in London improvisiert habe. Diese
einfallsreiche Schweizerin hatte das seltsame Museum kurz vor der Französischen
Revolution in Paris gegründet und 1802 nach London verlegt, wo es zu einer der
populärsten Touristen-Attraktionen avanciert ist. Unterhalb der
Wachsnachbildungen von Staatsmännern, Mitgliedern der königlichen Familie,
Filmschauspielern usw. befindet sich ein Kabinett mit den Figuren von
Schwerverbrechern, Frauenmördern wie Landru usw. Eine Nische war noch frei,
offenbar vorbehalten für den nächsten Gewaltverbrecher. Im Halbdunkel dieser
unheimlichen Stätte des Grauens stellte ich mich, von den Besuchern zunächst
unbemerkt, in diese Nische völlig bewegungslos wie eine Wachsfigur. Als einige
der Touristen ganz nahe an mich herankamen, um zu sehen, welcher Raub- oder
Frauenmörder hier wachsfigürlich dargestellt sein könnte, blies ich plötzlich
die über meine Stirn herabhängenden Haare hoch und
473
erhob mich - die Neugierigen prallten zurück, zuerst erschrocken, dann aber
befreit lachend. Der improvisierte Spaß hatte die düstere Atmosphäre des
Tussaudschen Gruselkabinetts rasch aufgehellt.
Warum bin ich eigentlich mein Leben lang so gerne gereist? Reisen war für mich
geradezu eine Passion geworden. Antonia meint, man brauche nicht unbedingt zu
reisen, um geistig bereichert zu werden, an Bildung zu gewinnen. Kant sei
auch nicht gereist. Aber für Goethe bedeutete Reisen „das bildenste Element
der Bildung".
Aus drei Gründen glaube ich gerne und viel gereist zu sein: Zu allererst aus ganz
einfacher, naiver Neugier. Ich wollte Neues kennenlernen, sehen, hören, erleben,
Fremdes bestaunen. Nicht, weil es mir im Einerlei der Tage langweilig geworden
wäre - Langeweile habe ich nie gekannt -, sondern weil etwas in mir danach
drängte, mich zu erweitern, auszudehnen, zu bereichern, eine unerklärbare innere
Unruhe, der Gegenpol zum Bedürfnis nach Ruhe und Seßhaftigkeit. Hermann Hesse hat es so schön gesagt in seinen „Stufen": „... Der Weltgeist will nicht
fesseln uns und engen, Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir
heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen. Nur
wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen...".
Es war auch nicht nur dieses unbestimmte Verlangen nach Neuem, Anderem, das mich
zu den vielen Reisen meines Lebens trieb. Es war der konkrete Wunsch, etwas zu
lernen, Erkenntnisse durch die Möglichkeiten des Vergleichs zu gewinnen - der
Vergleich als ein wichtiges Mittel der Erkenntnis! - Der Vergleich fremder
Landschaften, Menschen, Mentalitäten, Kulturen, Gewohnheiten mit den eigenen
diente zugleich der Absicht, Verständnis für alles Andersartige aufzubringen, es
zu tolerieren, ohne es akzeptieren zu wollen, zu müssen oder zu können. Ich
wollte damit die Enge des deutschen Provinzialismus und Nationalismus gar nicht
in mir aufkommen lassen. Dazu haben meine kleinen und großen Reisen wesentlich
beigetragen.
Das Dritte, was mich am Reisen reizte, war immer auch die Vorfreude auf die
Heimkehr, das Ausruhen in der Geborgenheit des Zuhauseseins, der liebevolle
Empfang durch meine Antonia - die großen, interkontinentalen Reisen hatte sie
schon wegen ihrer Angst vor dem Fliegen nicht wagen können -, das Erzählen und
Niederschreiben des Erlebten. Meine Reisetagebücher könnten
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ein Buch füllen. Sie helfen mir, wenigstens einiges aus dem Allzuvielen der
Erinnerung hervorzuholen.
Inzwischen ist der ODYSSEUS HANS - WERNER endgültig zu seiner PENELOPE ANTONIA
zurückgekehrt.
Ich will nur die Reisen herausgreifen, die sich mir als nachhaltiges
kulturgeschichtliches, landschaftliches, menschliches und im engeren Sinne
geistiges Erlebnis bleibend eingeprägt haben. An erster Stelle meiner inneren,
nicht nur visuellen Reiseerlebnisse setze ich nicht Italien, sondern
Griechenland! Goethes Geleitwort zu seiner „Italienischen Reise": „Auch ich in
Arkadien", dieses „elysische Gefühl" hat mich in Italien bei aller Bewunderung
der Großartigkeit und Fülle seiner Kunstwerke nicht ergriffen. Ich kann auch
nicht sagen, ich sei, wie der unter dem Pseudonym „Maler Möller" Reisende, nach
Rom, dem „wahren Jerusalem der Gebildeten", »gepilgert", und schon gar nicht
hätte ich, wie er, nach der Rückkehr aus dem „Land, wo die Zitronen blühn, Im
dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn..." jemals das Gefühl gehabt, „eigentlich
nie wie der froh geworden zu sein". Ja! „Rom ist eine Welt" und "Es ist nur ein
Rom in der Welt", unvergleichbar mit jeder anderen Stadt. Ohne Rom, Florenz,
Venedig, Mailand, Padua, Siena, Neapel, Pompeji, Sizilien erlebt zu haben, wäre
mein Leben ärmer gewesen. In Rom und Venedig waren wir sogar mehrere Male, und
wir haben die Schönheiten dieser einzigartigen Städte immer aufs Neue dankbar
genossen. Goethe ist zu bedauern, weil er das Renaissance Kleinod Florenz nur
„eiligst durchlaufen" hat. Für die Mediceer-Gräber Michelangelos , für seinen
„David", für Giotto,Botticelli, Fra Angelico, Leonardo findet
er kein Wort, und in den Gärten Boboli eilte er "so schnell heraus als hinein".
Er konnte es nicht erwarten, so schnell, wie es die Postkutsche zuließ, nach Rom
zu gelangen, um dort meine wahre Wiedergeburt" zu erleben. Aber seine
ltalienliebe hat bei seiner zweiten Italienreise März-Juni 1790 - er kam nur bis
Venedig -, wie er selbst schreibt, einen "tödlichen Stoß" erlitten. Ihrem
literarischen Extrakt, den „Venetianischen Epigrammen", stellte er das Motto
voran: „Wie man Geld und Zeit vertan, Zeigt das Büchlein lustig an. "Frau von
Stein und „Tout Weimar" waren empört.
Für unsere erste große Italienreise - sie führte uns über Neapel hinaus bis
Amalfi (mit Capri) und Paestum - hatten wir als idealen Cicerone unseren alten
Freund, den aus Antonias und Veras Heimatort Skaisgirren stammenden
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Kunsthistoriker Dr. phil. Erich Krause. Ihm, dem enzyklopädischen
Italienkenner ("Wo man hinspuckt, trifft man auf ein Kunstwerk!", sagte er) -
verdanken wir Vieles, was nicht im Baedeker oder in anderen Reiseführern steht.
Er wußte zum Beispiel, zu welchen Jahres- und Tageszeiten man im Mailänder Dom
sein mußte, um sehen zu können, wie das Sonnenlicht den Raum erleuchtete. Wir
mußten in der „Galleria" solange warten, bis gegen 18 Uhr die Sonne durch die
Glasmalereien eines großen Kirchenfensters in die Halle schien und sie mit ihrem
bunten Licht durchflutete. Was es Zufall oder Fügung?
Als wir andächtig im Inneren dieses gotischen Wunderwerkes Platz genommen
hatten, schritt eine junge, schöne Frau im feuerrotem Gewande und mit
tizianrotem Haar inmitten des Sonnenstrahls langsam auf den Altar zu - ein Bild
von unwirklicher Schönheit unvergeßlich. In Orvieto ließ Erich uns mehrere
Stunden warten, bis die Sonne auf die polychrome Fassade des Domes schien und
deren Farben aufleuchten ließ. (Die gotische Ornamentik dieser Fassade erinnert
übrigens an die - nicht polychrome - des Domes unserer Bischofsstadt
Frauenburg). Auch sagte Erich Krause uns, daß wir uns mindestens eine halbe
Stunde vor der morgendlichen Eröffnung der Sixtinischen Kapelle in Rom einfinden
müßten, um dem Ansturm der touristischen „Horden" zu entgehen, der uns den Genuß
der Fresken Michelangelos verleiden würde.
Wir hatten auf diese Reise einen jungen Uruguayer, José Santayana,
mitgenommen, der mir von einem Schweizer Arzt zur „Resozialisierung" in llten
anvertraut worden war. Das Geld seines frühverstorbenen, schwerreichen Vaters,
Besitzer riesiger Haciendas, Bank- und Zeitungspräsident in Montevideo und ein
ziemlich zügelloses Leben in New York hatten dieses jugendliche Opfer des
Großkapitalismus einigermaßen verwahrlosen lassen. Seine Begeisterung für
Italiens Kunstschätze hielt sich in angemessenen Grenzen. Als ich versuchte, ihm
den dorischen Stil am Poseidon-Tempel in Paestum zu erklären, langweilte ihn
dies: „Usted, Profesòr, quieren `Tempels', yo quiero vacas (Kühe)!" Seine
Interessen galten allenfalls einigen pornographischen Mosaiken in Pompeji, mehr noch lebenden Mädchen und verleiteten ihn hin und wieder zu nächtlichem
Entschwinden. In AmaIfi geriet er in einen seiner früheren heftigen
Erregungsstürme, als er telegraphisch erfuhr, daß es bei seiner Schwester zu
Komplikationen in der Schwangerschaft gekommen sei. Zugleich entlud sich eine
wütende Eifersucht auf seinen Schwager. Mit seiner gütigen und vorneh
476
men Mutter Rosa trafen wir uns dann im nahe dem Petersplatz gelegenen Hotel „Alicorni"
(„Einhorn"): das, zunächst von Priestern bevorzugt, einige Jahre danach aber
ziemlich heruntergekommen war. Später habe ich Mutter und Sohn im elterlichen
Hause - Josés Vater war früh verstorben - bei meiner Vortragsreise nach Chile
und Argentinien in Montevideo besucht. Unsere Freunde Ursula und Ottilio Küstermann hatten mich von Buenos Aires aus dorthin begleitet: auf dem Schiff
über den Rio de la Plata und noch am selben Abend mit dem Flugzeug zurück, wobei Ottilio den argentinischen Flugkapitän gebeten hatte, mich vom Cockpit aus den
zauberhaften Blick auf die beiden großen Städte in ihrem Lichtermeer bei einem
Glase Sekt genießen zu lassen.
Inzwischen hat unser lieber José die Nachfolge seines Vaters als Besitzer einer
großen Hacienda mit tausenden von Rindern und als Bank- und Zeitungspräsident in
Montevideo übernommen, ist mit einer wohlhabenden und vornehmen Dame aus seiner
Heimatstadt verheiratet und Vater auffallend blasser und schmächtiger Kinder
(man ißt dort nur Fleisch, kein Gemüse und Obst!) geworden, mit denen er uns vor
einigen Jahren besucht hat. Manchesmal denken wir noch an unsere gemeinsame
Italienreise im engen Volkswagen zurück, mit dem wir Pausen machen mußten, wenn
José verkündete: Frau Tonichen muß Pipichen!"
Einen, ja, in besonderem Sinne den Höhepunkt unserer ersten Italienreise bildete
das Erlebnis einer großen, öffentlichen Audienz mit Papst Pius XII. in St.
Peter. Karten für die Teilnahme an dieser Audienz hatten wir durch den
Jesuitenpater Robert Leiber erhalten, mit dem mir Herr Hans von HüIsen
ein Gespräch in Castel Gandolfo vermitteln konnte. Pater Leiber, Professor
an der Gregoriana, war - mit dem Prälaten Monsignore Kaas, einem bedeutenden
Zentrumsführer - der engste und vertrauteste Mitarbeiter und Berater des
Papstes, später auch sein Beichtvater. Der Papst hatte Leiber schon während
seiner Nuntiaturen als Eugenio PaceIIi in München und Berlin schätzen
gelernt. Mit seiner Empfehlung waren uns Sitzplätze in St. Peter zugewiesen
worden, die wir leider nicht einnehmen konnten, da wir zu spät, wenn auch noch
vor Beginn der Audienz in die Kirche kamen. So mußten wir, von einem Schweizer
Gardisten geleitet, stehend, nicht weit von Michelangelos Pieta aus,
den feierlichen Einzug des Papstes auf der Sedia gestatoria erleben.
Eindrucksvoll das durchgeistigte, vornehme, strenge und doch gütige
477
Antlitz des „Stellvertreter Christi", von der hohen Tiara gekrönt! Nach einer
Ansprache und dem Segen des "Heiligen Vaters" strömte alles hinaus auf den
Platz, den von den Bernininschen Kolonnaden umgebenen Raum dicht an
dicht füllend. Unvergeßlich, wie dann hochoben am Fenster des Apostolischen
Palastes die weißgekleidete Gestalt des Papstes erschien, die Arme weit
ausbreitete und die auf die Knie gesunkenen Menschen segnete. Ehe wir als
sogenannte "Protestanten" überlegen konnten, ob wir diesem kollektiven Ritual
folgen sollten, sanken auch wir, wie von einer unsichtbaren Macht hinabgezogen,
auf die Kniee nieder - Objekte sakraler Massensuggestion!
Aber es war mehr als das: Von diesem, seines Titels „Heilig" würdigen Manne ging
etwas Unbeschreibliches, Übernatürliches aus, was einem das Gefühl geben konnte,
durch ihn ein besserer Mensch zu werden - es sei denn, man wäre durch
Voreingenommenheiten, bloße Skepsis oder einseitigen Antiklerikalismus gegen
solche Emotionen gefeit.
Wir waren nach Rom gekommen mit dem Wunsche, diesen Mann zu sehen, von dem der
Engländer H.V. M o rto n in seinen köstlichen "Wanderungen durch Rom" schreibt:
„Wohl selten ist die `Heiligmäßigkeit' (ein katholisches Wort) eines Papstes so
unbestritten gewesen wie die Pius XII." Damals, 1955, war noch nicht Rolf
Hochhuths pamphletartiges "Schauspiel" „Der Stellvertreter" erschienen, in
dem Pius XII. beschuldigt wird, er sei wegen seines Schweigens mitverantwortlich
für die Massenermordung der Juden durch das NS-Regime gewesen. In seinem
"Epilog" zu dem 1963 bei Rowohlt erschienenen Text des Stückes scheut
Hochhuth sich nicht fünf Jahre nach dem Tode des Papstes! - ihn als „kalten Skeptiker", und "überfleißigen, an seiner eigenen Heiligsprechung interessierten
Karrieremacher" zu bezeichnen, ihn der Verlogenheit" zu bezichtigen und durch
Worte wie „Pacellis blumige Redseligkeit im Stil übelster
Goldschnitt-Lyrik", schließlich als „Neutrum" herabzuwürdigen. Damit hat
Hochhuth nicht nur sich selbst das Zeugnis eines skrupellosen literarischen
Leichenschänders ausgestellt. Er ist auch als historisierender Schriftsteller
durch offenkundige Falschdarstellungen, Entstellungen und haßerfüllte
Verunglimpfungen, die nichts mit dem Recht auf dichterische Freiheit zu tun
haben, unglaubwürdig geworden. Man braucht nur zu wissen, daß Pinchas Lapide, der bedeutende jüdische Historiker, Religionsphilosoph und Diplomat,
Pius XII. nach dem Kriege den „Dank seiner Regierung
478
für die Rettung von 700 000 Juden durch den Vatikan" überbracht und in seinem
Buch „Rom und die Juden" geschrieben hat: „Die katholische Kirche ermöglichte
unter dem Pontifikat von Pius XII. Die Rettung von mindestens 700000
wahrscheinlich aber sogar von 860 000 Juden vor dem gewissen Tod von den Händen
des Nationalsozialismus." Damit hat Lapide auch Pius XII. ausdrücklich
gegen die leichtfertigen, falschen Vorwürfe Hochhuths verteidigt."
(Frankfurter Allg. Zeitung v. 14. April 1994, Nr. 86, Seite 11.)
Der später zum Katholizismus übergetretene Ex-Rabbiner von Rom hat geschrieben:
„Kein Held der Geschichte hat ein vortrefflicheres und mehr bekämpftes und
heroischeres Heer angeführt als Pius XII. im Namen der christlichen Caritas
es getan hat." (In: Sr. Pascalina Lehnert „Ich durfte ihm dienen.
Erinnerungen an Papst Pius XII.", Verl. Joh. Wilh. Naumann, Würzburg, 5. Aufl.
1983, S. 117).
Schwester Pascalina erinnert sich genau an den Morgen im August 1942, an dem der
Papst durch die Zeitungen erfuhr, HitIer habe auf den öffentlichen Protest
der holländischen Bischöfe gegen die Judenverfolgungen mit der Verhaftung und
Vergasung von 40 000 Juden, darunter der Philosophin und Karmeliterin Edith Stein, reagiert. Daraufhin habe der Papst den Entwurf seines noch viel
schärferen Protestes eigenhändig verbrannt, um zu verhindern, daß dadurch noch
mehr Juden und Katholiken im deutschen Machtbereich der gleichen Gefahr
ausgesetzt werden. Der historischen Richtigkeit halber muß auch daran erinnert
werden, daß die Hilfskomitees für die Juden, die der Vatikan bereits 1939
geschaffen hatte, durch die rigoros-restriktiven Einwanderungsgesetze in den USA
und in lateinamerikanischen Staaten erheblich behindert wurden oder zum
Scheitern verurteilt waren. Zur Persönlichkeit des Papstes sei nur noch erwähnt,
daß Winston Churchill nach einer Privataudienz bei ihm gesagt habe: „Dieser
Papst ist der größte Mensch, dem ich je begegnet bin." (Elisabeth Kawa, Pius
XII., Morus Verlag Berlin, z. Aufl., 1956, S. 7). Hohe Intelligenz, logisch
scharfes Denken und mystischer Glauben, glänzende diplomatische Begabung und
tiefe, demütige Frömmigkeit, vornehme Würde und immense Arbeitsaktivität
bildeten in ihm keine Gegensätze, sondern ergänzten sich zu der Geschlossenheit
einer der großen Gestalten der Kirchengeschichte. Er war - ich hoffe, nicht
schwärmerisch zu werden - als Mensch eine Lichtgestalt am düsteren Himmel
unserer Zeit.
479
Ob das zutrifft, was Morton von ihm sagt: „Über Pius XII. Gibt es
keinen Weg mehr hinaus. Er war die Vollendung und damit auch der Abschluß einer
kirchenpolitischen Entwicklung", mögen die Kirchenhistoriker entscheiden.
Pater Leiber, dem Elisabeth Kawa ihre sorgfältigen Informationen über
das Leben und Wirken Pius XII. verdankt, war Professor für Kirchengeschichte
an der von Ignatius von Loyola gegründeten "Universitá Gregoriana". Bei dem
Gespräch, das ich mit ihm in seinem Arbeitszimmer in Castel Gandolfo führte,
ging es mir um die Frage, was der Vatikan zur Verbindung der ärztlichen mit der
geistlichen Seelsorge in der Psychotherapie zu sagen habe. Ich praktizierte sie
damals in der Zusammenarbeit mit dem Franziskaner-Pater Dr. theol., Dr. phil.
und Diplompsychologen Rudolf Potempa, mit dem wir befreundet waren. Ich
selbst sei „Protestant" also ein »Ketzer", und ein Patient, dem ich seelisch und
geistlich zu helfen versuche, könne sich weder für die eine noch für die andere
Konfession entscheiden. (Später ist er zum Katholizismus konvertiert). Pater Leiber meinte zunächst, ein aufrechter Protestant sei der Kirche lieber als ein
lahmer Katholik. Als ich erwiderte, daß ich mich selbst keineswegs als einen
gegen die römisch-katholische Kirche Protestierenden im Lutherischen Sinne
verstehe, schon gar nicht als einen „aufrechten", erwiderte er - als toleranter
Jesuit -, es komme auch nicht auf die konfessionelle Zugehörigkeit an, sondern
auf die bestmögliche Hilfe für den Patienten. Ein gemeinsames Helfen des
Psychotherapeuten und eines Geistlichen sei auch von Rom durchaus zu begrüßen.
Ich fügte hinzu, der Arzt wie der Theologe müsse dabei aber die Grenzen seiner
Kompetenz beachten. Der Arzt sollte nicht missionieren, der Priester nicht
psychotherapieren! Pater Leiber erwähnte, der Papst habe sich bereits
grundsätzlich zu dieser Frage geäußert, und zwar in einer Ansprache an die
Teilnehmer des 5. Internationalen Kongresses für Psychotherapie und klinische
Psychologie in Rom am 13. April 1953. Es ist eine seiner 37 Ansprachen zu
„Grundfragen der ärztlichen Ethik" In diesem vom St. Lukas-Institut für
ärztliche Anthropologie e.V. Münster (Westf.) Verlag Wort und Werk G.m.b.H. Köln
herausgegebenen Text heißt es: nach einer Vorbemerkung, das Psychologische liege
nicht außerhalb, sondern innerhalb des Ontologischen und Metaphysischen - , es
sei nicht zu beanstanden, daß sich die Tiefenpsychologie auch mit
religionspsychologischen Inhalten befasse, sie analysiere und in ein
wissenschaftliches System zu bringen versuche ... Aber es werden der Klugheit
480
und Zurückhaltung auf beiden Seiten bedürfen, um Mißverständnisse zu vermeiden
und ein wechselseitiges Verstehen zu ermöglichen". Zum schwierigen Problem der
psychotherapeutischen Aufarbeitung von Schuld sei zu fragen, ob wirkliche Schuld
vorliege, die nicht behoben ist. Hier stehe die Psychotherapie vor einem
Phänomen, das nicht zu ihrer ausschließlichen Zuständigkeit gehört. Weder die
Psychologie noch die Ethik haben ein unfehlbares Kriterium für den Einzelfall,
denn der Gewissensvorgang des Schuldigwerdens sein von einer zu stark
persönlichen und feinen seelischen Struktur". Ein .wirkliches
Schuldiggewordensein" könne durch keine nur psychologische Behandlung geheilt
werden. Wenn auch der Psychotherapeut es vielleicht im besten Glauben in Abrede
stellt, es besteht fort . ... „und es wäre Selbst- und Fremdtäuschung, wollte
Psychotherapie, um das Schuldbewußtsein zu beheben, die Schuld als nicht mehr
bestehend behaupten." „Der Weg, die Schuld zu beheben, liegt außerhalb des
Reinpsychologischen. Er liegt, wie der Christ es weiß, in der Reue und in der
sakramentalen Lossprechung durch den Priester."
Nun - es gab damals noch keinen Eugen Drewermann, den mehr noch gegen
die römisch-katholische, weniger gegen die Lutherische Kirche rebellierenden
Katholiken. Er hätte eingewandt, daß die Vergebung der Sünde durch die Hand des
Priesters den unter Not der Sünden- oder Schuldangst Leidenden nur der Macht der
Kirche ausliefere, die dem Menschen die Gnade Gottes neu zusprechen muß. Damit
schaffe die Kirche, anstatt den Schuldig Gewordenen oder sich schuldig Fühlenden
von seiner Angst zu befreien - Angst ist nun einmal das dynamische Zentrum der
Neurose -, eine Sündenangst, mit der sie sich selbst unentbehrlich mache, .eine
Moral der Unterdrückung als Herrschaftsinstrument". (In: Eugen Drewermann, Jürgen Jeziorowski, „Gespräche über die Angst", Gütersloh 1991.
Ausführlicher auch in Drewermanns "Kleriker-Psychogramm eines Ideals",
Walter Verlag Olten und Freiburg i.Br., 1989.)
Statt von "Sünde", meint Drewermann, sollte man von "Entfremdung"
sprechen. Nur die Tiefenpsychologie (Freud, Jung) könne helfen,
Entfremdung zu verstehen, therapeutisch zu verarbeiten und damit von Angst zu
befreien. Wer auf diesem Wege versuche, sich selbst zu finden, der könne auch
Gott finden. Jesus von Nazareth allein habe durch sein vorbehaltloses Vertrauen
zu Gott, dem Vater, gezeigt, wie Angst überwunden und
481
Erlösung von ihr erreicht werden kann. Soweit der immer noch katholische, aber
sich zur Nähe Kierkegaards und Luthers bekennende Theologe und Psychotherapeut
Drewermann.
Hingegen Pius XII.: Psychotherapie dürfe der materiellen Sünde nicht mehr
gleichgültig gegenüberstehen ... „Sie muß wissen, daß Gott jenes Tun nicht
billigen kann. Noch weniger darf die Psychotherapie dem Kranken den Rat
erteilen, das materiell Verkehrte ruhig weiter zu tun, weil er es ja ohne
objektive Schuld tun wird, und dieser Rat ist auch dann abwegig, wenn solches
Tun des Kranken für den Zweck des Heilverfahrens notwendig werden sollte. Es
kann nie zu einem bewußten Tun geraten werden, das eine Entstellung, kein Bild
der göttlichen Vollkommenheit wäre."
Es wird schwer, wenn nicht unmöglich sein, die Kluft zwischen diesem Diktum des
Papstes und dem Postulat des „Häretikers" Drewermann durch ein Bemühen
um Verständigung und Zusammenarbeit von ärztlich-psychotherapeutischer mit
geistlicher Seelsorge zu überbrücken.
Die wahnhafte Schuldangst bei der - nicht neurotischen! - Krankheit Depression
ist durch priesterliche Lossprechung ohnedies nicht erreichbar und kann weder
von depressiver Suizidtendenz befreien noch - wie jeder Psychiater weiß - den
Suizid selbst verhindern. Daß aber auch bei nicht eigentlich krankhafter, wenn
auch seelischer Hilfe bedürftiger Schuldangst die "sakramentale Absolution" an
unüberschreitbare Grenzen stoßen kann, habe ich an Menschen erlebt, die an einem
weder theologisch noch psychotherapeutisch überwindbaren Konflikt gescheitert
und zum Beispiel einem psychosomatisch ausgelösten Herzinfarkt erlegen sind.
Bei meinem Gespräch mit Pater Leiber erwähnte ich auch, daß ich in NeapeI am hellen Tage von sechs Jugendlichen überfallen und meiner goldenen
Armbanduhr beraubt worden sei, und dies unter dem von einem Ewigen Lämpchen
beleuchteten Muttergottesbild der Schutzheiligen der Stadt, der Madonna Piedegrotta, deren Antlitz sanft lächelnd dargestellt ist. Auf meine - naive -
Frage, wie sich dieser Diebstahl mit dem Glauben der Neapolitaner an ihre
Heilige Patronin vertrüge, sagte er: „Sehr gut! Denn die diebischen Paparazzi
glauben, die Muttergottes möchte, daß der Reiche dem Armen etwas abgeben sollte.
Wenn er das nicht von selbst tue, müsse ihm ein wenig nachgeholfen werden. Das
sei kein Überfall oder Diebstahl, sondern eine gute Tat : Sie ver
482
helfe dem `Beraubten' zu einem günstigen
Plätzchen im Himmel. Daher das Lächeln der Madonna!" (Der Beichtvater des
Papstes lächelte selbst zu dieser mich völlig überzeugenden Deutung). Im übrigen
müsse man bedenken, fuhr er fort, daß das einfache Volk in Neapel bitterarm,
teilweise in sozialem Elend lebend, geradezu auf Bettelei und kleinere oder
größere Beraubungen angewiesen sei. Ein großer Teil dieses Volkes habe sich aus
einem Gemisch von Griechen, Afrikanern und anderen Völkerschaften entwickelt und
sei im Grunde noch heidnisch, mit einem christlichen Firnis überzogen,
geblieben.
Wir hatten den Diebstahl noch am selben Abend der Polizei gemeldet - vergeblich
natürlich. In einem düsteren, über eine hohe, schmale Treppe erreichbaren
Regional-Revier wurden wir von einem der mit Pistolen- und Patronengürteln
bewaffneten Polizisten einem strengen Verhör unterzogen, als ob wir die
Übeltäter seien. Man wollte Namen und Geburtsdaten meiner Eltern und Großeltern
wissen! Schließlich verwies man uns zum Polizeipräsidium, das wir am nächsten
Tage aufsuchten. Dort legte man uns das Verbrecheralbum von Neapel vor -
angsttraumerregende Visagen - mit der Frage, ob wir einen der jungen Leute
wiedererkennen könnten. Wir konnten es nicht! Das war auch nicht zu erwarten,
denn die dortige Polizei schützt die kleinen Knackis", wenn sie nicht sogar mit
ihnen zusammenarbeitet.
Als ich auf der Rückfahrt von Castel Gandolfo mit einem Einheimischen ins
Gespräch kam und ihm nicht nur von Pater Leiber , sondern auch von dem Überfall
in Neapel erzählte, war er empört: Er fühlte sich als stolzer Römer in seiner
Ehre getroffen und lud mich zu einer Pizza mit Wein ein, um das, was man einem
Gast seines Landes angetan hatte, wieder gut zumachen. Ich konnte diese noble
Geste nicht ausschlagen und erlebte so die andere, liebenswertere Seite des
Italieners.
Hans von HüIsen, Schriftsteller, Gerhart Hauptmanns Freund und
Privatsekretär, dem ich die Vermittlung des Gespräches mit Pater Leiber
verdankte, hatte mich in seiner Wohnung empfangen. Er lebte nach dem Tode des
Dichters in Rom und hat hier 1959 seinen vorzüglichen von Josef Rast gestalteten
und bebilderten „Führer durch die Ewige Stadt" veröffentlicht (im Walter Verlag Olten und Freiburg i. Br.), dem er Goethes Wort voranstellt: „Wie man sagt, daß
einer nicht wieder froh wird, der ein Gespenst gese
483
hen hat, so möchte ich sagen, daß einer, der Italien, besonders Rom, recht
gesehen hat, nie ganz in seinem Gemüte unglücklich werden kann."
Ich bedankte mich bei Herrn von HüIsen mit einem soeben, 1955,
erschienenen Büchlein von Bruno SneII „Neun Tage Latein" (Vandenhock und
Ruprecht, Göttingen), geist- und humorvollen Rundfunk-„Plaudereien" des
berühmten Altphilologen. Herr von HüIsen, eine schwarze römische Katze
auf dem Schoß, nahm es, anscheinend wenig entzückt, in die Hand mit den Worten:
„Nun soll ich auch noch Latein lernen?" Ich hoffe, er hat bei der Lektüre
gesehen, daß der Leser nicht „belehrt" werden soll, sondern weicher Genuß es
ist, sich auf anmutig-heitere, gleichsam spielerische Weise den Geist des
Lateinischen an Beispielen wie Ovid, CatuII, VergiI nahebringen
zu lassen. In Cicero, dem „Begründer des römischen Humanismus", sieht
SneII, wie dessen „Briefe" zeigen, „einen der witzigsten Menschen Roms". Da man -
mit RingeInatz - in einem Geschenk „sich selber schenken" soll,
entspricht es ganz meinem eigenen Sinn, wenn SneII von unseren Schulen
fordert, sie sollten in ihrem Unterricht alles Grämliche, Pedantische und
Trocken-Feierliche möglichst zum Teufel jagen". SchiIIers Satz: „Der
Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", diesen eminent humanistischen
Satz", habe auch ich einmal als einen der Grundgedanken meiner Auffassung von
psychiatrischer Beschäftigungstherapie zitiert.
Ein Kistchen kostbarer Havanas, die ich dem Zigarrenraucher von HüIsen
zugedacht hatte, war mir aus dem in der Städtischen Garage in Amalfi
abgestellten, verschlossenen Volkswagen gestohlen worden. Nun mußte er sich mit
„Neun Tage Latein" begnügen. Die Begegnung mit Hans von HüIsen war mir durch
eine Empfehlung Professor KIucks ermöglicht worden, des damaligen
Dezernenten für das Psychiatrische Krankenhauswesen beim Niedersächsischen
Sozialministerium, eines interessanten, hochgebildeten Mannes, der in den
Dreißiger Jahren emigriert war und, politisch (sozialdemokratisch) engagiert, in
Brasilien eine deutsche Kolonialstadt, nach seiner Heimatstadt "Novo-Danzig"
genannt, gegründet hatte.
Bevor ich mich jetzt - ohne die großen Sehens- und Erlebenswürdigkeiten
(Sixtinische Kapelle, Vatikanische Museen, Engelsburg, Forum Romanum,
Katakomben, die Renaissance- und Barockbrunnen, usw.) wenigsten andeuten zu
können - von Rom verabschiede - wir waren nach 1955 noch viermal in der
484
„Ewigen Stadt" - will ich doch drei kunsthistorisch bedeutungslose, aber aus
anderen Gründen bemerkenswerte Stätten erwähnen: Das Haus rechts am Fuße der
Spanischen Treppe, in dem John Keats, der (mit Unrecht) so genannte
„englische Hölderlin", gestorben ist, und Dr. Axel Munthe, der Arzt von
San Michele auf Capri, seine Praxis ausgeübt hat. Keats hatte vom südlichen
Klima Besserung seiner Lungen-Tuberkulose erhofft und ist ihr, 26 Jahre jung,
schon ein Jahr nach seiner Ankunft erlegen. Sein Grabstein auf dem
Protestantischen Friedhof trägt nach dem Willen des Sterbenden ohne
Namensnennung die Worte: "Here lies one whose name was writ in water". Links von
der Spanischen Treppe - in der Mitte das sinkende - Schiff, die „Barcaccia" -
sehen wir den nicht minder berühmten Teesalon des Fräulein Babington.
Die unverheiratet gebliebene Engländerin hatte mit ihrer Freundin Isabel CargiII im Jahre 1894, eine Marktlücke" geschickt nutzend, im Herzen der
englischen Kolonie Roms eine Teestube eingerichtet, die sich heute noch großer
Beliebtheit erfreut und auch von uns gerne aufgesucht wurde. Die beiden Damen
- Miss CargiII heiratete später den Maler Professor Pozzo
- waren historisch verbunden durch zwei ihrer Vorfahren, die hingerichtet worden
sind: Der katholische Anthony Babington 1586 als Anführer einer
Verschwörung gegen Königin Elisabeth , der protestantische Donald CargiII
1681, weil er als presbyterianischer Wanderprediger König Karl II. des Verrates,
der Tyrannei und der Ausschweifung beschuldigt hatte. Als wir in Rom waren,
wurde der Teesalon von Signora da Pozzos Tochter, der Contessa Dorotea Bedini, geleitet. Miss
Babington hatte sich, wie Morton erzählt, hochbetagt und fast erblindet, vom Geschäft zurückgezogen, um forthin in der
Schweiz zu leben.
In der Via Condotti haben wir natürlich auch das weit ältere Café Greco
besucht, an dessen kleinen Marmortischen Byron, Liszt , Wagner, angeblich
auch schon Goethe gesessen haben.
Auf den Spuren von John Keats sind wir auch zu den anderen Grabstätten auf
dem Protestantischen Friedhof an der Cestius-Pyramide „gepilgert". Shelleys Urne
ist dort beigesetzt. Waiblinger , Hölderlins genialischer Zeitgenosse und
Pathograph; das Enfant terrible" der schwäbischen Dichterfamilie, wie Pierre
Bertaux ihn nannte, ruht hier, ebenfalls mit 26 Jahren nach mehreren
Blutstürzen und "Lungenentzündungen", also wahr
485
scheinlich auch an Lungen-Tuberkulose, in Rom gestorben. „Die Gräber im älteren
Teil sind ohne Einfriedung und liegen regellos im hohen Gras zerstreut, als
seien die Toten eilig verscharrt worden",schreibt Joachim Fest in "Römische
Fragmente" (FAZ, 10. September 1988, Nr. 211). Hans von Marees, die
Humboldt -Kinder, Henriette Hertz und Goethes Sohn August sind hier begraben. Er
starb wenige Tage nach seiner Ankunft in Rom, zwei Jahre vor dem Tod des Vaters.
Auf seinem Grabmal stehen die kargen Worte: „Goethe filius. Patri Antevertens"
obiit, "... dem Vater vorausgehend". Als dieser die Nachricht vom Tode des
Sohnes empfing, habe er nur gesagt: „Non ignoravi me mortalem genuisse" - .ich
habe nicht geleugnet, einen Sterblichen gezeugt zu haben."
Es ist schwer, von R o m Abschied nehmen zu müssen. Vieles, und doch nur einen
Ausschnitt dieser einzigartigen Stadt haben wir uns spazierengehend erschlossen,
immer noch Neues entdeckend. Als Ferdinand G r e g o r o v i u s , der aus
unserem ostpreußischen Neidenburg stammende berühmte Verfasser der „Geschichte
der Stadt Rom im Mittelalter" und ihr Ehrenbürger, von einer Dame etwas naiv
gefragt wurde, ob er Rom denn wirklich kenne, antwortete er: „Wie soll ich mir
das anmaßen? Ich lebe doch erst 15 Jahre hier!"
Wenn ich an Rom zurückdenke, bewegt mich heute noch ein ähnliches Gefühl, wie
Werner Bergengruen es in seinem schönen „Römischen Erinnerungsbuch"
(Herderbücherei, 3. Aufl. 1979) ausgedrückt hat: "Ich möchte jedem, der nach Rom
kommt, wer er auch sei, etwas von pilgerhafter Demut, Ehrfurcht und
Erschütterbarkeit des Herzen wünschen, wie die großen Romfahrer aller Zeiten sie
empfunden haben: Petrarca, Winckelmann, Goethe, die
Nazarener, v. Platen, Feuerbach, Marèes, Conrad Ferdinand
Meyer ..." „...
Deutlicher als an jedem anderen Ort spürst du in Rom, daß etwas vom Pilger in
uns allen steckt. Möchtest du auch spüren, daß jedem Pilger die Heimkehr
verheißen ist."
Nun - die Münzen, die wir, einem alten Brauch folgend, in die Fontana di Trevi
(mit dem Rücken zum Wasser, über die linke Schulter!) geworfen hatten,
vermochten die verheißene „Heimkehr" nach Rom nur in Gedanken und Wünschen,
nicht in Wirklichkeit, zu erreichen. Bergengruen hat unter „Heimkehr"
aber wahrscheinlich nichts Diesseitiges, sondern etwas Transzendentes
verstanden.
486
Florenz
Was schreibt Goethe in der. „Italienischen
Reise"? „Den 25. Oktober (1786), abends" : Den 23. früh, unserer Uhr um zehne,
kamen wir aus den Apenninen hervor und sahen Florenz liegen, in einem weiten
Tal, das unglaublich bebaut und ins Unendliche mit Villen und Häusern besät ist.
Die Stadt hatte ich eiligst durchlaufen, den Dom, das Baptisterium. Hier tut
sich wieder eine ganz neue, mir unbekannte Welt auf, an der ich nicht verweilen
will. Der Garten Boboli liegt köstlich. Ich eilte so schnell heraus wie
hinein..."
