Hans
Preuschoff: Journalist im Dritten Reich Endstation:
Berliner Büro der Ostzeitungen 1942‑1944
Mein Start in Berlin im
November 1942 war denkbar schlecht. Dazu trug nicht nur meine natürlich auch
dort bekannte schwarze Vergangenheit bei, ich tat selbst das Meinige dazu. In
Litzmannstadt gehörte zu den dortigen Vertretern des Gauorgans Ostdeutscher
Beobachter in Posen ein Schriftleiter, mit dem ich ganz gut auskam. Als
Baltendeutscher wurde er alsbald nach ihrer Gründung der Deutschen Zeitung für
Ostland in Riga zugeteilt. Noch von Litzmannstadt aus fragte ich ihn an, wie
es mit den Verhältnissen in Riga bestellt sei. Am Schluß des Briefes stellte
ich die burschikos gemeinte Frage: Das Wichtigste zuletzt, wie steht es dort
mit der Fresserei? Wer mich kennt, den wundert sie nicht. War schon mein Brief
an Sch. höchst überflüssig, so war diese Frage geradezu Selbstmord, denn
sie brachte eine förmliche Lawine ins Rollen. Man hatte, wie ich erst später
erfuhr, in Riga einen Schriftleiter in die Wüste, d. h. zur Wehrmacht
geschickt, weil er sich beim „Organisieren" weit mehr als üblich übernommen
hatte. Sch. fühlte sich verpflichtet, meinen Brief dem Hauptschriftleiter Dr.
Michel zu zeigen, und da dieser der Meinung war, daß nach meiner dummen Frage
wieder ein „Raubritter" wie der erwähnte Kollege im Anmarsch sei, sah
er, Dr. Michel, sich veranlaßt, den für die Ostzeitungen zuständigen
Dezernenten Emil Frotscher von Rienhardts Verwaltungsamt zu informieren.
Frotscher unterrichtete den Hauptschriftleiter des Berliner Büros der
Ostzeitungen Dr. Heinz Blaschke, und dieser ließ mich alsbald nach meinem
Eintritt in das Büro wissen, was ihm Frotscher mitgeteilt hatte. Als ich nach
einigen Tagen ins sogenannte Verwaltungsamt zu Frotscher bestellt wurde, riet
mir Blaschke dringend, nicht von dem gegen mich erhobenen Verdacht anzufangen,
aber ich konnte ihm dies nicht versprechen. Ich bin von Natur aus und
vielleicht auch durch die Erziehung zum Respekt vor den Oberen schüchtern,
wenn nicht gar feige, aber hier ging es tatsächlich um meine Ehre, und so
habe ich bei Frotscher nach einigen einleitenden Sätzen von mir aus die Sache
zur Sprache gebracht. Ich sagte ihm u. a., wir hätten uns in Litzmannstadt in
keine Judenwohnung gesetzt. Während es das „Normale" gewesen sei, daß
die Reichsdeutschen mit nichts kamen, dann aber mit vollbeladenen Koffern, möglicherweise
mit vollgepackten Möbelwagen wieder abzogen, hätten wir mit den gleichen
leeren Händen, mit welchen wir nach Litzmannstadt gekommen seien, es auch
verlassen. Ich redete mich in Rage. Frotscher bekam einen roten Kopf.
Jedenfalls führten wir ein bewegtes Gespräch, und Blaschke war wenig erbaut,
als ich ihm davon erzählte. Hat ihm mein Auftritt bei Frotscher im Grunde
imponiert? Ich glaube (61) es kaum. Dazu war er
selbst zu beflissen höheren Stellen gegenüber. Bei aller angeborenen Trägheit
war mir eins gegeben: daß ich mich bei „Schwerpunkten" am Riemen riß.
Und als einen solchen Schwerpunkt sah ich meine Tätigkeit im Berliner Büro
der Ostzeitungen an. Und es hatte sich gelohnt. Als ich mich auf den Weg nach
Riga machen mußte, sagte mir Blaschke, wenn es mir in Riga nicht gefalle, könne
ich nach Berlin zurückkehren, er könne mich gut gebrauchen. Das war das
Beste, was ich hören konnte. Denn in Berlin war man anders als in dem
exponierten Riga im Windschatten des "Promi", meinetwegen auch im
stillen Zentrum des Taifuns. Im D-Zug nach Riga saß ich
die letzten Stunden im Abteil allein mit einem großen Parteimann zusammen. Daß
es ein solcher war, ersah ich aus seiner mit viel Gold bestückten braunen
Uniform. Als er mir noch seinen Namen nannte ‑ ich weiß eigentlich
nicht warum ‑, fiel bei mir der Groschen. Es war ein hoher Funktionär
der Politischen Organisation, dem ich u. a. schon im Völkischen Beobachter
begegnet war. Er nannte mir auch den Grund seiner Reise nach Riga. Die
Parteigenossen, auch die alten, führten in den besetzten Gebieten, dem Zwang
im Reich entronnen, ein vergnügtes Leben und kümmerten sich einen Dreck um
die Partei. Dem wolle er ein Ende machen. Er fühle sich verpflichtet, die PO
in den besetzten Gebieten auf Vordermann zu bringen und die lieben
Parteigenossen an die Kandare zu nehmen. Im Laufe des Gespräches kamen wir in
der Dunkelheit des hereinbrechenden Winterabends auf die Rüstungswerke zu
sprechen, die die deutschen Truppen bei ihrem Vormarsch in Südrußland
angetroffen hätten - zur größten Überraschung der deutschen Seite, wie
mein Reisegefährte zugab. Da wagte ich, wohl auch im Schutze der Dunkelheit,
ihm eine schon recht heikle Frage zu stellen. Ich ging davon aus, daß die
Partei im Reich die ganze Bevölkerung mit einem Netz von Zellenleitern,
Blockwarten usw. überzogen habe, die eine sehr wirksame Kontrolle ausübten.
Wenn man, sagte ich, aus diesen Leuten einige Dutzend besonders geeignete als
Agenten nach Rußland eingeschleust hätte und von diesen wenigstens einige
zurückgekommen wären, hätte man doch erfahren, was in Rußland vor sich
ging. Da gab mir mein Gegenüber die entwaffnende Antwort: „Denen hätten
wir doch nicht geglaubt!" Solch ein Höchstmaß der Verblendung ließ
mich einfach verstummen. Wie Hagemann berichtet, hatte auch Hitler bei der Eröffnung
des Winterhilfswerks am 4. Oktober 1941 erklärt: „Wir hatten keine Ahnung
davon, wie gigantisch die Vorbereitungen dieses Gegners (d. i. der
Sowjetunion, d. Verf.) gegen Deutschland und Europa waren und wie ungeheuer
die Gefahr war." (HAGEMANN, S. 252.)
Allerdings wird man nicht übersehen dürfen, daß Hitler mit diesen Worten
aus bestimmten Gründen übertrieben haben kann. (62)
In Riga wurde ich vom Hauptschriftleiter Dr. Michel freundlich empfangen, aber
doch mit einer kleinen Rüge. Man kannte den Termin meiner Ankunft und hatte
erwartet, daß ich noch am selben Abend, obschon er schon weit fortgeschritten
war, aus meinem Hotel auf die Schriftleitung kam. Anders als in Litzmannstadt
spielte sich das ganze Redaktionsleben in Riga viel intensiver in den späten
Stunden ab. Ich stellte von Anbeginn an dort meine Taktik darauf ein, mich
sobald als möglich loszueisen aus den schon genannten Gründen, zumal da ich
merkte, daß in der Schriftleitung mehrere SS-Männer saßen. Um meine Fähigkeiten
zu beweisen, schrieb ich aber alsbald einen, wie ich meinte, unverbindlichen
Leitartikel, der zu meiner Überraschung noch vom Rundfunk übertragen wurde.
Als ich in Riga war, seit Ende Dezember 1942, kam es zur Katastrophe von
Stalingrad. Wenige Tage zuvor hatte ich, mit meinen Geschichtskenntnissen
protzend, einen Artikel mit der bombastischen Überschrift „Sie trotzten dem
Schicksal" geschrieben, in dessen Mittelpunkt natürlich Friedrich d. Gr.
stand. Wer die anderen Trotzköpfe gewesen sind, kann ich mich nicht mehr
erinnern. Die Tagesparole des
"Promi" vom 3. Februar 1943 begann mit den Worten: „Der
Heldenkampf in Stalingrad hat sein Ende gefunden. In mehrtägiger Trauer wird
das deutsche Volk seiner tapferen Söhne gedenken, die bis zum letzten
Atemzuge und bis zur letzten Patrone ihre Pflicht getan und damit die
Hauptkraft des bolschewistischen Ansturms gebrochen haben." Was
angesichts der Kriegslage eine glatte Lüge war. Geradezu unerträglich das
Pathos des nächsten Satzes: „Der Kampf wird zum größten Heldenlied der
deutschen Geschichte werden." (Zitiert ebd. S.
262.) Als demnach die 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus
kapituliert hatte, ging es in der Redaktionskonferenz darum, wer den
Leitartikel dazu verfassen sollte. Vom Mitleid mit der Armee hätte ich schon
gern geschrieben, aber nicht dieses war vor allem gefragt, sondern im Sinne
der Tagesparole das Verständnis für den Entschluß des Führers, die Armee
zu opfern. Und das konnte ich keineswegs aufbringen. Ich glaube, den
Leitartikel hat dann Dr. Michel selbst geschrieben. Ich schützte immer wieder
gesundheitliche Gründe vor, die mir den Aufenthalt in Riga unmöglich
machten. Man mochte sie mir zunächst nicht recht abnehmen, da man mich
offensichtlich gern behalten wollte. So riet man mir, mich ein paar Tage an
Rigas Strand zu erholen. Auch Frotscher, der zufällig in der Zeit nach Riga
kam, redete mir zu. Als aber alles vergebens war, ließ man mich endlich mehr
oder weniger mißmutig nach Berlin zurückkehren. Da ich nicht in Riga bleiben
wollte, habe ich mich dort erst nicht viel umgesehen, zumal es bitter kalt
war. An den Wehrmachtsgottesdiensten an den Sonntagen nahmen auch viele
Zivilisten teil. Unter (63) ihnen begegnete ich
meinem alten Braunsberger Schulkameraden vom Hosianum und Freund Dr. Ludwig
Hinz. Man hatte ihm die lettischen Genossenschaften anvertraut, bestimmt nicht
zu deren Schaden. Im Opernhaus erlebte ich eine glanzvolle Ballettaufführung
des „Bolero" von Maurice Ravel. Es dürfte vielleicht die letzte
gewesen sein, denn die deutsche Besatzungsmacht empfand, wie man mir sagte,
die Musik von Ravel als „entartet". Hier seien einige Worte über
Emil Frotscher gesagt. Er war Rienhardts „rechte Hand", wie dieser vor
allem an der journalistischen Leistung eines Schriftleiters interessiert.
(Vgl. GILLESSEN, S. 478, auch S. 473 f. Wie aus den Anmerkungen hervorgeht,
hat Frotscher Gillessen bei der Abfassung seines Buches als Informant gedient.
Nach einer Meldung der WELT AM SONNTAG vom 31. August 1986 ist Emil Frotscher
im Alter von 83 Jahren in Ahrensburg in Schleswig-Holstein gestorben.)
Er kam von Scherls „Nachtausgabe" und war ein ausgezeichneter
Journalist. Wenn das Erscheinen einer neuen Ostzeitung bevorstand, stellte er
die Schriftleitung zusammen und zog selbst mit dieser an Ort und Stelle, um
die Zeitung einige Monate lang einzurichten. Die Kollegen erzählten
Grausliches von seinen Anforderungen, er habe sie förmlich die Wände
hochgejagt, so habe eine Lokalspitze ein halbes dutzendmal umgeschrieben
werden müssen usw. usw. Als ich dem Berliner Büro angehörte, weilte er eine
Zeitlang in Agram, um dort die deutsche Zeitung einzurichten. Da mir, wie ich
meinte, ein Artikel besonders gelungen war - er behandelte, die Leser dieses
Berichtes mögen ohne Sorge sein, kein parteigebundenes, sondern ein sozusagen
neutrales Thema -, schickte ich ihm ihn zu. Er kam nach einigen Tagen zurück.
Das Thema sei von der Zeitung schon mehrfach behandelt worden, so müsse er
mir den Beitrag wiedergeben, doch er fügte hinzu: So gut er ist. Eben dieser
Zusatz, den der so anspruchsvolle Frotscher machte, war mir, ich gestehe es
offen, mindestens so lieb, wie wenn der Artikel veröffentlicht worden wäre.
Als ich dann das Berliner Büro verließ, um zur Wehrmacht zu gehen, und
Frotscher meinen Abschiedsbesuch machte, war er weit freundlicher als bei
meinem Antritt. Es sei eigentlich doch recht gutgegangen, meinte er, und nach
dem Krieg werde man ja dann sehen . . . Er selbst ist nach dem Krieg rasch
wieder auf die Füße gefallen. Der von den Amerikanern eingesetzte Lizenzträger
des Frankfurter Boulevardblattes Abendpost holte den von der
Nachtausgabe her in dem Metier erfahrenen Frotscher heran. Wie sagt doch der
weise Grillparzer: „Wer etwas kann, dem sieht man etwa nach, das Ungeschick
an sich ist schon ein Ungemach." Frotscher konnte was, und ungeschickt
war er schon gar nicht. Er ist dann bei Springer gelandet, wo er in der Welt
am Sonntag das Ressort Serien innehatte. Als er eine Serie über Kiesinger
brachte, konnte ich ihm einiges von dessen Berliner Studentenzeit mitteilen. Das Material, das wir in
Berlin für die Ostzeitungen bereiteten, bezogen wir nicht nur vom Deutschen
Nachrichtenbüro, sondern wir (64) erhielten
auch das Material, das den Auslandskorrespondenten übergeben wurde. Soviel
sah man doch ein, daß diese sich nicht einfach mit den wohlpräparierten
Meldungen des DNB abspeisen ließen. Die in den besetzten Gebieten im Osten
wie im Westen (Paris, Brüssel) erscheinenden Zeitungen hatten auch eine etwas
freiere Hand, aber auch ihre Meldungen und Artikel mußten sich grundsätzlich
im Rahmen der Richtlinien des "Promi" bewegen, etwa beim Gebrauch
der Reden Churchills, die wir in unserem Büro jeweils schon am nächsten
Morgen im vollen Wortlaut auf dem Tisch liegen hatten. Und, wie man mir
glauben wird, begierig verschlangen. Aufschlußreich ist, was
hierzu Max Amann dem amerikanischen Vernehmungsoffizier Hale gesagt hat:
"Amman behauptete 1945, er habe Wert darauf gelegt, daß den
Besatzungszeitungen in Berichterstattung und Redaktionsprogramm mehr Freiheit
eingeräumt wurde als der Inlandspresse. Sein Stab habe für sie die besten
Redakteure ausgewählt, sagte er, und einige seien in ernste Schwierigkeiten
mit Dietrich (Reichspressechef und Staatssekretär im ,Promi`, d. Verf.) und
Goebbels geraten, weil sie den Weisungen des Propagandaministeriums nicht
immer Folge leisteten . . . Dietrich habe gedroht, die Besatzungszeitungen dürften
im Reich nicht erscheinen, wenn die Redaktionen seinen Weisungen nicht entsprächen.
Daher seien einige Zeitungen verboten worden, doch habe er, Amann, als der
eigentlich Zuständige den Redakteuren bei ihren Schwierigkeiten mit Goebbels
und Dietrich stets die Stange gehalten. ,Da diese Zeitungen im Ausland verlegt
und gelesen wurden, mußte mehr drinstehen als nur NS-Propaganda´, sagte er.
Wer damals während des Krieges die Zeitungen regelmäßig las, mußte
feststellen, daß sie sich in bezug auf Phrasendrescherei und Klischees des NS-Journalismus
nicht sehr von den Reichszeitungen unterschieden. Doch Amanns Behauptung, sie
seien informativ gewesen, ist nicht völlig unberechtigt." Soweit Hale. (HALE,
S. 281.) Außer den Ostzeitungen gab
es noch jede Menge von Zeitungen in den besetzten Gebieten von Oslo und Paris
bis Temesvar und Athen. Ich kann mich allerdings an keinen Fall erinnern, daß
zu meiner Zeit unser Büro und unsere Ostzeitungen die von Amann erwähnten
Schwierigkeiten mit Dietrich und Goebbels hatten. Ich fischte mir aus dem
reicheren Material z. B. alles heraus, was darin über die
Auseinandersetzungen zwischen der polnischen Exilregierung in London und der
von den Sowjets ausgehaltenen polnischen Gegenregierung, die sich dann in
Lublin etablierte, gesagt wurde. Ein unverfängliches Thema, das ich ausgiebig
traktiert habe und mit dem ich später bei einem Vortrag in meiner
Wehrmachteinheit Furore gemacht habe, zumal da mich noch Kollege Skuin mit dem
neuesten Material versorgt hatte. (65) Was
die Besetzung des Berliner Büros betrifft, so nannte ich schon den
Hauptschriftleiter Dr. Blaschke. Er war klein von Gestalt, was er durch einen
langen, gelben Ulster und eine gewaltige Büchertasche zu kompensieren suchte.
Ansonsten war er ein umgänglicher Mann, der gewiß nicht hinterhältig war,
auch wenn er sehr enge Kontakte mit den Leuten vom "Promi" pflog,
die ihm dann zum Verhängnis geworden sind. Er ist mit den Promimännern im U-
oder S-Bahnhof Potsdamer Platz von den Russen gefaßt worden und wohl in einem
Lager (Buchenwald?) elend umgekommen. Wäre ihm solches nicht widerfahren, hätte
er sicherlich wie manche seiner Freunde unter den Berliner Journalisten nach
dem Kriege dank seiner Wendigkeit den Anschluß gefunden. Jedenfalls erfuhren
wir von Blaschke, der häufig mit Leuten vom„ Promi" im ehemaligen
Herrenklub speiste, manches, was uns sonst unbekannt geblieben wäre. So erzählte
er uns, daß das Reichssiedlungshauptamt der SS alle Vorbereitungen für die
Eingliederung des „Lebensraumes im Osten", um dessentwillen Hitler den
Krieg mit Rußland vom Zaun gebrochen hatte, getroffen habe. In den Dörfern
des alten Reichsgebietes sollte das Land zusammengelegt und einigen wenigen
politisch zuverlässigen Bauern zugeteilt werden. Die übrigen sollten mit
Kind und Kegel und Sack und Pack verladen werden, um den bewußten Lebensraum
mit deutschen Menschen zu füllen. Diese sollten natürlich im Geiste des
Nationalsozialismus erzogen und umerzogen werden, vor allem sollte die Jugend
von ihm erfaßt werden. Im Mittelpunkt des neuen Dorfes sollte deswegen nicht
mehr, wie bei der Ostsiedlung im Mittelalter, die Kirche stehen, sondern das
Gemeinschaftshaus. Für die Stadtbewohner waren ähnliche Maßnahmen
vorgesehen. Nicht von Blaschke, sondern von jemand anderem stammte die
boshafte Bemerkung, daß ohnehin von drei Beamten mindestens einer zuviel sei.
Wenn man solche Pläne zu Ende denkt, hätte das bedeutet, daß im Falle eines
deutschen Sieges viele, wenn nicht die meisten deutschen Soldaten ihre Heimat
nur für kurze Zeit wiedergesehen hätten, wenn sie nicht sogleich nach dem
„Lebensraum" verfrachtet worden wären. Blaschke kam auch auf den
„Fall Karl Brammer" zu sprechen (ich hoffe, daß ich den Namen richtig
behalten habe). Dieser nahm als Herausgeber einer Wehrkorrespondenz an der täglichen
Pressekonferenz im "Promi" teil, wo er der Verbreiter, wenn nicht
Urheber der politischen Witze war, die von dort ausgingen und von denen noch
die Rede sein wird. Man wußte im "Promi" nicht so recht, was man
von ihm halten sollte, für einen harmlosen alten Schwätzer oder für einen
ausgepichten Bösewicht. M. W. entschied man sich für das erstere, womit man
Brammer eigentlich unrecht tat, denn ich glaube nach dem Kriege gelesen zu
haben, daß er enge Beziehungen zur Widerstandsbewegung hatte. Von Blaschke erfuhren wir
auch Näheres über die Schließung der Frankfurter Zeitung im Sommer
1943. Neuerdings berichtet darüber (66) natürlich
authentisch Gillessen in seinem mehrfach genannten Buch. (Vgl.