Er konnte nicht schnell genug nach Rom kommen. Kein weiteres Wort findet er für
den Reichtum dieser einzigartigen Renaissance-Stadt an bildnerischen und
architektonischen Kunstschätzen. Rom war für ihn dien Hauptstadt der Welt". Nach
Rom zog es ihn wie mit reiner Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick
und die Gegenwart heilen konnte". Mit Florenz wollte er keine Zeit für die
„Heilung von dieser Art Krankheit" verlieren.
Wir hingegen hatten Rom schon hinter uns und nahmen uns Zeit, um das, was Goethe
sich entgehen ließ, in Ruhe zu genießen: San Lorenzo mit der Mediceer-Kapelle
und den Michelangelo-Monumenten für die Herzöge Giuliano von Nemours
und Lorenzo von Urbino, die Palazzi Pitti, Strozzi, Vecchio (in dessen Vorhof
die entzückende Brunnenfigur des Knaben mit dem Delphin von Verrochio
steht - sie erfreut uns heute noch als Bronzekopie in unserem Garten, leider
nicht mehr als Springbrünnlein -, die Uffizien natürlich, das Kloster von San
Marco mit den Fresken F r a A n g e I i c o , die meinem Herzen besonders nahe
sind, der David, das im doppelten Sinne kolossale Wunderwerk des jungen Michelangelo, nicht zuletzt seine späten Torsi (Die „Gefangenen") in der
Galerie der Academia. Sie haben mich auf eigenartige Weise ergriffen und
ergreifen mich immer wieder, weil sie den bedeutsamen Unterschied zwischen den
Begriffen „Torso" und „Fragment" zum Ausdruck bringen. Nach meinem Verständnis
ist der Torso (ein italienisches Wort: Rumpf) die Idee einer nicht ausgeformten
Gestalt, das Fragment eine ausgeformt gewesene, zerfallene Gestalt. „Seit Rodin wurden von vielen Bildhauern (Lehmbruck u.a. ) als Torsi gestaltete
Werke geschaffen", heißt es im Brockhaus. Mit dieser Definition werden die
„Gefangenen" Michelangelos wie auch der kopflose „Belvedere" im
Vatikan als Torsi bezeichnet. Aber der
487
Belvedere hatte ja wohl einmal einen Kopf, ist also eine ganze Gestalt gewesen,
die „Gefangenen" jedoch haben noch keine ausgeformte Gestalt angenommen, sie
sind die „Idee" einer Gestalt geblieben. Der Torso ist und bleibt etwas
„Werdendes", das Fragment etwas „Gewordenes", der Torso ist ein Entwurf, das
Fragment ein Bruch-Stück. Ich weiß nicht, ob meine Definitionen von
Kunsthistorikern für richtig gehalten werden. Hans Mackowski hat in
seinem wunderbaren „Michelangelo"-Buch am Beispiel der „Gefangenen" Michelangelos Marmorarbeit mit Hammer und Spitzeisen geschildert und den
„fragmentarischen Zustand" der halb zugehauenen Blöcke als des Meisters
ungetrübte Absicht" bezeichnet. Gerade die bloße Andeutung des Physiognomischen
übe den „Zauber genialer Improvisationen aus", für den uns erst eine spätere
Kunst empfänglich gemacht habe.
Ich neige daher dazu, auch das, was im literarischen Bereich als ,Fragment"
bezeichnet zu werden pflegt, etwa die Aphorismen des NovaIis oder die
„Römischen Fragmente" Joachim Fests , eher „Torsi" zu nennen. Sie sind nichts
Fertiges, Abgeschlossenes, sondern eben Entwürfe, Versuche. Michelangelos abgeschlossene Werke, die Pieta in St. Peter, der David in Florenz,
beglücken mich, seine unvollendeten, die Torsi, ergreifen mich.
Warum ist das so? Ich sähe in dem Unterschied zwischen „Torso" und ,Fragment"
tiefere Gründe: Fragen bedeutet mir mehr als Antworten, Suchen mehr als Finden,
Werdendes mehr als Gewordenes, Sehnsucht mehr als Erfüllung. Es ist die innere
Spannung, die Unruhe des Erwartens, die allem Unerfüllten, Unabgeschlossenen
einen eigentümlichen Reiz verleiht. Vielleicht ist es im Grunde das Im-perfectum
des Lebens, das mich vor dem Per-fectum des Todes zurückschrecken und an das
Leben klammerte läßt? Ist es die Unruhe des Herzens, die noch nicht zur Ruhe in
Gott kommen will? „Unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir", dieses schöne
Wort des Augustinus haben wir auf unser Grabkreuz schreiben lassen.
Die Unruhe des Herzens und des Geistes, die Unzufriedenheit mit dem Fertigen,
Abgeschlossenen hat auch - wenn ich auf Florenz zurückspringe - Michelangelo nie verlassen. „Von keinem seiner Werke befriedigt, empfand er sich oft
als einen infelice", sagt Mackowski. Unter seinen Gedicht-„fragmenten",
richtiger „Torsi", findet sich die erschütternde Klage: „Wer ist vollendet,
sagt, Wer in der Kunst, im Leben Vor seiner letzten Stunde?" Das Ungenügen
488
de und zugleich Vorwärtstreibende spricht auch aus den Aphorismen Nietzsches, deren blitzartiges, sprunghaftes Aufleuchten das Denken des Lesers wach und
straff hält und vor Ermüdung und Erschlaffung fertiger Antworten bewahrt. Das
Chaotische dieser Gedankenblitze und -spränge Nietzsches, des
Propheten und Märtyrers des abendländischen Nihilismus, entspricht dem
chaotischen Beben der Krisis unserer Epoche. Wir leben in einem chaotischen
Übergang von den Fragmenten vergangener zu den Torsi kommender Epochen.
Zurück zu Florenz: Über den bildnerischen Werken Michelangelos, den
Skulpturen und Malereien, sollten wir sein dichterisches Schaffen nicht
vergessen: Die Sonette! Seine Gedichte sind erst lange nach seinem Tode, 1623,
von einem Großneffen herausgegeben und in ihrer ursprünglichen Gestalt erst 1863
der Nachwelt überliefert worden. Edwin Redslob (Vater der Frau Constanze
meines lieben Kollegen Helmut SeIbach, zu früh verstorbener
Psychiatrie-Ordinarius in Berlin) hat die Gedichte - wie vor ihm Rilke und KommereII
- sinngetreu und formschön übertragen, ausgewählt und mit Zeichnungen des
Meisters 1943 - mitten im Kriege - im Verlag von Eduard Stichnote Potsdam
herausgegeben. Ein wesentlicher Teil der Gedichte Michelangelos
richtet sich an Tommaso CavaIieri, den schönen, edelgeborenen und
feingebildeten Jüngling, um dessen Freundschaft der gealterte Meister sich wie
ein Liebender bemüht hat, und an die Marchesa Vittoria CoIonna, jene zu
ihrer Zeit bedeutendste, einem der ältesten römischen Adelsgeschlechter
entstammende Frau Italiens, mit der ihn eine in größter gegenseitiger Achtung
bekundete, von geistiger und religiöser Übereinstimmung geprägte Freundschaft
verband. Vittoria, die als Witwe des im Kriege gefallenen Marchese die Pescara
das Leben einer Nonne führte, war für ihren Bewunderer das Idealbild einer Frau.
Sie glaubte in ihrem demütigen Herzen fest an Gottes Gnade, „der Euch durch sie
als einzigen Meister geschaffen", erschütterte ihn aber auch in dem Glauben an
die Fortdauer seines Künstlerruhms und lehrte ihn, allen Ruhm zu den
Nichtigkeiten der Welt zu zählen. Michelangelos Gedichte an diese
beiden Menschen, die seinem Herzen von allen seinen Freunden am nächsten
gestanden haben, "sind die ganz natürlichen Ergüsse einer einsamen Natur, die
sich in Selbstgesprächen von ihrer inneren Last befreit..." ... "Zugleich aber
bewahren diese Bekenntnisse durch die poetische
489
Form ... noch einen letzten Schleier zartester Schamhaftigkeit, den ganz zu
lüften nur einer wahlverwandten Natur gelingen dürfte." . „Den mannigfachsten
Deutungen zugänglich, stehen sie in ihrer oft rauhen Größe unserem modernen
Empfinden besonders fern" ... „Um so höher schätzen wir sie als Merkmale einer
geistigen Entwicklung, die der künstlerischen parallel geht." Die Anregung, sich
dichterisch zu betätigen, so schreibt Mackowski weiter, habe Michelangelo „in jenem literarisch produktiven Kreise" empfangen, dessen Haupt
Lorenzo de Medici selbst war. Bei ihm, dem "Magnifico", beginne
bereits die geistige Vorstellung vom Wesen und der Macht der LIEBE, „wie sie in
großartiger Einseitigkeit bei Michelangelo erscheint".
Eines der von RedsIob ausgewählten Gedichte ist an Dante gerichtet:
„...von DANTE künd ich, wie er, auserkoren, Dennoch als Feind von seinem Volk
verkannt, Weil es nicht Ehrfurcht für das Hohe hat. Wär ich gleich ihm, zu
solchem Werk geboren Und würde ich dafür, gleich ihm, verbannt: Ich gäb die Welt
für seines Ruhmes Blatt!" Dante steht am Beginn, Michelangelo am Ausgange der Renaissance.
Beide sind durch ihre Geistesverwandtschaft und durch ihre gemeinsame Vaterstadt
miteinander verbunden: Dante wurde aus ihr verbannt und ging nach Ravenna,
Michelangelo verließ sie freiwillig und ging nach Rom. Die Sehnsucht
nach ihrer schmerzlich geliebten Heimatstadt hat sie nie verlassen. Beide haben
der Nachwelt unsterbliche Werke hinterlassen. Mit Florenz verknüpfen sich noch
fünf weitere große Namen: Giovanni Boccaccio, Lorenzo ilMagnifico,
Amerigo Vespucci, Girolamo Savonarola und Niccolo Machiavelli.
Ponte Vecchio und der Arno
Ponte Vecchio, die älteste, aus der Römerzeit
stammende Brücke über die schmalste Stelle des Arno - Dante hat den Fluß in
seiner „Divina Comedia" neunmal erwähnt: fünfmal in der Hölle, dreimal im
Fegefeuer und nur einmal im Paradies - (Die Neun war für ihn eine „heilige
Zahl", da er sich mit neun Jahren verliebt hatte!). Der Arno galt ihm als der
schöne Fluß, aber auch als "maladetta e sventurata fossa", „elender, verfluchter
Wassergraben", weil er ihn mit seiner eigenen Schuld, seinem Unglück und der
Schlechtigkeit der Florentiner in Ver
490
bindung brachte. So erzählt es Carlo Betocchi, Professor für Literatur
an der Universität Florenz im „Merian" 1956. Seit Cosimo I. von Medici,
also in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wurden die ursprünglichen Läden
auf der Brücke ganz den Goldschmieden überlassen, und so ist der Ponte Vecchio
bis heute die Brücke der Goldschmiede geblieben. Wir haben dort eine schöne, in
Gold gefaßte Aquamarin-Brosche erstanden, die Antonia und mich immer noch
entzückt. Als wir, von Rom zurückkehrend, am Arno entlang uns Florenz näherten,
fragte ich Antonia so nebenbei, ob sie vielleicht wüßte, wie dieser Fluß heiße.
Sie wußte es nicht. Ich versuchte ihr zu helfen, indem ich sie an die Vornamen
unserer Freunde, der Brüder Erich und Arno Krause, erinnerte. Antonia,
erleichtert: „Jetzt weiß ich, der Fluß heißt - Erich!"
So, mit einem lachenden und mit einem wehmütigen Auge, nehme ich Abschied von
Florenz, ohne den Lobpreisungen seiner großen Bewunderer etwas hinzufügen zu
können: Johann Gottfried Herders, Jacob Burckhardts, Rainer Maria
Rilkes, auch unserer Königsbergerin Agnes MiegeI, nicht zuletzt Hugo von
Hofmannsthals, der in einem Brief an seinen Vater schrieb (1898): „Die
Tage und Abende in Florenz sind in einer gewissen Weise das Schönste, was ich je
erlebt habe..." Neben dieser Stadt und ihrer Landschaft erscheine Venedig „wie
eine Operndekoration" (!).
Venedig
„So stand es denn im Buche des Schicksals auf
meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786, den achtundzwanzigsten September,
abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmals, aus der Brenta in die
Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese
Biberrepublik, betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich,
den Todfeind von Wortschällen, geängstigt hat..." das schreibt Goethe in der
,Italienischen Reise" (die mir zur Einsegnung am 9. April 1922 in einer
besonders schönen, ledergebundenen, mit Zeichnungen und Bildnissen Goethes
bereicherten Ausgabe im Insel-Verlag zu Leipzig 1913 von meinem und meiner
Eltern Freund Werner Kreth, späterem Domvikar und Domorganisten in
Frauenburg, geschenkt worden ist). „Von Venedig ist schon viel erzählt und
491
gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will; ich sage nur,
wie es mir entgegenkommt..." heißt es weiter in der „Italienischen Reise". So
halte ich es auch, und deshalb will ich nur von der letzten unserer fünf Reisen
nach der „wunderbaren Inselstadt" erzählen: Ich war wieder einmal der Einladung
zu einer österreichisch-italienischdeutschen Psychiater- und Neurologentagung
gefolgt, alles war vorbereitet, das Taxi, das uns zum Bahnhof Hannover bringen
sollte, stand bereits vor unserem Hause. Aber Antonia fühlte sich plötzlich so
erschöpft und kreislaufgeschwächt, daß sie glaubte, der Fahrt nicht gewachsen zu
sein. Als ich dem Taxichauffeur sagte, meine Frau sei soeben leider erkrankt,
und wir bedauerten, auf seine Dienste verzichten zu müssen, erschien im letzten
Augenblick unser Annchen und verkündete: „Se fährt doch!" Zuvor hatte Juliane,
unsere Arztnichte, gemeint, wir könnten wenigstens zunächst bis München fahren
und dann weitersehen, ob wir es bis Venedig schaffen würden. Wir befolgten
diesen Rat, und als wir abends durch die Straßen Münchens unserer geliebten
„Hauptstadt mit Herz", schritten, ging es Antonia bereits so viel besser, daß
die Weiterreise nach Venedig keine Risiko mehr bedeutete. So saßen wir am
nächsten Abend glücklich im Café Florian am Markusplatz bei Mondschein und
einem Fläschchen "Valpolicella" und unterhielten uns so lebhaft, als ob wir uns
seit langem nicht gesehen hätten. Ich hatte den Arm um Antonias Schulter gelegt,
und wir müssen wohl ein nicht ganz alltägliches Bild abgegeben haben. Denn zwei
Japaner richteten ihre Kameras auf uns und fragten höflich, ob wir ein Photo
erlauben würden. Wir stimmten gerne zu, und so wird das Bild eines alten, milden
deutschen Ehepaares - Philemon und Baucis - auf dem Markusplatz, dem „Salon
Europas", wie Napoleon ihn nannte, in Tokio oder Yokohama zu sehen sein.
Weniger glücklich waren wir mit unserem Hotel „Monaco Gran Canal", das „Mafioso"-Methoden
an uns zu praktizieren versuchte, obwohl es sich des Renommés eines offiziellen
Hotels des Ärztekongresses erfreuen durfte.
Für uns war Venedig ein immer wieder neues Fest für das Auge. „Die Zeit
ist hin, doch weilt noch Schönheit hier. Staaten vergehn, die Kunst sinkt in
Verfall, Nur die Natur ist ewig, und vor ihr Ist noch Venedig für die Völker all
Der Tummelplatz der Lust, Italiens Carneval." So hat Lord Byron in "Child
Harolds Pilgrimage" die „Serenissima" besungen.. Noch „weilt Schönheit hier",
aber zuviel Schönheit ist tödlich, dem Verfall preisgegeben. Jedesmal, wenn wir
in
492
Venedig waren, schienen die Fassaden der
Paläste noch etwas mehr abgebröckelt zu sein. Erst vor kurzem, Ende 1994, hat
der Bürgermeister, wahrscheinlich vergeblich, einen Hilferuf an den
italienischen Ministerpräsidenten gerichtet: Mindestens 260 Millionen DM seien
nötig, um die Kulturgüter Venedigs vor dem endgültigen Verfall zu retten.
Lord Byrons
Leben und Wirken verbindet sich in besonderer Weise mit dem armenischen
Mechitaristen-Kloster auf San Lazzaro, der ehemaligen "Insel der Aussätzigen".
Wir haben sie besucht und in lebendiger Erinnerung behalten. Die Mechitaristen
wurden zusammen mit ihrem Stifter Mechitar, dem "Tröster", 1717 von den Türken
aus Griechenland vertrieben und fanden auf San Lazzaro ein Asyl. Sie haben ihr
Kloster zu einer der drei Hauptstätten der armenischen Kultur und Religion
entwickelt (die anderen sind Wien und Ethmiadsin in der ehemals sowjetischen
Armenischen Republik). Die Mönche auf San Lazzaro widmen ihr Leben der
Gelehrsamkeit und Frömmigkeit. Sie haben auf der Insel eine Kunst-Buchdruckerei
errichtet, die Werke in fast 40 Sprachen herstellt!. Ihre Bibliothek umfaßt etwa
50 000 Bände und enthält eine große Zahl kostbarster Handschriften. Es ist ihr
Verdienst, zwei Schulen und eine Akademie für armenische Literatur geschaffen zu
haben. Lord Byron besuchte das Kloster im Winter 1816-17 vier Monate lang
dreimal wöchentlich, um die armenische Sprache, "etwas Unebenes", zu erlernen.
Ungeachtet seines nicht unbedingt christlichen Lebenswandels
- eine seiner
venezianischen Geliebten soll sich im Canal Grande ertränkt haben -, wurde er
von den immer zur Vergebung bereiten Mechitaristen-Mönchen liebevoll und mit
aller Hochachtung vor dem berühmten Dichter aufgenommen. Ein Gemälde zeigt ihn,
in lässiger Anmut sich räkelnd, vor der Terrasse des Klosters, bedient von
ehrwürdigen, aber respektvollen Mönchen, mit einem großen, zu seinen Füßen
lagernden Hund. Byrons Landsmann James Morris erzählt in seinem
anmutig-geistvoll dahinplaudernden Venedig-Buch (Piper Verlag München 1960), daß
die Mönche auf San Lazzaro zum hundertsten Geburtstag des Dichters einen heute
vergessenen Verseschreiber, Charles CammeII, gebeten hätten, einige Verse
zu schreiben, die ins Armenische übersetzt werden sollten. Er ließ sein Gedicht
mit den Zeilen enden: "Birgt England seinen Leichnam, Griechenland sein Herz,
Bewahrt gewiß von seiner Seele Ihr ein Stück, Vielleicht das
(493) höchste, denn bei Euch ließ er zurück Die
Freundschaft und den Frieden, nicht den Schmerz."
"Bestimmt werden die Armenier von
San Lazzaro Lord Byron so bald nicht vergessen", meint Morris.
Für Morris hat "die
Verlockung Venedigs nichts mit Kunst und Architektur zu tun". Sie habe "etwas
merkwürdig Sinnliches, wenn nicht richtigehend Sexuelles"! Ein Franzose des 19.
Jahrhunderts habe gesagt, "Venedig umfange den Gast mit einem Charme so zart wie
der Charme einer Frau". Andere Städte haben Bewunderer. Venedig allein hat
"Liebhaber". Wenn auch die Verliebtheit in den Charme Venedigs durch die
hochsommerlichen Düfte, die den Kanälen entströmen, gedämpft werden mag, so
bleibt doch unberührt davon, was Elizabeth Barrett-Browning geschrieben
hat: "Es gibt kein zweites Venedig auf der Welt." Sie meint damit das
Hingerissensein an diese Stadt, "dem nichts gleiche, an das nichts herankomme".
Der Preis, der für die
liebenswerte Schönheit Venedigs -
wie für alles Schöne in der Welt - gezahlt werden muß, ist das venezianische
Abwässersystem, das "gewöhnlich aus Röhren besteht, die aus den Häusern direkt
in die Kanäle führen". Es sind die Ansammlungen von Abfall und Unrat in den
Gewässern, es sind die "nur rudimentären Vorstellungen des Venezianers von
Hygiene", die Herrn Baedeker eindringlich vor dem Genuß venezianischer
Austern warnen läßt! Aber an die Austern denkt man nicht gerne, und man vergißt
auch leicht, auf den Markusplatz schlendernd, daß der herrliche Campanile einmal
eingestürzt ist, genau am 14. Juli 1902, 5 Minuten vor 10 Uhr morgens. Man hatte
den Zusammenbruch dieses alten, schönen Wahrzeichens Venedigs vorausgesehen und,
um eine Erschütterung des "Bauwerks zu vermeiden, die mittäglichen Salutschüsse
verboten und sogar die Kapellen nicht mehr spielen lassen. Als der Turm dann
leise zu erzittern begann und fast lautlos, ohne einen Menschen zu verletzen, in
sich zusammenstürzte, hieß es: ,,11 Campanile e'stato galantuomo!"- "der
Campanile hat sich als Edelmann erwiesen!" Nur eine Katze mußte dran glauben:
Sie war zwar aus der Turmwächterwohnung in Sicherheit gebracht worden, hatte
sich aber, um ihr Mahl zu beenden, wieder hineingeschlichen. Der
Wetterhahn-Engel stürzte, wie
Morris erzählt, auf die Piazza hinunter
und blieb vor dem Tor der Basilika liegen, was man als wundersames Omen dafür
ansah, daß der großen Kirche nichts geschehen würde. 10 Jahre
(494) später, genau ein Jahrtausend nach der
Grundsteinlegung des alten Campanile, fand die Einweihung des neu erbauten
Turmes statt, dem alten fast genau gleich, jedoch mit modernisierter Struktur,
600 Tonnen leichter und durch tausend zusätzliche Pfähle im Fundament gefestigt.
Wenn man auf dem Markusplatz
im Cafe Florian oder Quadri sitzt und die Augen an dem hohen, schlanken,
eleganten Campanile emporgleiten läßt, ist man glücklich über seine
Wiederauferstehung. Der Blick schweift zwischen den vorbeiflanierenden Menschen
und den flatternden Tauben in wohltuender Muße hin und her und das Ohr lauscht
der nicht immer harmonisch zusammenklingenden Musik der beiden Cafe-Kapellen, in
die sich bisweilen noch eine dritte einmischt. Einmal bot sich uns dort ein
ungewöhnliches Bild: Ein französisches Kriegsschiff hatte auf der Lagune Anker
geworfen, und eine große Schar junger Matrosen strömte auf die Piazza: Blaue,
kurze Jacken, blau-weiß-gestreifte Hemden, weiße Tellermützen mit einem roten
Pompon obendrauf und einem venezianischen Mädchen im Arm. Dieses buntbelebte
Bild ermunterte uns, der Einladung zu einem Besuch des Panzerkreuzers der
"Grande Nation" zu folgen. Ehe wir uns versahen, wurden wir auch schon in ein
Motorboot gehoben, das uns zu dem Kriegsschiff brachte und an dessen hoher
Bordwand absetzte. Sodann mußten wir ein schwankendes Fallreep erklettern, bis
uns hoch oben hilfreiche Matrosenhände ergriffen und Antonias Kletterängste
vorübergehend beendeten. Indessen verschwand ich rasch im Bauche des riesigen
Schiffes, um - als Enkel eines
Kapitäns, Schiffseigners und Reedereibesitzers natürlich hochinteressiert
- die
Maschinenräume, Kojen, Offiziersmessen und sonstigen Innereien zu besichtigen.
Die arme Antonia wartete, allein gelassen, unruhig an Deck, den in
unverständlich schnellem Französisch auf sie einredenden Erklärungsversuchen der
Besatzungsmitglieder preisgegeben. Das Schlimmste aber kam noch: Der lange
Abstieg auf dem schwankenden Fallreep hoch über dem Wasser. Sie dachte, ihr Ende
sei gekommen. "Nie wieder!", war ihr Resumee, als wir endlich wieder auf dem
geliebten Markusplatz saßen und einen erlösenden "Valpolicella" schlürfen
konnten.
Das, was für Hofmannsthal
eine" Operndekoration" bedeutete, war Venedig für Nietzsche ein "Synonym
für Musik". Ich weiß nicht, ob er damit die "Musikalität" der Schönheit oder die
musikalische Tradition der Stadt oder beides gemeint haben könnte. Im 18.
Jahrhundert war Venedig eine berühmte (495)
Musikstadt. Antonio Vivaldi wirkte hier als Geigenlehrer, Chordirigent
und Komponist im Mädchen-Waisenhaus Ospedale della Pieta. Er war der "Prete
rosso", der rothaarige Priester, der es fertigbrachte, von der Zelebration einer
Messe wegzulaufen, um die Noten einer plötzlichen musikalischen Inspiration
aufzuzeichnen. Igor Strawinskis böses Wort, Vivaldi habe dasselbe
Konzert 600 mal komponiert, darf inzwischen durch die neuere Vivaldi-Renaissance
wohl als endgültig widerlegt gelten. Schon Goethes Vater Kaspar hatte zu
Lebzeiten Vivaldi eine der erstaunlichsten Einrichtungen im damaligen
Musikleben bewundert: Den Chor der hinter den Gittern des Hospitals singenden
Waisenmädchen. Sein Sohn Johann Wolfgang pries die "herrlichen Stimmen" der
Mädchen, die aus den "Nachtigallenkäfigen" der Kirche Mendicanti (Bettler)
ertönten. Die vier Waisenhäuser Venedigs waren die Vorläufer öffentlicher
Musikschulen und trugen der Stadt neben Neapel den Ruf eines' "Konservatoriums
Europas" ein.
Im 19.
Jahrhundert wurde das "Gran Teatro La Fenice" zu einem der bedeutendsten
Opernhäuser der Musikgeschichte und zur Hochburg des Bel Canto. Seinen
symbolischen Namen "Phönix" verdankte es dem Umstand, daß es anstelle des zuvor
abgebrannten schönsten Opernhauses Venedigs San Benedetto als noch schöneres,
größeres' und luxuriöseres Theater erbaut und 1792 eingeweiht wurde. Es brannte
zwar wieder ab und war ständig vom Hochwasser bedroht. Aber davon unberührt
blieb sein Ruf als "musikalische Nachlaßverwalterin der Republik Venedig". Viele
italienische Komponisten haben ihren europäischen Rang dem Fenice zu verdanken:
Rossini, Bellini, Donizetti. Guiseppe Verdi hat hier
alle fünf seiner Opern aufführen lassen - La Traviata war allerdings bei der
Uraufführung durchgefallen. Dann betrat sein Antipode Richard Wagner die
Venezianische Szene: 1873 wurde "Rienzi", 1881 "Lohengrin" im Fenice aufgeführt
und kurz nach dem "musikdramatisch inszenierten" Tode des Meisters im Palazzo
Vendramin ist zum ersten mal die "Ring"-Tetralogie hier in deutscher Sprache
gezeigt worden. Bis in die Gegenwart haben Sänger und Dirigenten von Weltruf im
Fenice gewirkt.
Leider haben wir das Fenice
nie von innen erlebt -
die Karten sind meist für
Abonnementsplätze vergeben -, sondern mußten uns mit
dem Anblick seiner eher unscheinbaren Mauern begnügen. (Als ich dies gerade
geschrieben hatte 496 am 1. Mai 1995 -, entdeckte
ich "zufällig" ein mit Streichhölzern verbundenes Photogramm, das uns beide an
einem Tisch auf der abendlichen Piazza vor dem Fenica tafelnd zeigt!).
Für Antonia und mich aber, wie ich
schon sagte, war Venedig vor allem ein "Fest für das Auge". So hat es auch auf
Goethe gewirkt, wenn er schreibt, seine "alte Gabe, die Welt mit Augen
des Malers zu sehen, dessen Bilder ich mir eben eingedrückt", habe ihn auf den
Gedanken gebracht, der venezianische Maler müsse alles klarer und heiterer sehen
als andere Menschen. "Tizian und Paul (Veronese) hatten diese Klarheit im
höchsten Grade", und er schildert, wie er auf einer Fahrt durch die Lagunen "bei
hohem Sonnenschein" auf den Gondelrändern die Gondoliere(i) leicht schwebend,
buntbekleidet, rudernd betrachtete, wie sie auf der hellgrünen Fläche (des
Wassers) sich in der blauen Luft zeichneten". "Der Sonnenschein hob die
Lokalfarben blendend hervor, und die Schattenseiten waren so licht, daß sie
verhältnismäßig wieder zu Lichtern hätten dienen können." "Alles war hell in
hell gemalt, so daß die schäumende Welle und die Blitzlichter darauf nötig
waren, um die Tüpfchen aufs i zu setzen."
Von den Werken der großen Maler
Venedigs hat sich mir das des Größten am nachhaltigsten eingeprägt:" TiziansAltarbild in der Kirche Santa Maria dei Frari.
Die Madonna trägt die Züge seiner Frau Celia, die bald nach der Enthüllung
(1518) im Kindbett sterben sollte. Ein vornehmer älterer Herr führte uns durch
die riesige gotische Hallenkirche, die nach der Markuskirche bedeutendste der
Stadt, und zeigte uns das Grabmal Tizians, das dreihundert Jahre nach
seinem Tode vom Kaiser von Österreich eingeweiht wurde, umgeben von Reliefs, die
der Meister selbst geschaffen hatte. Auch Canovas Grab, urspünglich für
Tizian, dann für sich selbst von ihm entworfen, findet sich in der Frari.
An einer Statue des Heiligen Hieronymus (von Alessandro Vittoria) sollen
die fein modellierten Adern und Muskeln in Wirklichkeit Tizians Körper in
hohem Alter darstellen. Sein Geburtsdatum ist immer noch umstritten. Seine
Lebenszeit wird auf 99 bis 103 Jahre geschätzt. Zu Tizians Altersstil hat
Goethe ein Jahr vor seinem Tode, 1831, in einem Gespräch mit Riemer
gesagt:" Tizian, der große Kolorist, malte im hohen Alter diejeigen
Stoffe, die er früher so konkret. nachzuahmen gewußt hatte, doch nur in
abstracto, zum Beispiel den Sammet nur als Idee davon". Auf dies~ "unnachahmlich
treffende Formel konnte nur einer kommen, der Staunen
empfand 497 angesichts des eigenen Spätstils
und der nach Vergleichen suchte, um das eigene Geheimnis in ästhetischer
Reflexion zu bannen", schreibt Wilfried Wiegand in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom 6. August 1990 in seiner Besprechung der großen
Tizian-Ausstellung im Dogenpalast. Die geniale Künstlerschaft Tizians muß
so überwältigend gewirkt haben, daß seine Schüler und Gehilfen keine
selbständigen künstlerischen Leistungen zu vollbringen vermochten, solange sie
in seiner Werkstatt arbeiteten. Tintoretto und EI Greco trennten
sich deshalb von ihm und gingen ihre eigenen Wege. Sein Alterswerk ist wie die
späten Werke Rembrandt sund Goyas schon von den meisten seiner
Zeitgenossen nicht mehr verstanden worden.
Daß es auch relativ frühe Werke
eines Malers gibt, die von seinen Zeitgenossen nicht verstanden werden, haben
wir bei der Betrachtung der "Drip"Bilder Jackson Poliocks erlebt, die
Peggy Guggenheim in ihrem kleinem Palazzo Venier de Leoni am Canal grande
ausgestellt hat. Peggy war dem postmortalen Mythos um Polio c k verfallen, der
sich um seine "Drips" gebildet hatte: Er pflegte bei diesen Gebilden die Farbe
nicht mit dem Pinsel aufzutragen, sondern auf die Leinwand zu werfen oder
einfach aus der Farbdose auf die Leinwand tropfen zu lassen. Das Sehens- und
Liebenswerte an dem unvollendet gebliebenen, nur erdgeschossigen Guggenheim-Palazzo
(von 1749) ist außer farbenfrohen Glasgebilden der schöne baumbestandene Garten
mit den Grabdenkmälern für ihre geliebten Hunde. Vor dem Gebäude steht Marino
Marinis Skulptur eines Reiters mit erigiertem und verstellbaren Penis. Wenn
sich eine Gondel mit Priestern oder Nonnen nähert, so sagt man, werde das
herausfordernde Stück rechtzeitig weggedreht: Da gerade keine Gondel mit
Geistlichkeit beladen vorbeifuhr, konnten lachende junge Mädchen und Männer ihre
Kameras auf das "anstößige" Objekt richten. Ich tat es auch.
Auf unserer letzten
Venedig-Reise besuchten wir endlich auch das festländische Venetien, leider
nicht mit dem Schiff "Burchello" -
benannt nach dem ehemaligen Venitianischen Postschiff -,
auf der Brenta, sondern mit einem Bus. Der Renaissance-Architekt Paliadio
hat dort für die reichen Venezianer die schönsten Villen der Welt erbaut. Eine
berühmte, die Villa Barbaro-Volpi neben dem unscheinbaren Ort Maser birgt in
ihrem Inneren herrliche Malereien Paolo
Veroneses, und in ihrem Park stehen vier
Putti als Verkörperung der vier Jahreszeiten, die Vivaldi so wunderbar in
Töne umgesetzt hat. In Asolo, einem "Drei-Sterne-Ausflugsziel", machten wir Halt
im schlichten Ristorante "Due Mori" auf der Piazza Duse, die ihren Namen der
großen Eleonora verdankt. Denn die legendäre Tragödin hat auf dem Hügel von
Asolo in einem Schloß gelebt, das um 1500 einer Venezianerin Caterina Cornaro,
der Königin von Zypern, von der Republik Venedig geschenkt worden war. Sie hatte
diesen Titel durch Heirat erworben und wurde, nachdem man ihr Zypern weggenommen
hatte, durch die Burg von Asolo entschädigt. Ihre Schloßnachfolgerin Eleonora
Duse ließ sich auf dem Burghügel von Asolo nieder und wurde 1924 auf dem
Gemeindefriedhof begraben. Eine würdigere Alters- und Sterbestätte ließe sich
für die einzigartige Menschendarstellerin nicht denken. (Sie ist, wie ich soeben
lese, nicht in Asolo, sondern in Pittsburgh, Pennsylvanien gestorben.)
Wie stolz die Venezianer auf die
malerische Tradition ihrer Stadt zu sein
scheinen, läßt sich an den Namen der Cocktailspezialitäten
ablesen, die in "Harrys Bar" angeboten werden. Sie heißen "Giorgione" oder
"Bellini" oder gar "Tizian". Berühmte Trinkgäste wie Hemingway, Orson
Welles, Truman Capote, Churchill (seinen Malkasten im Arm!)
sollen sich an diesem "malerischen" Getränk erlabt- haben. Ich begnügte mich mit
einer" White Lady", deren genauere Bestandteile ich vergessen habe. Die
.Entstehungsgeschichte dieser Sehens-, Nippens- und Essenswürdigkeit Venedigs
"Harrys Bar" zu erwähnen, würde, so originell sie auch ist, zu weit führen. Ich
bin ohnehin meinem Vorsatz ungetreu
- allzu wortreich
ins Erzählen, Zitieren, Schwärmen zu dem unerschöpflichen Phänomen "Venedig"
geraten, verleitet und beflügelt vom Fascinosum Venetianum.
Was bleibt an wenigen sichtbaren
Erinnerungsresten? Zwei schöne, gerahmte Reproduktionen von Canalettos
Piazetta San Marco und dem Dogenpalast mit dem Campanile, zwei weiße, bei "Ditta
Rigattieri" erstandene Keramik-Löwen vor unserem Kamin, eine Korallenkette für
Antonia, mehrere schön
bebilderte Venedig-Bücher, darunter das mir liebste von James Morris,
zahlreiche eigene Photographien und - nicht ganz zuletzt - diese
Schreibmaschinenzeilen. Als unsichtbare
Erinnerung bleibt: die wahrscheinlich unerfüllbare Sehnsucht nach einem
Wiedersehen mit dem Traum einer Stadt, der zur bezaubernden,
unvergleichlichen Wirklichkeit geworden ist.
Sizilien und Capri (19. März bis 16. Apri!
1971)
"Italien ohne Sizilien macht
gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem", schreibt
Goethe unter dem 13. April 1787 in der "Italienischen Reise". Pierre
Bertaux vermutet in seinem Buch "Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir"
- zu Goethes
Spieltrieb -, er habe mit dem "Schlüssel zu allem" den Kalk
auf der Insel gemeint, mit dessen verschiedenen Gesteinsformen er sich
tatsächlich eingehend beschäftigt hat. Vier Tage brauchte er, um von Neapel bei
Gegenwind, seekrank "im Walfischbauch" , an der Formung und Rhythmisierung des "Tasso"-Entwurfes
arbeitend, nach Palermo zu
gelangen. Auch wir hatten Schwierigkeiten, Palermo zu erreichen: Unser Flugzeug
von Hannover über Rom wurde durch Sturm an der Landung in Palermo gehindert und
mußte nach Trapani an der
Westküste Siziliens beordert werden. Von dort wurden wir - nach insgesamt
-12-stündiger Reise! - mit einem Bus durch eine karge Landschaft, an
Elendsbehausungen vorbei, nach Palermo ins Jolly-Hotel gebracht.
Die griechische und römische,
später die normannische Vorgeschichte der Insel kann leicht vergessen lassen,
daß Sizilien etwa 200 Jahre lang unter islamischer
Herrschaft gestanden .ihat. Palermo entwickelte sich zu einer islamischen
Großstadt mit über 300 Moscheen, mit eleganten Lustschlössern und kunstvollen
Gärten. Von alledem ist heute nichts mehr zu sehen. Im 11. Jahrhundert
besetzten die nach ihrer Heimat, der Normandie, genannten Normannen die Insel.
Unter dem Eroberer Graf Roger I. vollzog sich auch in Palermo die
Übergabe der Stadt an das Christentum. Sein Sohn, der spätere König Roger II.,
begründete den ersten großen, straff organisierten Verwaltungsstaat des
Mittelalters. Unter ihm und seinen Nachfolgern, den Staufern, entstanden im 12.