GILLESSEN, S. 468-500.) Hitler haßte die Zeitung als
„Judenblatt" auch nach ihrer „Arisierung", nach der ihr
allerdings Redakteure wie Benno Reifenberg, Dolf Sternberger, Wilhelm
Hausenstein, die mit ihr Schwierigkeiten hatten, noch bis 1943 erhalten
blieben. Eines Tages Ende April/Anfang Mai erschien in dem Blatt ein Artikel,
in dem, wenn man ihn so deuten zu müssen glaubte, Dietrich Eckart als
Alkoholiker und Rauschgiftsüchtiger bezeichnet wurde. Eckart war aber der
Lieblingsdichter Hitlers. Die Frankfurter Zeitung stoppte, als irgend jemand
auf die Gefahr hinwies, die ihr durch den Artikel drohte, den Druck, aber eine
ganze Anzahl von Exemplaren war bereits hinausgegangen, und eines von ihnen
wurde Hitler zugespielt. Er bekam einen Tobsuchtsanfall und forderte die
Einstellung der Zeitung, die dann auch am 31. August 1943 erfolgte. Was uns an
dem Bericht von Blaschke besonders erstaunte: daß der Reichsleiter Amann den
Redakteuren der Zeitung verbot, sich anderswo zu bewerben, ehe er nicht über
ihre weitere Verwendung verfügt habe. Hale (Vgl.
HALE, S. 288 ff.) berichtet von einem dramatischen Gespräch, das darüber
Amann mit dem stellvertretenden Hauptschriftleiter der FZ, Erich Welter, führte.
Man habe eigentlich die Redakteure der Frankfurter Zeitung an die Wand
stellen wollen, sagte Amann zu Welter, doch habe er, Amann, sich überlegt, daß
man sie dem Staate nutzbar machen solle, „denn zweifellos verstehen sie
etwas von ihrem Handwerk. Man muß nur verhindern, daß sie zusammenbleiben.
Mein Plan ist, sie aufzusplittern und ein paar ausgesucht tüchtige Fachleute
in die Redaktion des VB zu übernehmen. Dort können sie kein Unheil anrichten
. . . Ich stelle mir vor, daß eine Art Kreuzung stattfindet und daß die
weltanschauliche Zuverlässigkeit meiner Schriftleiter mit der
fachlich‑journalistischen Tüchtigkeit der FZ-Redakteure vereinigt
wird." Womit Amann den Parteijournalisten ein großes Armutszeugnis
ausstellt und einen Lobpreis auf die Journalisten der alten bürgerlichen
Schule anstimmt. Tatsächlich ist eine Anzahl von Redakteuren der Frankfurter
Zeitung von dem Befehl Amanns betroffen worden. Ich nenne den Namen von Dr.
Heinrich Scharp, der zur Berliner Börsen-Zeitung kommandiert wurde. Er war
Chefredakteur der Rhein‑Mainischen Volkszeitung in Frankfurt, die dem
linken Zentrumsflügel zugehörig war und besonders gern von Leuten aus der
katholischen Jugendbewegung gelesen wurde. Nachdem sie bald nach der
Machtergreifung verboten war, wurde Dr. Scharp von der Frankfurter Zeitung übernommen,
zuletzt als Leiter ihrer Berliner Redaktion. Die Sowjetrussen nahmen ihn
gefangen. Als der frühere Reichskanzler Wirth, der bis an sein Lebensende dem
Rapallo‑Geist verpflichtet war, sich wieder mit den Sowjets einließ,
erwirkte er Scharps Freilassung, allerdings erst 1953. Sieben (67)
schwere Jahre hatte der einstmals allgemein hoch geschätzte
katholische Journalist in Gefangenschaft verbracht, u. a. im KZ Buchenwald. Als politischen Redakteur
traf ich im Berliner Büro der Ostzeitungen Rudolf Skuin an, einen
Baltendeutschen aus Lettland, der von der Königsberger Allgemeinen Zeitung
gekommen war. Bis auf einige Trübungen, an denen ich nicht ganz unschuldig
war, bin ich mit ihm gut ausgekommen. Allerdings war die Liebenswürdigkeit
nicht gerade seine stärkste Seite. Um so mehr bewies sie seine Frau, die er
mit drei Kindern von Königsberg nachkommen ließ. Sie bezogen ein Haus in
Blankenfelde, einem Städtchen vor den Toren Berlins, wo ich einige Male ihre
großzügige Gastfreundschaft genossen habe. Leider liegt der Ort außerhalb
des Berliner Stadtgebietes, so daß er nach dem Kriege nicht zum nahegelegenen
Westsektor, sondern zur sowjetischen Besatzungszone gehörte. Skuin war nicht
geflüchtet, als er das erste Mal von den Russen vernommen worden war.
Vertraute er auf seine russischen Sprachkenntnisse? Wenn dem so war, dürften
sie ihm eher zum Verhängnis geworden sein. Ein zweites Mal von den Sowjets
vorgeladen, wurde er von ihnen nicht mehr freigegeben. Wie seine Frau vom
Roten Kreuz erfahren hat, ist er in einem sowjetischen Lager gestorben. Zu den ständigen
Mitgliedern des Büros gehörte ein junger Mann, der von der HJ kam und sich
einer besonderen Protektion erfreut haben muß. Er hat niemals eine Zeile
geschrieben und auch kein Manuskript redigiert. Seine Aufgabe bestand
eigentlich nur darin, daß er mittags die Pressekonferenz im
Reichspropagandaministerium wahrnahm und uns die dort ausgegebenen
Tagesparolen und Richtlinien wissen ließ. Allerdings mußte er uns auch die
auf der Pressekonferenz kursierenden neuesten politischen Witze mitbringen.
Ein besonders hübscher ist mir in Erinnerung geblieben aus der Zeit, da
Italien ausstieg: Räder rollen für den Sieg (eine beliebte Parole!),
Achsenbruch verkürzt den Krieg! Der Witz war schon einen Kopf wert, wenn er
an die falsche Adresse kam. Aber die Journalisten einte, welcher Couleur sie
auch waren, um die Zeit und ihren Beruf zu ertragen, der besagte Zynismus. Ich mußte ob meiner
schwarzen Vergangenheit mit meinen Äußerungen besonders vorsichtig sein. Als
mir doch einmal eine leise Andeutung zugunsten Brünings entfuhr, hieß es
sofort: Siehste, da haben wir ihn! Wenn mich Skuin einen leicht
christianisierten Pruzzen zu nennen beliebte, nahm ich dies mit heiterer
Gelassenheit hin. Gern wurde ich im Außendienst
eingesetzt, ob aus besonderen Gründen, sei dahingestellt. So schickte man
mich in die berüchtigte Kundgebung, auf der am 18. Februar 1943 Joseph
Goebbels den totalen Krieg verkündete. Der Sportpalast war natürlich überfüllt.
Ich sah von meinem Presseplatz alles braun in braun. Doch Zu Goebbels noch eine
Begebenheit, von der mir in Braunsberg Verlagsdirektor Orth erzählte, der ja,
ehe er zu uns kam, Berliner Korrespondent der Kölnischen Volkszeitung
war. Als diese zu Beginn der NS‑Zeit in finanzielle Schwierigkeiten
geriet, stieß der mit dem Sortieren der Akten beauftragte Max Horndasch auf
das Gesuch eines gewissen Dr. Joseph Goebbels um eine Volontärstelle in der
Redaktion der KV. Dabei soll sich der Brust von Horndasch ein scherzhafter
Seufzer entrungen haben: Hätten wir den genommen, wären wir nicht Pleite
gegangen! Grob gesagt, hat Goebbels, der ehemalige UVer und Stipendiat des
Albemus‑Magnus‑Vereins, sein unbestreitbares rednerisches und
organisatorisches Talent an den Meistbietenden verkauft. Im übrigen ist es
vor allem Horndasch zu verdanken gewesen, daß die KV noch bis 1941 erscheinen
konnte, wenn sie auch nicht mehr im eigenen Hause, sondern bei Fredebeul und
Koenen in Essen gedruckt wurde und nur noch einen sehr dürftigen Anblick bot.
Das Schwesterblatt, die Berliner Germania, hauchte bereits 1938 ihr Leben aus. Als unser Büro noch in der
Luisenstraße lag, erlebten wir regelmäßig am späten Nachmittag, wie
Goebbels, vorn und hinten von SS (70) beschützt,
mit großem Getöse in Richtung seines Gutes außerhalb des Berliner Nordens
brauste. Er war dort, „seine Berliner" ihrem Schicksal überlassend,
vor Luftangriffen sicher. Aber er mußte ja seine kostbare Person für die
ungeheuer wichtigen Aufgaben, die sie für das deutsche Volk zu erfüllen
hatte, erhalten. Jedenfalls blieb Goebbels, so weit er auch sein Mundwerk
aufriß und so sehr er sich reckte und streckte, ein Mann im zweiten Glied,
wofür bezeichnend war, daß an der Kundgebung im Sportpalast keiner von der
ersten Garnitur der Partei, weder Hitler, der selbst gegen Ende des Krieges
kaum noch als Redner hervorgetreten ist, noch Göring und Himmler und Bormann
teilnahmen, obschon es sich um eine höchst wichtige Sache handelte, zumindest
nach Goebbels' Meinung. So nützlich das Reichspropagandaministerium für das
System war, wirklich angesehen war es nicht, und so ist es zu verstehen, daß
Goebbels mit aller Macht nach dem Außenministerium strebte, das den von
brennendem Ehrgeiz Erfüllten viel weiter nach vorn gebracht hätte. Erster
Mann neben Hitler wurde Goebbels erst im Tode, als die übrigen Parteigrößen
den Führerbunker in Berlin verlassen oder erst gar nicht aufgesucht hatten.