Jahrhundert die großartigen architektonischen Schöpfungen, die wir nun bewundern
durften: Monreal mit dem größten
mittelalterlichen Mosaik-Zyklus, dem herrlichen Kreuzgang des
Benediktiner-Klosters und der fremdartig wirkenden, aus Lava-Elementen vom Ätna
gestalteten Apsisfassade, der gewaltige
Dom von Palermo in normannisch-islamisch-byzantinischem Mischstil
- dessen
Barock-Kuppel allerdings stilistische Wundschmerzen hervorrufen kann
- mit den
Porphyr-Sarkophagen Roger II.,
seiner Tochter Konstanze und den
großen Hohenstaufenkaisern Heinrich
VI. und Friedrich II., 500
schließlich die Capella Palatina des Palazzo
Reale Rogers II. mit den heute noch ganz frisch wirkenden byzantinischen
Mosaiken auf Goldgrund. Als wir die Kapelle betraten, erlebten wir gerade noch
eine Trauung im Augenblick des Ringwechsels und des Verlesens des
Treue-Gelöbnisses durch den Priester, während auf der Orgel die "Träumerei" von
Schumann erklang. Ein anderes Hochzeitspaar erblickten wir vor dem Portal
des Domes, die Braut mit lieblich gerundetem Bäuchlein und hoch im Winde
- der Sturm hatte
sich noch nicht gelegt -
flatterndem und sich bauschendem Schleier. Ein drittes
Hochzeitspaar an diesem Tage begegnete uns bei der nachkirchlichen Feier im
Hotel Jolly - alles zusammen ein Gutes verheißender Auftakt unserer Reise. Am
Nachmittag fuhren wir auf den Monte Pelegrino, genossen den Blick auf den Golf,
die "Conca d'orc", und besuchten die Grotte, in der RosaIia, die
Schutzpatronin von Palermo, als Eremitin gelebt hat und mit 14 Jahren gestorben
ist. Die Grotte ist ein "Mini-Lourdes" mit zahlreichen Devotionalien, dem Anker
eines geretteten Schiffes und einer Gedenktafel für Goethe, den die
Schlichtheit dieses heilig gesprochenen Kindes
- man schrieb ihm
die Befreiung Palermos von der Pest zu
- ergriffen hatte.
Im grellen Kontrast zu der Schönheit dieser Kunstwerke und der Ausblicke auf die
Conca d'oro: Die Elendsviertel in den Außenbezirken Palermos, die verwahrlosten
Häuser in der Altstadt, die ärmlich gekleideten Menschen. Unsere Fremdenführer
waren am Vormittag ein älterer, ruhiger, vornehmer Herr, der seine Erklärungen
in wohlformuliertes Deutsch zu kleiden wußte, nachmittags ein junger,
quicklebendiger, heiterer Sizilianer, der uns das Sehenswürdige in recht
eigenwilligem, von eleganten Hand- und Fingerbewegungen begleitetem Deutsch zu
beschreiben versuchte. Die Fahrt nach Messina: Im elektrischen Zug namens "Rapido"
- Fensterplatz,
vorzügliches Essen, Münchener Löwenbräu - an der Nordküste entlang, vorbei an
Orangenhainen, Zitronenplantagen, schönen Vorgärten und armseligen Häusern,
steigerte unsere Erwartung auf das eigentliche Reiseziel: Taormina. Der berühmte
Ort empfing uns etwas enttäuschend mit bedecktem Himmel, unbehaglicher Kühle und
immer noch nicht abgeflautem, stürmischem Scirocco und einem ziemlich kleinen
Zimmer ohne Balkon und Meeresblick im neuen Hotel Mediterranée.
Antonia verdrückte ein paar
Tränchen, wurde aber versöhnt durch die Aussicht auf den schneebedeckten, leider
meist wolkenverhüllten Ätna. Das
wirklich Schöne an Taormina ist seine Lage hoch über dem Meer mit den kühnen
501 Schwingungen der Küste, den gegen die
Felsen schäumenden BrandungsweIlen, den dunkelgrünen, mit Zypressen, Palmen,
Eukalyptus-, Zitrus- und Orangenbäumen bewachsenen Hängen. Alles blühte trotz
der Kühle: Levkojen, Pelargonien, Narzissen, Tulpen, Bougainvillea, Ginster,
Löwenmaul, auch frühe, kleine Rosen, Margeriten, gelbe Büsche mit rosafarbenen
Blüten, die Antonia botanisch nicht näher definieren konnte. (Die Aufzählung der
Blumenfülle des Südens verdanke ich natürlich ihr!)
Reizvoll ist auch der Ort selbst:
Steile, verwinkelte Gassen, antikes Gemäuer, alte Torbogen mit Wappenornamenten,
Adelspaläste, zum Teil zu Hotels umgewandelt, die "Hauptstraße" der Corso
Umberto voller kleiner Läden mit allerlei bunten, verkitschten Dingen für die
Touristen: Sizilianischen "Carretas" in
allen Größen, buntbemalten Holzteilen dieser Karren, als
Supraporten geeignet, holzgeschnitzte Carabinieri oder Soldaten aus
Napoleonischer Zeit -
einige zieren den oberen Flur unseres Hauses
- normannische
Ritter mit Schild, Schwert und Schnurrbart und und und.
Inzwischen hatte das
Sturmgewölk den Gipfel des Ätna freigegeben: Der breite Schneekegel, von der
Morgensonne zart-rosa angehaucht, aus dem Nord-Ost-Krater eine dunkle, dünne
Rauchfahne aufsteigend, vom sanfter gewordenen Winde, der sich nach Süden
gedreht hatte, schräg nordwärts geweht und im Blau des Frühlingsmorgens
zerfließend. Eines Abends entströmte der "Montagna"
- die Einheimischen
nennen den Ätna nicht "Berg", sondern "Gebirge" -
eine breitere, helle Rauchwolke, die ziemlich rasch nach oben zog
und sich immer wieder erneuerte. Im abendlichen Dunkel erschien dann ein
rotglühender Lavastrom, der sich am Nordosthang bis ins Tal erstreckte
- ein neuer
Ausbruch des Vulkans! Erregender Anblick!
Mit unserem Hotel hatten wir
uns inzwischen angefreundet, nachdem wir in ein größeres Zimmer mit Riesenbalkon
und weitem Blick auf das Meer, die Küste und den Ätna umziehen konnten. Von dem
"Swimming Pool" des Hotels auf der Dachterrasse machte ich eifrigen Gebrauch
- zum
frierenden Erschauern der herumsitzenden Gäste.
Mein Wunsch, das Griechische Theater zu besichtigen, stieß auf Widerstand durch
einen Streik, der den Zugang verschloß. Aber ein freundlicher alter Mann mit
langem, wehendem Mantel zeigte mir eine Stelle am Eingang zum Hotel Timeo, an
der ich über eine Mauer klettern und ins Innere des Theaters
502 gelangen konnte. Es gelang mir zwar, die
mindestens mannshohe Mauer zu erklimmen, aber ich mußte danach noch eine zweite,
etwas niedrigere Mauer ersteigen, auf ihr entlang balancieren und in eine kleine
Schlucht hinunterspringen - es ging besser, als ich gedacht hatte. Der berühmte
Blick über die korinthischen Säulen und die Mauerreste hinweg auf die Bucht von
Giardini ist doch noch schöner als das, was die Abbildungen verheißen. Das Wort
"überwältigend" scheint nicht zu hoch gegriffen. Ein Erdbeben hatte die
Bühnenwand aus der Römischen Zeit zum Einsturz gebracht und das Meer und die
Küste "wahrhaft zur Theaterkulisse werden" lassen. Mein "Kampf mit der Mauer"
hatte sich gelohnt. Auch der beschwerliche Rückweg gelang mir, und der alte Mann
freute sich über klingende deutsche Münze, mit der ich ihm dankte. Er lobte die
Deutschen, schimpfte auf die Amerikaner, die Taormina im Kriege bombardiert
hätten, und versicherte mich der deutsch-italienischen. Freundschaft. In einem
kleinen Laden entdeckte ich eine Huldigung an Mussolini: "Caro Benito
..."!
Auf einer Fahrt mit dem Bus
nach Catania und Syrakus
äußerte sich unsere einheimische junge Reiseführerin über die soziale Misere des
Landes, die Ausbeutung der armen Landbevölkerung durch die Großgrundbesitzer,
die ihr die rechtmäßig zugeteilten Parzellen vorenthielten. Sie erwähnte
natürlich auch die Mafia, die
ursprünglich eine sozialrevolutionäre Selbsthilfeorganisation war: - "Ehrenwerte
Gesellschaft" -, im Laufe der Zeit mehr und mehr von Verbrechern durchsetzt
wurde und heute einen straff organisierten Trust bildet, der seine Macht dadurch
sichert, daß er alle, die von ihm abhängen oder gegen seine Interessen arbeiten,
in den Zustand permanenter Angst versetzt -
Prinzip und Methode jeder totalitären Diktatur. Richter,
die ein Mafia-Mitglied verurteilen wollen, finden auf ihrem Tisch im
Gerichtssaal einen Zettel vor, auf dem ihnen mit "Maßnahmen" gedroht wird. In
Palermo sind Staatsanwälte, Richter und andere Gegner der Mafia auf offener
Straße erschossen worden. Ein Mafiagegner sei angeschossen, ins Hospital
eingeliefert und dort von Mafiosi, die sich als Krankenpfleger verkleidet
hatten, getötet worden. DaniIo DoIcis Bemühungen, eine soziale Reform in
Italien ohne Anwendung von Gewalt anzubahnen - von Aldous HuxIey
literarisch unterstützt - seien gescheitert. Nicht verwunderlich, wenn man weiß,
daß die Polizei zum Teil mit der Mafia zusammenarbeitet
503 oder sie gewähren läßt, und daß sogar
Abgeordnete der "Democracia christiana" mit ihr in Verbindung stehen.
Die amerikanische Dependance der
Mafia ("Cosa nostra"), so belehrte uns die Fremdenführerin weiter, ist ein
großkapitalistischer Gangster-Trust, der zum Beispiel den Fulton-Fischmarkt in
New York beherrscht und die dortigen Händler um etwa 30 bis 40 Millionen Dollar
schröpft. Zwischen der Genovese-Familie und der Lucchese-Familie habe es bei dem
Streit um die Domäne dieses Marktes seit Oktober 1970 bereits 7 tödliche Opfer
gegeben.
Die Ostküste Siziliens, an der wir
entlang fuhren, ist dank des Lebensspenders Ätna (Wasser, düngersparende
Mineralien) wohlhabender als die West- und Südküste. Man sieht es an den
Häusern, die nicht ganz so ärmlich oder verfallen sind wie die zwischen Trapani
und Palermo. Aber die Altstadt von Catania
sieht auch fürchterlich aus. Das mag zum Teil allerdings daran liegen, daß
die Lavamassen sich durch den letzten schweren Ausbruch des Ätna im Jahre
1669 bis ans Meer gewälzt haben und dem Neubau von Häusern erhebliche
Widerstände bieten, weil sie sich nur schwer sprengen lassen. Vielleicht spricht
auch die Furcht vor neuen Ausbrüchen des unruhigen Vulkans mit.
Zu beiden Seiten der Straße stehen
Zitronen- und Orangenbäume mit besonders süßen und saftigen Früchten. Sogar
Bananenstauden sind auf Initiative Mussolinis an den Hängen des Ätna
angepflanzt worden und gedeihen gut, wenn auch nur mit kleinen Früchten. Hinter
Catania hören die Berge auf. Langer Sandstrand, im Sommer von den Catanesen
übervölkert. Dann Svrakus: Älteste
Kirche Siziliens, S. Giovanni, mit dem Altar, an dem der Apostel PauIus Gottesdienst gehalten haben
soll, Katakomben angeblich größer als die römischen, größtes griechisches
Theater mit häßlichen Industrie-Anlagen am Hafen im Hintergrund, dahinter die "Latomia
dei Paradiso" mit dem "Ohr des Dionysos" , einem riesigen Steinbruch, in dem
7000 Athener nach dem Landungsversuch unter Alkibiades und Demosthenes
eingepfercht waren. In ihrer Not deklamierten einige von ihnen Verse aus den
Tragödien des Aischylos, der seine "Perser" im Theater nebenan
uraufgeführt hatte, des
Sophokles und Euripides
-
und sie wurden von den sonst so harten
und grausamen Syrakusanern freigelassen, während die
Mehrzahl der griechischen Gefangenen den Hungertod erlitt.
504
Professor Andrea Avolio,
Archäologe und Kunsthistoriker aus Syrakus, führte uns, sachkundig und
humorvoll. An der Arethusa-Quelle gab
er uns ein Autogramm auf echten Papyros, das aus den dort wachsenden
Papyro-Stauden, den einzigen in Europa, verfertigt war. (Der ägyptische
Ursprung des Wortes "Paper" ist etymologisch nicht ganz gesichert, wie Kluge
in seinem von Mitzka erweiterten" Etymologischen Wörterbuch der deutschen
Sprache" bemerkt.) Herr Avolio (oder Avoglio) meinte seinen Namen
als den "Nicht-Wollenden" erklären zu können, weil das "a" Alpha privativum, die
Verneinung des "volere", des "Wollens" bedeute. Ich sagte ihm, er habe aber doch
etwas gewollt, und zwar habe er uns die Geschichte von Syrakus dargestellt, und
dies sei ihm, dem scheinbar Nicht-Wollenden vorzüglich gelungen. Sein Vorname
Andrea, so behauptete er, sei abgeleitet von "androgyn", dem "Mann, der die
Frauen liebt". "Nicht ganz", sagte ich, den "Androgynes" bedeute "Zwitter", ein
Wesen also, das Mann und Frau zugleich sei. Aber man habe nicht den Eindruck,
daß er dieser Kategorie zuzurechnen wäre. Wir lachten Beide, und als ich mich
als latros dekuvriert hatte, erzählte er mir ausführlich die Geschichte seines
Herzinfarktes.
Beim Mittagessen im "Ristorante
Minerva" gegenüber dem Dom und dem Erzbischöflichen Palais fiel ein deutscher
Zeitgenosse durch quengelndes Imponiergehabe unangenehm auf, beschwerte sich bei
dem Wirt, der dem Ansturm der "Touropa"-Touristen nicht ganz gewachsen schien,
über kalte Makkaroni und Fleisch statt Fisch, rieb sich danach triumphierend die
Hände und bewegte sein Haupt zackig in der Pose des Siegers. An der
Arethusa-Quelle hatte .er mir die Technik der Papierherstellung erklärt. Er
wisse das selbst noch besser als Professor Avolio, da er Papierfabrikant
sei!
Der Dom
ist in einen Athena-Tempel aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert
eingebaut. Die alten dorischen Säulentrommeln sind zum Teil durch Erdbeben
gegeneinander verschoben, aber nicht umgestürzt, da sie in der christlichen Zeit
durch Mauerwerk miteinander verbunden wurden.
Auf der Rückfahrt von Syrakus
Halt in Catania, der zweitgrößten
Stadt Siziliens mit dem Castello Ursino Friedrichs II. und einem
Barock-Dom mit der
Kapelle der Heiligen Agatha, der
Schutzpatronin der Stadt -
sie hatte sich einem
römischen Soldaten versagt und wurde dafür getötet -, mit
Pferdedroschken und einem Fischmarkt (darunter Tintenfische, Mollusken,
Quallen), der mir mit dem 505
Geschrei der Händler und den Gerüchen, die den Angeboten
entströmten, in Erinnerung geblieben ist. Catania hatte ursprünglich am Meer
gelegen, von der es durch den gewaltigen Lavastrom aus dem Ätna 1669 getrennt
wurde. Sein Wahrzeichen: Ein schwarzer Lava-Elefant, der einen Obelisken trägt.
Capri
Am 29. März frühmorgens von
Taormina mit Taxi zurück nach Catania, von dort Flug mit zweimotoriger
Propellermaschine am schneebedeckten Ätna-Massiv vorbei nach Neapel.
Vor der Landung am Flughafen Capodichino mußte -
zum Unbehagen Antonias
- eine tiefhängende
Nebeldecke durchstoßen werden. Es war kalt und regnete leicht. Auf dem Vesuv lag
Neuschnee. Damen trugen Pelze! Antonia hatte schon im Flugzeug eiskalte Füße
bekommen! Erst im Salon des Schiffes nach Capri konnten wir uns mit Hilfe eines
Kognaks zum Capuccino leicht anwärmen. Aber auf Deck war es fast winterlich
kalt. Ziemlich durchgefroren landeten wir nach 1 1/2 Stunden Seefahrt an der
Marina Grande auf Capri. Unser Winken mit dem "Airtours"-Heft und unser Ruf "Reginella"
- Name unseres
Hotelchens -
blieb ohne Resonanz. Entgegen der Zusicherung der
Airtours-Leitung war niemand am Hafen. Gepäckträger, Funicolare, Motorkarren,
Reginella (von Suschen Packett warm empfohlen), Zimmer in der Dependance,
hell, Balkon, Blick auf Meer und Küste, elektrisches Öfchen. Aufwärmender
Empfang durch die deutsche Frau des Besitzers Signore FaIco, lebhafte
Pykinka, Pianistin, mit Kaffee, Tee und Gas-Ofen. Ihr Ehemann Paolo pflegte
seine Gäste mit virtuosem Violinspiel zu erfreuen und sich auch als Koch zu
betätigen. Des Maestros Kunst, den Geigenbogen zu führen, übertraf, wie wir
feststellen mußten, seine Bemühungen um die Zubereitung schmackhafter Speisen
beträchtlich. Aber beide FaIcos waren liebenswerte Menschen und
entsprachen den Erwartungen, die Suschen in uns erweckt hatte, seitdem sie Gast
in der "Pensione Reginella" gewesen war. Auf der Visitenkarte hieß es
verheißungsvoll: Pomeriggio: Apfelküchen, Alla sera: Specialita capresi e iI
violino di Paolo Falco. Canta ..." Meine italienischen Sprachkenntnisse
vervollkommneten sich. Einmal sagte ich statt "Pomodoro con carne" ("Tomate mit
Fleisch"): "Pomeriggio con cane" ("Nachmittag mit Hund")!
506
Den Zauber Capris, die "magische"
Anziehungskraft dieses "kleinen Welttheaters im Mittelmeer" (Edwin Cerio)
auch nur andeuten zu wollen, wäre ein müßiger Versuch. Ich habe einmal zusammen
gezählt, wieviele bekannte, berühmte und weltberühmte Persönlichkeiten diesem
Zauber als" WahlCapresen" verfallen waren oder ihn zumindest gespürt haben
könnten: Von Caesar Augustus ,und Kaiser Tiberius bis Fran90ise Sag an bin ich
auf 69 Namen gekommen, und diese Zahl ließe sich erweitern. Einer fehlt in
meiner wie in jeder anderen Namensliste: Goethe! Der französische
Kauffahrer, dem er sich in Messina anvertraut hatte, geriet vor Capri in eine
Strömung, die das Schiff bei Windstille in Gefahr brachte, an der Felsenküse der
Insel zu zerschellen. In letzter Minute erhob sich ein leiser Wind, die Segel
konnten gesetzt werden, und, so berichtet Goethe: "Bald ließen wir jene
gefährliche Felseninsel hinter uns." Er hat sie nicht betreten können.
Was Capri für die Deutschen und für
die anderen Nationen bedeutet hat, sagt
Frau Claretta Wiedermann -
Cerio im Nachwort zu Edwin Cerios
geistvollem Capri-Buch: "Die Engländer
schufen sich hier ein Stück ,Old England', eine friedliche kleine Kolonie mit,
Gardenpartie'" , gelehrten Werken, Plumpudding und Bildern, auf denen auch die
entkleideten Caprimodelle `respectable' und britisch aussahen. Die
Franzosen gründeten die ,Ecole de Capnée',
eine ideale Zweigstelle des Prix de Rome, und jeder fand hier, was er sein ,Mon
Parnasse' nannte, ein Montmartre mittelmeerischer Prägung. Für die
Deutschen wurde Capri die ,deutsche
Perle des Mittelmeeres' ", und um sich von ihrer vielseitigen Tätigkeit zu
überzeugen, braucht man heute nur eine Bibliographie der Insel zu
durchblättern: Der größte Teil der wissenschaftlichen und schöngeistigen
Literatur über die Insel stammt von Deutschen. - Sie erforschten die Geologie,
Fauna, Flora, die Geschichte der Meteorologie, und fanden Inspiration für ihre
Dichtungen und Romane. Die Russen
gründeten unter Gorkis Aufsicht und Lenins Einfluß eine Schule für
die" Technik der Revolution". Moskau besitzt einen "Roten Platz", dafür kann
Capri das "Rote Haus" aufweisen, die Wiege der russischen Revolution. Da die
Insel gewissermaßen außerhalb aller Grenzen liegt, wurden die
Italiener als letzte auf sie aufmerksam
und beeilten sich erst dann, den anderen Ländern zu beweisen, daß Capri
schließlich rechtmäßig dem italienischen Nationalterritorium angehört...
Alle Eroberer der Insel merkten
bald, daß sie im Grunde die Eroberten waren.
Dies konnten wir von uns nicht sagen. Wir
versuchten die Insel in ihren vielfältigen Schönheiten zu "erobern", indem
wir sie erwanderten, und das ist
auf Capri möglich, ohne das Geräusch und den Geruch von Automobilen und zu
dieser frühen Jahreszeit auch noch ohne "Horden" von Touristen. Am Morgen
nach unserer Ankunft trafen wir auf einem langen Spaziergang zum "Arco
Naturale" nur zwei Deutsche, die wir schon vom Schiff her kannten. Der Weg
führte uns vorbei am hochgelegenen "Roten Haus" des Autors des grausigen
Kriegsgesanges "Die Haut", Curzio Malaparte (Pseudonym für Kurt
Suckert, den Sohn eines fahrenden Handelsmannes aus Sachsen), hinunter
zur unheimlichen "Grotta Matromania". In ihr soll Kaiser Tiberius
seinen Lieblingsknaben Hypatos dem Sonnengott Mithras geopfert haben.
Ferdinand Gregorovius (aus dem masurischen Neidenburg) hat auf dem
"zaubervollen Eiland" Capri einen ganzen Sommermonat verbracht und ihm in
seinen "Wanderungen in Italien" einen ganzen Abschnitt gewidmet. Er suchte
den Sonnenkult, der in dieser gen Osten gerichteten Grotte vollzogen wurde -
zahlreiche
Reliefs in ihrem Inneren bezeugen es
- als
Naturerlebnis nachzuempfinden: "... und wie aus ihrer Tiefe Helio aufsteigen
sieht und das Pupurglühen der Berge und des Meeres betrachtet, der wird hier
wahrlich zum Sonnenanbeter." Aber er spricht auch von dem "seltsamen
Kontrast des Fürchterlichen und Lieblichen", der Capri einen "heimlichen
Zauber" verleiht. Fürchterlich der Anblick der Insel vom Meere aus: "...
Capri stand vor uns (auf der Ruderfahrt in einer Barke von Sorrent aus),
groß und ernst, klippenstarr und felszackengepanzert, in der melancholischen
Wildheit seiner Berge und in der Schroffheit der steilen Kalkwände von roter
Farbe". Lieblich erschien Gregorovius die Insel in der "Fülle zaubervoller
Einsamkeit des Meeres", in der "seltenen Schönheit der FeIsformen, in dem
"heimlichen Zauber, mit dem die Berge, Klippen und grünen Täler den Sinn
umfangen".
Dieser heimliche Zauber hat auch eine
unheimliche Seite, und wir fühlten uns vom Hauch des Schauerlichen angeweht,
als wir bei einem anderen Spaziergange an den "Salto di Tiberio", den
"Sprung des Tiberius", gelangten, einen
schwindelerregend hoch über das Meer
ragenden Felsen. Von ihm ließ Tiberius wie Sueton berichtet,
seine Opfer hinabstürzen, nachdem sie zuvor 508
"lange und ausgesuchte Martern" erlitten hatten. Wenn sie nicht schon tot
waren, wurden sie unten von einem "Schwarm Matrosen" mit Segelstangen und
Rudern erschlagen. Dieser Tiberius, dieses menschliche Ungeheuer, ein
ausgesprochen schöner Mann mit einem geistvoll und edel geformten Kopf, wie
die Skulpturen im Vatikanischen Museum ihn zeigen, ein hochgebildeter,
vollendeter Diplomat, hat von seiner Villa auf Capri aus elf Jahre lang
- von 16
bis 27. n. Chr. - die Welt regiert und die Insel zu einem "prachtvollen
Lustgarten" umgestaltet, bis er bei einer kurzen Abwesenheit von seiner
Residenz erdrosselt wurde. Während seiner Regierungszeit wurde Jesus ans
Kreuz geschlagen. "Diese beiden Gestalten", schreibt Gregorovius, ,,hier im
Westen der greise Dämon Tiberius, der Beherrscher der Erde, der
Repräsentant der untergehenden heidnischen Welt und, als Ebenbild jenes
sittlichen Elends dort, im Osten, der junge ideale Mensch Jesus, an
das Kreuz geschlagen, aber
umringt von begeisterten Propheten eines neuen
Erdenfrühlings. Diese beiden
Gestalten stehen sich gegenüber wie Ahriman und Ormuzd,
der Gott des Lichts und der Finsternis."
In einer kleinen "Trattoria" neben dem grausigen
"Salto di Tiberio" wies ich bei Kaffee, Tee und frischem Apfelkuchen Antonia
darauf hin, wie günstig es doch für sie sei, keinen" Tiberius" zum Mann zu
haben. Wir genossen dann noch den beglückenden Blick auf das tief unter uns
liegende Meer,. die Halbinsel Sorrent und die Amalfitanische Küste. Um diesen
Genuß nicht zu trüben, unterließ ich die Bemerkung: einem Nachfolger jenes
schwerst-kriminellen Wüst- und Lüstlings, dem spätrömischen Kaiser Commodus
(etwa 189 n. Chr. ) - habe der nahegelegene "Faro" als Verbannungsort für seine
Gemahlin und seine Schwester gedient, die er hinrichten ließ. Die Ruinen der
berühmten "Villa Jovis", des eigentlichen Wohnsitzes des Tiberius,
erinnern übrigens daran, daß der Tyrann sich in ihr, wie Gregorovius nach
Sueton erwähnt, aus Furcht vor einer Verschwörung neun Monate lang
eingeschlossen hatte. Auf dem höchsten Punkt der Villa Jovis steht jetzt eine
Madonna, die für alle Schiffe und Seeleute betet.
Unterhalb der Villa Jovis hatte der französische
Lyriker Baron Adelswaer de Fersen seine später "skandalumwitterte" "Villa
Lysis" erbaut. Die homophilen Aktivitäten des Barons haben ihren literarischen
Niederschlag in Roger Peyrefittes "Exil in Capri" gefunden. Während
Gerhart Hauptmann 509 zu den glühendsten
Bewunderern Capris zählte, konnte RiIke sich mit der Insel nicht recht
anfreunden, als er von Dezember 1906 bis Mai 1907 und noch einmal im Frühjahr
1908 Gast Alice Faehndrichs, geb. Freiin von Nordeck zur Rabenau,
Schwester der Gräfin Schwerin, in der "Villa Discopoli" war. Über "zuviel
Berge auf zu engem Raum" klagte er, und "überall Meer", (wie Inseln das nun
einmal an sich haben). Die Halbengländerin Alice Faehndrich hatte ihm
täglich die Vorübersetzung eines der "Sonetts from the Portuguese" von Elizabeth
Barrett- Browning gegeben, nach der seine Übertragung der
"Portugiesischen Sonette" entstand.
Zwei unbehagliche Erinnerungen knüpfen sich an den
Capri-Aufenthalt von Oscar WiIde und Friedrich Alfred Krupp, den
"Kanonenkönig": WiIde war nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus von
Reading, von der Gesellschaft geächtet, nach Capri geflohen. Als er das große
Hotel "Quisisana" betrat, erhoben sich alle seine Landsleute von den Tischen.
"Sie gönnen mir nicht einmal das Essen", sagte er und reiste ab. Bald danach
starb er. Krupp wurde - zu Unrecht? - des gleichen "Lasters" wie WiIde
bezichtigt, wurde erpreßt, verließ. die Insel und starb kurz darauf in der
Heimat. Alle, die Capri lieben, wie er es geliebt hat, verdanken ihm ein
einzigartiges Vermächtnis: einen Weg, den er in die -Steilwände vom Parco
Augusto zur Küste hinab in zahlreichen, stufenlosen Serpentinen sprengen ließ,
die "Via Krupp"! Es klingt ein wenig überschwenglich, wenn Sigmund G raff in
seinem Capri-Buch ("Insel der Sehnsucht") vom" Traumhaften,
Magisch-Verzauberten" dieses Weges spricht. Aber wir selbst konnten uns auch nur
schwer lösen von dem Zauber der von Kehre zu Kehre wechselnden Blicke, die der
Weg dem Wanderer schenkt. Auf dem Rückweg zur Marina Piccola begrüßt uns ein
kleiner Capri-Junge fröhlich mit "Heil Hitler".
Am Palmsonntag, dem 4. April, vormittags malerische
"Benedictione" auf der liebenswert-winzigen "Piazza" von Capri: Ein Zug von
Kindern mit Sträußchen aus Palmen blättern, in die Brezeln und gezuckerte
Mandeln eingeflochten sind. Gottesdienst in der Kirche San Stefano. Der Priester
verliest den Bibeltext über den Einzug Christi in Jerusalem.
Nach Aprilwetter mit häufigem Wechsel von
Sonne, Wolken, Regen, Sturm am Morgen des 5. -April herrlicher Sonnenschein,
dann dichter Nebel, der sich aber bald wieder lichtet. Hinauf nach Anacapri
zur" Villa San Micheie" Axel 510 Munthes!
Der schwedische Arzt, von Zeitgenossen als mürrischer Sonderling geschildert,
später erblindet, beschreibt in seinem berühmten, in 30 Sprachen übersetzten
Buch, wie er die Fundamente für die großen Bögen der Loggia seines künftigen
Hauses selbst ausgehoben habe. "Seite an Seite mit mir schaufelten Mastro Nicola
und seine drei Söhne, während ein halbes Dutzend Mädchen mit lachenden Augen...
die Erde in flachen Körben auf ihren Köpfen davontrugen." Das Innere des zur
legendären Touristen-Attraktion gewordenen Hauses
- sein Erbauer hat
es nie bewohnt - ist ein kleines
Museum, angefüllt, aber nicht überladen mit antiken Funden, Skulpturen,
Säulen-Kapitelen, Friesen, Ornamenten, dazwischen leider auch ein paar
Rokokomöbel. Das Schönste am "Haus von San Michele" ist der Blick von der
Terrasse. Johann Gottfried Herder hat von ihm
- zitiert nach
Sigmund Graff -
gesagt: "Luft, Himmel, Berge, Meer und Erde sind ein
Zauberanblick, in den man wie versunken ist, so daß man darüber kein Wort hat."
Und Graff fragt, ob es wirklich nur die drohende Erblindung, das
gefürchtete "Zuviel an Licht" war, was Munthe davon abgehalten hat, hier
auch nur eine einzige Nacht zu verbringen, oder ob er sich scheute, angesichts
des überwältigenden Blickes dort zu leben, ohne dessen Schönheit zu profanieren?
Munthes hatte es gewagt, nicht nur von
gefährlichen Krankheiten, sondern auch - ein Vorläufer Hackethals
- von gefährlichen
Ärzten zu sprechen. Umsomehr liebte er die Pflanzen und Tiere, namentlich die
Hunde. Auf die Schwelle des kleinen Friedhofes, in dem er seine Hunde begrub,
ließ er die Worte setzen: "Cave hominem!", "Der Hund kann nichts verbergen, kann
nicht lügen, denn -
er kann nicht sprechen". Ihm fehlt das Ausdrucksmittel, von dem
Talleyrand meinte, es sei dazu da, die Gedanken der Menschen zu verbergen
- eben die Sprache.
Weiter heißt es in meinem Reisetagebuch
"Capri": Dienstag, 6. April: Der Tag beginnt mit einem gewaltigen Donnerschlag
- Erinnerung
an. ein frühkindliches Erlebnis: Ich stehe auf dem Balkon der elterlichen
Wohnung in Widminnen. Plötzlich kracht die Tür zu, gleichzeitig, anscheinend aus
heiterem Himmel, ein heller Blitz und greller Donnerschlag. Der Schreck hat sich
mir tief eingeprägt und mich bis heute nicht ganz verlassen. Immer bei Gewitter
bin ich nicht frei von Angst, die früher auch mit dem Gefühl: Jetzt straft dich.
Gott! einherging.. Einer meiner angstneurotischen Patienten
- er fürchtete, bei
Gewitter einen 511 Herzinfarkt zu erleiden - fuhr
bei der Ankündigung eines Gewitters im Wetterbericht des Rundfunks sofort zu mir
in die Klinik, ich setzte mich zu ihm, und wir überstanden Blitz und Donner
gemeinsam fast ohne Angst. Später erlag er tatsächlich einem Herzinfarkt bei
Gewitter -
warum ich nicht bei ihm sein konnte, weiß ich nicht mehr.
Nach dem Gewitter auf Capri tagsüber Sonne. Keine
Post aus Deutschland. Morgen Generalstreik in Italien. Nachmittags zur Piazetta.
Abends zu den Giardini di Augusto und zur Villa Krupp. Abends Pommes frites,
von Maestro Falco persönlich zubereitet. Dazu hatte er eine vorzügliche "Zuppa
di Pesce"" kreiert. Ein weißhaarig-schwarzbärtiger Professor der Altphilologie
dozierte pausenlos monologisch über "Glauben und Wissen", "Anthropomorphie",
"Ontologie". und andere aufwendige Themen, ohne daß es zu einer Diskussion
kommen konnte.
Donnerstag, 8. April: (Gründonnerstag): In der
Mittagssonne 37 Grad! "Exodus" von Leon Uris zu Ende gelesen. Seit langem
hat mich ein Buch nicht so gefesselt und ergriffen wie dieses große Epos über
den zähen und leidensreichen Kampf der Israeli um den Wiedergewinn der
angestammten Heimat ihrer Väter und um einen neuen, eigenen Staat für ihren
Zusammenschluß als Nation. (Die Begegnung mit jüdischen Menschen und die
Auseinandersetzung mit dem "Judentum" - wenn dieser Begriff erlaubt ist
-. Beides hat mein
ganzes Leben begleitet.)
Tagsüber wolkenloser Himmel. Auf der Piazetta
eine Gruppe jugendlicher Neger, fein geschnittene, intelligente Gesichter unter
breitkrempigen Hüten und riesigen Sonnenbrillen, einige mit hochgekämmten Haaren
("Black Panthers"?) Alle heiter, ausgelassen
- einer begrüßt
mich mit Handschlag und freundlichem "Ciao, Ciao!", von den Touristen als
exotische Rarität neugierig bestaunt, photographiert, gefilmt. Hinauf nach
Anacapri-Caprile. Auf einem der schönsten Wege
- fast das Einzige,
was Rilke an Capri lobte -
zum "Belvedere Migliare: überraschender Blick tief hinauf
auf düstere Felsstürze. Oberhalb völlig anderer Blick auf die lieblichere
Südküste mit den berühmten Faraglioni-Felsen. Unser Versuch, zum "Torre Materita"
zu gelangen, in dem Axel Munthe gewohnt hat, scheitert an
Stacheldrahtzäunen. Zurück auf gleichem Wege, vorbei an Zypressen, Efeumauern,
Zitronenbäumen mit vielen reifen Früchten, an blühenden Levkojen, Wolfsmilch,
umweht von würziger, staubfreier Luft. Hier ein 512
Häuschen besitzen! Herr von Stass, Dr. Mechows Freund,
Schauspieler, Theater-Intendant, hat eines ganz in der Nähe. Gegen Abend noch
einmal zur Villa San Micheie. Halsbrecherische Rückfahrt mit dem Bus.
Freitag, 9. April (Karfreitag): Hinunter zur
Marina Piccola. Bewegte See (Scirocco). Immer noch keine Nachricht aus IIten und
Bissendorf. Keine deutschen Zeitungen. Auf der Piazetta wie stets viel Leben,
darunter die uns nun schon wohlbekannten Originale: Ein alter Berliner Jude,
taubstumm, mit roter Zipfelmütze, rotem Schal, roter Tragetasche, ein langer,
hagerer Norweger mit schwarzer Baskenmütze und roter Troddel, kleinem
Rucksäckchen, eine Mulattin in Hosen, schwingend-gleitenden Schrittes
einherpromenierend. Abends Prozession ("Via cruds meditata"): Voran ein kleiner
Junge mit der italienischen Grün-weiß-rot-Fahne, dahinter die Chorknaben in
weißen, rotbesäumten Hemden, in den Händen Laternchen mit kleinen Fackeln an
langen Stäben, dann der Priester mit großem, schwarzen Holzkreuz (ohne Corpus).
Aus einem Lautsprecherwagen ertönen die Texte zu den einzelnen Kreuzwegstationen
in drei Sprachen. Zum Schluß lautstarke, beschwörend wirkende Predigt des
Geistlichen; lebhaft applaudiert, danach eine weitere Predigt eines anderen
Priesters, ohne Applaus! Wir flüchten vor dem kühlen Abendwind in die
Pfarrkirche San Stefano. Stille Einkehr vor den Lichtern vieler Kerzen an einem
Seitenaltar.
Samstag, 10. April: Morgens Nieselregen, kühl,
Heizung defekt. Kein warmes Wasser - . Auf der Piazetta gedrängte Menschenfülle,
vor-österliches Treiben, meist Italiener vom Festland mit "Kind und Kegel".
Dazwischen eine Gammlergruppe mit Gitarre, Bärten und Struwwelpeter-Frisuren,
zum Teil offensichtlich im Drogenrausch.
Durch Ausbleiben jeder Post aus Deutschland
beunruhigt, vorzeitige Heimkehr erwogen. Abends Maestro FaIco in großer
Form, von mir mit Cardiaziol- Traubenzucker tonisiert, unermüdlich auf seiner
"Zaubergeige" italienische, deutsche, Wiener, ungarische Weisen fiedelnd,
darunter "Ein Männlein steht im Walde" mit eigenen Variationen verziert, zum
Schluß Brahms "Guten Abend, gute Nacht ..." mit selbstkomponierter
Kadenz. Der bärtige Altphilologe bringt dazu noch rhetorischen Pfeffer in den
Abend, wirkt dann aber plötzlich müde, abgefallen, erschlafft und melancholisch.
Welchen inneren Kummer mag er wohl mit seiner Ausgelassenheit überspielen?
513 Edwin
Cerios "Capri -
ein kleines Welttheater im Mittelmeer" ist viel mehr als eine
historiographische Dokumentation:
- Ein Buch voller geistreicher Formulierungen und
anekdotischer Skizzen, belehrend und fesselnd zugleich, Zeugnis feinsten
humanistischen Geistes, weit über dem literarischen Niveau Roger Peyrefittes
"Exil in Capri" stehend, das nicht uninteressant, aber dann doch langweilig und
ermüdend in der Darstellung gepflegter Decadence und homophiler Hedonismen des
Barons AdeIswaerd von Fersen auf mich wirkt. Aber auch dieser Tupfer
sollte in der vielfarbigen Palette "Capri" nicht fehlen.
Sonntag, 11. April: (Ostersonntag): Sonnenschein,
warm, windstill. Zum Frühstück je ein rot und blau bemaltes Osterei und ein
freundliches "Buona Pasqua!" der guten "Conquettina" Elisabeth FaIco.
Osterspaziergang zum Castello Castiglione. Am Campanile läuten die Glocken.