Allerdings war Goebbels hier mit seinen Propagandakünsten am Ende. Die Art,
wie sich Hitler und er mit seiner Familie vom Leben absetzten, war
propagandistisch gesehen eine ausgesprochene Fehlleistung. Keine Spur von
„Einzug in Wallhall" oder "Götterdämmerung". Und so total,
wie ihn Goebbels angekündigt hatte, ist der weitere Krieg nun auch wieder
nicht gewesen. So wurden die Theater erst im September 1944 geschlossen, die
Schauspieler, die sich Goebbels' Gunst erfreuten, durften auch danach filmen,
und der „Heldenklau", von dem gleich die Rede sein wird, wurde sofort
zurückgepfiffen, als er die Parteidienststellen nach frontdienstfähigen Männern
sieben wollte. Was Goebbels allerdings, wenigstens für einige NS‑Größen
wie Hitler, Göring, Himmler und sich selbst wahrgemacht hat, ist seine Äußerung
vom Februar 1943: „Nur als Leichen werden wir die Ämter wieder
verlassen.“ (Zitiert nach GILLESSEN, S. 105.) Am 20. Juli 1944 verließen
nach Dienstschluß unsere Damen wie üblich das Büro, kehrten aber alsbald
zurück: Militär habe sie nicht durchgelassen. Wir befanden uns demnach
innerhalb des von den Verschwörern vorgesehenen Sperrgebietes. Wenig später
kam Dr. Blaschke ins Büro, wohl aus dem "Promi" Zufällig empfing
ich ihn an der Tür. Er war kreidebleich. „Militärputsch?" entfloh es
mir. Er sah mich groß <in und gab mir ausweichende Antwort. Kam ihm ein
Verdacht gegen mich, der ich ohnehin mit einem gewissen Makel behaftet
war" Kaum möglich, denn was konnte die Absperrung durch Militär schon
anderes bedeuten als daß von dieser Seite etwas im Gange war! Wie
dilettantisch das ganze Unternehmen angelegt war, geht schon daraus hervor, daß
die Verschwörer (71) nicht einmal das
Telegraphenamt besetzt hatten. Ich wollte in der folgenden Nacht zu meinen
Eltern nach Ostpreußen fahren. Ungehindert konnte ich ihnen telefonisch
durchsagen, daß besonderer Umstände wegen wohl aus meinem Besuch nichts
werde. Nach einiger Zeit aber wurde die Sperre aufgehoben, die Damen konnten
sich auf den Weg nach Hause machen, und ich machte mich am Abend auf den Weg
nach Braunsberg. Die ganzen Vorgänge, um die es hier ging, sind längst
bekannt geworden, so daß ich hier nicht näher darauf einzugehen brauche. Als nach dem mißglückten
Attentat vom 20. Juli 1944 die Prozesse vor dem Volksgerichtshof in Gang
kamen, erhielt unser Büro eine Karte für einen Verhandlungstag. Was nicht
bedeutete, daß wir selbst über die Verhandlung berichten durften, wir waren
auf den vom "Promi" zensierten Einheitsbericht angewiesen. Wir waren
nach meinen Erinnerungen zum zweiten Prozeß in der Reihe zugelassen. Da wir
nur eine Karte hatten, wechselten wir uns alle zwei Stunden ab. Ich war als
erster dran. Das Gefühl der Beklemmung, mit dem ich das Gerichtsgebäude an
der Potsdamer Straße betrat, brauche ich nicht zu beschreiben. Man wies mich
an, einen Platz in den Pressebänken einzunehmen. Sie waren nur sehr schwach
besetzt, außer dem offiziellen Berichterstatter waren noch einige Vertreter
anderer Berliner Schriftleitungen anwesend. Im Zuschauerraum waren vorwiegend
Goldfasane zu sehen. An einen Offizier in Luftwaffenuniform, der Helmut
Schmidt geheißen und als ständiger Beobachter aus dem
Reichsluftfahrtsministerium an den Prozessen teilgenommen haben soll, kann ich
mich nicht erinnern. Durch den üblichen freien Raum getrennt, saßen den
Presseplätzen gegenüber die Angeklagten in mehreren aufsteigenden Reihen.
Vor ihnen hatten die Pflichtverteidiger ihre Plätze eingenommen, wenn ich
mich wieder recht erinnere, wie die übrigen Gerichtspersonen in roten Roben.
Sie sind aber kaum in Erscheinung getreten, sie waren wohl nur bestellt, um
der Form zu genügen, und haben eher noch auf ihre Mandanten eingedroschen.
Den ersten Platz unter den Angeklagten nahm der Chef des Nachrichtenwesens des
OKH (Oberkommando des Heeres) General Thiele ein (nicht zu verwechseln mit dem
Chef des Nachrichtenwesens des OKW Fellgiebel, der bereits abgeurteilt war).
Ich saß ihm gegenüber. Wenn die Rede auf gebrochene Augen kommt, muß ich
sofort an die des Generals Thiele auf der Anklagebank des Volksgerichtshofs
denken. Wie der Präsident Roland
Freisler mit den Beisitzern den Saal betrat, erhoben sich alle wie gewohnt von
den Sitzen und grüßten pflichtgemäß den Führer. Das Gericht nahm vor dem
von den Bildern bekannten riesigen Hakenkreuz und der übergroßen Hitlerbüste
Platz. Mir fiel auf, daß einer der Beisitzer Generalsuniform trug. Es war,
wie ich dann erfuhr, der General Reinhardt, der einzige, der aus dem
Mannschaftsstande zu diesem Rang befördert (72)
war und der sich darum offensichtlich Hitler zu besonderem Danke verpflichtet
fühlte. Ehe Freisler Thiele zur
Person vernahm, fühlte sich dieser mit monotoner Stimme zu einem
Schuldbekenntnis verpflichtet; er habe den Führer, der nur das Beste für das
deutsche Volk wolle, verraten, in diesem Sinne folgten noch einige Sätze.
Offensichtlich war der General, wie auch seine ganze Erscheinung verriet, in
der Untersuchungshaft präpariert worden. Dann befragte Freisler, der das
erwartete Schuldbekenntnis ungerührt zur Kenntnis nahm, Thiele nach seiner
Teilnahme am Ersten Weltkrieg, an dem er weitgehend an der Front gewesen
war.„ Und im Zweiten Weltkrieg waren Sie wieder an der Front?" warf
Freisler dann dazwischen. „Nein", sagte der General etwas zögernd. Natürlich
wußte Freisler aus den Akten, daß diese Antwort kommen mußte, er wollte
durch seine Frage nur Thiele bloßstellen. Anschließend an die Angaben zu
seiner Person wurde der General von Freisler befragt, wie er eigentlich auf
die „falsche Bahn" gekommen sei. Er habe, antwortete er, auf Grund
seines Amtes Schweizer Zeitungen lesen müssen, und dadurch sei er an der
Strategie wie überhaupt an der Politik des Führers irre geworden. Da sprang
Freisler wie von der Tarantel gestochen auf und schrie in den Saal: „Ich
habe auch Schweizer Zeitungen gelesen - aber dann habe ich gesagt: Weg mit dem
Gift!" In dieser makabren Szene erwies sich Freisler genau als der
Schmierenkomödiant, als er so oft geschildert wird. Aus den übrigen
Vernehmungen ragte die des Obersten Jäger heraus, weil dieser trotz der
Untersuchungshaft seine Courage bewahrt hatte. Ihn fragte Freisler
wohlweislich nicht nach seinem Verhalten im Kriege. Doch nahm Jäger eine Möglichkeit
in seiner Vernehmung wahr - Freisler konnte ihm dabei schlecht das Wort
entziehen - von seinen Kriegstaten zu berichten. Er sei mehrfach, z. T. schwer
verwundet worden und habe auch eine Reihe von Auszeichnungen erhalten,
darunter, wenn ich mich recht erinnere, das Ritterkreuz. Am 20. Juli sei er
aus dienstlichen Gründen in Berlin gewesen, hier sei er zufällig am OKW in
der Bendlerstraße vorbeigegangen, und als er dort eine gewisse Unruhe
bemerkte, sei er hineingegangen, um zu sehen, was da los sei, und dabei sei er
verhaftet worden. Das waren natürlich alles Schutzbehauptungen. In
Wirklichkeit gehörte Jäger zu den aktiven Widerstandskämpfern. Das geht
auch aus den erwähnten Aufzeichnungen der Frau von Kardorff hervor, in denen
wir Jäger mehrfach begegnen. Aber es war schon imponierend, wie er um seinen
Kopf rang, den er natürlich doch nicht retten konnte. Jedenfalls hat er
keinen anderen mit ins Unglück gerissen. Eher könnte dies schon bei dem
Freiherrn von Leonrod der Fall gewesen sein, der als letzter in der ersten
Reihe der Angeklagten saß, mit einem Bärtchen im braunen Gesicht,
zusammengekrümmt, die Todesangst schaute ihm aus den Augen. Ich habe der
Vernehmung des Barons nicht mehr zur Gänze beigewohnt, (73)
sondern mein Kollege Skuin, der uns anschließend darüber eingehend berichtet
hat. Die Vernehmung des
Freiherren von Leonrod gewann dadurch besondere Bedeutung, daß zu ihr als
Zeuge - übrigens m. W. der einzige Zeuge, der in den Prozessen nach dem 20.
Juli vernommen worden ist - aus der „Schutzhaft" des Kuratus von
Heiligblut in München Hermann Josef Wehrle angehört worden ist. Diesen hatte
von Leonrod eines Tages in seiner Wohnung aufgesucht. Nach Skuin, der gewiß
nicht besonderer Sympathien mit dem Katholizismus verdächtig war, wurde vor
Gericht ausdrücklich festgestellt, daß das Gespräch außerhalb des
Beichtgeheimnisses stattgefunden habe. Von Leonrod (der, wie ich später
gelesen habe, von Stauffenberg selbst über das geplante Attentat unterrichtet
worden war) soll an den Geistlichen etwa folgende Frage gestellt haben: Wenn
ich das Oberhaupt eines Staates für einen Verbrecher halte und ich erfahre,
daß gegen diesen etwas im Gange ist, ist es eine Sünde, wenn ich davon den
zuständigen Stellen keine Kenntnis gebe? Nach von Leonrod soll Wehrle gesagt
haben, es sei keine Sünde, der Geistliche aber behauptete - immer noch nach
dem Bericht von Skuin - das Gegenteil. Er habe aus seinem Schrank das Lexikon
für Theologie und Kirche genommen und ihm daraus vorgelesen, daß zwar ein
Jesuit den Tyrannenmord befürwortet, die Kirche selbst aber ihn verurteilt
habe, im übrigen rate er, Wehrle, der natürlich ahnte, worauf von Leonrod
hinauswollte, ihm dringend, die Finger davon zu lassen. Das alles stimme,
sagte der Baron, doch er blieb bei seiner Behauptung, die Wehrle belastete.
Soweit der Bericht meines Kollegen Skuin. Der Fall Wehrle ist bis in die
letzte Zeit immer wieder in der Öffentlichkeit diskutiert worden. So sind im
Fernsehen auch die Aufnahmen gezeigt worden, die von dem Prozeß gegen ihn
gemacht wurden. Hier interessiert vor allem die Frage, ob man von dem Gespräch
zwischen von Leonrod und Wehrle durch Beobachtungen seitens der Gestapo
erfahren hat oder ob der Baron in seiner Todesangst von sich aus den
Untersuchungsrichter davon unterrichtet hat, gleichsam um damit zu einem
Strohhalm zu greifen. Sollte das letztere der Fall sein, wäre es pharisäerhaft,
ihn deswegen zu verurteilen. Hier sei wenigstens noch
auf einen neueren Beitrag über Wehrle hingewiesen. (Th.
SCHMIDKONZ SJ, Hermann Josef Wehrle ‑ ein vergessener Zeuge. In: MÜNCHENER
KATHOLISCHE KIRCHENZEITUNG vom 16.9.1984.) Danach soll von Leonrod bei
seiner Vernehmung vor dem Volksgerichtshof gesagt haben, daß er von seinem
Beichtvater, also Wehrle, den Bescheid erhalten habe, daß nach der
offiziellen Lehrmeinung der Kirche der Tyrannenmord abzulehnen sei. „Wenn
ich mich trotzdem beteiligt habe, dann habe ich nach der Entscheidung meines
Gewissens gehandelt." Leider gibt der Autor nicht die Quelle des Zitates
an. Jedenfalls sei durch die Bemerkung von Leonrods Freisler auf Wehrle
aufmerksam geworden. Aus der (74) „Schutzhaft" ist
dieser in die Untersuchungshaft überführt und ihm am 14. 9. 1944 der Prozeß
gemacht worden. Er wurde nicht, wie man nach meiner Wiedergabe der Aussagen
Skuins eigentlich erwarten durfte, auf Grund der angeblichen Feststellungen
von Leonrods wegen Mittäterschaft zum Tode verurteilt, sondern nach
Schmidkonz wegen Unterlassung der Anzeige des Planes der Ermordung Hitlers. Da
dieses Vergehen Freisler für ein Todesurteil genügte, bedurfte es nicht der
von Skuin vermerkten Einlassungen von Leonrods, wobei auch ein Irrtum meines
Kollegen natürlich nicht ganz auszuschließen ist, ebenso wie von meiner
Seite ein Erinnerungsschwund. Keinesfalls aber ist daran zu rütteln, da
Wehrle als Zeuge bei der Vernehmung von Leonrods aus der „Schutzhaft"
vorgeführt worden ist und daß das Gespräch zwischen von Leonrod und Wehrle
außerhalb des Beichtgeheimnisses geführt worden ist. Ich habe mir die
Aussage von Skuin genau gemerkt, weil sie mich als Katholiken natürlich ganz
besonders interessierte. Von den schweren
Luftangriffen in jenen Jahren wurden auch wir mit unserem Büro getroffen, und
so mußten wir mehrfach das Quartier wechseln. Eine Zeitlang waren wir in
einem Nebengebäude des 1941 errichteten Reichsministeriums für die besetzten
Ostgebiete untergebracht, woraus sich zwangsläufig einige Kontakte mit
Beamten des Hauses ergaben. Dabei machten wir bald die interessante
Feststellung, daß als Erzfeind des Ministeriums der Reichskommissar für die
Ukraine und Gauleiter von Ostpreußen Erich Koch galt. Anders als dieser trat
das Ostministerium offensichtlich für eine humanere Behandlung der
unterworfenen Völker ein. Dabei wurde immer wieder der Name eines hohen
Ministerialbeamten genannt, der besonders in dieser Richtung tätig war: Otto
Bräutigam. Wie ich sogleich bemerken möchte: Bräutigam, der m. W. vom
Reichsaußenministerium an das Ostministerium ausgeliehen war, ist nach dem
Kriege im Auswärtigen Dienst weiterbeschäftigt worden, zuletzt als
Generalkonsul in Hongkong, wie mir sein Neffe, zu dem Zeitpunkt dieser
Aufzeichnungen als Staatssekretär, Leiter der Ständigen Vertretung der
Bundesrepublik Deutschland in der DDR, in einem Brief vom 23. November 1982
bestätigt hat. Otto Bräutigam hat über seine Erfahrungen im Dienste des
Ostministeriums ein aufschlußreiches Buch (So hat
es sich zugetragen. Ein Leben als Soldat und Diplomat. Würzburg 1968.) geschrieben,
dem man nur einen besseren Lektor gewünscht hätte. Zufällig stellte ich in
einem Jahrbuch des KV fest, daß Otto Bräutigam Mitglied dieses katholischen
Studentenverbandes gewesen ist, dessen Prinzipien er also auch in schwerster
Zeit treu geblieben ist. Was den Minister für die
besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg betrifft, so ist er natürlich identisch
mit dem Verfasser des berüchtigten Machwerkes „Der Mythus des 20.
Jahrhunderts". Doch der (75) steht hier
nicht zur Debatte. Der Minister Rosenberg ist vom Nürnberger Tribunal zum
Tode verurteilt und hingerichtet worden, weil man ihn für die deutschen
Greueltaten in den besetzten Ostgebieten mitverantwortlich machte. Wie ich
vernommen habe (die Quelle kann ich allerdings leider nicht mehr genau
angeben), soll man bei den Aufräumungsarbeiten im Hauptgebäude des
Ostministeriums, der früheren und jetzigen russischen Botschaft, auf einen
Panzerschrank gestoßen sein. Als man ihn öffnete und den Inhalt sicherte,
sei man auf Material gestoßen, nach dem, wie ein Nürnberger Ankläger geäußert
haben soll, Rosenberg nicht zum Tode verurteilt worden wäre, wäre es schon
bei dem Prozeß bekannt gewesen. Allerdings ist Rosenberg viel zu schwach
gewesen, um sich gegen die Reichskommissare Koch und Lohse und die in den
besetzten Gebieten wütende SS durchzusetzen. Für die Gründe, die
Rosenberg veranlaßten, eine mildere Behandlung wenigstens einiger Ostvölker
zu befürworten, aber auch für seine maßlos überhebliche Grundhaltung ist
die Darstellung in den bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen des uns
bereits bekannten Pressemannes Emil Frotscher aufschlussreich, Eines Tages hatte einer
der Redakteure der Revaler Zeitung, ich glaube, es war der Baltendeutsche
Boris Ina, in einer Revaler Schule eine Schülerzeitung entdeckt. Name des
jugendlichen Künstlers: Alfred Rosenberg, der damals noch nichts davon
ahnte, daß er eines Tages Reichsminister, Chefideologe und Verfasser des
von uns nur Mikosch des 20. Jahrhunderts genannten Werkes „Mythus des
20. Jahrhunderts" sein werde. Und weiter geschah zur gleichen Zeit
folgendes: Der Generalkommissar für Estland ließ die Redaktion wissen,
man werde demnächst die orthodoxe Kathedrale auf dem Schloßberg abreißen,
Wahrzeichen des versinkenden Russentums. Wir sollten im Blatt, so wünschte
Generalkommissar Lietzmann, (Lietzmann
war der Sohn des Generals, nach dem die Stadt Lodz umbenannt wurde.
Als SA-Obergruppenführer in Ostpreußen hatte ihn der Gauleiter
Erich Koch, der in ihm einen Rivalen sah, verdrängt. Dem Massaker des
sog. Röhmputsches von 1934 entging er durch seinen Namen.) auf
die Baufälligkeit des Gebäudes hinweisen. So wollte man mangels
Zivilcourage den sinnlosen Zerstörungsakt motivieren. Die Redaktion
kochte vor Empörung und meuterte regelrecht. Dr. Baumhauer und die
Baltendeutschen probten den Aufstand. Langer Hermann, Schloß, Dom,
Olaikirche, Totentanz und vieles andere gehörten genauso zu Reval wie die
orthodoxen russischen Kirchen. Sie zusammen bildeten das unvergleichliche
Städtebild Reval. Es zu zerstören, war Barbarei. Wir schmiedeten einen
erpresserischen Plan. Ich sollte Rosenberg in Berlin das Jugendwerk seiner
Zeichenkunst schenken und die dadurch zweifellos entstehende versöhnliche
Atmosphäre nutzen, um ihm die (76) Erhaltung
der Kathedrale abzutrotzen. Am liebsten hätte mich die Redaktion sofort
nach Berlin geschickt, um keine Zeit für das Rettungswerk zu verlieren. Ich ging vorher noch
einmal zu Generalkommissar Lietzmann, um mich über die Hintergründe zu
orientieren. Das könnte für mein Gespräch mit Rosenberg nur dienlich sein.