Montag, 12. April: ("Pasquetta" = "Österchen"):
Herrlicher warmer Sonnentag. Der zweite Teil des "Exil in Capri" ist viel
lebendiger als der erste, namentlich für den Kenner und Liebhaber der Insel, in
der tragikomischen Geschichte eines morbiden, mit Hilfe von Opium und Kokain
zugrundegehenden Ästheten gleichsam ein Abgesang an ein" verwesendes
Geschlecht", wie TrakI es
nannte, das reif für den Ersten Weltkrieg war.
Dienstag, 13. April: Endlich Post aus Deutschland,
morgens von unserem kleinen Capresischen Helfer mit einem Blümchen in der Hand
überreicht. Abends spielt Maestro FaIco nicht auf der Zaubergeige,
sondern erfreut uns durch harmlose Zauberkunststückecen mit zwei Taschentüchern.
Mittwoch, 14. April: Ich alleine auf Rundfahrt um
die Insel auf kleinem, gewaltig schaukelndem Motorboot zur "Blauen Grotte". Die
See geht so hoch, daß eine Einfahrt durch die niedrige Öffnung der Grotte nicht
möglich ist. Kein schmerzlicher Verzicht, da wir das "Blaue Wunder" schon bei
unserer ersten Italienreise erlebt und gebührend bewundert hatten. Dieses
einzigartige Naturphänomen war im Jahre 1826 von dem aus Schlesien stammenden
Malerdichter August Kopisch und seinem Heidelberger
Kollegen Ernst Fries "entdeckt", richtiger wiederentdeckt worden: Ein
capresischer Fischer Angelo Ferraro und der Notar Don Pagone hatten
ihnen von einer geheimnisvollen Grotte berichtet, in die man nur durch eine
niedrige Öffnung vom Meer aus gelangen könne. Kopischs schwamm hinein und
erschrak heftig. Denn 514 der Fischer hatte auf
einer kleinen schwimmenden Kufe eine brennende Pechfackel in die Grotte
geschoben, die das Wasser "gleich blauen Flammen entzündeten Weingeistes
aufleuchten ließ". "Entzücken durchzitterte mich...", schreibt er, und "... Wenn
nichts in der Grotte ist als das himmlische Wasser, bleibt sie dennoch ein
Wunder der Welt..." Es war die Zeit der Romantik mit ihrem Sehnsuchts-Sinnbild
der "Blauen Blume", die das Entzücken der frühen Besucher der Grotte gesteigert
haben mag. Hans Christian Andersen und Ferdinand Grwgorovius sahen sich
durch ihr "himmlisches Azurblau" in eine Märchen- und Feenwelt versetzt. Für
Beide hatte sie etwas eigentümlich-unheimlich Beklemmendes und zugleich Andacht
und Innenschau Erweckenes. Der junge Felix Mendelssohn-Bartholdy
schilderte ihr Blau als "das
blendendste, das ich je gesehen habe, ohne Schatten, ohne Dunkelheiten,
wie eine Scheibe des hellsten Milchglases..." Gerhart
Hauptmann schließlich fragte (als Spätromantiker?): "Kann es etwas geben,
das auf eine abgeschlossene Welt des märchenhaft Schönen besser vorbereitet?"
Nur André Gide mochte sie nicht, die "eiskalt getönten Strahlungen", die
er "als nicht einmal himmelblau, sondern nur künstlich-blau empfand. Ich hatte
Eile, um wieder herauszukommen...".
Dennoch: Die "Grotta Azzurra" ist zur
unüberbietbaren Attraktion der Insel geworden, und die Capresen "haben es
verstanden, Geld aus ihr zu machen".
Ihr erster Nutznießer war Angelo Ferraro: Er
erhielt das Vorrecht, die grottensüchtigen Fremden dreimal so oft wie
die anderen Fischer zu "seiner" Grotte zu fahren, für die man erst ihrem
niedrigen Eingang entsprechende Minibarken bauen mußte, da jede Erweiterung der
Öffnung die Lichtverhältnisse verändert und damit die blaue Strahlung gefährdet
oder zum Versiegen gebracht hätte. Zum Dank für sein Verdienst, der Heimatinsel
"zum Bewußtsein gebracht zu haben, daß Millionen über Millionen als ungenutztes
Naturgeschenk in ihrem Felsenschloß ruhten", wurde dem braven Angelo vom
Innenminister in Rom eine Altersrente von monatlich 30 Carlini gewährt",
berichtet Sigmund Graff in seinem entzückenden Büchlein "Capri
- Insel der
Sehnsucht".
An unserem letzten Capritag besuchte ich den
Internationalen Friedhof mit den Gräbern von Adelswaerd de Fersen, Jakob
von Uexküll, Wredford, Norman Douglas und anderen, die dazu
beigetragen haben, daß die Insel "ein kleines Welttheater im Mittelmeer" wurde.
515 Den
Abschiedsabend begingen wir in beschwingter Stimmung inmitten einer größeren
Gruppe deutscher Touristen aus Essen, dem Ruhrgebiet und dem Münsterland. Ein
Lehrer sang mit schöner Baßbaritonstimme Lieder von Brahms und Schubert,
Maestro Paolo gab sein Bestes auf der Zaubergeige, eine sehr voluminöse Lehrerin
war niedlich beschlürft, der Altphilologe wieder in großer Form. Am nächsten
Morgen lasen wir noch die Dankeswidmungen an das Reginella-Ehepaar FaIco,
die die dort in Sicherheit gebrachten Angehörigen der Widerstandskämpfer vom 20.
Juli 1944 hinterlassen hatten. Der kleine Benito - ich hatte ihn gestern
untersucht und beraten - brachte uns zum Schiff, und die
"Insel der Sehnsucht" entschwand unseren Blicken
- für immer!
Beinahe hätte ich vergessen, zu erzählen, daß der
Matrose, der uns durch die niedrige Felsöffnung in die Blaue Grotte
ruderte, meine Antonia in dem
schaukelnden Boot mit beiden Händen am Busen umgriff, um sie
festzuhalten
und niederzudrücken. Als er einen ziemlich
hohen Preis für seine Hilfeleistung forderte, fragte ich leise: "Für den
Busengriff will er noch bezahlt haben?!"
Aus meinem Reisetagebuch "KRETA"
(6. bis 16. August 1979)
"Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht
scheint.
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle.
Ich glaube an
Gott, auch wenn er schweigt."
Mit dem Segen dieses alten jüdischen Wortes, das wir
unserem Freund Richard Jeremy Manville verdanken, gehe ich auf diese seit
langem ersehnte Reise. Antonia bringt mich, von Richard begleitet, trotz
Übermüdung nach schlafloser Nacht zum Flughafen Langenhagen. Kurzer
Abschied. Mit der
B721
nach Frankfurt, von dort mit Lufthansa nach Athen.
Als wir über dem Ägäischen Meer schweben, lassen mich, den Nachkommen von
Kapitänen (und Seeräubern?), weiße Schaumkrönchen auf den blauen Wogen hoffen,
daß die Schiffsfahrt auf der "Aphrodite" bewegt sein werden. Ich liebe das Meer
nicht als großen "Teich". In Athen schon morgens 32 Grad! Umständliche
Paßkontrolle und Gepäckabfertigung. Die Uhr muß um zwei Stunden, auf
osteuropäische 516 Zeit, vorgestellt werden. Elias
Romanos empfängt mich mit Tochter Christina und deutschem Schwager Helmut
(aus Ehlershausen bei Celle). Mit seinem Wagen am Meer entlang zum
Cap Sounion, das wir auf unserer
ersten "Klassischen Hellasfahrt" nicht hatten sehen können. Zu beiden Seiten der
Autostraße ein Appartment-Haus neben dem anderen, Diskotheken, Bars und andere
Amerikanismen. Elias sagt, sie seien "wie Pilze aus der Erde geschossen". Armer
Henry MiIIer! Was würde er
sagen, der einmal gehofft hatte, Griechenland könne nie amerikanisiert werden!
Diese bezaubernde Küste, die in Licht getauchten Inseln, was hat der
Touristen-Boom aus ihnen gemacht! Ich versuche ihn mir wegzudenken, um noch
einen schwachen Abglanz der "Lichttaufe" zu empfinden, die Goethe
erlebte, als er Palermo erblickte und im April 1787 zum dort begonnenen
Drama "Nausikaa" die Verse schrieb: "Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer,
Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken..." Fast wolkenlos ist auch der Himmel
heute. Wir sind am Cap Sounion: Der Poseidontempel mit seinen
hell-bräunlichen Säulen, hoch über das tiefblaue Meer ragend - für mich die
erste Erfüllung eines alten Traumes, den die Touristenhorden rasch zerrinnen
lassen, die von aufeinander folgenden Bus-Karawanen ausgeschüttet werden und
sich um die ehrwürdig-stummen Tempelsäulen drängen. Was singt HöIderIin
in der Ode "Der Neckar"? "... Auch möchte' ich Bei Sunium oft
landen, den stummen Pfad Nach deinen Säulen fragen, Olympion! Noch eh' der
Sturmwind und das Alter Hin in den Schutt der Athenertempel und ihrer
Gottesbilder auch dich begräbt. Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der
Welt, Die nicht mehr ist.“
Zurück nach Piräus! Elias besorgt die
Polizeistempel für meinen Reisepaß, ohne die ich nicht auf das Schiff darf. Er
kommt und kommt nicht zurück. Die Abfahrtszeit der "Aphrodite", neben der ich am
Pier warte, rückt bedrohlich näher. Ich überlege, ob ich mit einem Fährschiff,
das direkt nach Chaniá geht, fahren soll. Aber ich brauche ja den Paß, mit dem
Elias losgezogen ist.
Endlich erscheint er mit Paß und Stempeln.
Kurzer Abschied. Obwohl ich eine Einzelkabine gebucht und bezahlt habe, finde
ich in der Kabine "Siphnos" einen Franzosen vor. Nachfrage beim Obersteward:
"Leider keine Einzelkabine mehr frei!" Nach einigem Hin und Her und Einschaltung
einer nicht sehr freundlichen deutschen Reisebegleiterin, die für eine
Reisegruppe zuständig ist - Nachteil
des Einzelreisenden! -, wird mir eine Einzelkabine für
morgen Nacht zugesagt. 517
Abendessen im Schiffsrestaurant "Lucullus", dessen
Speisenkarte seinem verheißungsvollen Namen nur knappe Ehre macht. An meinem
Tisch mehrere Italiener, die in Ancona zugestiegen waren und das Schiff mit
lautstarkem Temperament beleben. Abends lange allein auf dem Bootsdeck, auf das
sanft wogende Meer und den dunklen Himmel geschaut, dankbar für das Glück dieser
Reise.
Mein französischer Kabinenpartner erweist sich als
freundlicher Mann, anscheinend frei von nationalistischen
Ressentiments" Vous êtes un Humaniste!", meint er, als er die Bücher auf meinem
Nachttischchen sieht. "Un peut!", erwidere ich in gespielter Bescheidenheit.
Nach Austausch weiterer Höflichkeitsfloskeln und wechselseitigem "Bonne nuit!"
verholen wir uns -
wie der Seemann sagt
- in unsere Kojen.
Mit einer halben Tablette Adumbran schlafe ich leidlich bei kaum bemerkbarer
Dünung.
1. August: Sonnenhimmel ohne Wolken. Morgens Landung
in Bodrum (Türkei), dem antiken Halikarnassos. Damals dorische
Kolonie, wichtiges Handelszentrum im Bereiche des Südlaufes des Maeander
(Maiandros), dessen winkeliger Verlauf dem Ornament den Namen gegeben hat. Die
Ureinwohner dieser Küstenlandschaft, die Karer, galten als stumpfsinnig
und waren die am geringsten eingeschätzten Sklaven. Erst unter persischer
Herrschaft nahmen sie griechische Kultur an. Königin Artemisia
kämpfte als Großadmiral (!) mit fünf Schiffen
in der Flotte des Xerxes bei Salamis mit und wurde von ihm für ihre
Tapferkeit ausgezeichnet. Bei einem Aufstand gegen ihren Nachfolger, den
Tyrannen Lygdaris, mußte Herodot fliehen, kehrte zu dessen Vertreibung
zurück, wanderte aber wegen der Parteienkämpfe endgültig aus und verbrachte
seine späteren Jahre in einer von Perikles gegründeten Kolonie in
Unteritalien. Herodot stammte aus Halikarnassos und sammelte "mit
echt jonischer Wißbegier" auf seinen ausgedehnten Reisen (Persien, Ägypten,
Afrika), die ihn auch mehrfach nach Athen führten, historisches und
ethnographisches Material, dessen Bearbeitung ihn zum Vater der
Geschichtsschreibung werden ließ. Artemisia die Zweite erbaute ihrem
verstorbenen Mann (der ihr Bruder war!), dem König Mau solos, ein monumentales
Grabmal, das nach ihrem Tode von berühmten Baumeistern und Bildhauern (Skopas)
vollendet wurde: Das Mausolaion von Halikarnassos wurde eines der sieben
Weltwunder. Inzwischen 518 ist es den Weg alles
Irdischen gegangen, und von dem historischen Ursprung
des Wortes "Mausoleum" sind nur klägliche Trümmer übriggeblieben...
Ich habe meine Reise unter den Schutz des
Hermes und der Aphrodite gestellt: Hermes, nicht
weil er der Schutzpatron der Diebe
war, sondern als Hüter der Wege,
dem die Reisenden sich anvertrauen. Zu seinen vielfältigen Bedeutungen gehörte
auch die des Mittlers zwischen den Lebenden und den Toten. Der "chthonische
Hermes" geleitet die Seelen der Verstorbenen in das Totenreich. Karl Kerényi
hat in der Gestalt des Hermes die mythische Verkörperung des Zwischenreiches
zwischen Leben und Tod gesehen. Dieses "Hermetische" trat ihm in Thomas
Manns "Zauberberg" und im "Josephs“-Roman entgegen, deren
religionsgeschichtliche Bedeutung er in seinem Briefwechsel mit dem "Zauberer"
gewürdigt hat. In der Figur des ihm "so tief sympathischen Herrn Settembrini"
sah Kerényi die Situation der
Todesnähe
"aus einer humanistischen Haltung zum Tode selbst - ein Thema, in dem Thomas
Mann sich "mit einer solchen Sicherheit, Scharfsicht und Präzision bewegte
..., wie kein Gelehrter, der dieses Gebiet je in Angriff genommen hatte".
Kerényi war von dem "hermetischen",
antikisierend-mythologischen Gehalt der beiden Werke so fasziniert, daß er ihren
Schöpfer zu dessen 60. Geburtstag einen "Doctor Hermeticus" nannte. Er ging in
seinem ,Briefgespräch mit Thomas Mann so weit, daß er feststellen dürfe,
mit dem Begriff des “Hermetischen“
sei "die Herrschaft der in die europäische Geistesgeschichte von Nietzsche
eingeführten dualistischen Formel
- hie
das Apollinische,
hie das Dionysische
- gebrochen." Als Drittes trete das „Hermetische" hinzu,
das nicht mit Hermetik im gnostischen oder alchymistischen Sinn verwechselt
werden dürfe, sondern antik-mythologisch zu verstehen sei.
Ich bin zu Kerényis Auffassung vom Sinn des Hermetischen abgeschweift, weil ich
nach meiner ersten Kretareise das "Gespräch in Briefen" zwischen ihm und Thomas
Man n noch einmal gelesen habe, und nun erst, vom "leibhaftigen" Erleben des
Geistes der griechischen Antike erfüllt, ganz verstehen konnte. Es ist nicht
übertrieben, wenn dieser Briefwechsel zu den "seltenen Glücksfällen der
europäischen Geistesgeschichte" gezählt wird.
Aphrodite, die aus dem Schaum (aphros)
Aufgetauchte (dýte), aus dem Meere Geborene, war meine
Schutzpatronin, weil meine Liebe zum Meer etwas "Aphroditisches" anzudeuten
schien, und vielleicht war es kein Zufall, daß
519 unser Herr
Genth vom Hannoverschen Hapag-Lloyd-Reisebüro für mich eine Fahrt mit dem
griechischen Schiff namens "Aphrodite" gebucht hatte.
Ich wurde auch bald an die Zusammengehörigkeit von
Hermes und Aphrodite erinnert. Denn in der Umgebung von
Bodrum-Halikarnassos, in Bardakci (Salmacis) Kyö, lebte noch der
Mythos vom Sohn der beiden Götter, dem Hermaphroditos: Er war ein
wunderschöner Knabe, in den sich die Quellnymphe Salmakis beim
Blumenpflücken glühend verliebte. Er aber, ein scheuer Jüngling, versagte sich
ihr. Sie versteckte sich hinter einem Gebüsch. Er glaubte sich unbeobachtet,
entledigte sich seiner Kleider und begann in dem glasklaren Wasser des Sees, den
die Nymphe bewohnte, zu schwimmen. Salmakis konnte sich nicht länger
beerrschen, sprang ihm nach, umarmte ihn und betete zu den Göttern, sie mögen
sie beide zusammenfügen zu einem
Körper. Die Götter erhörten sie und schufen so ein neues Geschöpf, einen
Körper aus Weib und Mann. So erzählt es uns 0vid in den Metamorphosen IV,
285-388.
Heute ist von dem mythologischen, dichterisch
liebenswerten Ursprung des Wortes Hermaphroditos nur noch seine
zoologische und biologisch-medizinische Bedeutung als "Zwitterbildung" oder
"Intersex" übrig geblieben.
In dem kleinen archäologischen Museum in Bodrum
sind Amphoren, Statuetten und ein Relief aus dem alten "Mausoleum" zu sehen. Die
meisten Stücke aus dem Grabmal des Königs Mausolos befinden sich im Britischen
Museum in London.
Bei glühender Sonnenhitze klettere ich auf die
dorische Akropolis, auf der die Kreuzritter im 15. Jahrhundert, zum Teil aus
Resten des alten Mausolaion, eine Burg erbaut hatten. Die Wehrtürme und Mauern
sind erhalten geblieben und beherrschen das Stadtbild von Bodrum. Jede
Nation hatte ihren eigenen Turm - alle gemeinsam in der Verteidigung gegen die
Türken..
Unten am Hafen stehen Kamele bereit, auf denen man
gegen Entgelt ein bißchen herumreiten kann. Dicke Touristen-Mammis werden auf
die armen Kamele gewuchtet, um sich photographieren zu lassen - ein Anblick
köstlicher Komik und ein Grund, auf den Kamelritt zu verzichten.
Im Bazar schlendere ich herum, kaufe ein Büchlein
über Halikarnassos und eine Ansichtskarte, um an Antonia zu schreiben (in
Erinnerung an unseren Türkeibesuch bei Susanne und Wilbern in Izmir vor 10
Jahren).
520 Einschiffung
zur "Aphrodite". Weiterfahrt bei - leider - ruhiger See nach Rhodos. Dort nicht
ausgestiegen, abgeschreckt durch ganze Schwaden von Touristen, die sich über die
Insel ergießen. Rhodos hat sich, seitdem wir - 1959
- dort waren, erschreckend verändert. In der Nähe des Hotels "Kairo Palace" , in
dem wir damals wohnten, sind inzwischen greuliche Hotel-Silos entstanden. Die
Ruhe, die wir nach der anstrengenden "Klassischen Hellasfahrt" genossen hatten,
scheint dahin zu sein. Nichts würde uns wieder nach Rhodos ziehen. Während die
meisten Passagiere aussteigen, bleibe ich an Bord und mache es mir gemütlich,
kühle mich mit einem Bierchen, bade mehrmals
- als einziger
- im
Swimming-Pool und stimme mich mit Hilfe meiner drei Bücher: von Hanni
Guanella, Robin Bryans und Richard Speich auf Kreta ein. (Das
schöne Kreta-Buch von Erhart Kästner habe ich erst später gelesen):
Der Obersteward der "Aphrodite" hatte mich für 16
Uhr zu sich bestellt, um mir eine Einzelkabine zu verschaffen. Aber er war nicht
anwesend. Auf meine Frage an die etwas nervös wirkende Sekretärin, wann er wohl
zu sprechen sei, antwortete sie: "Er schläft jetzt!" Als ich wage, sie zu
fragen, wann er wohl ausgeschlafen haben könnte, stellte sie, leicht
ungehalten, die Gegenfrage: "Soll ich ihn vielleicht wecken?" Darauf ich: "Bitte
nicht! Ich gönne ihm seinen wohlverdienten Nachmittagsschlaf!" Drei Stunden
nach diesem Dialog, um 19 Uhr, war der Obersteward so freundlich, einen
Untersteward anzuweisen, mich in die Einzelkabine "Spetsos" zu führen und mein
Gepäck dorthin zu bringen, was ich ihm mit einem angemessenen Bakschisch dankte.
Danach "lukullisches" Abendessen. Nachtfahrt - endlich - etwas unruhig, mäßig
schaukelnd mit harten WeIlenstößen gegen den eisernen Leib der "Aphrodite". Mit
einer halben Tablette Adumbran leidlich geschlafen. Um 6 Uhr morgens erwacht.
8. August:
Umständliche Paßformalitäten (Griechenland, Türkei, Griechenland). Dann auf das
Bootsdeck. Ja - da ist sie, die kleine, kahle Felseninsel Dhia, ein
"Versteinerter Drache", in den die Göttermutter Her a jene kleine Nymphe
verwandelte, die der ungetreue Ehegatte Zeus zu seiner Geliebten erwählt
hatte! Heute ist die Insel unbewohnt. Nur die wilden Bergziegen, "Agrimi" oder
"Kri-Kri", leben auf ihr. Jacques Cousteau hat Dhia wieder bekanntwerden
lassen durch seine Suche nach Atlantis, der versunkenen Stadt. Die
Georgs-Bucht bei Dhia soll der
Hafen der minoischen Könige auf Kreta gewesen sein, die mit ihrer Flotte das
Mittelmeer von Sizilien bis zum Nahen 521 Osten
beherrschten. Die minoische Seemacht war so stark, daß sie es sich leisten
konnte, die großen Paläste auf Kreta ohne Befestigungsanlagen zu erbauen.
Minoische Schiffe sollen über Gibraltar hinaus bis England und Skandinavien
gelangt sein. Es ist möglich, daß die Erbauer der Steine von Stonehenge
Kreter waren, da deren Steinzeichen dem kretischen Symbol der Doppelaxt ähneln.
Alles Theorie! Sicher ist aber, daß das minoische Reich am damaligen Welthandel
teilgenommen hat. Der Bernstein könnte, von der Küste des Baltischen Meeres, der
Ostsee, importiert, auf der "Bernsteinstraße" nach Kreta gelangt sein.
Ja - und da liegt es vor mir: Das Venezianische
Kastell von HerakIion! „Aphrodite" legt an. Ich betrete Kreta - mein
Jugendtraum beginnt sich zu erfüllen. Aber meine ersten Schritte sind mühsam:
Kein Taxi weit und breit. In der Hitze eines Augusttages muß ich meine beiden
Koffer über einen Kilometer weit, mehrmals mich auf Englisch durchfragend und
die Koffer immer wieder absetzend, bis zur Bus-Station schleppen. Dort erwische
ich gerade noch einen Bus nach Chaniá mit dem Sitzplatz Nr. 19, meiner
Glückszahl (ein neunzehnter ist der Geburtstag meiner Mutter", sage ich zum
Fahrkartenverkäufer. "Geburtstag der Mutter ist immer gut!" erwidert er
freundlich.)
Schöne, aber ermüdende Fahrt am Meer entlang nach
Chaniá, 138 Kilometer weit, vorbei an Rethymnon und an der Souda-Bucht
(NATO-Kriegshafen) bis zur Innenstadt von Chaniá. Mit Taxi zum Hotel DOMA im
Vorort Chaleppa, das Evchen Mommsen mir empfohlen hatte.
Ältestes Patrizierhaus im neoklassizistischen Stil,
unmittelbar über dem Meer gelegen. Vor dem Haus zwei weiße Säulen, schönes
schmiedeeisernes Tor- und Treppengitter.
Freundliche Begrüßung in Englisch. Deutsch wird
nicht gesprochen. Zimmer war reserviert, aber noch nicht fertig. Zwei Betten,
Dusche, alles einfach, aber sauber. Blick weit über die geschwungene Bucht, die
Felsen der nördlichen Küste von Gischt umspült. "Was ist es, das an die alten
seligen Küsten Mich fesselt, daß ich mehr noch sie liebe, als mein Vaterland..."
(HöIderIin, Der Einzige).
Um mich abzukühlen, gehe ich hinunter ans
Meer, entkleide mich vorsichtig (FKK-Baden ist in Griechenland moralisch verpönt
und polizeilich verboten!), und wage es, zu schwimmen
- vorsichtig wegen
der Wellen und der Felsen. Das 522 Wasser ist noch
unverschmutzt. Erfrischt ruhe ich mich aus, an einen Felsen gelehnt, in Gedanken
versunken und das wilde Spiel der Brandung betrachtend, die sich hochsprühend an
den Felsen bricht. Natürlich fällt mir der Bildgedanke meines geliebten
HöIderIin ein: "Des Lebens Woge schäumte nicht so schön empor und würde
Geist, wenn ihr der alte stumme Fels, das Schicksal, nicht entgegenstände."
Das "Doma"-Hotel hat eine interessante
Vergangenheit: Ursprünglich im Besitz der Familie Valirakis wurde es
später österreichisches, dann englisches Generalkonsulat, diente von 1941 bis 45
der deutschen Besatzungsarmee als Ortskommandantur und kehrte nach der Befreiung
Kretas in den Besitz der Familie Valirakis zurück, von Frau Rena
V., einer schlanken, vornehmen, grauhaarigen Dame mit sanfter, aber fester Hand
geleitet. Gegen Abend erscheint das Ehepaar Minos und Kanto Isychakis,
Freunde von Evchen Mommsen, die mich bei ihnen angemeldet. hatte: Er ein
still-bescheidener Atomphysiker, sie Kunsthistorikerin an der Universität
Rethymnon, beides .liebenswerte Menschen, animae candidae,- bescheiden und
hochgebildet. Sie laden mich zum Essen ein: "Pastizio", Teigwarenauflauf, und "Krepes",
in Fett gebackener, mit Fleisch gefüllter Teil, dazu „Domestica", milder,
wohlmundender Weißwein. Mein Versuch, die Gastgeber wenigstens zum Wein
einzuladen, mißlingt. Dafür lebhafte Gespräche über Evchen Mommsen,
mit der sie befreundet sind, Julianchen und Adalbert Connor, die sie bei
deren Besuchen auf Rhodos ins Herz geschlossen haben, über archäologische
Fragen, über Knossos und die venezianische
Vorgeschichte Chaniás, über Hölderlins Griechenlandliebe und und und.
9. August: Früh 7 Uhr vom Reisebüro abgeholt, mit Bus nach
Heraklion. Der Bus, ein Veteran, rüttelt und schüttelt so stark, daß ich nur
mühsam in dem vorzüglichen "Führer durch das Archäologische Museum von Heraklion"
lesen kann, den sein jetziger Direktor Dr. Stylianos Alexiou verfaßt hat
(Clementinchen Kisker hatte ihn mir, mit gepreßten Asphodelos-Blüten auf
der Titelseite, zum Geburtstag geschenkt.) Dieses Buch wird mein "Ariadnefaden"
durch das Labyrinth der 20 Säle sein. Horden von Touristen, vorwiegend
Amerikaner und Engländer, stehen und gehen vor dem Eingang herum. Ich habe
Angst, in diesem Menschendschungel meine Bus-Leute aus den Augen zu verlieren
und halte mich an einen freundlichen Holländer aus 523
meinem Doma-Hotel. Wir werden von einer englisch sprechenden Dame
geführt. Wichtiger als ihre Erklärungen sind mir die Hinweise in dem Buch von
Alexiou, in dem jedes Exponat, jede Vitrine gen au beschrieben und die
Geschichte Kretas, der Ausgrabungen und des Museums selbst ausgezeichnet
dargestellt ist.
"Es scheint kaum glaublich, daß ein Ort mit einem so
abschreckenden Namen wie 'Archäologisches Museum' in Wirklichkeit so voller
erstaunlicher Überraschungen ist, wie man sie nirgendwo in der Welt antrifft,
und ein geradezu atemberaubendes ästhetisches Vergnügen zu bereiten vermag."
Diesem Hymnus des Verfassers eines der besten Kretabücher, des
Engländers Robin Bryans, kann Jeder, dem der Ursprung der europäischen
Kultur etwas bedeutet, nur zustimmen. Ich kenne nur noch ein Museum, in dem die
Kunst einer in sich geschlossenen frühen Kulturepoche ähnlich unüberbietbar
repräsentiert ist: Das Anthropologische Museum in Mexico-City.
Was ließe sich nennen an Werken einer schon rund 1000 Jahre vor
dem Höhepunkt der griechischen Festlandskultur hochentwickelten, ungemein
lebendigen, feinen, fast verfeinerten, eleganten Kunst in der Darstellung des
religiösen und des weltlichen Lebens der Menschen in der Blütezeit der
Minoischen Kultur? Was hat mich besonders stark angesprochen? Fast alles! Es
geht mir ähnlich, wie es Herrn Bryans ergangen ist: "Ich habe das Gefühl,
die Minoer gekannt und Freunde unter ihnen gehabt zu haben." Die Fresken,
Wandmalereien, Stuckreliefs, Statuetten, Opfergefäße sprechen unmittelbar zu
mir, so, als lebte alles noch, was sie ausdrücken. Sie berühren eine vitale,
emotionale, vielleicht sinnliche Seite in mir
- im Unterschied zu
den Werken der griechischen Festlandskultur, etwa im Nationalmuseum in Athen, in
den Museen in Delphi oder Olympia, die eher auf die geistige, ästhetische Seite
meines Wesens wirken und in ihrer kühlen Vornehmheit Distanz schaffen. Beides
ergänzt sich jetzt für mich zum vollen Bilde der altgriechischen Kunst.
Auf einem Tontäfelchen im Palast von
Knossos hat der englische Sprachforscher PaImer
als Erster einige Worte in vorhomerischem Griechisch entziffert. Ihm und
den Archäologen Ventris und Chadwick, die die "Linear B" -Schrift
entdeckten,' ist zu verdanken, daß wir den frühesten Zeugnissen der europäischen
Sprachkultur auf die Spur gekommen sind. Auf einem der Täfelchen stehen die
Worte: "Der Herrin des Labyrinthes Honig." Eine andere Zeile lautet: "Der
Gesamtheit der Götter Honig." Beides sind Opferanweisungen. "Damit beginnt
unsere europäische Religionsgeschichte überhaupt", sagt Karl Kerényi hierzu. Wer
aber war die "Herrin des Labyrinths"? Es war Ariadne, nicht die auf Naxos,
die von Hugo von Hofmannsthal gedichtet und von Richard Strauss
komponiert wurde, sondern die Ariadne auf Kreta! Nach Homer war
sie die sterbliche Tochter des kretischen Königs Minos. Sie half dem
schönen athenischen Jüngling Theseus mit ihrem Rat und ihrem Faden, dem
Irrgang des Labyrinths (von "Iabrys", Doppelaxt, abgeleitetes Wort) zu entkommen
und vor dem Tod durch ihren schrecklichen Halbbruder, halb Mensch, halb Stier,
den Minotauros, errettet zu werden. Sie wurde aber von Dionysos
heimlich geliebt, bei Artemis "denunziert" und auf der Insel Dhia
vor dem Hafen von Knossos von der Göttin getötet. Nach einer späteren
Variante, die auch für Hofmannsthal galt, starb sie nicht, sondern wurde
in tiefen Schlaf versetzt, von Dionysos gefunden und in seinem Wagen zum
Himmel entrückt, an dem sie heute noch als der "Kranz der Ariadne" leuchtet.
"Wer weiß, außer mir, was Ariadne ist?", fragt Nietzsche
in "Ecce Homo"! Er läßt Zarathustra Honig-Opfer auf einem hohen Berge
bringen. Hierzu Kerényi: "Honig war bereits in der älteren Steinzeit die Nahrung
auch von Menschen. Und er wurde in den Religionen des Mittelmeerraumes (und
nicht nur da!) seit jeher als geeignete Opfergabe an die Götter empfunden. Die
ältere Götterspeise, vor der Ambrosia, war der Honig... Kronos, einer der
ältesten Götter, berauschte sich mit Honig, weil es damals,. vor der Geburt des
Dionysos, den Wein noch nicht gab...“ Mit den Texten auf den Tontäfelchen
von Knossos beginnt für uns -
nach Kerényi
- lange vor Homer die griechische
Geistesgeschichte.
Das Archäologische Museum in Heraklion wurde im 2.
Weltkrieg dreimal bombardiert, von vielen Bomben und Geschossen getroffen und
durch Explosion eines deutschen Schiffes mit Kriegsmunition im Hafen stark
beschädigt. Es diente den Deutschen als Depot für Kriegsmaterial, Hospital,
Gefangenenlager für italienische Soldaten, befestigter Stützpunkt mit
Schießscharten und Stacheldrahtverhau und - angeblich - auch als
Ausbildungsstätte für chemische Kriegsführung. Aber sein unschätzbarer und
unersetzbarer Inhalt war im Keller untergebracht und blieb unbeschädigt.
525
Nach der Führung ging ich unbemerkt von dem Wächter ein zweites
Mal in das Museum und betrachtete in aller Ruhe die Werke, die mich besonders
stark angesprochen hatten.
Nun weiß ich, daß mich die Kunst und die Geschichte der
minoischen Kultur nicht mehr loslassen werden! "Das Beste an der Geschichte ist
der Enthusiasmus, den sie erweckt!", hat Goethe gesagt.
Nach dem Doppelgang durch das "Schatzhaus der Minoer" blieb mir
Zeit zum Schlendern durch die wenig anziehenden Straßen und Gassen von
Heraklion. In einem kleinen Juweliergeschäft sehe ich Armbänder mit dem
kretischen Steinbock, und rasch -
vielleicht zu rasch? -
erstehe ich eines für Antonia (Sterling-Silber, 925 gestempelt).
Hoffentlich freut sie sich!
In einem überfüllten Cafe am Venizelos-Platz ein Bier (Henninger-Bräu!)
gegen Hitze und Durst. Ein Schweizer Bürger mit Frau und Tochter (alle Drei
recht wohlgenährt) setzt sich zu mir und schimpft auf Schwyzerisch über den
schlechten Service des griechischen Schwesterschiffes meiner "Aphrodite", die
"Atlantis". Er habe sich geweigert, die 5 % Pourboir (Trinkgeld) zu bezahlen,
weil das Essen nicht gut gewesen sei, die Air-Condition in der Kabine nicht
funktioniert habe, beim Versuch einer Reparatur schwarzer Ruß oder Qualm
ausgeströmt, das Schloß der Kabinentür nicht in Ordnung gewesen sei usw. Erst
als der Obersteward ihm drohte; ihn und seine Damen ohne Pourboir nicht vom
Schiff gehen zu lassen, habe er widerwillig die 5 % entrichtet. Er werde sich
bei der Reederei beschweren!
Katzanzakis und die "Freiheit"
Die Stadt Heraklion (Iraklion) ist häßlich und
laut, sie wimmelt voller Touristen
- eine unschöne
Muschel mit einer kostbaren Perle. Nikos Katzanzakis ist hier geboren und
auf der Bastion Martinengo begraben die Kirche hatte ihm als Freidenker die
Bestattung in geweihter Erde verweigert! Mit seinem bekannten Wort: "Ich hoffe
nichts, ich fürchte nichts - ich bin
frei!", das er sich zum Grabspruch gewählt hat, erweist er sich als Agnostiker.
Ein Mensch, der nichts fürchtet und nichts hofft, ist eine Illusion, und nicht
einmal eine wünschenswerte. Was wäre ein Leben ohne Angst? Was wäre ein Leben
ohne Hoffnung? "Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte", sagt mein geliebter
526 Hölderlin. "Etwas fürchten und hoffen
und sorgen Muß der Mensch für den kommenden Morgen".. Nicht umsonst hat
Schiller dieses Wort den Cajetan in der" Braut von Messina" sprechen lassen.
Etwas drastischer hat Goethes es ausgedrückt: "Was ist der Mensch? Ein
hohler Darm, mit Furcht und Hoffnung angefüllt, daß Gott erbarm." Ein Leben ohne
Ängste und ohne Hoffnungen wäre ein Leben ohne Spannungen und Entspannungen,
ohne Beengungen und Befreiungen, ohne Tiefen und Höhen, ein schales
inhaltsleeres Leben, ein Leben ohne das Gottesgeschenk des Glaubens und der
Liebe. Denn wir könnten nicht glauben und nicht lieben, ohne auch etwas zu
befürchten und zu erhoffen, was nicht von uns allein abhängt, sondern von einer
höheren Schicksalsmacht. Und: Würde Freisein von Furcht und Hoffnung wirklich
"Freiheit" bedeuten? Eher das Gegenteil: Abhängigkeit von dem Trugschluß, es
gäbe wahre Freiheit ohne Bindung an jene transzendente Macht (re-ligio), die
stärker ist als unser Ego, eine Macht, die uns die Kraft verleiht, im
Ur-Vertrauen zu ihr Halt und Geborgenheit zu finden. Vielleicht hat der Autor
des "Alexis Sorbas", der ruhelose Wahrheitssucher, nur Ruhe gefunden in dem
gewaltsamen Aufschwung zu dem Gedanken, Freisein von Furcht und Hoffnung sei
"Freiheit". Er ist 1957 in Freiburg als Patient Heilmeyers gestorben.
Zurück zu seiner Geburtsstadt HerakIion: Nachmittags geht
es hinaus nach Knossos! Am Eingang des Palastbezirkes das Denkmal für Sir
Arthur Evans, der "Nestor der minoischen Archäologie". Aber nicht er hat
Knossos entdeckt, sondern ein kretischer Kaufmann namens Minos Kalokairinos.
Schon 1878 hatte dieser Amateur-Archäologe ein zusammenhängendes Mauerwerk,
Steine mit Steinmetzzeichen und zehn riesige Vorratskrüge freigegraben. An der
gleichen Stelle hatte bereits ein Engländer, Robert PashIey, Anfang des
19. Jahrhunderts Knossos vermutet. Ein späterer AmateurArchäologe war der
Deutsche WunderIich. Es ist reizvoll, in seinem 1972 bei Rowohlt
erschienenen Buch" Wohin der Stier Europa trug
- Kretas Geheimnis
und Erwachen des Abendlandes" zu lesen, die auf den Fresken abgebildeten
Stierspiele seien als blutige Menschenopfer zu deuten, Fische, Vögel, Delphine
als Begleiter der Toten ins Jenseits, die Schlangenpriesterinnen seien
Klageweiber, die ihre Brüste zum Zeichen der Trauer entblößt hätten, die
Tontäfelchen in Linear-B-Schrift seien als Listen von Grabbeigaben und
Stiftungen, für den Kult des " Totenpalastes" zu verstehen usw. WunderIich
Buch ist 527 ein höchst anregender, mit
bewundernswertem Fleiß und einer Fülle geistreicher Einfälle erarbeiteter
Beitrag zur Geschichte wissenschaftlicher Irrtümer!
Als Heinrich SchIiemann, der damals in Troja grub, von der
Entdeckung des Kaufmanns Minos Kalokairinos erfuhr, wollte er die
FundsteIle kaufen. Er glaubte, den Palast von Knossos 1886 entdeckt zu haben.
Aber der Preis für den Ankauf war ihm zu hoch, wie er in einem Brief an Rudolf
Virchow vom 17. März 1889 schrieb. Der türkische Eigentümer des
Grundstückes (Kreta war noch türkisch) verlangte den Preis für 2500 Ölbäume.
SchIiemann zählte die Ölbäume und stellte fest, daß der Türke nicht einmal
1000 besaß, von denen viele abgestorben waren! Er kehrte nach Troja zurück und
überließ es damit dem nicht mehr jungen Arthur Evans von Oxford, das
Grund- und Fundstück zu erwerben und mit den Ausgrabungen zu beginnen, deren
Ergebnisse die Ursprünge der europäischen Kultur ans Licht brachten.
WunderIich hat mit der Kühnheit des Außenseiters versucht,
die Evanssche Deutung dieses Ursprungs radikal in Frage zu stellen, ja,
zu widerlegen: Er sieht in dem Palast des Königs Minos in Knossos nicht
den labyrinthischen Komplex eines prunkvollen Herrscherpalastes, in dem sich
heiteres höfisches Leben von unerhörtem Glanz entfaltet habe, sondern ein
Bauwerk, das ausschließlich dem Totenkult gedient haben soll. Eine "Nekropole",
eine Totenstadt, .so fügt er einschränkend hinzu, sei Knossos allerdings nicht
gewesen, vielmehr über seine eigentliche Funktion als Totenhaus oder
wohnung hinaus ein
geistiges Zentrum der umgebenden Siedlungsstätten, Kultstätte, Versammlungsort,
Arena, Archiv, Gerichts-, Hinrichtungs- und Opferstätte und anderes mehr. Mit
den ersten Theateranlagen und -fresken beweise das minoische Kreta, daß es den
alt-mediterranen Totenkult überwunden und damit den Ansatzpunkt für den weiteren
geistigen Entfaltungsprozeß geschaffen habe. "So erst wurde Kreta und mit ihm
Griechenland das Ursprungsland der abendländischen Kultur, während die Reiche
der orientalischen Machthaber versanken." Soweit WunderIich!
Es wäre müßig, auf die Argumente seiner archäologischen
Widersacher eingehen zu wollen. Er ist 1974 gestorben. Wichtiger ist der Blick
in die Anlage des Palastes von Knossos: Er ist zunächst enttäuschend: Fast alles
ist Rekonstruktion nach Angaben von Evans: Wände, Säulen, Decken sind
nachgebildet, die Säulen nicht mehr wie einst aus Holz, sondern aus Beton und
grell 528 bemalt, die Fresken durchweg Kopien, von
zwei Schweizer Malern, Vater und Sohn Gillieron, zwar nach minoischen
Resten, zum Teil aber recht phantasievoll ausgeführt. Nur der steinerne
Thronsessel -
der älteste in Europa! -, die Vorratskrüge und Pithoi, "stehen in
situ", wie Frau Dr. Hanni Guanella sagt. "Dennoch entsteht in uns der
Eindruck des Einmaligen, ja Genialen. Badewannen deuten einen hohen Stand des
damaligen Luxus an, und das komplizierte Kanalisationssystem läßt einen Grad
technischer Perfektion ahnen, der nicht nur für die damalige Zeit
außergewöhnlich, sondern bis in unser 19. Jahrhundert unerreicht war." Es ist
sogar ein Toilettenraum erhalten geblieben, in dem sich ein Klosett mit
Wasserspülung befunden hat!
Nahezu alles, was man heute an Ausgrabungen und Rekonstruktionen
sieht, geht auf die Palastbauten der sogenannten neopalatialen Stufe zurück; das
heißt, auf den Neubau des Palastes nach der Katastrophe von 1700 v. Chr.,
belehrt uns Frau Guanella.
Die Katastrophe, wahrscheinlich ein Erdbeben, hat alle
Paläste zerstört. Aber sie wurden schöner und prächtiger wieder aufgebaut. Um
1450 v. Chr. kam es zu einer noch schwereren Katastrophe, wahrscheinlich durch
eine riesige Flutwelle, die das Auseianderbersten der Vulkan insel Thera
(Santorin) ausgelöst hatte. Alle Paläste, Herren häuser und Siedlungen in
Küstennähe wurden zerstört. Nur Knossos lebte noch einmal auf
- zu seiner letzten
künstlerischen Blüte. Ihr folgte das allmähliche Ende der minoischen Kultur und
die Besetzung Kretas durch die Festlandsgriechen. Die Kreter beteiligten sich
aber noch mit eigenen Truppen am Krieg Mykenes gegen Troja. Aber auch die
Bollwerke der Mykener wurden Ende des 12. Jahrhunderts von den aus dem
Nordwesten kommenden Doriern überrannt, und es entstanden unter einer
strengen dorischen Militär-Hierarchie zahlreiche Stadtstaaten auf Kreta.
Homer nannte es die "Insel der 100 Städte". Sie bekämpften sich gegensetitig,
Verträge wurden nicht eingehalten (daher das schlimme Wort "Alle Kreter lügen")
und der Niedergang Kretas als politische und Handelsmacht vollzog sich
unaufhaltsam. Die Insel wurde nacheinander von fremden Völkern besetzt: Den
Römern, von Ostrom (Byzanz), den Arabern, von Venedig, von den Türken und -
leider auch von
1941
bis 1944 von Deutschland unter Hitler.
Zurück zu Knossos: Das Baugelände des Palastes ist
unregelmäßig, oft terrassiert. In der minoischen Palast-Architektur herrschte
- im
Gegensatz zum Symmetrie-Prinzip der Festland-Architektur die Improvisation, die
dem Labyrinth, dem „Haus der Doppeläxte" (Labrys), die spätere Bedeutung
"Irrgarten" verliehen haben könnte.
Hierzu ein kleiner mythologischer Exkurs: Nach Homer
- in der
IIias
war das Labyrinth, ein Werk des Baumeisters und Künstlers Daidalos, ein
Tanzplatz für die Göttin Ariadne, in der nach homerischen Sage ein
Gebäude mit einem Irrgang als Grundriß. In ihm wurde Ariadnes Halbbruder
Minotauros, ein Wesen halb
Mensch, halb Stier, die Schande der Familie des Königs
Minos, verborgen gehalten. Dieses Ungeheuer war das Erzeugnis eines
Seitensprunges der Frau des Königs Minos namens Pasiphae, mit
einem "wunderschönen, weiß glänzenden Stier!" Dem
Minotauros wurden Kinder aus
Athen als Tribut vorgeworfen. Ariadne verliebte sich in den schönen,
siegreichen athenischen Jüngling Theseus, der das Ungeheuer erschlug und
mit Hilfe ihres Fadens (oder Knäuels) den lebensrettenden Weg aus dem Labyrinth
gefunden hatte. Theseus nahm sie und ihre Schwester Phaidra auf
seinem Schiff mit, verließ sie aber auf der Insel Dia, die später
Naxos hieß, und mußte sie dem Dionysos, der ein älteres Anrecht auf
sie hatte, überlassen. Dionysos fand sie dort schlafend und fuhr mit ihr
zum Himmel, wo sie heute noch im „Kranz der Ariadne" leuchtet.
„Die Liebe des Dionysos zu Ariadne gehört zum Bild
der altkretischen Kultur, das sich vor unseren Augen entfaltet", so schließt
Karl Kerényi sein Kapitel über „Die Herrin des Labyrinths" in einem
seiner schönsten Bücher "Auf den Spuren des Mythos".
Obwohl ich nicht, wie Katzanzakis
in seiner Autobiographie „Rechenschaft
vor Greco" schreibt, zu Fuß nach Knossos "gewallfahrtet", sondern mit dem
Touristen-Bus gefahren bin, war dieser Tag zwar bei drückender Hitze ermattend,
aber durch die Fülle der Eindrücke bereichernd und beglückend.
Abends in meinem Hotelehen "Doma"allein gegessen mit dem Blick auf das Meer und
einen Felsen, der im Profil an einen Löwenkopf erinnert.
Ein ungewöhnlicher Friedhofsgärtner
10.
August: Zu Fuß durch die Altstadt von Chaniá zum kleinen, heute erst
wieder eröffneten Archäologischen Museum in einer früheren Franziskaner
530 Kirche: Minoische
Sarkophage und Pithoi, neolithische Funde, Linea-B-Handschriften,
hellenistisch-römische Skulpturen (Asklepios-Statue, Kopf seiner Tochter
Hygieia), Gartenhof mit Brunnen und Löwenköpfen. Dann zum Venezianischen
Hafen mit dem Kunstgewerbe- und Andenkengeschäft der deutschen Frau Marlis
Kaloutis aus Goslar, Suche nach Halskette aus sti,. lisierten Mohnkapseln
-
vergeblich, weil nicht typisch für Kreta. Dafür schöne Steinbock-Armreifen aus
Sterling-Silber. Frau Marlis lebt seit 22 Jahren hier, mit einem Kreter
glücklich verheiratet, einem aus alter venezianischer Familie stammenden Grafen,
der seinen Titel als Zweitgeborener nicht führen darf. Sie wolle nicht nach
Deutschland zurück. Die Menschen hier seien so sympathisch und liebenswert. Auf
meine Frage, ob es nicht die Gefühle der Kreter verletzen könnte, wenn man sie
als Deutscher auf den Fallschirmjägerüberfall 1941
und den deutschen Soldatenfriedhof in Máleme anspricht: "Nein! Das
liegt so lange zurück. Die Leute haben das vergessen oder sie sprechen nicht
darüber und tragen es uns nicht nach. Ihre Gastfreundschaft ist größer als
etwaige Vergeltungsgefühle!" Die Bestätigung erfuhr ich noch. am gleichen Tage
beim Besuch des deutschen Soldatenfriedhofs bei Máleme. In glühender
Mittagshitze und bei krachenden Schießübungen eines NATO-Flugplatzes steige
ich.zu dem Friedhof hinauf. Er liegt herrlich über dem Golf von Chaniá, von
einem hohen schwarzen Holzkreuz überragt, mit deutscher Sorgfalt in vier Blöcke
(nach den Kampfgebieten Mälerne, Chaniä, Rethimnon und Irakiion) geteilt, mit
dicht aneinander gepflanzten, immer blühenden roten Mittagsblumen geschmückt,
auf den steinernen Grabplatten je zwei Namen von Gefallenen, darunter etwa 350
unbekannten Soldaten. Am überdachten Eingang liegt ein Buch aus mit den Namen
der 4456 deutschen Soldaten, die in den ersten 10 Tagen des
Fallschirmspringerangriffs der deutschen Luftwaffe auf Kreta im Mai 1941
gefallen sind. Ich suche, aber finde nicht gleich den Namen von Werner Seibel,
unserem guten Freunde aus der Zeit im Luftwaffen-Lazarett Halle-Dölau. Ein
älterer, sympathisch wirkender Mann mit klugem, vertrauenswürdigem Blick kommt
hinzu und fragt mich, ob er mir helfen könne. Es ist der Friedhofsgärtner. Er
fährt mich zu den GrabsteIlen von Seibel ("Dr. med., Oberarzt") und
Lottig (Prof. Dr. med., Stabsarzt"), Neurologe aus Hamburg. Ich frage den
Gärtner, ob ich eine der roten Mittagsblumen pflücken dürfe, um sie auf Werners
Grab zu legen und es für seine Mutter zu photographieren. Er antwortet
531 nicht und verschwindet. Nach einigen Minuten
kommt er wieder mit je einem großen Strauß aus Mittagsblumen und weißen
Oleanderblüten, in der anderen Hand zwei große Bündel Weintrauben! Nachdem ich
mich bedankt und beide GrabsteIlen photographiert habe, bittet er mich
- teils Englisch, teils Deutsch -, den Sohn
seines deutschen Freundes aus Berlin zu besuchen, der im Krankenhaus in Chaniá
wegen einer Verbrennung der Füße behandelt wird. Ich verspreche es ihm
natürlich. Er sagte mir noch, daß er den Friedhof seit 8 Jahren betreue. Es sei
seine Altersbeschäftigung und auch eine Lebensaufgabe! Die 100 Drachmen, die ich
ihm für seine beiden Mitarbeiter gebe, nimmt er nur zögernd an, aber er bittet
mich, etwas in das Buch im Eingangsraum, das für Besucher ausliegt,
hineinzuschreiben. Ich blättere darin und finde nachdenkliche und sinnvolle
Eintragungen, Mahnungen an Frieden und Versöhnung, aber auch törichte und
taktlose Worte wie: "Was hatten die Engländer auf Kreta zu suchen? Es geschah
ihnen ganz recht, daß sie vertrieben wurden." Darunter hatte ain anderer
Deutscher geschrieben: "Was muß das für ein Pimpf sein, der so etwas schreibt?"
Ich überlege kurz und schreibe die Worte hinein, die unser Richard Manville
uns einmal gesagt hat: "Ich glaube an die Sonne, auch wenn - sie nicht scheint.
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott; auch
wenn er schweigt" und füge hinzu: "Im Anblick dieser Gräber sollten wir
bedenken, was das Schweigen Gottes bedeutet!"
In Chaniá holt Minos Isychakis mich vom Hotel ab und bringt mich
zum nahegelegenen Hospital, in dem ich den jungen Deutschen besuche, dem ich die
Grüße des Freundes seines Vaters, des Friedhofsgärtners, ausrichte. Seine Füße
sind dunkelblau verfärbt durch schwere Durchblutungsstörungen. Er soll noch
einem Dermatologen vorgestellt und möglichst bald entlassen werden.
Minos bringt mich in sein Haus (Renaissance-Portal aus der
Venezianischen Zeit) zu Frau Kanto. Sie sagt, dies sei keine Wohnung,
sondern eine "Baustelle"! Denn sie wird von Grund auf renoviert und restauriert
und das werde noch 2 - 3 Jahre dauern. Aber für Evchen Mommsen stehe
immer ein Gastzimmer bereit.
Bei Tee und Kuchen erzählt mir das Ehepaar, der Friedhofsgärtner
sei ein berühmter kretischer Schriftsteller und Dichter! Sein Buch" The Cretan
Runner - History of German Occupation", 1955 in London erschienen, sei ein
Bestseller 532 geworden. Er schildere darin seine
Erlebnisse als Partisan, und zwar als Meldegänger zwischen den versprengten
englischen Truppen und den kretischen Widerstandskämpfern. Dieser Mann, der
allen Grund gehabt hätte, sich nicht um die Gräber der deutschen Soldaten zu
kümmern, die seine Heimatinsel überfallen haben - er macht es zu seiner Alters-
und Lebensaufgabe, diese Gräber zu pflegen!
Er heißt Psychountakis und arbeitet mit Hilfe eines
Staatsstipendiums an der Übersetzung der 0dyssee ins Neugriechische, um
die Welt Homers dem Verständnis der heutigen Griechen näherzubringen.
Außerdem hat er ein Buch über das neuzeitliche Kreta verfaßt, das 1962 in Chaniá
erschienen ist: Ein ungewöhnlicher Friedhofsgärtner!
Nachmittags mit Minos und Kanto über halsbrecherische Wege zu
ihrem Landgut, 50 Hektar, einer weitgehend verwilderten Sehenswürdigkeit mit
einem trocken gelegten Aquarium, halbverfallenen Gebäuden, einer leeren Voliere,
subtropischen Pflanzen und einem restaurationsbedürftigen Eingangstor im
Renaissance-Stil - alter Besitz aus Minos' Familie. Liebenswerte Menschen, beide
sympathisch unkonventionell.
11. August: Morgens mit Taxi abgeholt. Am Reisebüro steigt eine
rundliche, blonde Reiseleiterin (dänische Lehrerin) und eine dunkelhaarige,
vornehme, spanisch sprechende Dame mit zwei kleinen Töchtern hinzu,
Venezuelanerin aus Caracas, wie sie sagt. Es geht zur Orthodoxen Akademie neben
dem Kloster Goniá, in dem die Gebeine der gefallenen deutschen Soldaten
gesammelt und aufbewahrt wurden, bevor sie auf dem Friedhof bei Maleme
beigesetzt werden konnten. Die Akademie ist nach dem Muster der deutschen
Evangelischen Akademie von Bischof Irenäos, einem bedeutenden
Sozialreformer, jetzt Metropolit in der Bundesrepublik und Exarch von
Zentraleuropa, gegründet worden. Sie dient mit Vorträgen, Seminaren, Kursen der
Begegnung zwischen östlichem und westlichem Glauben und Denken und leistet
praktische Sozialarbeit in der Hilfe für Frauen und Familien in den Dörfern. Auf
meine (naive) Frage, warum nicht auch Männer sozial betreut würden, erklärt die
deutsche Sekretärin der Akademie: "Die haben es hier nicht so nötig!" Dies
trifft .sicherlich zu. Die Frauen gehen auf Kreta, auch wenn sie noch nicht
verwitwet sind, auf dem Lande in Schwarz, und es bedarf keiner lebhaften
Phantasie, um zu vermuten, daß sie von den bescheidensten Ansätzen zur
Gleichberechtigung 533 weit entfernt sind. Im
Gottesdienst müssen sie noch ebenso getrennt von der Männern sitzen wie die
Frauen in den streng orthodoxen Synagogen. Nur im Hause darf die Frau herrschen.
Das Kloster Goniá gleicht einer Festung. 1645 landeten
hier die Türken, um nach Chaniá weiterzumarschieren und es zu besetzen.
Byzantinisch. früh barocke Architektur, reich geschnitzter Bischofs-Thron und
schöne Ikonen: darunter eine mit der Darstellung des Heiligen Johannes von Gouvernéto, von dem die
Legende erzählt, er sei mit 98 anderen Männern aus Ägypten nach Kreta
aufgebrochen, das Schiff habe bei einem Sturm unterwegs anlegen müssen, der
schlafende Johannes sei von den an Land gegangenen Gefährten vergessen
worden und ihnen, auf seinem ausgebreiteten Mantel schwimmend, bis Kreta
nachgefolgt! Er und seine Brüder in Christo siedelten sich in Höhlen unterhalb
des heutigen Klosters Gouvernéto auf der Halbinsel Akrotiri bei
Chaniá an. Johannes wurde, als er aus der Höhle kroch, von einem Jäger für
ein Tier gehalten und angeschossen. Er verzieh dem Jäger, starb aber bald
danach.
Weiter geht es an der wilden Westküste Kretas vorbei nach
Falássarna, einer nach minoischen (dorischen?) Handelsstadt, von der nur
noch Mauerreste übrig geblieben sind, die ich nicht entdecken konnte. Da dieser
uralte Ort nach einer Nymphe benannt ist und sich eines herrlichen, langen
Sandstrandes erfreut, genoß ich, abgesondert von meiner Touristengruppe, das Bad
im Meer in vollen Schwimmzügen. Im Taxi zurück auf halsbrecherischem
Schotterweg. Die Venezolanische Dame stellt plötzlich fest, daß sie ihre Tasche
in einer Taverne oberhalb des Strandes vergessen hat. Also zurück in dem
rüttelnden und gefährlich schüttelnden Wagen, hinunter zu der Taverne, Tasche
gefunden, wieder zurück und hinauf mehrere holperige Kilometer, eine Zumutung,
die der Fahrer Johanni mit Gleichmut auf sich nahm. Im Weinbaustädtchen
(und Bischofssitz!) Kastelli Kissámou am gleichnamigen Golf frisch
gefangenen und vor unseren Augen gebratenen Fisch gegessen und Kastelli-Rotwein
geschlürft. Am Tisch im Freien nahe am Strand fünf Nationen: Die Dänin, die
Venezolanerin, .eine Amerikanerin, Johanni und ich. Johanni gab
mir von seinem "Retsina", ich ihm von meinem "Kastelli" zu trinken und Alle
zusammen bildeten eine muntere, vom Wein beschwingte Völkergemeinschaft. Die
Dame aus Caracas war inzwischen mit ihren Töchtern ans Meer gegangen.
534
Plötzlich ein vielstimmiger Ruf: "Jatrós! Jatrós!" Ich
springe auf und sehe die Venezolanerin kollabiert an der Erde liegen, blaß mit
beschleunigtem, "kleinem" Puls, aber offensichtlich nicht in lebensbedrohlichem
Zustand. Die Töchter schreien: "Mama, Mama muerta!" Aber Mama war nicht tot.
Alles redete mehrsprachig durcheinander, man gab gute Ratschläge, und ich hatte
Mühe, die Töchter und die Umstehenden zu beruhigen. Außer leichtem Anheben der
Beine und Kontrolle des Pulses der "Gefallenen" sah ich im Augenblick keine
Indikation für weitere "Erste Hilfe". Ein eifriger Franzose bot ein
Nitro-Präparat an, das ich für unnötig hielt, da keine Zeichen eines
stenokardischen Anfalls zu erkennen waren. Frau "Caracas" war inzwischen nämlich
ansprechbar geworden und verneinte Fragen nach entsprechenden Beschwerden. Sie
erholte sich auch bald, aber ich bat den sympathischen Johanni,die Dame mit den Töchtern, die Dänin und mich so schnell wie möglich nach
Chaniá zurückzufahren, wobei ich auf die im Programm vorgesehene Besichtigung
der Tropfsteinhöhle Ajía Sofía verzichtete. Unterwegs wären wir beinahe
mit einem Motorradfahrer zusammengestoßen, der in einem Höllentempo auf der
linken Straßenseite auf uns zukam. Johanni riß den Wagen im letzten
Augenblick nach rechts in eine ziemlich tiefe Rinne am Straßenrand hinein und
wir waren mit. einer Beule am Wagen und dem Schrecken davongekommen. Frau "Carácas"
war inzwischen gesprächiger geworden und berichtete mir, sie sei geschieden, ihr
Mann kümmere sich um sie gar nicht, um die Töchter wenig. Plötzlich fragt sie
mich, ob ich vielleicht auch geschieden sei! Auf meine Antwort: "No, Senora, en
contrado - muy buen casádo!" schien sie mit einem leicht enttäuschten Blick zu
reagieren. (Vielleicht habe ich den aber auch hinzugedichtet. ) Am Hotel
Panórama in Chaniá lieferte ich meine "Patientin" in der Rezeption ab mit der
Bitte, der Portier möge einen Arzt benachrichtigen. Das ist auch geschehen mit
dem Ergebnis, es habe sich um eine akute Gastro-Enteritis gehandelt, durch die
der Kollaps hervorgerufen worden sei. Dies teilte mir "Frau Carácas" mit, als
ich sie am nächsten Vormittag anläutete und nach ihrem Befinden fragte. Sie und
die dänische Reiseleiterin bedachten mich mit vielen Dankesbezeugungen.
Johanni hatte mir bei der Rückfahrt nach Chaniá das Haus
des Komponisten Mikis Theodorakis in dem Vorort Galata gezeigt
- komfortables Zeichen der guten
Verträglichkeit linkssozialistischer Ideologie mit den Vorteilen des
Kapitalismus! 535
12. August: Morgens mit Bus über Vrysses und die "Weißen
Berge" gen Süden. Kurvenreiche Gebirgsstrecke mit steilen Abhängen ohne
Geländer, hoch hinauf bis zur Paßhöhe. Leichtes Schwindelgefühl, Ohren fallen
zu. (Höchster Berg Psiloritis, Name klingt nach" Entzündung"! 2456 m.)
Von der Paßhöhe fällt die Straße steil ab. "Mimmi" Demetrios steuert den
Bus kunstvoll und kühn um die engen Kurven
- endlich, tief
unter uns das Libysche Meer "Livikon Pélagos“, wie die Kreter es nennen,
weil es die Insel mit Libyen verbindet
- oder von ihm
trennt. Ankunft in Chora Sfákion, das im 16. Jahrhundert eine blühende
Handelsstadt, später ein Treffpunkt kretischer Revolutionäre war. Ein großer
Freiheitskämpfer, Dhaskalojannis (der gelehrte, weise Johannes) wurde als
Führer des Aufstandes gegen die Türken gefangengenommen, gefoltert und in
Heraklion getötet, indem man ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzog
- er soll keinen
einzigen Schrei ausgestoßen haben. In dem "Lied des Dhaskalojannis" wird er als
Nationalheld Kretas gefeiert.
In dem kleinen Hafen des Ortes wartete schon das Schiffchen
"Santa Maria" - leicht angerosteter Rumpf! -, um uns in knapp zwei Stunden sanft
schaukelnd nach Ajía Rouméli zu bringen. Unterwegs wurde ein an beiden
Beinen gelähmter vornehm aussehender junger Mann im Rollstuhl am Hafen von
Loutro von Bord gebracht. Da er mich an Richard erinnerte, fragte ich ihn,
ob er Engländer sei, was er bejahte. Ich half ein bißehen beim Abladen des
Rollstuhls und erfuhr, daß er mit einem Tauchgerät schwimmen wollte. Sein Freund
oder Bruder begleitete ihn mit mir an Land. Plötzlich ertönte vom Schiff aus ein
Ruf: "German Doctor, come back!". Die "Santa Maria" wollte ablegen, und ich kam
im letzten Augenblick an Bord. Am Ziel der Fahrt, in Ajía Rouméli, einem
ehemals türkischen Kastell, hatten sich Scharen von Touristen versammelt, die
aus der Samaria-Schlucht
zurückgekehrt waren oder sie durchwandern wollten.
Eine junge Reiseleiterin teilte uns einen jungen, hübschen und stämmigen "Skafioten",
Kostas, zu, der uns durch die Schlucht führen sollte. Ich hatte, von Frau
Rena beraten, nicht den ganzen, 18 km langen Weg gewählt, sondern den "Lazy
Way", je 4 km hin und zurück. Dann ging es los: über Steine, Felsen und durch
den rauschenden Gebirgsbach in die Tiefen der Schlucht'. Sie gilt als
Naturwunder und ist die längste Schlucht 536
Europas, bis 600 Meter tief eingeschnitten, nach oben bis zu 3
- 4 Metern schmal.
"Der Wanderer schreitet gleich Orpheus aus strahlendem Sonnenschein hinein in
die Düsternis der Unterwelt. Die Felsen nehmen phantastische Gestalt an. Wärme
und balsamische Milde wandeln sich zu Kühle und dem herben Geruch des
Wildwasser", schreibt Robin Bryans in seinem Kreta-Buch. Das eiskalte,
kristallklare Wasser des rasch fließenden Gebirgsbaches habe ich, auf dem Bauche
liegend, in mich hineingeschlürft, denn es war nicht kühl, sondern wurde heiß,
und Kostas führte unsere kleine Gruppe -
einige Damen etwa in meinem Alter! - zügig voran. An einigen
Stellen mußten wir von Stein zu Stein springen oder auf Felsen balancieren und
auch durch das Wasser waten. Beim Beginn der Wanderung war ich der Letzte, am
Schluß der Erste. Nach etwa 3 Stunden Hin- und Rückweg öffnete sich die
Schlucht, und wir erblickten wieder das Libysche Meer, tiefblau, mit weißen
Schaumkrönchen bedeckt. Wir dankten dem schönen Kostas mit einem
angemessenen Obolus. Die Schlucht ist heute Nationalpark. Einst hatte sie
Geächteten und Rebellen als Zuflucht gedient, aber auch unschuldigen
Dorfbewohnern Schutz vor der "Vendetta" geboten, ebenso leider Mördern, Räubern,
Frauenschändern. Während des griechischen Bürgerkrieges in den 40er Jahren
unseres Jahrhunderts versteckten sich hier kommunistische Guerillakämpfer.
Interessant sind Flora und Fauna dieser einzigartigen Schlucht.
Hier wächst das Dhiktam-Kraut (Origanum dictamnus), dem eine wund
heilende Wirkung zugeschrieben wird, und hier leben die wilden, unter
Jagdschutz. stehenden Bergziegen, die „Agrimi“ oder "Kri-Kri" an
Steilhängen und Seitenschluchten. Sie nahmen in der minoischen Zeit offenbar
eine besondere Steilung in der religiösen Symbolik ein und zieren als silberne
Nachbildungen die Armbänder, nach denen ich für Antonia gesucht habe. Das
kretische Wunderkraut "Dhiktamon"
- pupurfarbene Blüte und daunenweiche Blätter
- wird schon
von Vergil erwähnt: Der im Kampf um Troja
verwundete Askanios, der später König von Troja
wurde, ist von seiner Mutter Venus mit dieser Heilpflanze, die sie auf
dem Gipfel des Berges Ida gepflückt hatte, gesund gepflegt worden. Leider
habe ich weder Dhiktam noch Kri-Kri in der Schlucht entdecken können.
Am Strande von Ajía Rouméli hatten sich nicht nur die
unvermeidbaren Touristen-Horden versammelt, sondern auch zahlreiche
langmähnig-bärtige, 537 schmuddelige Hippies
breitgemacht und eine Art "Night Club" oder "Disco Shop" etabliert. In der
Taverne sitzen die einheimischen Männer in ihren schwarzen Stiefeln und
Pluderhosen mit ernsten Gesichtern. Die Reiseleiterin sagt mir, sie seien so
traurig, weil mehrere Bewohner des Dorfes in den letzten Tagen gestorben sind.
Sie stellt mir "Mimmi" Demetrios vor, einen mit tiefschwarzen,
ausladenden Koteletten geschmückten jungen Mann. Als ich ihr sage, "Mimmi" sei
bei uns ein weibliches Kosewort und der Name der Titelheidin einer Oper von
Puccini, "Boheme", lachen beide wie die Kinder.
Rückfahrt mit einem anderen, überfüllten Schiff, stark
schaukelnd, nach Chora Sfakion. Wen erblicke ich in der Taverne am kleinen
Hafen? Den guten Joanni. Freude, Umarmung, Photo, Adresse. Zurück über
die Berge, hinter uns Joanni am Steuer eines anderen Busses, an den
steilen Kurven immer wieder verschwindend und auftauchend. Milder Abschluß eines
eindrucksreichen Tages im Gästeraum des "Doma", von Frau Rena und zwei
"Saaltöchtern" freundlich, wenn auch im Zeitlupentempo, bedient.
13. August: Frühmorgens durch das westliche Kreta über Berg und
Tal nach Paläóchora, das nach einem hoch über dem Meer gelegenen
venezianischen Kastell auch Kastelli Selinou genannt wird, eine Stadt an
der kretischen Südküste mit schönem Sandstrand. Herrliches Bad in der Brandung,
aber leicht depressive Gedanken, Sorgen, wie es zu Hause gehen mag, Heimweh,
Zwangsangst, mit meinem Geld nicht auszukommen usw. Aber nach dem erfrischenden
Bad verschwanden die düsteren Wolken, die sich vor die südliche Sonne gelegt
hatten, und der äußere wie der innere Himmel hellte sich wieder auf.
Schöne Fahrt durch Orangenplantagen und saubere, schmucke Dörfer.
Halt in Kándanos, einem Ort mit schrecklicher Erinnerung: Als Vergeltung
für die Ermordung von 25 deutschen Soldaten durch Partisanen ist das Dorf mit
allen Bewohnern dem Erdboden gleichgemacht worden. Eine Pyramide neben der neu
erbauten Kirche mahnt an das entsetzliche Geschehnis. Der ganze Ort ist wieder
aufgebaut worden und wirkt in seiner Farblosigkeit etwas unheimlich.
Abends in einem kleinen Ort bei Chaniá kretische
Folklore-Musik (mehr kakophonische Geräusche!) mit Volkstänzen in bunten
Kostümen. Die Trachten bei den Tänzen: Mädchen in weißen Pluderhosen
(wahrscheinlich Reste aus der Türkenzeit) mit roten Stickereien, schwarzen
Blusen mit weißem Krageneinsatz, 538 rote
Kopfbedeckungen, weiß bestickt, hinten halblange rote Schleppe. Männer in
schwarzen Pluderhosen und weißen Stiefeln, schwarzen Westen, mit Ketten behängt,
im Gürtel ein schräger Dolch. Die Kinder (Mädchen) in langem, rotem Rock und
schwarzer Bluse. Ein kleiner Junge aus dem Publikum tanzt Solo, elegant und
anmutig. Die Kinder auf Kreta lernen diese Tänze schon von kleinauf. Zum Schluß
Sirtaki für junge leute aus dem Publikum. Ein junger Mann tanzt eine Art
Krakowiak. Die Tänze erinnern überhaupt zum Teil an russische und andere
östliche Volkstanzformen. Das Essen an dem Folklore-Abend: Tomate mit Reis und
Fleisch gefüllt, stark gewürzte Fleischwürfel mit Kartoffeln, Wassermelone,
Rotwein und frisches Wasser aus Karaffen. Als Dessert Blätterteig, mit Zucker
und Zimt bestreut.
Im Doma-Hotel finde ich einen Dankesbrief der dänischen
Reiseleiterin vor: "Lieber Dr. Johannes Werner! Ich danke Ihnen vielmals, weil
Sie uns so gut geholfen haben. Falls Sie nach Kopenhagen kommen würden, möchte
ich gerne Ihre Reiseleiterin sein. Ich wohne Kongovej 25, I, 2300 Kopenhagen,
Telef. 01581990. Mit vielen Grüßen Jytte Kirk, Hotel Kanea." Ich schicke
ihr sogleich einen Dankesbrief für ihren Dank ins Hotel.
14. August: Morgens Anruf Frau Kanto Isychakis: Ob es mir
recht wäre, wenn Minos mich mit seinem Onkel, der gerade bei ihnen zum Besuch
ist, abholen würde zu einem Besuch des Klosters Aja Tritadha auf der
Halbinsel Akrotiri. Ich sage natürlich erfreut zu. Minos erscheint
pünktlich mit Onkel Evangelos Petychakis aus Athen, 75 Jahre alt,
ehemaliger Advokat und Regierungsbeamter, Witwer, kinderlos mit einer Münchnerin
verheiratet gewesen, die er während seines dortigen Jurastudiums kennengelernt
hatte. Intelligenter, vielseitig gebildeter Mann, Agnostiker und Nihilist. Seit
dem Tode seiner geliebten Frau sei das leben für ihn. sinnlos geworden. Es habe
ja alles keinen Bestand. Im Grunde sei alles nichtig. Die Religion versuche nur,
über die Nichtigkeit des Daseins mit Verheißungen und Gebeten hinwegzutäuschen.
Mein von Minos unterstützter Versuch, ihm nahezubringen, daß die Liebe, die ihn
mit seiner Frau verbunden hat, mit ihrem Tod nicht gestorben ist und in ihm
weiterlebt, daß er von Minos und Kanto geliebt werde und daß dieses alles,
zusammen mit seinen geistigen Interessen, seinen Büchern, nicht ohne Sinn in
seinem einsamen Leben sei, findet keine Resonanz. Meine leise Frage, ob er nicht
beten könne, scheint er nicht verstanden zu haben. Ich wollte auch nicht
539 weiter in sein Intimum eindringen. Wir
konzentrierten uns dann auf das Kloster Aja Tritadha, das bis zum 19.
Jahrhundert eines der bedeutendsten Kretas war, erbaut von einem venezianischen
Edelmann Jermias ZangaroIa, der später zum orthodoxen Glauben übertrat.
Monumentales Portal im klassizistischen Stil, Campanile, als Palast-Bau
angelegt, Palast als" Wohnsitz des Herrschers Gott"! Heute ist es
kirchliche Schule für begabte junge Menschen, die mit Stipendien ausgebildet
werden und nach Abschluß dieser Ausbildung Theologie in Athen oder Thessaloniki
studieren können. Auch musikalische Erziehung gehört zum Lehrplan.
Wir bekamen einige dieser Schüler zu sehen. Einer von ihnen war
auffallend dick. Gemeinsam versuchten wir, die lateinischen Inschriften über den
Portalen zu entziffern. Eine lautet: "Der Geist ist der Schöpfer der Welt und
der Ursprung von Allem." Gespräch über die Unterschiede zwischen orthodoxem und
römischem Katholizismus: Der orthodoxe Glaube kennt keine Dreifaltigkeit, für
ihn gibt es nur Gott, den Herrn und Christus, seinen Sohn. Aber Gott allein ist
der Herr. Also klarer Monotheismus zum Unterschied von dem "verkappten
Polytheismus", der Trinität. Ich erwähne meine Ansicht zur Schwäche des
Protestantismus gegenüber dem Katholizismus: Jener stehe nur auf einer
Säule: Christus als Logos, dieser auf zwei Säulen: Loaos und
Mvthos. Das mythische Element, die Heiligenverehrung, der Marienkult, die
kirchliche Malerei und Architektur, fehle dem Protestantismus, und dies sei
seine Schwäche., Ja - wenn sich der rationale und der irrationale, mythische
Säulen bau des christlichen Glaubens noch durch die Vergöttlichung der
Naturkräfte in der Religion der griechischen Antike ergänzen ließe
- eine utopische Vision!
- dann gäbe es eine Möglichkeit, die nahezu
alle Seiten meines personalen Wesens ansprechen könnte. Dazu müßte etwas
rein Geistiges, weder Rationales noch Irrationales, weder Christliches noch
"Heidnisches" kommen: Das "Denken an das Sein des Seienden". Metaphorisch
gesehen wäre meine linke Herzkammer christlich, die rechte heidnisch und das
Septum, das beide verbindet und trennt, wäre das "Ontische". Ich weiß nicht, ob
die beiden griechischen Herren mich verstanden haben. Wahrscheinlich nicht. Ich
kann es selber kaum verstehen.
Noch etwas Mythologisches zur Halbinsel Akrotiri: An der
Nordwestspitze befindet sich hoch über der Küste die Höhle Lera, an oder
in der sich ein Heiligtum der Nymphe Akakallis befunden haben soll. Sie
galt als 540 Tochter des Königs Minos und
seiner Gattin Pasiphae, der Mutter des Königs Kydon, des
Stammvaters der Stadt Kydonia, nämlich des heutigen Chaniá!
An dem gleichen Steilhang ist übrigens die Seilbahn für den
Transport der Holzstämme für den Film "Alexis Sorbas" nach Katzanzakis'
Roman mit der Musik von Mikis Theodorakis aufgebaut und gefilmt worden!
König Kydon, Sohn Apolls, Enkel des Minos, war berühmt durch
seine besonders große Gastfreundschaft. In diesem Ruf stehen auch die heutigen
Chanioten, sagt Hanni Guanella, und ich kann dies nur bestätigen:
Kanto und Minos, Joanni, Rena, Evangelos
-
alle waren, jeder auf seine
Weise, rührend bemüht, mir Gutes zu erweisen. Evangelos half mir
noch, in einem Blumenladen einen schönen Rosen- und Nelkenstrauß zu erstehen,
mit dem ich mich bei Kanto bedankte. Er erwähnte noch, daß er Monarchist sei und
KaramanIis für einen nur mäßig gebildeten, schwachen Politiker halte, der
den Sozialisten zuviel Konzessionen mache mit dem Erfolg, daß sich an .den
griechischen Universitäten ein ähnlicher "Marsch durch die Institutionen"
vollziehe wie bei uns. Über die ehemalige Königin Friederike, ihren
Hannoverschen Bruder Ernst-August und dessen unerfreulichen Streit mit
.seiner Mutter war er gut informiert. Die griechische Volksmusik empfand er .als
"unerträglich". Mikis Theodorakis wolle mit seinen Kompositionen, die zum
Teil "recht gut" seien, nur Propaganda für seine sozialistischen und
kommunistischen Anhänger machen. Die Texte seiner Lieder seien vielfach
Aufforderungen zur Revolution gegen die Demokratie!