Lietzmann, bestimmt kein dickköpfiger Zerstörungswüterich, berief sich auf
den Befehl Berlin: Rosenberg wollte seine Geburtsstadt Reval
„eindeutschen". Und dabei müßten eben wohl oder übel gewisse
Wahrzeichen der Russifizierung fallen. Natürlich sei das bedauerlich, aber er
‑ Lietzmann ‑ sei selbst der Meinung, daß diese Reinigung dazugehöre,
wenn man Estland dem Westen wiedergewinnen wolle. So seien mit dem Esten Mae
bereits erste Ansätze gemacht, eine estnische Selbstverwaltung in die Wege zu
leiten. Interessant und neu für mich war, daß Lietzmann auch unumwunden von
gewissen Gegensätzen zwischen Rosenberg und Hitler sprach. Während der
gesamte Osten ‑ von Polen angefangen für Hitler nur „Lebensraum"
für die Deutschen sei, habe Rosenberg den Plan, mit den baltischen Ländern,
Weißrußland und wahrscheinlich auch einer von Rußland losgelösten Ukraine
eine Deutschland verbundene selbständige Zone zu schaffen. Diese gelte es zu fördern
und vorzubereiten. Leider könne sich Rosenberg, der ja im Grunde genommen ein
Träumer sei, gegenüber den rigorosen Ideen Hitlers nicht durchsetzen. So
wolle er als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete mit gewissen
„Zerstörungsmaßnahmen" Hitler beweisen, wie sehr er das russische
Element aus den Randgebieten entferne. Vielleicht könnte er damit Hitler
geneigter für seine weitergehenden Pläne machen. Es blieb in diesem Gespräch
offen, ob Lietzmann auf seiten Hitlers oder Rosenbergs stand, es schien mir,
als ob er eher dem „Führer" zuneigte, vor allem da er wußte, daß
sein nächster Vorgesetzter, der Reichskommissar Lohse in Riga, ein getreuer
Vasall Hitlers war, der dem „Romantiker" Rosenberg mit einer gewissen
Reserve gegenüberstand. Jedenfalls hatte Lietzmann aber keine Einwendungen,
als ich ihm erzählte, ich würde nicht aufgeben, sondern versuchen, Rosenberg
umzustimmen. Kaum in Berlin
angekommen, ging ich ins sogenannte Ostministerium, die Residenz Rosenbergs.
Zu ihm zu gelangen, war für mich nicht schwer. Ein Anruf von Rienhardt genügte,
und durch Rosenbergs Pressechef Crantz, den ich gut kannte und auch schätzte,
ließ mir Rosenberg sagen, er freue sich auf meinen Bericht über seine
Heimatstadt Reval. Rosenberg machte auf
mich tatsächlich den Eindruck eines Träumers, der sich - wie so viele andere
prominente Nationalsozialisten in eine Rolle hineinzwang, der er nicht
gewachsen war. Er war weder ein Ideologe, dafür fehlten ihm die geistigen
Voraussetzungen, noch ein Minister, dafür mangelte es ihm an Energie und
Organisationstalent. Er interessierte sich für jede Straßenecke in Reval,
und ich hatte alle Mühe, bei meinen geringen Kenntnissen der Stadt alle seine
Fragen (77) zu beantworten. Er fragte mich auch
nach meinem Urteil über Lietzmann und Lohse, was ich als nicht sehr taktvoll
empfand und demgemäß ausweichend beantwortete. Dann war der große Moment
gekommen. Ich überreichte ihm feierlich - ich genoß den Augenblick - das
Geschenk der Redaktion, die in mühevoller Arbeit ganz Reval durchkämmt habe,
um dem Herrn Reichsminister ein Geschenk aus seiner Jugendzeit zu überreichen.
Rosenberg wurde wieder zum Kind, er starrte das Bildchen lange Zeit wortlos an
(ich glaube, es war eine Straßenszene mit markanten Revaler Gebäuden). Ganz
traumverloren. Es schien, als sei ich gar nicht mehr vorhanden, als sei er
allein mit seiner Vergangenheit. Irgendwie mußte das Bild bei ihm
Empfindungen ausgelöst haben, über die er sich bisher selbst nicht klar
gewesen war. Dann sprang er impulsiv auf, was ich dem etwas lethargischen
Manne gar nicht zugetraut hatte, und drückte mir beide Hände.„Danken Sie
der Redaktion, und Dank vor allem Ihnen", sagte er. Und seine Stimme
klang belegt. Das war der richtige Augenblick. Der Boden für meine Aufgabe war präpariert, jetzt kam es nur darauf an, das Feld geschickt zu beackern. Ich begann vorsichtig , wohl ein halbdutzendmal ließ ich die Floskel „Samarkand in Lübeck" einfließen, ich bettelte um Mitleid für die Kathedrale. Rosenberg hörte mich ruhig bis zum Ende an, starr den Blick auf mich gerichtet. Und dann geschah, was
ich nicht erwartet hatte. Wieder sprang er auf, aber diesmal mit Anzeichen der
Wut, die ich bei ihm nie erwartet hatte. Verschwunden war die Stimmung der
Jugenderinnerung, verschwunden Romantik und Träumerei. Unbeherrscht schrie er
mich an: „Sie, Sie Kulturbolschewist. " Und noch einmal wiederholte er,
etwas leiser und mit noch mehr Verachtung in der Stimme: „Sie, Sie
Kulturbolschewist! " Welche Seite seines
Wesens hatte ich getroffen? War sein Haß gegen Rußland so riesengroß? Denn
mit dem Bolschewismus hatte die arme Kathedrale in Reval beileibe nichts zu
tun. Jäh war mein Gespräch
beendet. Nicht einmal mit einem Händedruck verabschiedete er mich, den
Kulturbolschewisten. Die Jugendzeichnung lag unbeachtet auf dem Schreibtisch.
Ich warf noch einen letzten Blick auf das Bildchen. Ob es jetzt wohl in den
Papierkorb wandern würde? So weit die Aufzeichnungen
Frotschers. Die Kathedrale wurde aus welchen Gründen auch immer tatsächlich
nicht abgerissen, sie überdauerte den Krieg. Hitler schien den alten
Gauleitern vom Schlage eines Koch geradezu hörig zu sein. Ihre Korruption mußte
schon zum Himmel stinken, ehe er sich von ihnen trennte, z. B. im Falle des
Gauleiters von Ostbrandenburg Kube. Doch setzte er diesen nach den militärischen
Anfangserfolgen zum Generalkommissar für Weißrußland in Minsk ein. Da
passierte Kube das Mißgeschick, daß ein einheimisches Dienstmädchen ihm
eine Tellermine unter die Matratze (78) legte,
worauf der Generalkommissar mit dem Bette hochging. Seiner Frau, die neben ihm
schlief, geschah merkwürdigerweise gar nichts. Natürlich gab es zu seinen
Ehren in der Reichskanzlei einen Staatsakt, zu dem ich als „Außendienstler"
von meinem Büro kommandiert wurde. Auf diese Weise drang ich in die als
Wunderbau gepriesene neue Reichskanzlei ein. Wenn Sie mich nach meinen Eindrücken
von ihr fragen, bin ich ratlos. Alles sehr aufwendig und pomphaft, aber ein
Stil war nicht zu erkennen. Doch vielleicht wurde hier ein neuer Stil kreiert,
der vorbildlich für den künftigen NS‑Stil sein sollte! Dabei fällt
mir aber eine Stelle aus den Erinnerungen des Schöpfers der Neuen
Reichskanzlei Albert Speer ein. Als er während des Krieges den Escorial bei
Madrid aufsuchte, sei ihm der Irrweg seiner und der nationalsozialistischen
Baupolitik aufgegangen. Der Escorial sei einer geistlichen Zielsetzung
entwachsen, eine ähnliche aber fehlte den gigantischen, jedoch seelenlosen
Bauvorhaben des Nationalsozialismus. Die Trauerfeier für Kube war von einer
unüberbietbaren Kälte. Der Minister Rosenberg hielt eine Rede kühl bis ans
Herz hinan. Dann geleitete er die Witwe aus dem Saal, während die
Staatskapelle unter Johannes Schüler den Trauermarsch aus der Götterdämmerung
herunterfiedelte. Und ich schrieb dann meinen tiefergreifenden Bericht mit dem
Standardvokabular, das uns für solche Zwecke zur Verfügung stand. Wir haben Rosenberg noch
einmal in persona bei einem Kameradschaftsabend des Ostministeriums erlebt, zu
dem man uns als Mitbewohner des Hauses eingeladen hatte. Begleitet von den
Filmschauspielerinnen Jenny Jugo und Marika Rökk, die man eigens zu seiner
Unterhaltung natürlich gegen klingende Münze engagiert hatte, zog der Herr
Minister mit dem unnahbaren Gesicht, wie es manchen Baltendeutschen eigen war,
durch die Räume. Sein Kollege Goebbels hätte in der Situation vergnüglicher
dreingeschaut. Bei dem Kameradschaftsabend ging es sehr sittsam zu, wenigstens
solange wir da waren. Aber Rosenberg war wohl auch ein Moralist. Tolle Dinge
erzählte man sich von einem Kameradschaftsabend des
Reichserziehungsministeriums, der um die gleiche Zeit begangen wurde. Wie der
Herr, so's Gscherr. Der Minister Rust, einst Studienrat in Hannover, war ein
allgemein anerkannter Hartsäufer, und die Seinen taten's ihm gleich. Als die
Ministerialen am Morgen nach dem Kameradschaftsabend in ihrer Katerstimmung
erwachten, fiel ihnen ein, daß der Chef in vorgerückter Stunde jemanden zum
Professor ernannt habe. Aber keiner konnte sich zunächst erinnern, wer der Glückliche
gewesen war. Da ging endlich einem ein Licht auf. Es war der Leiter der
Tanzkapelle Barnabas von Geczy. Was nun? Man beschloß, den Führer für den
Fall zu gewinnen, was auch tatsächlich gelang, und so lasen die teils
erstaunten, teils gerührten Leser wenige Tage später, daß der Führer auch
die gute Unterhaltungsmusik zu würdigen wisse (deutsche konnte (79)
man schlecht hinzufügen, da der Leiter der Kapelle ein Ungar war) und
darum einen ihrer bedeutendsten Vertreter, eben Barnabas von Geczy, zum
Professor ernannt habe. Übrigens hätte Rust in seinem Suff gar nicht mal
einen Falschen erwischt: Geczy wird noch heute in den Lexika als Pfleger einer
traditionellen Unterhaltungsmusik gerühmt. Als wir eines Morgens
unseren Dienst im Gebäude des Ostministeriums antraten, stellten wir alsbald
fest, daß im Hause eine aufgeräumte Stimmung herrschte. Wir erfuhren sehr
rasch den Grund. Erich Koch, der an neronischen Paschaallüren wohl nur noch
von Göring übertroffen wurde, hatte sich von holländischen Zimmerleuten,
die zu der uns schon bekannten „deutschen Aufbauarbeit" in die
besetzten Ostgebiete deportiert worden waren, eine hölzerne Jagdvilla
errichten lassen. Jedes Zimmer hatte seine eigenen Embleme, so gab es u. a.