Letzter Abend in meinem Doma-Hotel ("Dorna" ein altes poetisches
Wort, Synonym für "domus" = Haus, Wohnung). Frau Rena schenkt mir Feigen
zum Abschied.
15. August: Unausgeschlafen. 6 Uhr Wecken. Mit Taxi zur
Bus-Station. Pünktlich in Heraklion. "Aphrodite" erwartet mich. Wieder
kein Taxi. Koffer zum Schiff geschleppt. Vom Obersteward freundlich begrüßt.
Einzelkabine "Leros". "Aphrodite" legt ab. Das venezianische. Kastell und die
Ziegeninsel Dhia entschwinden langsam. Kreta liegt hinter mir - nein
in mir! Ruhige Fahrt. Mehrmals ins Schwimmbad gesprungen, Ankerung. vor
Santorin, Ausbootung. Naturwunder! Erstaunlicher Anblick! Die weißen Häuser
hoch über 541 dem Meer, auf weißem Bimsstein
erbaut. In Serpentinen führen die Pfade nach oben. Man sieht schon vom Schiff
aus karawanenartige Züge von Maultieren sich hinaufwinden. Auch ich muß mich auf
ein Maultier schwingen und die 400 Meter hinauftragen lassen, nicht ohne
photographiert zu werden. Der Treiber schlägt auf mein armes Maultier ein, für
das ich keine ganz leichte Last bin. Ich gebe ihm etwas Geld für ein Bier, das
er sich erbettelt. Leider kann ich ihm nicht verständlich machen, daß er mir
versprechen soll, meinen kleinen Mulus nicht mehr zu schlagen.
Oben überwältigender Blick auf das Archipel, das nach dem
Vulkanausbruch auf der Hauptinsel Thera um 1450 v. Chr. stehen geblieben
ist. Brocken vulkanischen Gesteins, Bimssteine, sind 120 Kilometer entfernt bei
den Ausgrabungen des Palastes von Kato Zakros auf Kreta gefunden worden
und erhärten die Theorie von Marinatos, nach der die Paläste und
Siedlungen an der kretischen Nord- und Ostküste durch diesen Vulkanausbruch
zerstört worden sind.
Im Ort Santorin Touristenschwärme,
ein Andenkenladen neben dem anderen, Schmuckgeschäfte,
Bars, ein paar Hotels. Ich ziehe es vor, mich für den Abstieg nicht wieder von
einem Maultier tragen zu lassen, sondern zu Fuß zu gehen
- trotz Hitze und
Durst. Aber unten wird ein guter Santorin-Wein feilgeboten.
16. August: Bei aufgehender Sonne Landung meiner "Aphrodite" in
Piräus . Am Hafen erwartet mich Christina, Elias Romanos' Tochter.
Sie erzählt mir in gutem Deutsch von ihrem Kunst- und Literaturstudium, will
Archäologin werden und interessiert sich für Dostojewski! Sie ergreift
meine Koffer, die auf einem Karren ins Zollgebäude gefahren werden. Ich muß noch
an Bord bleiben, weil mein Reisepaß nicht zu finden ist. Er war zurückbehalten
worden, weil man irrtümlich angenommen hatte, ich führe weiter bis Ancona:
Endlich findet er sich. Aber ich brauche noch einen Stempel von der
Hafenpolizei. Christina will ihn besorgen. So gehe ich ohne Koffer und ohne
gestempelten Paß vom Schiff. Im Zollgebäude weder Koffer noch Christina! Nach
einigem Suchen und Fragen entdecke ich die Koffer, einsam in einer Ecke der
großen Halle abgestellt. Aber Christina ist nicht da. Schließlich erscheint sie
mit dem gestempelten Paß, und wir können mit einem Taxi zu der Straße in
Athen fahren, die Onkel Evangelos mir als Einkaufszentrum für
542
Hinweis: Die Seite 543 war in
dem Manuskript leider nicht enthalten!
Göttervater Zeus geboren sein soll, und die Bucht von
Matala, an der er, in einen Stier verwandelt, die geraubte Europa auf
seinem Rücken an Land getragen habe. Als ich, in der Meeresbucht schwimmend,
meinen Gedanken an den mythischen Ursprung des Namens unseres Kontinents
nachgehangen hatte - das Mädchen Europa wurde die Mutter des
meerbeherrschenden Königs Minos, des "ersten Gesetzgebers Kretas"
- lenkte mich an Land eine Schar munterer
Hippies zur Realität zurück. Sie hatten ihre Weltanschauung in Weiß auf einen
Felsstein gemalt mit den Worten: "I live today - Tomorrow is never comel"
Freund Köller ließ sich bezaubern nicht nur von den
landschaftlichen Schönheiten und den steinernen Zeugen der frühesten
europäischen Kultur, sondern auch von der vornehmen, stillen Herrin unseres
kleinen Doma-Hotel?, Frau Rena. Er nannte sie "unsere Athene" und gestand
mir am Vorabend unseres Abschieds von Kreta, er wäre glücklich, hier mit ihr
seinen Lebensabend verbringen zu können. Er deklamierte mit seiner wohltönenden,
von Frau Professor Uta Kutter in Stuttgart geschulten, wenn auch noch
immer leicht masurisch akzentuierten Stimme lange Hölderlin
- Verse, und es störte ihn nicht, daß Frau
Re na kein Wort Deutsch verstand. "... Was ist es, das An die alten seligen
Küsten Mich fesselt, dass ich mehr noch Sie liebe, als mein Vaterland ..." und
"Zu neuen seligen Inseln Tragen die Hoffnungen ihn und des Schiffes Flügel..."
Frau Rena schien unverheiratet zu sein. Denn sie wandelte
allein durch die Räume des "Doma". Nur einmal erblickten wir im Hintergrund
einen älteren Mann, den wir für einen Bediensteten hielten. Als wir uns am
nächsten Morgen von Frau Rena verabschiedeten, faßte Köllerchen
Mut und fragte sie, wer eigentlich der Mann da sei, den wir nur flüchtig gesehen
hatten. Ihre Antwort: "That's my husband!" Die Enttäuschung im Antlitz des armen
Köllerchen war unbeschreiblich.
Wir vermissen ihn sehr, unseren guten "Köllerakis" - so
nannte ich ihn nach den Endsilben vieler oder der meisten Familiennamen der
Kreter - .
Mit ihm haben wir einen treuen Freund verloren, einen gütigen Menschen und
lieben, bescheidenen Gast unseres Hauses, mit dem wir uns durch die
Gemeinsamkeit der ostpreußischen Heimat und der Liebe zu Hölderlin
verbunden fühlten. Er ist, wahrscheinlich durch einen Herzinfarkt, in einem See
bei Ulm ertrunken.
Reise in die Türkei
Die zweite Kreta-Fahrt war die dritte meiner drei Reisen, die
ich, "das Land der Griechen mit der Seele suchend", erleben durfte. Die erste
hatten Antonia und ich schon 1950 als "Klassische Hellasfahrt" unternommen: Mit
der „Jedinstvo" ("Freiheit"), einem angenehmen jugoslavischen Schiffchen, von
Venedig (zufällig gemeinsam mit unseren Freunden Werner und Annemarie
Hauß) über Dubrovnik und Korfu (Kerkyra) nach Piräus.
Von dort zu den Stätten der antiken griechischen Festlandskultur: Mykene
( an der Mauer des Löwentors entdeckte ich -
seltsamer Zufall! -, neben Antonia stehend, über unseren
Köpfen das auf einen Mauerstein geschriebene Wort "Antonia"!), Epidauros,
Sparta, Olympia, Delphi und Athen. Dies war
gleichsam der kulturgeschichtliche Auftakt zu' unserer Reise (mit Verachen) an
die Ionische Küste der Türkei, zu den von Peter Bamm so meisterhaft
vergegenwärtigten "Frühen Stätten der Christenheit", den vormals "Späten Stätten
der griechischen Antike", Anlaß dieser Reise war die Einladung unserer Freunde
Suschen und Wilbern Packett. zu einem Besuch ihrer Wohnung in
Izmir (Smyrna), dem da maligen NATO-Standort des Colonel Packett.
Ich kann der Verlockung nicht widerstehen, über dieses
besondere Reiseerlebnis in einigen Auszügen aus meinem "Tagebuch der Reise in
die Türkei, 27. April bis 21. Mai 1967 zu erzählen: Von Venedig mit der"
Truva" (= "Troja"), einem schmucken türkischen Schiffchen, aufmerksam betreut
vom freundlichen Bootsdeck-Steward Mehmet, nach Izmir.
Montag, 1. Mai: Ruhige Fahrt (mit der etwa dreifachen
Geschwindigkeit des Schiffes der Phäaken!). Sonne, wenig Wind, weiche,
alte Dünung von Norden. Ithaka, die Heimat des Odysseus,
Kephallenia, Zakynthos liegen hinter uns. Auf Backbordseite die Berge
der südlichen Peloponnes. Der Anblick der griechischen Küste erregt mich
auf seltsame Weise. Es muß die geistige Nachwirkung der Antike sein, die aus
dieser Landschaft zu mir spricht. Der weiße Gischt der Brandungswellen schäumt
hoch am grauen Felsgestade. „Des Lebens Woge schäumte nicht so schön empor und
545 würde Geist, wenn ihr der alte" stumme Fels,
das Schicksal, nicht entgegenstände." HöIderIin hat die griechische Küste
nie gesehen, aber er hat sie dichtend geschaut. In der Durchfahrt
zwischen Kap Maleas, der Südspitze der Peloponnes, und der Insel
Kytherea, bei der Aphrodite dem Meer entstiegen ist. Odysseus
ist hier, aus dem besiegten und verbrannten Troja kommend,
hindurchgesegelt in der Hoffnung, an der Westküste der Peloponnes entlang nach
Ithaka zu gelangen. Die Hoffnung trog: Nördliche Winde, vielleicht der
kalte Boreas (die heutigen Griechen nennen ihn noch „Voreas"),
verschlugen ihn nach Süden bis an die nordafrikanische Küste und ließen
ihn bei Djerba (Tunesien) in das Land der Lotos-Esser, der Lotophagen, gelangen.
Der Engländer Bradford hat als erfahrener Segler,
Nautiker, Geograph und vorzüglicher Kenner des Mittelmeeres nachzuweisen
versucht,- daß die Angaben Homers zum großen Teil den tatsächlichen
Gegebenheiten entsprechen: Die Höhle des Polyphem bei Trapani auf
Sizilien,. das Land der Kyklopen: die Insel Favignana an der Westküste Siziliens
usw. Er glaubt sogar; daß ein schnelles Schiff wie das der Phäaken bei günstigem
Wind und Strom die Entfernung zwischen Korfu und Ithaka, die etwa 70 Meilen
beträgt, in einer Nacht zurücklegen könnte, und daß auch andere Hinweise
Homers auf die Zeit, die ein Schiff für die Fahrt von einer Gegend zur
anderen braucht, weitgehend mit den geographischen Verhältnissen übereinstimmen!
Da ist das Kap Maleas! Wer denkt daran, daß sich hier die
Höhle befunden haben soll, in welcher der gütige Kentaur Cheiron hauste,
der arzneikundige Lehrer des AchiIIeus, des Jason und anderer
Heroen; und der Lehrer des Asklepios. Cheiron war zwar als
Unsterblicher geboren, aber seine Unsterblichkeit war ihm zur Last geworden: Er
trat sie dem Prometheus ab
-
und starb. (Die alten Griechen wußten,
daß Unsterblichkeit kein lebenswertes Gut des Menschen
ist). Cheiron, "die widerspruchsvollste Schöpfung der griechischen
Mythologie", wie Kerenyi sagt, vereinigt gegensätzliche Kräfte in sich:
Das ApoIIinische als Lehrer der Heilkunst und Musik, und das Tierische
als zeugendes und zugleich zerstörendes Wesen: Halb Mensch, halb Tier, leidet er
an einer unheilbaren Wunde, nach deren Heilbarkeit wir Menschen mühsam und nicht
immer erfolgreich streben. Aus Kerenyis Asklepios-Studien können wir
Ärzte einies über die 546 mythischen Ursprünge der
Heilkunst lernen. Wichtigstes Ergebnis ist der Nachweis, daß Asklepios
nicht, wie die Forschung bisher angenommen hatte, zunächst nur als „Heilheros"
verehrt und erst viel später von Priestern oder Ärzten in Epidauros zur
Würde eines Gottes erhoben wurde. Der Ursprung seiner Gottesgestalt sei
vielmehr in der griechischen Mythologie des 15. bis 13. vorchristlichen
Jahrhunderts zu suchen. Die Geburtsgeschichte des Asklepios wiederhole
nur ein vorhomerisches Mythologem, das von der "Geburt im Tode" spricht:
Asklepios wird geboren in dem Augenblick, in dem seine Mutter Koronis
auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird, getötet vom Pfeil der Artemis, der
Zwillingsschwester Apolls zur Strafe dafür, daß sie ihrem Geliebten
Apollon untreu geworden war. Apollon entnahm das Kind der toten
Mutter...
Wir sehen: Tod und Auferstehung, Vergehen und Werden, Untergang
und Heilung, Schuld und Sühne -
die Elemente des Daseins sind im Phantasiereichtum der
Mythen geheimnisvoll ineinander verwoben. »Mythologie ist Selbstdarstellung des
Menschen und Weltoffenbarung zugleich", sagt Kerenyi. Ja! Wir verstehen
den uns fern und fremd erscheinenden geistigen Sinn des griechischen
Götterglaubens eher, wenn wir auch auf Walter F. 0tto in seinem
wunderbaren Buche "Die Götter Griechenlands" 'hören: "Der griechische Genius...
richtete seine Aufmerksamkeit nicht auf Kräfte, sondern auf lauter
Sein, und die Seinsgestalten des Menschlichen traten ihm in solcher
Wesenhaftigkeit gegenüber, daß er sie als Götter verehren mußte." (0tto
hat übrigens seit 1934 an unserer Albertus-Universität in Königsberg gelehrt und
gehört zu den Großen ihrer Geschichte.)
Warum schreibe ich dies alles in mein Reisetagebuch? Weil diese
Fahrt an den griechischen Küsten vorbei eine innere Begegnung mit den Mythen der
Antike in mir wachruft und zugleich Trauer in mir erweckt über den Verfall
des Sinnes für den Mvthos in unserer Zeit. Die „Kopflastigkeit" des Menschen
im Zeitalter der Technik hat den Geist des Göttlichen in ihm verkümmern lassen.
An die Stelle der alten Mythen haben sich neue Pseudomythen gesetzt: Der
"Mythos" vom Fortschritt, von der klassenlosen Gesellschaft, der
Völkergemeinschaft, usw. 547
Aber sind die alten Mythen wirklich tot? Es scheint, daß unter
ihrer Asche noch Funken alter Göttersagen verborgen sind. In mir glühen sie
wieder auf - den Göttern sei Dank!
Wir haben nach Backbord beigedreht und laufen in das Ägäische
Meer ein. In dem Golf, den wir jetzt durchfahren, liegt das lnselchen Marathonisi.
Hier soll Paris, der Sohn des Königs von Troja, Priamos,
die erste Nacht mit der von ihm geraubten Helena
verbracht haben. Bradford meint, wenn Odysseus gewußt hätte, welche Bewandtnis
es mit diesem Eiland hat, würde er nach Steuerbord ausgespuckt und einen Fluch
auf alle treulosen Frauen hinterhergeschickt haben.
Abends Konzert eines italienischen Tanz-Orchesters, das in
Brindisi zugestiegen war. Der Kapitän lädt die Passagiere zu Cocktail und Torte
ein, weil ein junger Deutscher Geburtstag hat.
Es wird getanzt. Auch unsere "Truva" beginnt leicht zu tanzen
- endlich!
Delos, Mykonos, Kiskers Felseneiland Sifnos,
Paros und Antiparos liegen hinter uns. Wir sind in die offene Ägäis
geglitten. Gegen Mitternacht stehe ich am sanft auf- und abschwingenden Bug. Die
Sterne funkeln am mondlos schwarzen Himmel.
2. Mai: Morgens gegen 7 Uhr ruhige Einfahrt in den weiten, von
grau-grünen Bergen umsäumten Golf von Izmir. WiIbern, in Uniform,
kommt an Bord, holt uns ab zu Packetts Horne. am Ataturk Caddesi neben dem
NATO-Gebäude, unmittelbar am Kai. Suschen empfängt uns, herzenswarme
Begrüßung, die Wohnung ein Traum, erlesen schöne Stilmöbel, antike und
orientalische Kunstwerke, weiter Blick auf die herrliche Bucht von . . Der alte
Name "Smyrna" hat mehr Poesie. "Auch denk ich gerne meiner Wanderungen durch die
Gegenden von Smyrna. Es ist ein herrlich Land, und ich habe tausendmal mir
Flügel gewünscht, um des Jahres einmal nach Kleinasien zu fliegen...", so läßt
Hölderlin seinen Hyperion schwärmen. Am Nachmittag Louis Vighier,
Packetts französischer Hausfreund, Junggeselle, liebenswertes Original, seit 40
Jahren in der Türkei, tätig im Tabak-Monopol,-befreundet mit Roger Vadirn,
dem ersten Mann der. Brigitte Bardot, und dessen zweiter Frau, der
Schauspielerin Jane Fonda. Louis führt uns in seine Wohnung, originell
wie er selbst: Schlaf- und Badezimmer in eisblauen, zarten Farbtönen, zierliche
Rüschen und Pompons, blaues Wohngemacht voller türkischer
548 Teppiche, Schränke voller Silbergeschirr, Bettwäsche zum 300maligen
Beziehen und andere Merkwürdigkeiten. Bedienung durch 5köpfige türkische
Familie, die bei Louis wohnt. Louis war ein Muster an Treue und
Hilfsbereitschaft. Leider hatte er sich mit seinem Bruder entzweit und eine
Haßliebe zu seiner Mutter entwickelt, über die er unter lebhafter Affektdynamik
berichtete. Später, von seinem Alterssitz Nizza aus, hat er uns viele
Jahre hindurch mit Weihnachtsgrüßen bedacht.
3. Mai: Erster Gang durch die Stadt. Umringt von Bettlern,
Schuhputzern, Schwarzwechslern, zerlumpten Kindern, Greisen, Frauen, die Hände
in Bettelstellung hinhaltend. Offenbar spüren sie, daß dieses Elend mein Herz
verkrampft, denn alles schart sich gerade um mich. Allerdings haben sie gesehen,
daß ich fast Jedem etwas gebe -
ein naiver Fehler!
4. Mai: Mit Guido, unserem cleveren italienischen
Fremdenführer und Chauffeur, nach Selcuk kund Ephesos. Die Ruinen
leben, vom geschichtlichen Auge wiedererweckt! Ephesos eine Großstadt der
Antike, die bedeutendste Stätte des Artemis
- Kultes mit dem
Artemision, einem der sieben Weltwunder, in dem HerakIit seine
Schriften niedergelegt hat. Ephesos, die größte Handelsstadt der späten
Antike, eine der 12 Städte des Ionischen Städtebundes, Hauptstadt der römischen
Provinz "Asia", frühe Stätte der Christenheit, in der die Strömungen der
alt-orientalischen, griechischen, christlichen und mohammedanischen Kultur
zusammenflossen. Wir schreiten durch. die antiken Straßen, die "Kureten"-Straße
bis zum "Prachtboulevard" Arkadiane, vorbei an dem Rundbogen und den
korinthischen Säulen des kleinen Hadrian-Tempels, an den weißen
Marmor-Skulpturen des Hydreions, dem zierlichen Bau der Trajans-Quelle. Das
Leben in einer antiken Großstadt - wie naturnah, wie unbefangen war es: An der
Agora, dem Hauptmarkt, stand gegenüber der Städtischen Celsus-Bibliothek das "Lupanar"
, das Freudenhaus, in dem man noch die mosaikgeschmückten "Separees" und einen
steinernen Diwan sehen kann. Auf den öffentlichen Toiletten, die mit vorzüglich
funktionierender Wasserleitung und Kanalisation versehen waren, konnten vier
Menschen nebeneinander Platznehmen und sich beschaulich unterhalten. Ephesos
war berühmt durch seine Hetären und Flötenspielerinnen, aber auch durch das
künstlerische Geschick seiner Handwerker und die Bildung seiner Bürger.
549
Ephesos,
die Stadt des Heraklit, des "Dunklen", wie er
genannt wurde, weil seine knappen Aussprüche einen unbestimmbaren Spielraum von
Deutungen offen ließen. War er wirklich "dunkel"? Wenn wir seinen Gedanken in
den Fragmenten, die uns überliefert sind, nachsinnen, wird das vermeintlich
Dunkle plötzlich hell. "Er ist der Dunkle, weil er fragend in die Lichtung
denkt", mit diesem Satz schließt Heidegger, der auch ein "Dunkler" war,
seine Heraklit -Vorlesung ab. Sie handelt von der Aletheia, der Wahrheit
als "Unverborgenheit", in der sich die "Lichtung" des Seins enthüllt. Bei
Heraklitist es der " Logos"
, der "Sinn" des Seienden. "Habt ihr nicht mich, sondern den Logos
vernommen, so ist es weise, im gleichen Sinn zu sagen: "Eins ist Alles",
heißt es in den "Fragmenten" . Der Logos ist die geistige Einheit des Kosmos in
seinen Gegensätzlichkeiten. "Das große Wort: Das Eine in sich selbst
Unterschiedene des HerakIit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es
ist das Wesen der Schönheit, und ehe es gefunden wurde, gab es keine
Philosophie", läßt HöIderlin seinen Hyperion sagen. "Pantha rhei" -
"Alles ist in Fluß." Dieses Wort des HerakIit gilt gemeinhin als sein
Grundgedanke. Aber mit dem "ewigen Fluß der Dinge" denkt er zugleich die "Ruhe
des Beständigen". Denn wir lesen in seinen Fragmenten: "In die gleichen Ströme
steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und sind es nicht." Es gäbe kein
Werden ohne das Sein. Goethe hat heraklitisch gedacht, wenn er sagte::
"Das Ew'ge regt sich fort in allen. Denn alles muß in Nichts zerfallen, Wenn es
im Sein beharren will..." "Erst diese Vereinigung von
Vergänglichkeit - und
Stetigkeit ergibt das Ganze des
Heraklitischen Gedankens", heißt es in dem Werk von Walther Kranz "Die
griechische Philosophie", dem ich Wesentliches als Einführung in die Philosophie
überhaupt verdanke.
"Der Seele
Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch wenn du gehst und jede Straße
abwanderst, so tief ist ihr Sinn!" Und: "Die Seele hat Sinn (Logos), der
aus sich heraus immer reicher wird." Liegt nicht in diesen Worten des
Heraklit schon der Ursprung aller späteren "Psychologie" .und auch ihrer
Unabschließbarkeit?
"Mehr als
sichtbare gilt unsichtbare Harmonie." "Die eigene Art ist des Menschen Dämon."
"Das Denken ist höchste Vollkommenheit und die Weisheit ist,
Wahres zu sagen und zu tun,
nach dem Wesen der Dinge, auf sie hinhorchend..“
550
Mit diesen in ihrer Einfachheit uns heute so dunkel erscheinenden
Gedanken (übersetzt von Bruno SneII) hat HerakIit vor etwa 2500
Jahren die Dunkelheit des Nicht-Denkens erhellt. Er war der Vor-Denker
der "coincidentia oppositorum" des Nikolaus von Cues, der Dialektik
Hegels, des Goetheschen "Eins und Alles." Hier, in Ephesos, und in
Milet vollzog sich' der tiefe Einbruch des Logos in den Mythos. Die alten
Göttergestalten, anschaubar in der bildenden Kunst, erlebbar im dichterischen
Wort und gegenwärtig im Gebet und Opferdienst, wandelten sich zu unanschaulichen
Denkgebilden. Der Glaube an die Götter begann sich zur Idee des Seins zu
vergeistigen. Damit bereitete sich allmählich der Übergang vom antiken
Polytheismus zum christlichen Monotheismus vor.
"Groß ist die Diana der
Epheser!"
Ephesos wurde die Stadt des Apostels PauIus, der
von April 54 n. Chr. bis 57 als Zeltmacher hier lebte und einen neuen Glauben
verkündigte -
ein kühnen Unterfangen in einer Stadt der römischen Provinz Asia,
deren religiöses Leben durch den
heidnischen Artemis
-
und den Kaiser-Kult geprägt war.
Er entfesselte damit einen gefährlichen Aufruhr bei der
Bevölkerung, weil ein Silberschmied Demetrius im Namen seiner
Zunftgenossen gegen den Rückgang der Einnahmen durch die silbernen Darstellungen
des Artemis (Diana) - Tempels protestierte. "Als sie das hörten,
wurden sie voll Zorns, schrieen und sprachen: ,Groß ist die Diana der Epheser!'"
(Nachzulesen im 19. Kapitel der Apostelgeschichte).
Hier, in Ephesos, verfaßte PauIus den berühmten
Brief an die Galater, mit dem er sein Apostolat zu rechtfertigen suchte und den
Geist der christlichen Freiheit verkündete. Hier hat er auch den ersten Brief an
die Korinther mit dem 13. Kapitel, dem Preis der Liebe, geschrieben: "Nun aber
bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter
ihnen."
Auch den zweiten Brief an die Korinther hat er hier geschrieben,
in dessen 4. Kapitel wir lesen: "Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht
ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir
nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar
ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“
551
Von hier floh PauIus vor seinen judenchristlichen Gegnern
nach lIyrien und Korinth, bevor er die letzte seiner großen Reisen antrat, die
Reise nach Rom und in den Tod.
"Gott ist Geist", verkündete PauIus. "Gott ist Liebe",
sprach der Apostel Johannes. Beide sagten im Grunde das gleiche. Aber der
Paulinische Geist prägte später die römisch-katholische, die Johanneische Liebe
die griechisch-orthodoxe Kirche. Was in Ephesos noch Einheit war,
spaltete sich in die Zweiheit Rom-Byzanz. In seinem Brief an die Epheser, den er
aus der Gefangenschaft in Rom geschrieben hat, spricht PauIus von dem
"Zaun" zwischen den "Unbeschnittenen", den Heiden, und den "Beschnittenen", den
Juden, zwischen den Menschen und Gott vor dem Erscheinen Christi. Christus
sei der Friede, denn er habe aus Beiden Eines gemacht. Er ermahnt die
Epheser, die Einigkeit im Geiste durch das Band des Friedens zu wahren. "Ein
Herr, ein Glaube, eine Taufe!"
Der arme PauIus
-
wenn er wüßte, was inzwischen aus seiner
frommen Utopie geworden ist! ...Wie steht es um den
"Heilsplan der Liebe Gottes“, um seine "Gnadenfülle" , um Christus als "Pleroma"
, das heißt, die "Fülle Gottes", und um die Kirche als "Pleroma Christi"?
Die Ermahnungen des PauIus an die Epheser sind gleichwohl
lesenswert. Er fordert darin die Vergeistigung, die Heiligung der Ehe,
allerdings mit der Forderung, "die Weiber seien untertan ihren Männern
als .dem Herrn.“ Aber die Männer sollen ihre Weiber lieben wie ihre eigenen
Leiber. Wer sein Weib liebt, der liebt sich selbst." Nicht überflüssig ist auch
seine Ermahnung: "Und saufet euch nicht voll Wein, daraus ein unordentlich Wesen
folgt, sondern werdet voll Geistes!"
Mit dem Namen Ephesos verbindet sich noch eine andere
religionsgschichtliche Besonderheit: In den streng patriarchalischen Aufbau der.
Kirche ("Denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus das Haupt
ist der Gemeinde.") eingefügt wurde die matriarchalische Komponente des
Marienkultes. Nach freilich sehr unsicheren Quellen soll der Apostel
Johannes mit der Mutter Jesu, Maria (Mirjam), aus Palästina in die
Gegend von Ephesos geflüchtet sein, wo sie am Koryssos, oberhalb der
Stadt, ihre letzten Lebensjahre verbracht habe und gestorben sei. Anna Katharina
Emmerick, eine stigmatisierte Augustinernonne aus Dülmen in Westfalen,
hat in 552
ihren Visionen die Wohn- und Sterbestätte Marias genau angegeben. Als wir
an dieser Stätte standen und auf einer Gedenktafel den Namen der Nonne mit dem
Zusatz" Dülmen "lasen, waren Verachen und wir einigermaßen überrascht!
Clemens von Brentano hat fünfeinhalb Jahre in Dülmen verbracht und die"
Gesichte" der Katharina aufgezeichnet, literarisch bearbeitet und 1833
veröffentlicht. Lazaristenmönche aus Smyrna gingen dieser Darstellung nach und
entdeckten 1891 eine kleine "Kapelle", die heute als "Haus der Maria" bezeichnet
wird und eine vielbesuchte Wallfahrtsstätte geworden ist. Aus einer Quelle
unterhalb des "Marienhauses" fließt "Heiliges Wasser", das von christlichen wie
auch von muslimischen Frauen als Mittel gegen Unfruchtbarkeit getrunken wird.
(Bakteriologische Untersuchungen haben einen hohen Gehalt an Coli-Bakterien
ergeben!) Es erscheint eigenartig, daß in diesem Quellwasser gleichsam zwei
einander widersprechende, aber gleichwohl geheiligte Kräfte zusammenfließen: Die
der Jungfräulichkeit und die der Fruchtbarkeit. Die Verehrungswürdigkeit der
Virginität ließe sich geistesgeschichtlich auf den Kult der jungfräulichen
Göttin Artemis zurückführen. Der Artemis-Kult aber weist Beziehungen zu
der alten vorderasiatischen Fruchtbarkeitsgöttin Kybele, der "Magna mater",
auf. Artemis. wurde mit einem seltsamen Brustschmuck in Form von 25 "Eiern" oder
"Brüsten", die auch als "Stierhoden" gedeutet werden, dargestellt. Auf dem
Konzil von Ephesos 431 nach Christi Geburt ist die Eigenschaft der Jungfrau
Maria als "Gottesmutter" (Dei Genetrix) zum Dögma erhoben worden! Die
biologischen Unvereinbarkeiten lösen sich auf im mythischen Glauben.
Nachmittags erfrischendes Bad in der Ägäis bei Kusadasi,
gegenüber der Insel Samos, auf der Pythagoras geboren ist.
Zurückgekehrt nach Izmir besuchten wir den christlichen Friedhof, suchten
aber vergeblich nach den Gräbern der Eltern unserer lieben Frau Herta Maaß:
Ihr Vater war Dr. Richard Bohn, der Mitarbeiter von Carl Humann,
dem Ausgräber von Pergamon und Entdecker der dortigen Altarbildwerke, der
in Smyrna gestorben ist. Bohn selbst ist die zeichnerische Rekonstruktion
des Pergamon -
Altars zu verdanken.
Abends kehrte WiIbern aus Istanbul zurück und berichtete,
daß die amerikanischen NATO-Soldaten sich in der Türkei so langweilten, daß sich
manche freiwillig nach Vietnam melden! 553
Freitag, 5. Mai: Bekanntschaft mit- Herrn Abdullah BüIbüI
(Nachtigall): Ehemaliger aktiver Offizier der türkischen Marine-Luftwaffe,
später Flugzeugkommandant der von ihm eröffneten Luftverkehrslinie
Istanbul-Ankara, im Ersten Weltkriege auf der Marineschule in Kiel-Mürwik
ausgebildet, jetzt Inhaber des Reisebüros "Abdullah" in Izmir, ein
liebenswürdiger, vornehmer Herr; Freund der Deutschen, stolz auf die
türkisch-deutsche Waffen brüderschaft. Er besorgt uns Plätze für den Bus nach
Instanbul (Verachen hat Angst vor dem Fliegen!) und reserviert Hotelzimmer für
uns.
6. Mai: Nachts kein Auge zugetan: Ungeheurer Lärm auf den
Straßen, Hupkonzerte der Autos, singende junge Leute, Jubelrufe bis zum frühen
Morgen – Hidrellez, das Fest
des Beginns der schönen Jahreszeit, das nach alter anatolischer Bauernregel am
6. Mai gefeiert wird. Eine Legende besagt, daß Hidr und Elias über
die Meere fuhren auf der Suche nach dem ewigen Leben. Jedem, der in dieser Nacht
das Meer befährt, soll das Glück winken. Man sieht viele Boote mit fröhlichen
jungen Menschen die ganze Nacht hindurch am Kai vorübergleiten. Die jungen
Mädchen vertrauen ihre geheimsten Wünsche einem Zettelchen an und werfen es in
die Fluten.
Mit Pferdedroschke in den "Kültür-Park" und ins Archäologische
Museum, das aus einem einzigen Raum besteht. Darin Funde aus Ephesos, Milet,
Pergamon, Halikarnassos. Entzückende Kleinplastiken. Die ersten Münzen aus dem
Reich der Lyder (der Lyderkönig Kroisos war der reichste Mann seiner
Zeit). Er unterwarf Ephesos und zwang seine Bewohner, die Stadt zu verlassen.
und sich in der Nähe des Artemisions anzusiedeln. Schöner Goldschmuck, Ohrringe
mit einem winzigen Eroten als Anhängsel. Ringe und Armreifen in Schlangenform.
Im "Kültür-Park" wenig "Kültür", dafür überall ärmliche Frauen
mit ihren Kindern auf der Erde hockend, "Tschai" trinkend und weißes Brot auf
Zeitungspapier verspeisend. Unser Droschkenkutscher läßt sich seine Beteuerungen
der deutsch-türkischen Freundschaft teuer bezahlen, verlangt 100 türkische Lira
und verfolgt uns bis an den Hauseingang. Wir hoffen, daß er wenigstens einen
Teil des Geldes für die Hafer-Ration seiner beiden ausgemergelten Gäule
verwenden möge.
7. Mai (Sonntag): Unser Suschen gibt eine' "Party"! Gäste:-
US-General Dick, Chef des Generalstabes der NATO in Izmir, und Frau
Dick (beide 554 haben Frau Dr. Wildförster
nach deren schwerem Busunfall in Anatolien mit großer Hilfsbereitschaft
betreut), Colonel Brown und Frau, Frau Hikmet Örs (Ehefrau eines
Gynäkologen, in dessen Haus Packetts wohnen), Dr. Sari und Frau
(Werksarzt bei den Elektrizitäts- und Wasserwerken der Stadt) und Louis
Vighier, der mit seiner Köchin MirzeI bei den Vorbereitungen zu der
Party geholfen hatte ("Beef Stroganow" -
auf Deutsch: "Jägertopf" -,
Pilaw - türkischer Reis-, Bohnen, Artischocken, Erdbeeren mit
Schlagsahne). Lebhafte Unterhaltung, beschwingte Stimmung, herzliches
Einvernehmen zwischen Amerikanern, Türken und Deutschen. Suschen lobt die
spontane karitative Hilfsbereitschaft der amerikanischen Frauen in den
Wohltätigkeitsverbänden. Ihr Mann WiIbern wäre schon längst General
geworden, wenn sie Mitglied einer solchen Organisation -
und nicht Deutsche wäre! Dafür wurde ihr ein türkischer
Orden verliehen als Dank für ihr menschlich sympathisches und diplomatisch
geschicktes Vermitteln zwischen türkischen und amerikanischen Familien. (Als sie
bei dem Verleihungszeremoniell in der Aufregung den Orden fallen ließ, bückten
sich mehrere türkische und amerikanische Generäle und hoben ihn auf!)
8. Mai: Im Bazar von Izmir bietet sich ein deutsch
sprechender Türke als Dolmetscher beim Einkauf an. Als Antonia in einem Geschäft
für Schmuckartikel über die Preise verhandelt, bringt er sie mit Augenzwinkern
und sanften Stößen mit dem Ellenbogen von dem Kauf ab, was er flüsternd mit den
Worten begründet: "Das ist ein Jude, kaufen Sie nicht!"
Meine türkischen Sprachkenntnisse beschränken sich
- außer ein paar
Redewendungen - auf zwei "Sätze", die mir aus meiner Knabenzeit von der
Karl-May-Lektüre her in Erinnerung geblieben sind. Sie passen zwar nie, erwecken
aber Sympathie bei den türkischen Männern, die ich mit ihnen anspreche. Der eine
lautet: "Dur, Askerler, tüfenkler dolduryniz! Araschtyrarim" ("Halt, Soldaten!
Ladet die Gewehre! Ich werde rekognoszieren!"). Der andere ist der sehr lange
Name des treuen Gefährten "Kara Ben Nemsi" (Karls des Deutschen": "HADSCHI HALEF
OMAR BEN HADSCHI ABUL ABBAS IBN HADSCHI DAWUD AL GOSSARAH". Besonders angenehm
mag dabei in den Ohren frommer Muslims die Kennzeichnung als Mekkapilger
("Hadschi") klingen.
Daß Ehen zwischen einem Amerikaner und einer Türkin
schwierig sein können, erfuhren wir an dem amerikanischen General-Manager bei
der 555 Zigaretten-Industrie "Chesterfield" Richard
Brooking und seiner reizenden Frau Moallah.
Der sympathische Ehemann vertraute sich mir mit einigen seiner
Probleme an, zu denen allerdings auch seine Zuneigung zum
Whisky-Konsum zu gehören schien.
Interessant war ein Gespräch mit dem türkischen Verbindungsmann
zur NATO, der uns zu einer Cocktail-Party im Officers-Club eingeladen hatte. Er
war Delegierter der Türkei bei den United Nations in New York und erzählte mir
beiläufig, daß er in Istanbul Vorlesungen bei den deutschen Professoren Röpke
und Rüstow gehört habe. Er pflegt die deutsch-türkischen
Kulturbeziehungen, ist hochgebildet und besitzt kostbare Antiken-Sammlungen.
8. Mai: Mit unserem netten Guido nach
Priene, Milet und Didyma
Durch die weite Ebene des Mäander (Büyük Menderes). Unterwegs
Dromedare, auf hohen Sätteln beladen mit Ballen, die zu bei den Seiten schwer
herunterhängen, mit mildem Blick Disteln und Laub abbeißend und geruhsam
wiederkäuend. Auf den Feldern Frauen in weiten, bunten Pluderhosen an der Arbeit
auf Tabak- und Baumwollpflanzungen, um den Hals ein Tuch,- das als halber
Schleier bis zur Nase reicht, manche mit einem kleinen Kind auf dem Rücken.