ein Fasanenzimmer und ein Entenzimmer. Aber gerade dieses soll zunächst Kochs
Zorn erregt haben. Was, das sollen Enten sein, soll Koch getobt haben, Krähen
sind das. Das Zimmer mußte neu hergerichtet werden. Aber als dann die ganze
Villa fix und fertig dastand, kamen die Partisanen und zündeten sie an, so daß
von all der Pracht und Herrlichkeit buchstäblich nur ein Haufen Asche übrig
blieb. Eben dieser Streich, den die Partisanen dem Erzfeind des Hauses
gespielt hatten, war es, der die Gemüter im Ostministerium so sehr
erheiterte. Ich hatte eine Nacht
Luftschutzwache, als das Haus von Phosphorbomben getroffen wurde. Da die
Wasserleitung ausgefallen war, zog ich, behauptet mit einem mächtigen Helm
gegen den kleckernden Phosphor, mit einem Eimer zum Haus auf der gegenüberliegenden
Straßenseite, das die Bomben verschont hatten. Als ich mit dem gefüllten
Eimer zurückkehrte, sah ich im Torbogen des Nachbarhauses einen stattlichen jüngeren
Mann im Trenchcoat stehen, der mir mit süffisantem Lächeln zusah. Schon
wollte ich ihm die Worte „Schöne Sch . . ." zurufen, als ich ihn im
letzten Augenblick erkannte, so daß mir die Worte soeben noch im Halse
stecken blieben. Es war der Rüstungsminister Albert Speer. Wie hätte er wohl
reagiert, wenn die Worte wirklich dem Gehege meiner Zähne entflohen wären?
Die Antwort auf die Frage mag der Leser meines Berichtes selbst geben. Hier sei noch ein
schauerliches Erlebnis an einem Novembertag 1943 eingeschaltet. Wir, Blaschke,
Skuin und ich, machten uns nach Dienstschluß auf den Weg, um im
„Kaiserhof" zu Abend zu speisen. Es war so diesig, daß man bei der
Verdunkelung auf jeden Tritt achten mußte. Bei dem Wetter waren wir
verwundert, daß auf einmal Fliegeralarm gegeben wurde. Obwohl wir es
eigentlich für unnötig hielten, da wir jeden Augenblick mit Entwarnung
rechneten, suchten wir den Luftschutzkeller des "Promi" auf, auf
dessen Höhe wir gerade angelangt waren. Der sehr geräumige Keller war nach
den damaligen Vorstellungen absolut bombensicher. Hier (80)
hätte sich auch der Herr Minister selbst ohne Gefahr für Leib und Leben
aufhalten können, aber der war natürlich bereits getürmt, und so blieb es
ihm erspart, im Luftschutzkeller in der Volksgemeinschaft machen zu müssen,
die er so gern im Munde führte. Statt der erwarteten Entwarnung erlebten wir,
daß der Staatssekretär Gutterer aufgeregt im Keller hin und her lief,
gefolgt von einigen Funktionären, die ständig „Herr Staatssekretär, Herr
Staatssekretär!" riefen. Daraus schlossen wir, daß oben Furchtbares im
Gange war. Und so war es auch. Als endlich die Entwarnung kam und wir nach
draußen gelangt waren, mußten wir entsetzt feststellen, daß zumindest das
große Viertel um den Bahnhof Friedrichstraße ein einziges Flammenmeer war.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sich bereits um den Angriff vom 22./23.
November 1943 handelte, bei dem der ganze alte Westen vernichtet wurde mitsamt
dem Nuntiaturgebäude in der Rauchstraße. (Vgl. H.
PREUSCHOFF, P. Eduard Gehrmann SVD (1888-1960) (ZGAE, Beiheft 4).
Osnabrück 1984, S. 107.) Jedenfalls war es der erste Angriff,
bei dem sich die britischen Flugzeuge mit Radargeräten dem Ziel näherten, so
daß die Luftangriffe fortan auch bei schlechtem Wetter erwartet werden mußten.
Je mehr wir uns dem Zentrum näherten, um so stärker erfaßte uns der
Feuersturm. „Heulend kommt der Sturm geflogen, der die Flamme brausend
sucht." Solches hatten wir auf der Schule gelernt, ohne uns Gedanken darüber
zu machen, nun aber erlebten wir es. Ich weiß nicht mehr, ob wir drei uns
noch nach unserem Büro durchgeschlagen haben, das möglicherweise auch
ausgebombt war, und wo wir uns trennten. Da die Verkehrsmittel durch den
Luftangriff ausgefallen waren, bin ich stundenlang zu Fuß zu meinem Quartier
in Neukölln an der Ringbahn gegangen, vom Herrmannplatz die endlos lange
Herrmannstraße. Diese Viertel waren vom Angriff verschont geblieben. Aber als
ich endlich meine Stube betreten und Licht gemacht hatte, bemerkte ich, daß
mein Mantel mit einer dicken Aschenschicht bedeckt war. Der 1. Mai 1944 wurde wie
üblich mit einem Staatsakt begangen. Wieder wurde ich zu ihm abgeordnet, mit
besonderer Wut im Bauche. Mein Bedarf an solchem Unfug war längst gedeckt. Am
Potsdamer Platz bestieg ich den Pressebus. Selten hat ein Bus eine solche
schweigsame Fracht gefahren wie dieser. Was wir einander sagen wollten,
durften wir nicht, und was wir durften, wollten wir nicht. Das Ziel war eine
große Werkshalle weit draußen im Osten der Stadt. Sie war mit dem üblichen
Aufwand drapiert. Auf den Brücken standen in ihren frischgewaschenen blauen
Kluften Arbeiter des Werkes herum. Sie machten einen leicht genierten
Eindruck. Auf einem Podest saßen die sechs Männer, die an diesem Tage zu
Pionieren der Arbeit gekürt werden sollten. Ganz links im Stresemann der
Industriekönig von der Saar Hermann Röchling, ein gedrungener Mann mit
dicken Brillengläsern. Daneben mit mokantern (81)
Gesicht im wohlgeschnittenen Cutaway Albert Vögler vom Bochumer Verein. Als
dritter ein Direktor des Klöckner‑Konzerns. Die Klöckners selbst waren
der Auszeichnung nicht würdig. Sie waren nicht nur Katholiken, einer von
ihnen, Florian Klöckner, war bis 1933 sogar Zentrumsabgeordneter gewesen. Um
des Proporzes willen schlossen sich den drei Industriekapitänen drei Männer
der schaffenden Faust an, die irgendwelche Stachanow‑Arbeiten verrichtet
oder kriegswichtige Erfindungen gemacht hatten. Nach dem üblichen
Fahneneinmarsch betrat der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley
das Rednerpult. Man hatte uns Presseleuten schon vorher den Text seiner Rede
in die Hand gedrückt. Doch es dauerte gar nicht lange, da begann Ley von ihm
abzuweichen. Wir Journalisten haben dann unseren Bericht wohlweislich nach dem
Text geschrieben, den man uns gegeben hatte, nicht nach der Rede, die Ley
wirklich gehalten hat. Das Pressereferat von Ley hatte, wohl durch Erfahrungen
gewitzigt, mit seinen Eskapaden gerechnet. Man sagte, Ley stehe ständig
„unter Dampf". War es auch diesmal der Fall oder redete er sich in
seinem rheinischen Frohsinn besoffen, das sei dahingestellt. Anders als im
Text vorgesehen verfiel er in eine wüste Schimpfkanonade gegen die Juden.
Wenn wir im Osten, schrie er, weiter nichts erreicht haben, als daß wir jede
Menge von dem Geziefer ausgerottet haben, hat sich das Ganze schon gelohnt.
Nachdem er endlich von den Juden abgelassen hatte, kehrte Ley nicht etwa zu
dem vorgesehenen Text zurück. Einmal ins Schwadronieren geraten, blieb er
dabei, und was er dann von sich gab, konnte man fast als eine Büttenrede
bezeichnen. Hatte man nicht noch die schamlosen Ausfälle gegen die Juden in
allzu frischer Erinnerung, konnte man fast in eine animierte Stimmung geraten.