Zahlreiche Störche - in den letzten drei Jahren hat die Bevölkerung der Türkei
um etwa zwei Millionen zugenommen! Eine Schildkröte schreitet gemächlich über
die Straße und läßt uns warten nach dem türkischen Grundsatz: "Yawasch, yawasch!"
("Langsam, langsam!"). Wir überqueren das Tal des Kayistros, ("Kucuk
Menderes"), der "Asischen Aue" mit ihren "unzählbaren, fliegenden Scharen von
Kranichen, Gänsen und langhalsigen Schwänen", wie Homer in der Ilias
sagt. Von ihr soll das Wort "Asien" herrühren und nach ihm wurde die spätere
Römische Provinz benannt, der das heutige "Kleinasien" geographisch entspricht.
Die Türken wollen aber nicht als "Asiaten", sondern als Europäer gelten. Daher
ist es ein Gebot des Taktes, nicht von "Kleinasien", sondern von Anatolien zu
sprechen!
Priene: Heißer Aufstieg zur Ruinenstätte
(Antonia bleibt zurück). Oben die Säulen des Athene-Tempels noch gut erhalten.
Rechtwinklige Anlage dieser kleinsten Stadt im Jonischen Städtebund,
hinaufgebaut an den Hang des Berges 556, der von
einem gewaltigen Felsklotz, der Akropolis, gekrönt wird. Zufluchtsort für
Verfolgte und für die von Feinden bedrängten Bürger. Hier hat Bias
gelebt, einer der "Sieben Weisen" der Antike. Als er die Stadt ohne seine Habe
verlassen mußte, soll er das Wort ausgesprochen haben, das, von Cicero
überliefert, in Lateinisch lautet: "Omnia mea mecum porto." Matthias Claudius
hat es zum Motto seines Lebens erhoben.
Milet: Ich durchschreite all eine das riesige.. antike
Theater, ungestört durch touristische Horden, und denke an die großen Männer,
deren Namen mit dieser bedeutendsten Handelsstadt Joniens verbunden sind:
Thales, Anaximander und Anaximenes. Homer hat das um
1200 v. Chr. gegründete Milet als einzige der Jonischen Städte genannt.
Sie war die Heimatstadt des, wie Aristoteles sagte, "Urvaters" der Philosophie,
des Entdeckers der Naturphilosophie und der theoretischen Geometrie Thales.
Er sah im Wasser den Uranfang allen Lebens. Von ihm stammt das berühmt
gewordene Wort, das Pindar, an den Anfang des Ersten Olympischen
Gedichtes stellt: " To ariston men hydor!" "Das Beste aber ist das Wasser."
Goethe hat es im zweiten Teil des "Faust" (Klassische Walpurgisnacht)
aufgegriffen in dem. Hymnus: "Alles ist aus dem Wasser entsprungen! Alles wird
durch das Wasser erhalten! Ozean, gönn uns dein ewiges Walten..." Ich entdeckte
es wieder als Inschrift in dem Aquarium auf Helgoland! Thales hat
das erkannt, was wir "Naturgesetze" nennen. Auch er war einer der "Sieben
Weisen". Er hatte die totale Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr.
vorausgesagt. Er erklärte die Überschwemmungen des Nil nicht als Wirken der
Götter, sondern durch die nördlichen Winde, die das Wasser des Stromes gegen die
Strömung sich aufstauen ließen. Damit leugnete er nicht etwa die Göttlichkeit
der Natur. Es gebe nichts Ungöttliches. Es seien göttliche Kräfte, die das
Wasser in andere Gestalten, in Eis oder in Wolken umformen und zum "beseelten"
Ur- und Baustoff der Welt werden lassen.
Thales hat - wie Sokrates - kein schriftliches Wort
hinterlassen. Er hätte zu unserer Zeit weder promoviert werden, geschweige denn
sich habilitieren können.
Milet war auch die Heimatstadt des Anaximander.
"Der Spruch des Anaximander" gilt als der älteste Spruch des abendländischen
Denkens. Der junge Nietzsche und der spätere Heidegger sind seiner
- schwierigen –
Deutung 557 und Bedeutung
nachgegangen. "Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch
zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit. Denn sie müssen Buße zahlen und für ihre
Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit." So lautet
Nietzsches Übersetzung, die Heidegger in tiefgründigen Gedanken
erörtert und abgewandelt hat. Der Grundgedanke des Anaximander ist das "Apeiron",
das Grenzenlos-Unbestimmte als Urgrund der seienden Dinge, aus dem sich das
Warme, das Kalte, das Feste und das Flüssige entfaltet. Anaximander,
älter als HerakIit, jünger als Thales, hat sein Denken nicht aus
dem alten mythologischen Götterglauben abgeleitet. Er hat vielmehr rein,
wir würden. heute sagen, "abstrakt", gedacht. In diesem Denken ist kein Platz
für den Glauben.
Für Anaximenes, den jüngeren Gefährten des Anaximander,war der Urstoff der Welt der "Aer", "Pneuma", die "Luft". Aber sie bedeutet
für ihn zugleich Leben und Seele, ja Gott, so wie für Thales das Wasser
das Göttliche war. Er vergleicht den Menschenleib mit dem Kosmos-Leib- und hat
überdies geistreiche physikalische Theorien entwickelt, z. B. über die
Entstehung der Erdbeben, der Mondfinsternis, des Mondlichtes.
Das Denken dieser drei milesischen Philosophen läßt sich in drei
Sätzen zusammenfassen: "Die Welt ist eine Einheit. Es gibt ein
Weltgesetz. Die Welt ist ein Kosmos. Dazu aber kommt: der Gedanke der
Unendlichkeit wird hier zum erstenmal gedacht. Wir sind in das Heiligtum der
Philosophie eingetreten." (Walther Kranz).
Aus Milet stammte auch Leukippos, der mit seinem
ebenfalls in Jonien beheimateten Schüler Demokrit als Begründer der Lehre
vom Atom, dem Unteilbaren, und damit als Vorläufer der neuen Theorien der
Elementarteilchen in die Geistes- und Naturgeschichte eingegangen ist. Sie beide
haben gemeinsam in Abdera gewirkt und dort ein Lehrgebäude errichtet,
dessen Grundlage das Kausalgesetz ist: "Nichts entsteht planlos, sondern
alles aus Grund und Notwendigkeit." Sie entwickelten auch den Begriff des
"leeren Raumes", der "Leere" und unterschieden das "Volle" (Massive) vom Nichts
oder das "Seiende" vom "Nicht-Seienden", - alles ganz frühe Denkgebilde, ohne
die wir uns die heutige Atomtheorie ebensowenig denken könnten wie die
Fundamental-Ontologie in Heideggers "Sein und Zeit" oder Sartres
"L' Être et le Néant“. 558
Hier, an den Stätten der Ursprünge des abendländischen Denkens,
steht uns vor Augen, daß wir Heutigen Anlaß zur Bescheidenheit haben. Bei allem
Stolz auf die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik sollten wir nicht
vergessen, daß die geistigen Grundlagen unserer Kultur und Zivilisation von den
frühen griechischen Denkern geschaffen worden sind. Goethes Wort: "Wir
stehen alle auf den Schultern unserer Vorfahren", sollte uns vor intellektueller
Überheblichkeit bewahren!
Zu den genialen geistigen Leistungen des Jonischen Griechentums
kommt die dichterische in Homer und Sappho und die
architektonisch-künstlerische hinzu. Wir bewundern sie an dem Apollon-Tempel
in Didyma, bei aller riesenhaften Größe - er ist nie fertig geworden,
weil es nicht möglich war, ein Dach auf ihm zu errichten -
wunderbar in der Klarheit und Geschlossenheit seines
Aufbaus -
vielleicht vergleichbar der Klarheit und Kraft des vorsokratischen Denkens!?
Säulen, Treppen und Mauern sind heute noch relativ gut erhalten.
Nach diesem das Auge und den Geist beglückenden Tage auf der
Rückfahrt ein Bad in der Ägäis unweit von Didyma und abends zum
prosaischen Ausklang eine Einladung zum Dinner bei Mister Brooking.
Dienstag" 9. Mai: Nach einem Abend mit viel türkischem Rotwein
und Verstoß gegen das "Meden agan!" der Griechen und die Idee der "Mesótes" des
Aristoteles frühes Aufstehen mit dickem Haupte, von meinem "Klein-Harem"
Suschen, Vera und Antonia mit dem Morgengruß "Der Sultan ist leicht beschädigt!"
empfangen, um 8 Uhr allein mit Guido nach Aphrodisias und
Hierapolis! Auf der Fahrt ein Bild des grellen Kontrastes zwischen der alten
und der neuen Türkei: Breite asphaltierte Autostraße, Lastwagen über Lastwagen,
Busse, Pkw über Pkw, aber auch Pferdewagen, Maultiere mit armselig gekleideten
Männern und in viele Tücher gehüllten, pluderbehosten Frauen als Reiter oder zu
Fuß, oft kurz vor unserem Auto über die Straße springend, so daß wir sie fast
überfahren hätten, Kinder, Kühe, Esel, hochrädrige Karren, hin und wieder Kamele
mit ihren Lasten. Hinter Aydin ab von der Hauptstraße auf holprigem Wege
voller Löcher und Steine weiter, durch kleine anatolische Dörfer mit malerischen
Handwerksstuben und Verkaufsständen, die Männer auf der Straße sitzend,
Wasserpfeife rauchend, Tee trinkend. Ringsum bewaldete Berge, grüne Täler, im
Hintergrund Schnee auf den Bergen. Der „Weg“ wird 559
zum Sturzacker. Guido ist hier noch nie gefahren, befürchtet Achsenbruch.
Aber der Volkswagen hält durch.
Endlich Geyre, ein neu gegründetes Dorf, dahinter
das alte Geyre mit Aphrodisias, einer angeblich uralten, später römischen
Stadt, von den Byzantinern Stavropolis genannt. Ich allein in den Ruinen des
Aphrodite-Tempels. Gut erhaltene weiße, jonische Säulen, hinter ihnen die
schneebedeckten Berge des Baba Dag. Am Himmel eine tiefdunkle Wolkenwand. Ein
Gewitter zieht auf. Aber kein Regen. In einem Schuppen zahlreiche antike Statuen
und Fragmente. Grabungen sind noch im Gange. Zum Bau eines kleinen Museums ist
es noch nicht gekommen. Ein 270 Meter langes Stadion ist noch gut erhalten. Da
ich allein bin, kann ich mir ein kleines Stückchen von den Resten des Aphrodite-
Tempels stiebitzen. Weiter über Denizli nach Pamukkale zu der
berühmten, leuchtend weißen, steil aufragenden Kalksinterterrassen, die einem
erstarrten Wasserfall gleichen. Oberhalb Hierapolis, eine spätantike
Stadt mit einem Theater, zwei Nekropolen und den Ruinen großer Thermen, aus
denen ein Quellteich gespeist wird. Ich schwimme in dem 38 Grad warmen Wasser
munter herum und muß aufpassen, daß ich nicht an die unter dem Wasserspiegel
stehenden Säulenbruchstücke stoße. Hierapolis war dank seiner Thermen
ähnlich wie Pergamon ein beliebter Kurort, in dem zu römischer Zeit
glänzende Feste und Spiele für die Kurgäste veranstaltet wurden. Carl Humann
hat das alte Hierapolis archäologisch als Erster erschlossen.
Hier ist Epiktet geboren, als Sohn einer Sklavin, ein
körperlich schwacher, geistig mächtiger Denker, der an seinem Lehrstuhl in
Nikopolis die Blüte der römischen Jugend um sich versammelte und sie
anleitete, wie sie in der Aula des Kaisers, in den Konflikten des Beamtenlebens
ihre Menschenwürde und ihre innere Freiheit bewahren konnten. Der
Freiheitsgedanke des Epiktet war ein Preislied auf die
Selbstherrlichkeit des Menschen. Hier, im phrygischen Galatien,
brachten die nlieben Galater" den Brief ihres geliebten Paulus durch das
Mäander-Tal nach Antiochia ,jenen Brief, in dem der Apostel ein Preislied
auf die Freiheit als Selbstherrlichkeit Gottes sang. Hier stieß die
Verkündigung des christlichen Freiheitsgedankens mit der stoischen lehre vom
Wesen der Freiheit zusammen.
Nach 630 Kilometern Fahrt, zurück in Dunkelheit und bei Regen und
schwacher Beleuchtung, wurde ich von meinen "Haremsdamen" mit Sorgen erwartet
und mit Freuden begrüßt.
Mittwoch, 10. Mai: Wilbern berichtet interessant über
politisch Aktuelles: Mao Tse Tung verlangt Formosa zurück, Präsident
Johnson habe erklärt, er lasse es eher auf einen Krieg ankommen! Russische
Kriegsschiffe patroullieren im Mittelmeer. Nach dem Meerenge-Abkommen von
Montreux dürfen die Russen vom Schwarzen Meer aus U-Boote und andere
Kriegsfahrzeuge durch die Dardanellen in das Mittelmeer durch die Straße von
Gibraltar über den Atlantik und die Nordsee in die Ostsee laufen lassen, damit
sie dort überholt und repariert werden können. Es sei erstaunlich, wie viele
russische Flotteneinheiten "reparaturbedürftig" sind!
Heute morgen liefen englische und türkische Zerstörer in den
Hafen von Izmir ein. Ein türkisches U-Boot kreuzt in der Bucht.
Vormittags Besuch bei Dr. Adil Bir, einem türkischen
Chirurgen ("Operatör") mit deutscher, aus Freiburg stammender Frau, reizenden
Menschen. Dr. B. berichtet über Kemal Pascha, den er persönlich gekannt
hat. Eine Modernisierung der Türkei wäre heute nicht möglich ohne die von dem
großen Staatsmann und Reformer geforderte Abschaffung alter Gebräuche: Der
Polygamie, der Verschleierung der Frauen, des Fez' und Turbans, der arabischen
Schrift.
Zwei Schuhputzer am Kai versichern mich der deutsch-türkischen
Freundschaft ("Alman gut, Turk gut!") und lassen sich die Verbrüderung etwas
kosten: Der eine verlangt für das Putzen meiner Schuhe 10 türkische Pfund (fast
5 DM), der andere für die - von mir gar nicht erbetene
- Bearbeitung
meines Tagebuches mit schwarzer Schuhcreme 5 türkische Pfund. Sie müssen sich
mit einer Ermäßigung dieser Gebühren begnügen, wobei ich hoffe, daß die
deutsch-türkischen Beziehungen darunter nicht leiden werden. Frau Vighier,
die Schwägerin unseres Louis, sagte uns später, man solle höchsten sehr alten
Bettlern etwas Geld geben. Sie hätten es wirklich nötig. Hingegen würden Kinder
oft von Leuten gemietet, die sie zum Betteln auf die Straße schicken und das
Erbettelte für sich behalten!
Bei einer Abend-Party in der Wohnung des guten
Louis berichtet Mister Brooking über Verstöße gegen das Kemalsche
Verbot der Polygamie im 561
Inneren Anatoliens: Die Frauen müssen arbeiten, "bis sie nicht mehr können".
Dann nimmt der Mann sich eine neue Frau. Auch sie muß arbeiten, "bis sie nicht
mehr kann", und so fort. Unsere türkischen Bekannten bestreiten die Richtigkeit
dieser Angaben. Sie sind äußerst empfindlich, wenn man auf die frühere Polygamie
zu sprechen kommt. Sicher aber treffe zu, was Brooking über das immer
noch herrschende Tabu der Virginität sagt. Er schildert einen Fall, in dem der
türkische Ehemann in der Hochzeitsnacht das Fehlen der Virginität bei seer
17jährigen Frau feststellen zu müssen glaubte. In seiner Wut schlug er sie
brutal, warf sie hinaus und stellte sie vor ihren Eltern bloß. Zu spät erkannte
er auf Grund einer ärztlichen Untersuchung, daß er sich geirrt hatte. Die
Gedemütigte verzieh ihm nicht und ließ sich scheiden. Unverkennbar ist die
Emanzipationstendenz bei den Frauen der oberen Gesellschaftsschichten. Auch
Brookings sanfte türkische Frau MoaIIah beginnt gegen seine
autokratischen Ansprüche aufzubegehren, vielleicht zu spät. Es scheint, als
wollten die amerikanischen Männer hier, im noch unterentwickelten Anatolien,
zeigen, was sie in den USA nicht wollen oder dürfen: Ein Mann zu sein, der seine
Frau beherrscht! Nach unseren Eindrücken, die natürlich nicht zu verallgemeinern
sind, scheinen die Ehen zwischen Türkinnen und Amerikanern problembeladen zu
sein. Im Grunde lieben Türken die Amerikaner nicht, und die Amerikaner lieben
die Türken nicht. Die Gegensätze sind groß. Die Liebe mußte größer sein als die
Gegensätze, wenn die türkisch-amerikanischen Ehen gelingen sollten.
Louis Party entbehrte der Beschwingtheit, obwohl der
Hausherr unaufhörlich mit Tabletts voller Häppchen und Drinks hin- und
her-pirzelte. Vielleicht lag es daran, daß die Damen getrennt von den Herren
saßen. Bei Festen auf dem Lande sitzen die Frauen in einem, die Männer in einem
anderen Raum.
Freitag, 12. Mai: Besichtigung der Neurologisch-psychiatrischen
und der Neurochirurgischen Klinik der Ege-Universität Izmir. Der Neurochirurg
Dr. Erdem Tuncbay führt mich. Er ist, wie seine Frau, Neurologin, in
Chicago ausgebildet, seine Klinik noch ein Provisorium. Zu wenig Betten, zu
wenig Schwestern. Ein neues großes Klinikum ist in Bornova bei Izmir im
Bau. Dem Schwestern mangel wird ein wenig abgeholfen durch freiwillige
Hilfsdienste, die von Angehörigen der Patienten geleistet werden. In den
Krankenzimmern sieht man die Frauen oder Schwestern der Kranken - die Familie
folgt vielen von ihnen in das Hospital nach!
- beim
Bettenmachen, Essenausteilen und an 562 deren
Handreichungen beschäftigt. In der Psychiatrischen Klinik werden die auch bei
uns üblichen pharmakotherapeutischen Methoden angewandt. Beschäftigungstherapie
gibt es anscheinend nicht. Alkoholismus bisher äußerst selten, im Jahr nicht
mehr als zwei Entzugsdelirien. Häufiger Opium- und Haschischsuchten, selten
Heroinismus (Heroin ist zu teuer für die Armen). Hingegen wird indischer Hanf
(Cannabis sativa sive indica) auf dem Lande angebaut und als Haschisch zu
Suchtzwecken verwandt.
Nachmittags muß ich mit Halsschmerzen, Husten und leichtem Fieber
ins Bett. Abends wieder munter. Einladung zu Ehepaar Dr. Örs, Gynäkologe,
zum Fisch-Essen. Bei der Begrüßung fühlt Dr. Örs, der von meiner
Unpäßlichkeit gehört hatte, meinen Puls, macht ein bedenkliches Gesicht und
stellt fest: "Dritter Monat!"
Donnerstag, 11. Mai: Mit Guido nach Pergamon!
Unterwegs Kamel-Karawanen. Mitten auf der Straße läßt ein Mann einen Bären an
der Kette, die an einem durch die Nase des armen Tieres gezogenen Ring befestigt
ist, nach dem Klang der Trommel aufrecht tanzen!
Pergamon -
einst Hauptstadt und Handelszentrum eines der mächtigsten
Reiche der späten Antike; Das Asklepieion
- neben Epidaurus
und Kos der berühmteste Kurort des Altertums! Die Akropolis mit dem
berühmten pergamenischen Zeus-Altar, das großartige an den Steilhang
terrassenförmig herangebauten Theater
-
Superlative der Bewunderung reichen nicht aus! Als Carl Humann,
ursprünglich Ingenieur, in den Ruinen des alten Pergamon, die als Steinbrüche
für Bausteine und zur Kalkgewinnung verwendet worden waren, nur noch einige
Lesestücke gefunden hatte, begann er mit Hilfe der Antikenabteilung der Berliner
Museen gemeinsam mit Conze, später mit Dörpfeld, Bohn,
Wiegand und Knackfuß systematisch zu graben. Ihnen ist die Freilegung
der Ober-, Mittel- und Unterstadt zu verdanken. Der Bericht Humanns über
seine ersten Grabungen ist geradezu erregend. Die Tochter eines seiner engsten
Mitarbeiter, des Architekten Bohn, Frau Herta Maaß, hat mir die
Beschreibungen des Tempels des Dionysos und der Athena Polias ihres Vaters und
ein von ihm gemaltes Ölbild des Burgbergs von Pergamon sowie einige Bruckstücke
geschenkt. Ihr verdanke ich auch die Schriften Humanns, Wiegands,
Schuchardts, Trendelenburgs und Fabricius' über die
Ausgrabungen. Das 263 Pergamon-Bild hängt über der
Tür meiner Bibliothek. Mit Frau Maaß und ihrem Mann, der auf seine
älteren Tage, aus Leipzig emigriert, noch mein IItener Mitarbeiter wurde, hat
uns eine späte Freundschaft verbunden.
Vater Bohn hat die architektonische Rekonstruktion des
Pergamon-Altars erarbeitet, den wir noch einmal kurz vor der "Wende" im
September 1989 in Berlin bewundert haben. Der große Fries mit dem Kampf der
Götter und Giganten (Symbol für den Sieg der Griechen über die Galater), ist
eine der herrlichsten Schöpfungen großer hellenistischer Kunst.
Pergamon verdankt sein Aufblühen in der späteren Antike
einer Veruntreuung: Philetairos, der Begründer des pergarnenischen
Königreiches der Attaliden, dem der Seleukidenkönig Lysimachos einen
Schatz im Werte von etwa 120 Millionen DM anvertraut hatte, behielt nach dessen
unrühmlichem Tode den Besitz für sich und machte sich damit zu einem der
reichsten und mächtigsten Herrscher seiner Zeit.
Und nun das Asklepieion: Ein Bewacher zeigt uns den Weg,
eine Straße zu ihm, die erst vor kurzem ausgegraben worden und noch in keinem
Reiseführer verzeichnet ist. 17 Säulen stehen noch, teils jonisch, teils
konrinthisch, im Theater werden heute alljährlich die "Bergama"-Festspiele mit
klassischen Werken aufgeführt -
die Bibliothek, die Heilige Quelle, dieifi:1mer noch
sprudelt, der Heilige Stein mit der Schlangenornamentik, der Heilige Gang, den
die Heilungsuchenden in einem durch Hypnose oder Alkaloide hervorgerufenen
Schlafzustand durchschreiten mußten, der Tempel des Telephos, des
mythischen Gründers von Pergamon, der Asklepios-Tempel, in dem die Patienten
noch einmal beten mußten, bevor sie nach vollzogener Kur entlassen wurden
- alle diese Ruinen
leben! Sie lassen den Geist eines "Badeortes" wieder aufleben, dessen heilsame
Wirkung von dem Heil-Gott Asklepios erfleht wurde. Man hat das
Asklepieion etwas salopp eine "Mischung von Bad Wörishofen und Lourdes" genannt.
Viele der Methoden, die heute noch bei Badekuren angewandt werden, waren damals
schon im Gebrauch: Wasser- und Sonnen-, Heilkräuter- und Honigkuren, sogar
Bluttransfusionen, heiße Bäder, Schlammpackungen, auch psychotherapeutische
Behandlungen. Die Traumbehandlung im Heilschlaf -
Asklepios erschien den Patienten im Traum - bildete den
Mittelpunkt der Therapie. Wie es bei der -heutigen Traumanalyse nach Freud
üblich ist, mußte der Patient über seine Träume berichten oder sie
564 niederschreiben. Die zahlreichen noch
erhaltenen Traum-Stelen zeugen davon. Der Schlafraum -
Abaton -
durfte nicht von Unberufenen betreten werden, zu denen
Frauen kurz vor der Entbindung und Todgeweihte gehörten. Zum Dank für die
Heilung mußte ein Honorar entrichtet und ein Opfer dargebracht werden. Am
liebsten war dem Heilgott ein Hahn, den auch der seinen Tod erwartende und
wünschende Sokrates schlachten ließ. Die Begleiter des Asklepios
waren der Hund und die Schlange: Der Hund wohl wegen seines Spürsinnes, wie ihn
der gute Arzt braucht, die Schlange wegen ihrer Gabe, Heilkräuter zu finden, und
wegen ihrer Häutungen als Symbol der Befreiung von
Krankheit. Hygieia, die Tochter
des Asklepios, und Göttin, der Gesundheit,
wurde, eine Schlange fütternd, neben ihrem Vater sitzend, auf antiken Reliefs
dargestellt.
Von den Badegästen des Asklepieion wurde schon eine Art "Kurtaxe"
erhoben. Man bot ihnen dafür außer dem Gebrauch der Kurmittel auch Vorstellungen
in dem "Kur-Theater" und geistige Anregung in der dortigen Bibliothek an. Der
große römische Arzt GaIenus wirkte in Pergamon und hat hier im 2.
nachchristlichen Jahrhundert um die 500 wissenschaftliche Werke verfaßt. Mit
ihm, anderen hervorragenden Ärzten und bedeutenden Philosophen war Pergamon
nicht nur "Kurort", sondern auch ein geistiges Zentrum. Die Bibliothek auf der
Akropolis enthielt rund 200 000 Bände, die nicht in Rollen, sondern in Bögen
gestaltet und aufbewahrt wurden. Das Pergament heißt so, weil es hier
entwickelt wurde. Es hat nach dem Verfall der Herstellung des Papyros in der
späten Antike diesen Buchstoff endgültig ersetzt. Die Ägypter hatten die Ausfuhr
von Papyrosrollen verboten! Marcus Antonius hat die Bibliothek nach
Alexandria entführt und sie seiner Cleopatra geschenkt. Wer stiehlt heute
noch so viele Bücher, um sie seiner Geliebten zu Füßen zu legen?
Auf der Rückfahrt Rast am Strande einer tief eingeschnittenen
Meeresbucht. Dort seltsame "Badekabinen" eines "Strandkasinos", das aus einem
barackenartigen Flachbau besteht. In jeder Kabine ein Bett und ein Stuhl auf der
bloßen Erde. In der einen Kabine sahen wir einen Mann liegend, neben ihm eine
Frau sitzend. Zwei weibliche Gestalten, nach Guidos Meinung aus dem
Städtischen Bordell in Izmir für die Sommer-Saison beurlaubt, schauten Vera beim
Umkleiden interessiert zu. Ich wurde verschont, weil ich bereits mit meinen
565 zwei Frauen ausreichend versorgt zu sein
schien. Guido, als wir weiterfuhren: "The beach was nice, but the Ladies
were bad!"
In einem Schlemmerrestaurant köstliches Mahl aus lauter Seegetier
des Mittelmeeres, darunter die ersten Tintenfische unseres Lebens, lecker
zubereitet, aber etwas "wabbelig". Angenehm schlürfbarer Wein, heiter
schwingende Gespräche.
Sonnabend, 13. Mai: Befinden gebessert. Nachmittags bei Frau
Edibeh zum Tee. Ich muß russische Lieder auf dem Flügel spielen. Mein
spärliches Repertoire wird von der reizenden Frau des Hauses wohlgefällig
aufgenommen. Abends große Abschiedsparty bei Packetts. 40 Personen.
Anregende Atmosphäre, interessante Gespräche, kulinarische Darbietungen.
Suschen, "die Herrin vom Haus, sah heute wieder entzückend aus." Frau Vighier
erzählt von der Ausübung der Heilkunst auf dem Lande in Anatolien: Wenn jemand
krank wird, behandelt ihn der Hodscha oder der Imam mit Zaubersprüchen.
Wenn sich zeigt, daß dies nicht hilft, erklärt der muselmanische
Geistliche oder Lehrer, der Kranke sei vom Teufel besessen, und zwar vom Teufel
der Christen, und er solle sich an den hierfür zuständigen Vertreter Christi
wenden. Leider gebe es, so fügte Frau Vighier hinzu, christliche
Geistliche, die solche Gelegenheiten zu Bekehrungsversuchen mißbrauchten.
Ärztliche Behandlung sei die Ausnahme, teils wegen des noch weit verbreiteten
Aberglaubens, teils wegen des Mangels an Ärzten und Krankenhäusern.
Sonntag, 14. Mai: Morgens 6 Uhr mit Bus nach IstanbuI (Verachen
hat Angst vor dem Fliegen). Für Ausländer "schickt" es sich eigentlich nicht,
mit dem Bus über Land zu fahren! Aber die Busfahrt hat den Vorteil, Einblicke.
in die Landschaft und in das Volksleben zu gewähren, die dem Flugreisertden
versagt bleiben. Zum Beispiel der Abschied eines Sohnes von der Familie: Der
Sohn küßt dem Vater die Hand, legt dessen Hand an seine Stirn und küßt dann
beide Wangen des Vaters. Beim Abschied von einer Tochter, die vielleicht eine
Stelle in Istanbul antreten will, um etwas Geld für die Familie zu verdienen,
weinen Eltern, Geschwister und Großmutter. Wie und wann werden sie sie
wiedersehen?
Die anatolische Landschaft: Grüne, bewaldete Berge,
fruchtbare Täler, armselige Dörfer, einsame Strecken. Im Bus unaufhörliche
Berieselung mit türkischem Gesang aus einem fast unerträglichen Lautest-Sprecher.
Endlich der 566 schneebedeckte "Bithynische Olymp",
Ulu Dagh, dann Bursa, die alte Hauptstadt des Osmanischen Reiches,
die ich schon von meiner Studentenreise her kenne. Mit der Fähre über das
Marmara-Meer und von Üsküdar (Skutari) über den Bosporus, vorbei an
einer langgestreckten Kaserne, in der einst Florence Nightingale während des
Krimkrieges gewirkt hat, nach Istanbul.
Istanbul
Bei der Ankunft am Taksim-Platz kommt ein junger Mann auf mich zu
und fragt mich in gutem Deutsch: "Sind Sie Professor Janz?" Abdullah in
Izmir hatte alles vortrefflich arrangiert. Ein Mini-Bus brachte uns zum Hotel "Santral"
(Central), einer einfachen, aber angenehmen Herberge mit freundlicher Atmosphäre
und Deutsch sprechender Besitzerin. Türkisches Essen. Spätabends alleine zum
Galata-Kai, an dem unsere "Truva" angelegt hat. Auf der Brücke angelnde
Männer, Bettler, junge Leute, nirgends Frauen zu sehen! Hinauf zur "Yüksek
Kaldirim" , der "Steilen Treppe", die nach Beyogoglu (Pera) führt.
Wiedersehen mit dem Haus des Deutschen Clubs "Teutonia", in dem wir damals als'
Studenten, in einem Saal auf der Erde schlafend 10 Tage lang gewohnt haben.
Freundliche Begrüßung durch eine Münchnerin, die das Restaurant bewirtschaftet
und bitter über den Rückgang der Geschäfte klagt. Sie nimmt mich und fünf junge
Türken im Taxi mit zu unserem Hotel. Die Abendluft im Mai ist sehr kühl in
Istanbul.
Montag,
15. Mai: Vormittags Blaue Moschee; Hippodrom, Kahriye Gamil, die frühere Kirche
des Klosters Chora mit den kostbaren byzantinischen Dekkenmosaiken, Alt-Stambul
mit Holzhäusern und schmalen, schmutzigen Gäßchen. Nachmittags Topkapi Sarayy
mit den einzigartigen Sammlungen aus dem Schatz der Sultane, Goldkunstwerken,
Riesen-Smaragden, chinesischen, französischen und deutschen Porzellanen. Kleine
Einkäufe im Großen Bazar. Abends zu Dr. Sedat Katiorioglu, Facharzt für
Hals-, Nasen-Ohrenheilkunde, der einmal Adalbert in Dülmen vertreten hat und
jetzt an der Universitäts-Ohrenklinik in Istanbul arbeitet, kurz vor der
Dozentur steht. Seine Frau ist Fachärztin für Dermatologie, auch in Deutschland
tätig gewesen, klug und humorvoll. 567
Fahrt
am Bosporus entlang, vorbei an Dolma Bache bis Rumeli Hissar,
an der alten, von
Theodosios erbauten Stadtmauer entlang zur Küste des Marmara-Meeres nach
Yesickoy,
dem neuesten Stadtteil
von Istanbul mit Hochhäusern,
Campingplatz und Strandbad. Gastfreie Bewirtung mit original türkischen
Gerichten, entzückender Abend im Hause des HNO-Kollegen und seiner
liebenswürdigen Frau.
Dienstag, 16.
Mai: Vormittags Hagia Sophia! Jetzt erst bewundere ich das
frühchristliche Mosaik, das ich bei meiner ersten Orientreise nicht
genügend beachtet hatte: ein Hauptwerk der byzantinischen Kunst von vollkommener
Schönheit. Peter Bamm hat es in den "Frühen Stätten der Christenheit"
sehr anschaulich geschildert: In der Mitte thront auf Goldgrund die himmlische
Majestät der Madonna mit dem Kinde, zu beiden Seiten die irdischen Majestäten
des Kaisers Konstantin und des Kaisers Justinian. Konstantin
bringt der Madonna auf seiner "kaiserlichen Hand" die neue Hauptstadt Nova
Roma dar, Justinian
auf der seinen die neue Kirche der Heiligen Weisheit."
Nachdem die
Türken am Abend des 29. Mai 1453 die Stadtmauer von Byzanz erstürmt
hatten, holten sie das Kreuz von der Hagia Sophia herab und pflanzten den
Halbmond auf: Die Kirche wurde nach fast 1000jähriger christlicher Vergangenheit
mit einem Schlage islamische Moschee, und aus der Hauptstadt des
griechisch-byzantinischen Weltreiches "erwachte Konstantinopel als Hauptstadt
des islamisch-türkischen Weltreiches. Dieser Vorgang ist einzig in der
Geschichte." Soweit Peter Bamm.
Bei aller
Großartigkeit der Hagia Sophia zog es uns weit mehr zur Blauen Moschee
hin, zu diesem farbe- und raumgewordenen Traum von der Größe, Fülle und
Schönheit des Glaubens! Im Hof der Blauen Moschee hören wir den Ruf des
Muezzins zum Mittagsgebet. Der Abschied von Istanbul, dieser
faszinierenden Stadt, die Alexander von Humboldt neben Rio de Janeiro
und Neapel zu den drei schönsten Städten der Welt gezählt hat, fällt
schwer.
Um 14 Uhr gehen
wir an Bord unserer getreuen "Truva“.Mehmet steht auf dem
Bootsdeck und begrüßt uns freudig, spendiert ein Täßchen türkischen Kaffee und
serviert Vera und mir eine Orangeade. "Nix bezahlen!", gebietet er streng. Die"
Truva" legt ab. Zum letzten Mal streift unser Blick die
568 einzigartige Stadt am Goldenen Horn.
Ruhige nächtliche Fahrt über das Marmara-Meer und durch die Dardanellen,
vorbei an deren engster Stelle, die Leandros Nacht für Nacht
durchschwimmen mußte, um zu seiner Geliebten, der Aphrodite-Priesterin Hero,
zu gelangen. Als eines Nachts das Leuchtfeuer, das
ihm den Weg gewiesen hatte, erlosch, ertrank Leandros und Hero
stürzte sich in den Tod. Grillparzer hat dieses rührende, von Musaios
im 5. nachchristlichen Jahrhundert neugefaßte Märchen in seinem herrlichen
Trauerspiel ndes Meeres und der Liebe Wellen" nachgedichtet. Wir sind im
Hellespont, dem nach Helle, der Tochter des mythischen Königs von
Boiotien, Athamas, benannten Meerenge zwischen Europa und Kleinasien.
Auch Helle fand hier - auf der Flucht vor ihrer bösen Stiefmutter Ino
- den Tod.
Der Hellespont, nach Dardanos, einer Stadt bei Troja „Dardanellen"
genannt, wurde schließlich zum Grab von Soldaten der englisch-französischen
Flotte, die im Ersten Weltkriege, 1915, vergeblich versucht hatte, gegen den
Widerstand der deutschen und türkischen Truppen die Durchfahrt durch die
Meerenge zu erzwingen. Sie ist auch heute noch strategisch wichtig und wird es
bleiben. Die Schiffe passieren sie, wie mir Mehmet sagte, im allgemeinen
nur nachts.
Mittwoch, 17. Mai: Morgens 8 Uhr Ankunft in Izmir! lch kam
nach Smyma zurück wie ein Trunkener vom Gastmahl", läßt Hölderlin seinen
Hyperion sagen. Das konnten wir von uns nicht behaupten. Eher hätte ein anderes
Wort des Hyperion gepaßt: "Mein dürftig Smyma kleidete sich in die Farben meiner
Begeisterung und stand wie eine Braut da...!" Und siehe da: Unser Suschen
steht in einem weißen Kleide auf dem Balkon ihres Hauses und winkt uns fröhlich
zu! Sie hatte ein köstliches Willkommens-Frühstück bereitet
(„Peter-Pan-Cakes“ mit Sirup-Sauce).
Mittags Einladung zu einem „Türkischen
Hochzeitsessen“ im Hause Dr. Adil Birs:
Tscherkessen-Huhn mit Walnußsauce, Fleischbrühe mit Walnuß und Knoblauch,
Weinblätter mit Reis, Kürbis mit Fleisch gefüllt, türkischer Rot- und Weißwein.
Herzerwärmende Gastfreundschaft. Außer uns ein Colonel Welsh mit
kunsthistorisch interessierter Frau. Dr. Adil Bir zeigt mir Photographien
vom Befreiungs- und Reformierungskampf Kemal Atatürks. Dann im Eiltempo
zu Frau Dr. Say, in deren Haus ich noch
einmal meine beiden russischen Lieder spielen mußte. Abschied von Izmir
mit leiser Wehmut im Herzen. Frau Say
steht 569 winkend im grünen Kleide am Fenster. Mit
zwei Pferdedroschken zum Schm. DIe "Truva" gleitet aus dem Hafen. Wir stehen auf
der Kommandobrücke und winken. Da! auf dem Balkon die weiße Gestalt unserer
lieben Suschen mit Wilbern, beide winkend. Ein paar Häuser daneben das Ehepaar
AdiI Bir, eine weiße Fahne schwenkend! Der Kapitän läßt für uns ein
dreimaliges Extra-Sireneignal ertönen. "For your friends!", sagt er lächelnd.
Langsam entschwindet das liebgewordene Smyrna unseren Blicken, mit ihm die
traumhafte Wirklichkeit dieser Reise.
"Güle, güle gidin, güle, güle gelin!": "Komme heiter mit Rosen,
gehe heiter mit Rosen!" tönt es unhörbar uns nach. "Inschallah!", "Möge Gott es
geben!" flüstern die Wellen.
Zahlreiche weitere Reisen haben mein Leben und Erleben
bereichert. Ich will sie nur in stichwortartigen Umrissen erwähnen: Einladung
unserer schwedischen Freunde Govenius
- Frau Eva war eine
erfolgreiche Schriftstellerin in ihr schönes, weißes, an Schloß Ekeby in Selma
Lagerlöfs "Gösta Ber.ling" erinnerndes Gutshaus bei Vexjö in Südschweden
zum rituellen Krebsfang und -essen (mit hoher Geschmackskultur geschmückte
Tafel), danach psychiatrisches Consilium in Göteborg, anschließend stille
Tage in Govenius'
Ferienhäuschen in AriId an der graufelsigen, mit roten Rosen bewachsenen
Küste des Kattegatt. Besuche bei unseren finnischen Freunden Karjalainen
in Sotkamo und Kajaani, inmitten der Wälder und Seen
Nordfinnlands, von Frau Irma im Kahn zu ihrer eigenen Insel gerudert, die uns
mit absoluter, menschenferner, fast unheimlicher Stille umfing. Schiffsreise mit
meinem corpsbrüderlichen Freund Harald Reicke von Kopenhagen über
die Färöer nach Reykjavik mit dem isländischen, nach dem noch
aktiven Vulkan "HEKLA" genannten Schiff. Am frühen Morgen des dritten Tages
vorbei an dem Naturwunder des im Jahr zuvor (1963) aus dem Nordatlantik
hervorgebrochenen Vulkans, dessen rotglühende Lava sich in das Meer ergoß und
weiße Dampfsäulen aufsteigen ließ
- aus ihm ist eine neue Insel. "Surtsey" entstanden - ,
großartiges, kontrastreiches Landschaftserlebnis Islands der Seen,
Wasserfälle, heißen Quellen, Geysire, Gletscher, Lavafelder; seine reine,
staubfreie Luft, die den Farben der Häuser eine leuchtende Klarheit verleiht.
Flug nach West-GrönIand, Motorbootfahrt zwischen schwimmenden Eisblöcken
zu einem Eskimo-Dorf, mehrere Tage durch Schlechtwetter im
570 grönländischen Nassarssuaq in einem primitiv-barackenartigen
Hotelchen "Arctic" festgehalten; notärztliche Versorgung eines schwedischen
Film-Regisseurs, Schülers von Ingmar Bergman, der in einem Geysir auf
Island schwere Brandwunden am Bein erlitten hatte und sich beim Verbandwechsel
ohne Narkose! -
in einen autosuggestiv durch Yoga erzeugten Zustand der
Schmerzlosigkeit versetzen konnte. Besichtigung der von Gisli Sigurbjörnson
in Reykjavik geschaffenen und vorbildlich gestalteten Altenheime.
Gastliche Aufnahme im Hause Helgas und Gislis.
Besuch unserer ungarischen Freunde Alfred und Piroska Simkó
in Budapest - auf der Donaufahrt dorthin akut erkrankt an Präurämie, bedrohliche
Krisis, Überwachung durch kommunistische Spitzel, Fehldiagnose im
Ignaz-Semmelweis-Krankenhaus, enttäuschendes Wiedersehen mit dem einst berühmten,
inzwischen ziemlich verwahrlosten, Gellért-Hotel,
Antonias mutige 600-Kilometer-Rückfahrt von Passau nach Hause, Errettung durch
transurethrale Elektroresektion der hypertrophen Prostata, von Dr. Schrader
im Kreiskrankenhaus Burgwedel kunstvoll ausgeführt.
Ein anderes Mal entzückende Autofahrt mit Antonia, Vera und
Suschen ins österreichische Burgenland -
die Drei waren meine munter plaudernden "Zwitschervögel"
- , dort freudige
Wiederbegegnung mit unseren lieben Freunden Dieter (Bildhauer) und Doris
(Malerin) Lötsch. Mehrfache Einladungen eines ebenso dankbaren wie
reichen Patienten in seinen "märchenhaften" Besitz auf EIba mit
unüberbietbaren Darbietungen: Schönheit der Insel (Blick auf Korsika) und des
Meeres und der Sonnenuntergänge, absolute Ruhe, alle denkbaren Bequemlichkeiten:
Swimming Pool, zwei schnelle Motorboote, ein nagelneues Auto zur freien
Verfügung ("Wenn Sie's kaputtfahren, trifft's keinen
Armen!"), vollkommener Service, ein
Übermaß an kostbaren Geschenken '"
Perfektion der Genüsse, die nichts mehr zu wünschen übrig ließ und uns nach
einiger Zeit wie ein Symbol des faden Nichts anzugähnen schien. (Der
spendable Gastgeber selbst ein Mensch in seinem Widerspruch: Überzeugter
Kommunist und erfolgreicher Kapitalist, spöttischer Atheist und großzügiger
Sponsor eines marmornen Altars mit seinem in goldenen Lettern eingravierten
Namen). Tucholskys Wort "Soldaten sind Mörder" machte er sich zu eigen
und übertrug es auch auf mich, weil ich im Kriege als waffen loser Arzt Uniform
571 betragen hatte!. Er starb bei einer
Gerichtsverhandlung gegen einen PresseIllustrierten-Konkurrenten!)
Eine Pfingstfahrt nach Holland brachte mich mit Antonia in
die Heimat meiner väterlichen Vorfahren nach Assen und Groningen
in Vriesland. In Assen waren wir Gäste meines ehemaligen Leipziger
Mitarbeiters Dr. Popken Eringa und seiner deutschen Frau, die er in
Leipzig kennengelernt hatte, als sie an der Jugendpsychiatrischen Abteilung
unserer Klinik arbeitete. Wir wurden sehr gastfreundlich aufgenommen und
erfuhren auf der ganzen Hollandreise keine Spur von Deutschfeindlichkeit. Leider
konnte ich aus den Kirchenbüchern nichts Urkundliches über die mennonitischen
Familien Janz, Rosenfeld, Mertens ersehen, die von den
lutherischen Christen vertrieben wurden, Anfang des 18. Jahrhunderts
auswanderten und sich in der Danziger und Tilsiter Niederung ansiedelten. In
einer freundlichen Gaststätte am "Alten Rhein" vertraute sich mir die Wirtin
schluchzend mit ihrem Kummer über ihren alkoholabhängigen Ehemann an und blieb
danach noch lange wegen ihrer eigenen schweren Erkrankung (Blutkrebs) in
brieflicher Verbindung mit mir. Später haben mir die vorzüglichen Einrichtungen
für die Versorgung geistig Behinderter in Holland wichtige Anregungen für unsere
IItener Arbeit gegeben. Überall begegnete ich freundlicher, ressentimentfreier
Kollegialität. Der Utrechter Psychiater Rümke, dessen geistvolles Buch
"Eine blühende Psychiatrie in Gefahr" mich lebhaft angesprochen hatte, lernte
ich bei dem psychiatrischen Weltkongreß in Madrid
1966,
auf dem ich über die "Problematik der Hoffnung im psychotherapeutischen Dialog"
gesprochen hatte, auch persönlich kennen. Von Rümke stammte eine
Habilitationsschrift über die Psychologie und Psychopathologie des
Glückserlebens. Als wir in einem Bus zum Escorial fuhren, war der Platz neben
ihm noch frei, und ich fragte ihn, ob er erlaube, daß sich die "Hoffnung" neben
das "Glück" setzen dürfe. Seine Antwort: "Eine schönere Nachbarschaft könnte ich
mir nicht denken!" Einer Einladung des ideen- und erfolgreichen Pharmakologen,
Chemikers und Pharmazeuten Dr. Poul Janssen - er hat wichtige neue
Neuroleptika wie Haldol, Imap, Orap entwickelt -
verdanke ich, daß ich das unweit seiner Forschungs- und
Produktionswerke im belgischen Beerse gelegene Dorf GheeI
kennenlernen konnte, in dem "psychiatrische Familienpflege" bereits um das Jahr
600 n. Chr. entstanden ist. Nach ihrem Muster, aber in 572
modernisierter und differenzierter Form, hat Dr. Ferdinand Wahrendorff
die IItener Familienpflege aufgebaut. In meiner Schrift "Hundert Jahre IIten
- hundert
Jahre Psychiatrie" habe ich dies erwähnt. Von Dr. Janssen und seinen
Mitarbeitern wurde ich mit einer fast zu üppigen Gastlichkeit empfangen und
durch ganz Belgien gefahren, so daß ich Antwerpen kennenlernen und die
Schönheiten Gents, Brügges und Brüssels erleben durfte.
Bei Studienreisen in die Tschechoslowakei, nach
Jugoslawien (mit Vorträgen in Prag und Zagreb) und in die
Sowjetunion (nach Moskau und St. Petersburg, das damals noch
Leningrad hieß) lernte ich die Vorteile, aber auch die Grenzen eines
staatlich gelenkten "Dispensairesystems" in der Behandlung und Vorbeugung des
Alkoholismus gegenüber den Nachteilen einer allzu liberalen Gesundheitspolitik
bei uns kennen.
Meine Forderung nach einem "gemäßigten Dirigismus" in der Abwehr
der Alkoholgefahren, der sich mit einer demokratischen Verfassung durchaus
vereinbaren läßt, blieb in Deutschland ohne praktische Resonanz. Dankbar denke
ich an meine freundschaftliche Beziehung zu dem Prager Psychiater Dr. Frantisek
FaItus und seiner lieben Frau Marta zurück. Er arbeitete in der
Vorbereitung für die Habilitation an der Psychiatrischen Universitätsklinik in
Prag, an der Ferdinand Wahrendorff, von einem Privatdozenten Dr.
Fischl angeleitet, seine ersten psychiatrischen Erfahrungen erworben hatte.
Herr Faltus zeigte mir das Krankenzimmer, in dem Friedrich Smetana an dem
Endzustand einer T abo-Paralyse gestorben ist.
1965 reiste ich mit meinem Freunde Francisco Liavero und
Robert Cornelsen zur Jahrestagung der American Psychiatric Association in
die USA. Wir haben in New York, Baltimore, Washington
und Boston 24 psychiatrische Krankenhäuser besichtigt und vieles
Fortschrittliche, aber auch manches Rückständige zu sehen bekommen. Das kühne
Vorhaben einer Reform des amerikanischen Gesundheitswesens, im besonderen einer
verbesserten Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter, das Präsident
John F. Kennedy geplant hatte - seine Schwester war selbst geistig
behindert - , wartet immer noch auf seine Realisierung. Ich habe neben im besten
Sinne modernen baulichen Einrichtungen und therapeutischen Verfahren
psychiatrische Hospitäler gesehen, in denen rund 1000 Patienten in einem
573 Hause mit z.T. vergitterten Fenstern
untergebracht waren. Aber überall stieß ich auf größtes Verständnis für die
Notwendigkeit einer Reform und auf kollegiale Bereitschaft, uns alles, auch
Unzulängliches, zu zeigen und mit uns darüber zu diskutieren. Großen Dank
schulde ich den Kollegen Kalinowsky in New York, Kohlmeier in
Baltimoreund Alexander in Boston.
Eindrucksvoll war für mich die Liberalität und Vorbehaltlosigkeit
des Umganges weißer mit schwarzen Ärzten und nichtärztlichen Mitarbeitern. Ein
schwarzer Chefarzt wird von seinen weißen Untergebenen problemlos anerkannt,
wenn er durch Qualifikation und Charakter Autorität repräsentiert und umgekehrt.
Die Amerikaner verstehen es ohnehin
- wir Deutschen
müssen es noch lernen - die
Interessen eines Teams denen des Einzelnen voranzustellen.
Nachahmenswert ist auch die freiwillige Hilfe, mit der
alleinstehende, nicht berufstätige Frauen dem Mangel an Krankenpflegepersonal
abhelfen. Diese karitative Bereitschaft ist, wie ich erfuhr, zu einem großen
Teil den zahlreichen Sekten in den USA zu verdanken.
Interessiert hat mich auch die Anwendung eines sehr einfach
erscheinenden gruppentherapeutischen Verfahrens, das sich "Remotivation-
Training" nennt: In freiem, nicht auf den Leiter oder ein bestimmtes Thema
zentriertem Gespräch wird in der Gruppe über alles, nur nicht über Krankheit,
Politik und Religion, gesprochen. Der Patient soll "wiedermotiviert" werden,
sich von allem, was mit seiner Krankheit zusammenhängt, abzulenken und sich
lebenspraktischen Dingen zuzuwenden. Es wird also das Gesundgebliebene im
psychisch Kranken angesprochen und gefördert, eine Aufgabe, die auch ich für
ungemein wichtig halte - so "simpel"
sie auch erscheinen mag.
Um uns selbst von den vielfältigen Einblicken in die
amerikanische Psychiatrie abzulenken und von den zahlreichen Besichtigungen zu
erholen, flogen wir Drei von Washington nach Miami. Dort nahmen wir uns
einen Leihwagen und fuhren über die mehr als 20 Brücken von lnselchen zu
lnselchen in der Florida-Straße zwischen Atlantik und dem Golf von Mexiko nach
Key West Stätte der Erinnerung an Ernest Hemingway. und Tennessy
Williams. Liavero, des Englischen nicht mächtig, konnte sich mit
den weißen und schwarzen Florida-Amerikanern besser verständigen, weil in ihrem
Jargon noch einige spanische Sprachreste aus der Kolonialzeit übriggeblieben
sind. 574 Gemeinsam mit einem munteren Wiener
Hotelier erfreuten wir uns an dem Zauber der Flora und Fauna Floridas .
Die letzten großen Reisen meines Lebens führten mich über
Guatemala nach Mexiko (gemeinsam mit meinem späteren Nachfolger Jan
Cornelsen) (zum Weltkongreß der Psychiatrie 1971, mit Vortrag
"Interpersonalphänomenologie als Grundlage einer Therapie des Alkoholismus" und
Vorführung unseres IItener Films "Psychiatrische Ausdruckstherapie"), nach
CoIumbien (Internationales und interdisziplinäres Seminar" Theologie,
Wissenschaft, Humanismus" 1973, mit Vortrag über das obengenannte Thema), nach
ThaiIand (Bangkok) (31. Internationaler Kongreß über Alkoholismus
und Drogenabhängigkeit mit Vortrag über "Mißbrauchsverhalten als Aufgabe
präventiver Gesundheitserziehung"), von dort nach Nepal (Kat man du, mit
Rundflug über den Himalaja zum Mount Everest), und zum Abschluß nach Indien
(New Delhi und Agra) (1975).
Die Einladung zu dem Seminar im "Recinto de Quirama", Rio Negro,
bei Antiochia in West-Columbien wurde für mich zu einem der anregendsten und
nachhaltigsten geistigen Erlebnisse meines Lebens. Ich hatte sie der Vermittlung
unserer Freunde Ursel und Ottilio Küstermann zu verdanken. Das Seminar
fand statt auf dem Landsitz, einer ehemaligen "Finca", eines reichen Advokaten,
Dr. Rodriguez, der ein staatlich gefördertes "Instituto de Integracfon
cultural" gegründet hatte. Das erdgeschössige Gästehaus lag idyllisch, still und
klimatisch günstig auf der hügeligen Hochebene der östlichen Ausläufer der Anden
(Kordieren). Teilnehmer waren katholische Theologen, meist Ordensgeistliche,
Philosophen, Natur- und Sozialwisssenschaftler, Mathematiker, Politologen, ein
Diplomat (der Peruanische Botschafter in Bogota, Wagner de Reyna, Schüler
Heideggers), ein Schweizerischer evangelischer Pfarrer und zwei
Psychiater, Prof. Pauleickhoff aus Münster und ich. In einer Art
mönchischer Klausur wurde 11 Tage lang die weitläufige Rahmenthematik des
Seminars von den jeweiligen wissenschaftlichen Aspekten der Teilnehmer in
Arbeitsgruppen behandelt und am Nachmittag im Plenum diskutiert. Menschlich
besonders nahegekommen bin ich hierbei dem Bonner Philosophie-Ordinarius Gerhart
Schmidt, mit dem und später auch mit seiner aus Ostpreußen stammenden
Frau Christine (ihre Großeltern hatten das Gut Wenzischken bei
Heinrichswalde in der Tilsiter Niederung von meinen 575
Großeltern gekauft!), eine sich immer mehr vertiefende Freundschaft verband. Ihm
verdanke ich die scharfsinnig-kritische Mentorschaft in meinen
amateurphilosophischen Versuchen,
psychopathologische mit philosophischen Fragestellungen zu verbinden.
Der Züricher Jesuitenpater Dr. David, ein eminent kluger und persönlich
liebenswerter Mann, sagte mir auf meine Frage, ob ich als NichtKatholik, der im
Meßwein nicht das Blut und in der Oblate nicht den Leib Christi, sondern
Gleichnisse seiner Gegenwärtigkeit sehen kann, kirchlich legitimiert sei, an der
Eucharistiefeier, die dort nachmittags stattfand, teilzunehmen (was ich einmal
tat): "Nach der streng dogmatischen Haltung des Vatikans nicht! Aber wir
Jesuiten denken da etwas liberaler, und Rom wird es später vielleicht auch
einmal tun!" In aller Eile übersetzte er mein Vortragsmanuskript in elegantes
Französisch. Fasziniert war ich von dem Vortrag des Leiters des
wirtschaftswissenschaftlichen Forschungszentrums am Eidgenössischen
Technologischen Institut Zürich, Prof. Bruno Fritsch. Er sprach über den
"Versuch einer integrativen Betrachtung der Subsysteme", ausgehend von der
Studie des Club of Romeund dessen Bericht "Zur Lage der Menschheit
-
Grenzen des Wachstums".
Mesarovic und Pestel. Mit "Subsystemen" sind die
exponentiell wachsenden, zunehmend instabil gewordenen territorialen,
maschinellen ("man machine"), sozialen, biologischen und ökologischen Prozesse
unseres Zeitalters gemeint. Die Kernfrage, um die es dem Club of Rome geht:
"Welche heute vorherrschende Beziehungen müssen sich ändern, damit das
exponentielle Wachstum. in einen Gleichgewichtszustand ("Homoeostase")
übergeht?" (Dennis Meadows). Fritschs kritische Gedanken und meine
Gespräche mit ihm haben mich angeregt, ein Konzept zu entwerfen, mit dem das vom
Massachusetts Institute of Technology (MIT) erarbeitete "WeltmodeU" (J. W.
Forrester) durch anthropologisch, epidemiologisch und soziologisch fundierte
Analysen der "chemischen Inweltverschmutzung" erweitert und differenziert
werden sollte. Mit diesem neuen Wort meine ich die" Verschmutzung", die der
Mensch im Industriezeitalter sich selbst zufügt, in dem er Alkohol,
Rauschdrogen, Arzneimittel, Tabak und andere psychotrope Stoffe durch ihren
Mißbrauch zu Schadstoffen macht. Von der naheliegenden Annahme ausgehend,
daß wir es bei diesem Mißbrauchsverhalten und seiner statistisch erwiesenen
Zunahme mit einem Parallelprozeß zu dem exponentiellen Wachstum der heutigen
Umweltverschmutzung zu tun haben, könnte in das künftige MIT-Modell ein
576 international und interdisziplinär
koordiniertes Verbundforschungsprojekt einbezogen werden als Grundlage
langfristiger Strategien mit dem Ziel eines präventiven Inweltschutzes"
durch eine bereits im Kindergarten beginnende systematische, wissenschaftlich
fundierte und permanente Gesundheits-Erziehung.
In mehreren deutsch- und englischsprachigen Veröffentlichungen
und in meinem Vortrag in Bangkok habe ich 1974, 75 und 83 mein Programm
vorgestellt und mit wissenschaftlichen, praktischen und ethischen Argumenten zu
begründen versucht.
"Die Programme sind schöner als die Realitäten", sagte mir einmal
eine skeptische Kollegin. Sie hat Recht. Auch ich selbst mache mir keine
Illusionen über die Realisierbarkeit und das Utopische meines Programms. Aber
Utopien gehören nun einmal zu den Merkmalen einer geistes- und
gesellschaftsgeschichtlichen Krisenepoche, und ohne utopische Visionen werden
wir auf dem schwierigen Wege zu Bewältigung ihrer T ei/erscheinungen nicht
vorankommen.. "Fortschritt beruht auf ständiger Reibung von Realitäten mit
Utopien" -
Ein treffendes Wort des Zukunftsforschers George
Brennan!
"Wer aber eine wirksamere Gesundheitserziehung fordert, die den
Gefahren der Selbstschädigung des Menschen durch den Mißbrauch psychotroper
Stoffe begegnen soll, wird nur glaubwürdig sein, wenn er sich auch seiner
eigenen Verantwortung für eine gesundheitsbewußte, vom Gesetz des Maßhaltens
bestimmte Lebensführung verpflichtet weiß." "Bemühen wir uns Alle, jeder im
Bereich seiner Aufgaben und Möglichkeiten, durch das vorgelegte Beispiel dazu
beizutragen, daß Zukunftsperspektiven einer vorbeugenden Gesundheitserziehung,
die heute noch als Utopien erscheinen mögen, zu Realitäten von morgen werden
können!" Damit schließt das Manuskript meines aus verschiedenen Publikationen
zusammengestellten, aber nicht veröffentlichten Büchleins "Abhängigkeit und
Mißbrauch von psychotropen Stoffen -
Problem unserer Zeit Herausforderung des Arztes".
Entspannung von dem doch recht anstrengenden Programm des
columbianischen Seminars brachte uns ein Wochenende an der Karibik in
Cartagena, dem Heimatort des später so weltberühmt (Nobelpreisträger)
gewordenen Schriftstellers Marquez. Aber die Gespräche gingen dort
weiter. Zur Abwechslung spürte ich auf dem (im wörtlichen SinneI) Schwarzen
Markt in Cartagena, als ich an der Kamera hantierte, plötzlich eine fremde Hand
in meiner 577 Hosentasche: Ein Negerjunge hatte
mir, dem einzigen Weißen auf dem Platz, blitzschnell den Inhalt entrissen, und
war im Gewühle schwarzer Menschen entschwunden. Es tat mir leid, daß der arme
Junge sich mit einer kärglichen Beute begnügen mußte: Ich hatte vorsorglich nur
15 Pesos (etwa 1,50 DM) und ein Taschentuch auf diesen Erkundungsgang
mitgenommen!
Das Seminar wurde nach einem entzückenden Abschiedsabend mit
Gitarrenspiel und südamerikanischen Liedern fromm und feierlich mit einer vom
Bischof und 8 Priestern zelebrierten Abschiedsmesse beendet und in Anwesenheit
des Gouverneurs der Provinz Antiochia und des für die Vergabe von
Forschungsmitteln zuständigen staatlichen Vertreters offiziell abgeschlossen.
Zuvor waren von den Gruppen-Moderatoren Kritik und Verbesserungsvorschläge
vorgetragen worden. Ich hatte vorgeschlagen, künftig auch Nichtchristen,
marxistische und andere Atheisten, Hindus, Buddhisten, Taoisten teilnehmen zu
lassen. Ob es zur Fortsetzung dieses vielversprechenden Seminars im
Kolumbianischen Recinto de Quirama gekommen ist, weiß ich nicht. Mit ein paar
improvisierten Worten (in Spanisch) dankte ich Dr. Rodriguez, dem
"Subdirektor" Dr. Litto Rios, den anderen Herren des Institutes und den
Helferinnen und Helfern im Namen der deutschen Gruppe für die Gastfreundschaft
und die Kunst, das rechte Maß zwischen Organisation' und Improvisation gefunden
zu haben.
Meine Reisen nach Guatemala und Mexiko, Thailand, Nepal und
Indien haben mir zwar außer interessanten wissenschaftlichen Anregungen und
persönlichen Begegnungen vielfältig fesselnde Einblicke in die
Präkolumbianischen und alt-indischen Kulturen vermittelt. Aber die
Fremdartigkeit der Architektur und die Grausigkeit der mesoamerikanischen
Rituale bestätigten mir nur, daß ich ein passionierter, "unverbesserlicher"
Europäer bin und bleiben werde. Die Mythologie der Azteken, Maya, Tolteken steht
für mich tief unter dem humanen Geist des Griechen-, Römer- und Christentums.
Die Tempelstadt Teotihuacan in Mexiko, die Maya-Pyramiden in Tikal
(Guatemala) empfinde ich als ebenso großartig wie häßlich. Ich gäbe sogar die
Schönheit des Taj Mahal in Agra her für die des Parthenon.
Nur eines will ich noch andeuten: In der Welt der altindischen
Kulturen, namentlich in den Religionen des Ewigen Weltgesetzes, wie Helmuth von
GIasenapp sie nennt, des Hinduismus oder Brahmanismus, sehe ich geistig
578 Verwandtes, ja, Gemeinsames. Wenn Sarvapalli
Radhakrishnan als neuerer indischer
Religionsphilosoph, ein Hindu, schreibt: "Religion besteht nicht in der
Anerkennung einer Formel, sie ist vielmehr ihrem Wesen nach eine Aufforderung zu
einem geistigen Abenteuer, zu einer geistigen Wiedergeburt... sie bedeutet einen
erleuchteten Geist und einen umgestalteten Willen...", so ist mir das ganz nahe.
Dieses Ziel könne auf den verschiedensten Wegen erreicht werden, "denn alle
Pfade führen zur Spitze des Berges, es ist
... bedeutungslos,
welchen wir einschlagen..."Helmuth von GIasenapp sagt hierzu: "Von dieser
Einstellung zum Wahrheitsgehalt der Religion hat das Abendland viel zu lernen."
Ich mache mir auch bestimmte Gedanken aus buddhistischer Dichtung
und Weltdeutung zu eigen, etwa: "Wer in deinem Herzen wohnt, ist dir nah, auch
wenn er weilt in fernen Zonen. Fern jedoch sind alle, welche hier, aber nicht in
deinem Herzen wohnen." (Canakya, Indien, 322-258 v. Chr.) Oder "Wie auf dem
Lotosblatt Tropfen zergehen, siehst du das Leben im Winde vergehen. Steig' in
den Nachen: ;Die Freundschaft mit Guten, Rette dich so aus des Weltstroms Fluten
I" (Dhammapada 14, Vers 5) (Nachdichtung von Otto von GIasenapp,
Übersetzungen von seinem Sohn Helmuth, der in Königsberg gelehrt und außer
seinen Büchern - u.a. "Die indische Welt", "Die fünf Weltreligionen" - eine
lesenswerte Autobiographie hinterlassen hat.
Goethes Wort zum "West-östlichen Divan": "Orient und
Okzident sind nicht mehr zu trennen..." nähert sich heute mehr und mehr der
realen Wirklichkeit - freilich, was den Absolutheitsanspruch und die
Expansionstendenzen der fundamentalistischen Gruppierungen des Islam betrifft,
auch unter gefährlichen Spannungen.
Ich widerstehe der Versuchung, weitere Auszüge aus meinen
umfangreichen Reisetagebüchern anzufügen.
Epikritischer Ausklang
In seinem Vorwort zu "Dichtung und Wahrheit nennt Goethe
Autobiographien ein "immer bedenkliches Unternehmen". Wie recht er hat, ist mir
erst im Laufe der Jahre klar geworden, in denen diese "Memorabilien" entstanden
sind. Ich habe lange Zeit einfach" vor mich hin" geschrieben, ohne rechtzeitig
zu 579 bedenken, daß das Ganze sich inzwischen zum
Buchformat ausweiten würde, daß es mit Einzelheiten überfrachtet sei und deshalb
selbst von wohlwollenden und geduldigen Lesern als Zumutung empfunden werden
könnte. Solche späten Erwägungen fordern zur Selbstkritik heraus, mögen aber
zugleich das Bemühen um Selbstrechtfertigung erkennen lassen.
Zunächst die Selbstkritik:
Der Text enthalte, so ließe sich einwenden, zu viele und ausführliche
Abschweifungen in geistes-, literatur-, religions-, medizingeschichtliche und
philosophische Gebiete bis hinein in atomphysikalische Erkenntnisse. Dies alles
lenke unnötig ab vom Eigentlichen, um das es in einer AutobiQgraphie gehe: Vom
persönlichen Leben und Erleben des Autors. Außerdem: "Schuster, bleib' bei
deinem Leisten!" Die Anhäufung von Exkursen in "sachfremde" Bereiche könnte auch
als eine Art narzistisch getönten Bildungsdünkels und Belehrungsbedürfnisses
mißverstanden werden. Vielleicht habe ich mich mit allem überhaupt zu wichtig
genommen, und das Ganze sei womöglich im Grunde nichts anderes als ein
verbrämtes "Panorama der Eitelkeit"?
Inzwischen bin ich etwas nachsichtiger mit mir geworden und damit
dem Versuch einer Rechtfertigung näher gekommen. Wenn ich mich frage, warum ich
denn diese Memorabilien überhaupt geschrieben habe, und dies angesichts einer
geradezu modisch gewordemen Flut von "Lebenserinnerungs"-Publikationen, so
lautet die Antwort einfach: Weil ich dem Wunsche nachgegeben habe, mein Leben
möge nicht verhallen, ohne bei den Menschen, die mir nahegestanden haben, einige
schriftliche Spuren zu hinterlassen. "Es wird die Spur von meinen Erdentagen
nicht in Äonen untergehen", läßt Goethe seinen Faust sagen. Dies
allerdings wäre ein wenig zu hoch gegriffen. Aber: "Dum vivo, scribo!"
- solange ich lebe, schreibe ich. Ich
konnte meinem angeborenen "Schreibetrieb", der sich früh schon in Tagebüchern
und Briefen, später in Manuskripten geäußert hat, nicht widerstehen, zumal ich
ihm im sogenannten "wohlverdienten Ruhestand" etwas freieren Lauf lassen durfte.
Er hatte sich, zusammen mit meinem "Lesetrieb" , seit jeher schon auf meine
Interessen an geschichtlichen und damit auch an lebensgeschichtlichen Themen
gerichtet. Nun findet er Ausdruck in einer Rückschau auf mein eigenes langes
Leben.
Wegen des zeitgeschichtlichen Gehaltes dieser Aufzeichnungen
- aber nicht allein deshalb
- hat mein Freund
Hartmut Zelinsky mich immer wieder zum Weiterschreiben angeregt und
ermutigt. 580
Als Zeitzeuge, der die Epochen unseres Jahrhunderts erlebt hat,
glaubte ich einiges beitragen zu können, was der Erinnerung wert erscheinen mag.
Wie ich diese Zeit erlebt und wie ich mich mit ihr und mit mir selbst
reflektierend auseinanderzusetzen versucht habe, das gehört zu den Grundmotiven,
aus denen diese "Memorabilien" entstanden sind. In Goethes Vorwort zu
"Dichtung und Wahrheit" heißt es weiter: "... so ward ich aus meinem engen
Privatleben in die weite Welt gerückt, die Gestalten von hundert bedeutenden
Menschen, welche näher oder ferner auf mich eingewirkt, traten hervor, ja die
ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auch mich wie
auf die ganze Masse der Gleichzeitigen den größten Einfluß gehabt, mußten
vorzüglich berzüglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe
der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen
darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern
es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet
und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen
abgespiegelt..."
Ohne dieses Goethesche Vorwort schon gelesen zu haben, war
es von Anfang an meine Absicht, keine bloßen, chronologisch streng
aufeinanderfolgenden "Erinnerungen", "Memoiren" zu schreiben, sondern sie zu
"Memorabilien", "Erinnerungs-würdigkeiten" auszuweiten und zu vertiefen. Dies
gilt im besonderen auch für meine Neigung, bestimmte Bildungslelemente,
die ich mir im Laufe des Lebens angeeignet habe, in den Text einzufügen. Sie
gehören als etwas Wesentliches zu meinem Leben und meiner Entwicklung. Keine
Autobiographie kann ganz frei von mehr oder minder larvierter Eitelkeit sein.
Schon die Absicht, der Mit- und Nachwelt "Gedanken und Erinnerungen" (Bismarck)
mitzuteilen, beruht auf der Überzeugung, man habe dem Leser etwas Bedeutendes zu
sagen. Das gilt zwar nicht für jede Autobiographie, ist aber als Zeichen
gesunder Eigenliebe durchaus legitim. Ich bekenne mich zu ihr und glaube mich
damit in guter, wenngleich unerreichbar rang höherer .
Gesellschaft mit bedeutenden Autobiographen zu befinden.
Da ich kein Goethe, kein Künstler, Dichter, Schriftsteller bin, fällt es
mir nicht schwer, auf den Zusatz "Dichtung" zur Wahrheit in der Darstellung
meines Lebens zu verzichten. Vielmehr habe ich mich an den Grundsatz gehalten,
den die deutsche Heeresleitung im August 1914
für die Berichterstattung über den Ersten Weltkrieg
581 festgelegt hat: "Wir werden nicht alles sagen, aber was wir
sagen, wird wahr sein." Außerdem: Was den Leser nicht interessiert, braucht er
nicht zu lesen.
Wahrscheinlich steckt in Jedem von uns die stille Hoffnung, mit
dem Abschluß des Lebens möge nicht alles "zu Ende" sein. Ich meine damit für
mich selbst nicht ein individuelles Weiterleben nach dem Tode in einer
jenseitigen Welt, an das ich nicht zu glauben vermag. Ich denke nur an den
Wunsch, das, was wir einmal gewesen sind, was wir erstrebt, getan, erlebt, was
wir Anderen bedeutet haben, möge "irgendwie" fortleben in den Menschen, die uns
überleben. Albert Schweitzer soll einmal gesagt haben
- man kann dieses schöne Wort in
Todesanzeigen lesen: "Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe,
die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen."
Gewiß: Auch diese Spuren werden sich mit der Erinnerung an uns
von Generation zu Generation verflüchtigen und einmal in das Nichts zerrinnen,
aus dem wir kommen und in das wir zurückkehren. Aber es täte schon gut, zu
wissen, daß wir nicht vergeblich gelebt haben!
Am Ende meines Lebens steht Dankbarkeit. Ich danke Gott
für dieses Leben. Ich danke ihm für das Glück der Lebensgemeinschaft mit meiner
Antonia, für das Glück, eine Mutter gehabt zu haben, wie es unser geliebtes "Mamchen"
war, der Schutzengel, der über unserem Leben gestanden hat. Ich danke Gott für
die Geschenke der Freundschaft und Zuneigung, die unser, namentlich auch unser
spätes Leben bereichert haben. Ich danke ihm für die Möglichkeiten, ärztlich
helfen und wissenschaftlich arbeiten zu dürfen, und ich danke ihm zugleich für
die Einsicht in die Grenzen dieser Möglichkeiten. Sie hat mich vor
Überheblichkeit bewahrt und an die Ehrfurcht vor dem Unerforschbaren gemahnt.
Ich danke Gott für die Eigenschaft, auf Unerreichtes im Leben ohne Bitterkeit
oder Resignation verzichtet haben zu können und aus Fehlern, Fehlschlägen und
Krisen zu lernen, daß sie ein unerläßlicher Weg zur Reifung sind. Ich bin
dankbar für die Gewißheit, auch in den nichtigsten Dingen des Lebens
ein göttliches Geheimnis zu sehen, das
sich in ihnen offenbart oder verbirgt getreu unserem
Hausspruch: "Vocatus atque non vocatus
- Deus aderit!"
Im Grunde vermag ich alles das, wofür ich zu danken habe, in
Worten nicht auszudrücken-. Mein geliebter HöIderIin läßt seinen Hyperion
an Diotima schreiben: "Glaube mir und denk, ich sags aus tiefer Seele dir: die
Sprache ist 582 ein
großer Überfluß. Das Beste bleibt doch immer für sich und ruht in seiner
Tiefe, wie die Perle im Grunde des Meeres...".
11. März 1997, H. W. J.
Inhaltsverzeichnis
Frühe Kindheit in Masuren 3
Geschichte Masurens 8
Als Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg 13
Harzreise mit Heinrich Heine 25
Gymnasialzeit in Braunsberg 28
Erste Bildungsquellen und politische Eindrücke 33
Reisen - Berge,
Städte und die See 60
Corpsstudent in Königsberg 72
Hermann Sudermann und Littuania 82
Medizinstudent in Heidelberg 86
Arische Physik 89
München 96
Ringelnatz 97
Bumke contra Freud 103
Wien 107
Freud und Wagner-von-Jauregg 110
Balkan-Orientreise 116
Abschluß der Studentenzeit in Königsberg : 123
Als Medizinalpraktikant und junger Arzt in
Altona und Hamburg 128
Arthur Jores 129
Hamburg-Barmbek 133
"Drittes Reich", die Deutschen und ich 135
Hitler als psychopathologisches Problem 143
Albert Speer 155
Dissertation 163
1933 165
1934-35 in Königsberg 169
Heirat 1935 171
"Zweite Hochzeitsreise" ins Saargebiet 1936 176
Zur Weltausstellung in Paris 1937 178
Leipzig 1939-1947 181
Medizingeschichtliches 181
Krieg 194
Peter Bamm 201
Ukrainischer Winter 205
Geschichtliches zur Ukraine 212
Berlin 1942-43 219
Wladimir Lindenberg 221
Immo von Hattingberg 225
Max Planck ... 226
Chaos-Theorie 232
Kernfusion und -spaltung 234
Letzte Kriegs- und erste Nachkriegsjahre 245
Aus meinem Tagebuch 1945-46 255
Im Gefängnis 274
Sowjetische Armee besetzt Leipzig 294
Aus dem Staatsdienst entlassen 311
Der „Fall Bonhoeffer“ und die deutsche Psychiatrie 318
Dietrich Bonhoeffer 321
Denunziert 334
Flucht aus der DDR 335
Neues Leben im Westen. 337
Hermann Beenken 346
Antonias Flucht aus Leipzig in den Westen 351
Intermezzo Hamburg 1947-48 355
Dokumente 355a
Ilten 360
Beschäftigungs- (Ergo-) Therapie 377
Therapeutische Modernisierungen 382
Zum Problem der Euthanasie in der deutschen
Psychiatrie 387
Psychiatrie im Umbruch.. 393
Anstaltspsychiatrie und Forschungsarbeit 404
Psychiatrie: Kritik und Vorurteil ..407
Der psychisch Kranke als "Irrer" : 409
Sozialpsychiatrie 410
Besinnung auf Tradition 411
Vortrags- und Vorlesungstätigkeit .414
Hamburger Vorlesungen 418
Historiopsychopathologie 420
Nihilismus und Neurose 442
Nihilismus und Depression ..445
Erkenntnistherapeutische Möglichkeiten 446
Bekenntnis 453
Reisen. ... 467
Florenz 487
Ponte Vecchio und der Arno 490
Venedig 491
Sizilien und Capri (19. März bis 16. April 1971) 500
Capri 506
Aus meinem Reistagebuch "KRETA" 516
Katzanzakis und die" Freiheit"
: 526
Ein ungewöhnlicher Friedhofsgärtner 530
Zweite Kreta-Reise 543
Reise in die Türkei 545
"Groß ist die Diana der Epheser!" 551
Priene, Milet und Didyma 556
Istanbul 567
Epikritischer Ausklang 579
Die Einstellung der Biografie von Professor Janz ins Internet wurde also
genau 10 Jahre nach seinem Tod abgeschlossen. Vorerst kam es allerdings nur zu einer
teilweisen Korrektur, für die endgültige Korrektur hat sich dankenswerterweise ein
früherer Schüleraustauschschüler von Professor Janz aus Finnland gefunden.