Mit geradezu denkwürdigen Worten beschloß Ley seine „Festansprache":
„Wir werden uns die Krim wiederholen, schon damit du, deutscher (er sagte
auf rheinisch: daitscher) Arbeiter dort deine Ferien verbringen kannst!" Was nun folgte, war im
Programm nicht vorgesehen. Weder wurden die Pioniere der Arbeit verkündet
(das geschah erst am folgenden Tage in den Gazetten), noch marschierten die
Fahnen bejubelt hinaus. Nein, unmittelbar nach der Rede Leys sprach ein
aufgeregter Goldfasan ins Mikrophon: „Wir bitten die Halle schleunigst zu räumen,
es ist in wenigen Augenblicken mit Fliegeralarm zu rechnen!" Natürlich
dachte jeder, die Amerikaner würden die Stätte des Festaktes besonders aufs
Korn nehmen, und so drängte alles den glücklicherweise breiten Torausgängen
zu. In mehreren Reihen nebeneinander brausten die Wagen ohne Rücksicht auf
den Gegenverkehr den Luftschutzbunkern in der inneren Stadt zu. Mittenmang, um
es auf ostpreußisch zu sagen, schaukelte unser Pressebus. Ich erreichte tatsächlich
noch das unterste Stockwerk des U-Bahnhofs Alexanderplatz, wo man sich
einigermaßen sicher (82) fühlen konnte. Als
endlich die Entwarnung kam, bot sich außer den Feuerbränden ringsum hoch
oben am höchsten glasklaren Himmel ein ebenso wunderbares wie makabres
Schauspiel. Winzig klein, aber doch deutlich erkennbar flogen viele hundert
amerikanische Flugzeuge, die sich, nachdem sie ihre Last über die Stadt
abgeworfen hatten, im Osten zu einem Formationsflug gesammelt hatten, nun über
die City heimwärts. Wie hatte der großmäulige Giftzwerg aus Rheydt einmal
gesagt: Wenn heute ein Flugzeug über unseren Köpfen fliegt, dann wissen wir,
es ist ein deutsches Flugzeug! Die Parade der US-Flugzeuge lieferte jetzt den
Kommentar dazu. Ansonsten verrichtete ich
weiter meine Alltagsarbeit. Da ich auch trotz des mehrfachen Standortwechsels
unseres Büros immer noch ihm am nächsten wohnte (übrigens allein, meine
Familie ließ ich wegen der Luftangriffe auf Berlin im Breslauer Elternhaus
meiner Frau), erschien ich morgens auch als erster zum Dienst. Ich redigierte
sogleich das für unsere Zeitungen geeignete Material, das von den Damen des Büros
telefonisch weitergeben wurde. Dann aber machte ich mich über den Rest des
Materials her, das auch für unsere Zeitungen nicht zu verwenden war. Ich erwähnte
schon die Churchill-Reden. Wir sprachen da von
„Thiele‑Nachrichten", eingedenk der Äußerung des Generals vor
Freisler, daß er durch die Lektüre von Schweizer, also ausländischen
Zeitungen irre geworden sei. Wurden wir es auch, wenn wir täglich Äußerungen
der Feind‑ und neutralen Seite lasen? Ich kann nur von mir sprechen, mit
den Kollegen, die die „Thiele-Nachrichten" - zugegeben eine äußerst
zynische Formulierung - ebenso eifrig wie ich lasen, habe ich niemals darüber
geredet. Ihnen mochten die gleichen Gedanken gekommen sein wie mir, aber sie
wollten sie vielleicht nicht für wahr haben und haben sie verdrängt. Eines Tages versammelten
sich auf unserem Büro einige Schriftleiter aus verschiedenen
Himmelsrichtungen, die wohl Frotscher herbeigerufen hatte. Sie brachten nämlich
einen gestanzten Zeitungskopf Deutsche Zeitung in Tiflis mit, was erkennen ließ,
daß sie sich nach dem Fall von Tiflis mit ihm in Richtung Transkaukasien in
Bewegung setzen würden, um auch dort eine deutsche Zeitung zu gründen. Nach
einigen Tagen waren die Herren verschwunden mitsamt dem Zeitungskopf. Er ist
nicht benötigt worden. Der deutsche Zug nach Indien ist schon vor der Station
Tiflis auf der Strecke geblieben. Seit meiner Berliner
Studentenzeit 1926/27 bin ich ein begeisterter Verehrer (heute sagt man Fan)
des Berliner Theaters gewesen. Auch später habe ich jede Gelegenheit genutzt,
eine Aufführung auf einer der großen Bühnen der Reichshauptstadt
wahrzunehmen. Nun aber, als ich dem Büro der Ostzeitungen beigetreten war und
das Berliner Theater hätte ausgiebig genießen können, war meine
Leidenschaft dafür abgekühlt. Gegen das grausige Theater, (83)
das die amerikanischen und englischen Bomber gerade in den Jahren uns
in Berlin draußen boten, mußte das Theater innerhalb der Mauern, soweit sie
überhaupt noch standen, notwendig verblassen. Trotzdem hätte ich gern für
die Ostzeitungen über die Berliner Premieren geschrieben, aber dafür war
bereits vor meinem Eintritt mit Dr. Lüdtke ein Berichterstatter verpflichtet
worden. Dennoch sind mir einige Aufführungen aus der Zeit doch in lebhafter
Erinnerung geblieben. Noch vor meinem offiziellen
Eintritt im Büro, wohl bei meinem Besuch bei Dujardin, sah ich 1942 im
Staatstheater eine grandiose Darbietung von Grillparzers „Ein Bruderzwist in
Habsburg". Ich bin eigentlich nur hineingegangen, weil der größte
Schauspieler jener Zeit, Werner Krauss, die Hauptrolle des Kaisers Rudolf II.
spielte, ansonsten erwartete ich einen historischen Prachtschinken. Ich
erlebte aber ein historisch‑politisches Drama, das man unbedenklich
Schillers „Wallenstein" an die Seite stellen kann. Vor allem die
Monologe des Kaisers, von Krauss wunderbar gesprochen, mußten als höchst
zeitgemäß empfunden werden. Das Verdienst, Grillparzers größtes Drama neu
entdeckt zu haben, kam dem Bochumer Intendanten Hans Schalla zu, das Wiener
Burgtheater und das Berliner Staatstheater haben es nachgespielt. Es ist
bezeichnend für die heutige geistige Situation im allgemeinen und des
deutschen Theaters im besonderen, daß das Werk heute auf keiner deutschen Bühne
anzutreffen ist, obschon es an Aktualität nichts eingebüßt hat. Im Schiller-Theater sah ich
in Berlin damals mit Horst Caspar und Will Quadflieg eine hochexpressive Aufführung
von Schillers „Die Braut von Messina". Ihr Regisseur hieß Walter
Felsenstein, den Heinrich George aus der Schweizer Emigration an sein Theater
als Oberregisseur zurückgeholt hatte. Während sein Chef nach dem Kriege in
einem russischen Lager elend zugrundegegangen ist, kratzte Felsenstein, um es
vulgär zu sagen, sehr rasch die Kurve: Er wurde Direktor der Ostberliner
Komischen Oper, wo er sein vielgepriesenes realistisches Musiktheater begründete. Ich sah noch die beiden
letzten Neuinszenierungen des Staatstheaters kurz vor dem 1944 von Goebbels
erlassenen allgemeinen Theaterverbot und der Zerstörung des herrlichen
Schinkelbaus am Gendarmenmarkt. Während mich die „Othello"-Inszenierung
von Karlheinz Stroux nicht vom Stuhle riß, war die Aufführung von Sudermanns
„Johannisfeuer" eine Überraschung. Mit diesem Stück pocht der
ansonsten als Dramatiker längst abgeschriebene Ostpreuße Sudermann, um es
mit den Worten des bekannten Kritikers Karlheinz Ruppel zu sagen, an die
Pforten der Dichtung, wozu gewiß beiträgt, daß er hier wie in den berühmten
„Litauischen Geschichten" und dem Roman „Frau Sorge" auf dem
Boden seiner preußisch-litauischen Heimat bleibt. Allerdings hatte an dem
Erfolg des Stückes die phantastische Inszenierung Jürgen Fehlings (84)
entscheidenden Anteil, der mit dem im ermländischen Bischdorf
geborenen Paul Wegener, Marianne Hoppe, der soeben auf der Berliner Bühne flügge
gewordenen Joana Maria Gorvin und der als versoffenes Weib Weßkalnene überwältigenden
Maria Koppenhöfer über erstrangige Schauspieler für seine Einstudierung
verfügte. Da das Deutsche Opernhaus
in Charlottenburg ausgebombt war, kroch sein Ensemble im merkwürdigerweise
verschont gebliebenen Admiralspalast nahe dem Bahnhof Friedrichstraße unter.
Hier genoß ich noch unter der Leitung des neuen Intendanten Hans
Schmidt‑Isserstedt mit Karl Schmitt-Walter als Almaviva eine schöne
Aufführung von „Figaros Hochzeit", die einen wenigstens für ein paar
Stunden die Misere der Zeit vergessen ließ. Unser musikalischer Mitarbeiter
Fritz Brust nahm mich in die Staatsoper zum Festkonzert zum 80. Geburtstag von
Richard Strauss am 11. Juni 1944 mit. Nach zwei Liedern von Erna Berger
dirigierte Herbert von Karajan als Hauptstück „Ein Heldenleben". War
Richard Strauss' Leben ein solches? Was mir ganz am Rande des Konzertes
auffiel: Auf dem Wege zu den Eingangstüren begegneten sich zwei bekannte
Schauspieler von Gründgens' Staatstheater. Sie grüßten einander nicht etwa
mit dem deutschen Gruß, sondern mit artigen Verbeugungen - „wie einst im
Mai". An einem anderen
Sonntagmorgen dirigierte Karajan mit der Staatskapelle ein Konzert in dem
Berliner Großkino Phoebus-Palast. Es sollte, wie es in dem Anschreiben zu den
uns zugesandten Karten hieß, die Stimmung der Bevölkerung heben. Eine von
Karajan glänzend dirigierte Haydn‑Sinfonie versetzte mich tatsächlich
in Hochstimmung. Doch verflog diese sehr rasch, als ich in die wie zum Hohn
von einer herrlichen Sommersonne beschienenen Trümmerlandschaft hinaustrat. Die Kultur spielte im
Dritten Reich eine große Rolle - wie man sie damals auffaßte, auch als
Mittel zum Zweck, wie wir soeben sahen, zur Stimmungsmache. Jedenfalls war man
sehr darauf bedacht, daß sie gebührend gewürdigt wurde. Am 1. Mai wurde in
der Berliner Philharmonie regelmäßig die Neunte Sinfonie von Beethoven
gegeben. Als einmal festgestellt wurde, daß die dafür vorgesehenen Presseplätze
reihenweise unbesetzt geblieben waren, ging auf die Berliner Journalisten ein
furchtbares Donnerwetter von Goebbels persönlich hernieder. Wozu zu bemerken
ist, daß, schnoddrig gesagt, den Journalisten die Neunte längst zum Halse
heraushing, eben weil sie alljährlich am 1. Mai gegeben und mißbraucht
wurde. Ein andermal gab Goebbels an die Presse einen gewaltigen Zornesausbruch
Hitlers weiter. Was war Furchtbares geschehen? Der Opernsänger Josef von
Manowarda war gestorben, und die Zeitungen berichteten darüber in kurzen
Notizen. Diese waren es, die Hitler erbosten, als er sie in der Wolfsschanze
oder wo er gerade sich aufhielt, zu Gesicht bekam. Manowarda war sein
Lieblingssänger. (85) Von jedem Boxer würden,
wenn er starb, lange Spalten gebracht, tobte der Führer, ein großer
deutscher Sänger müsse sich mit einem lumpigen Hinweis begnügen. Mit der
Pressebeschimpfung Hitlers lieferte das "Promi" gleich jede Menge
Material über Manowarda mit, und so erfuhren dann auch über ihn in langen
Spalten die Leser von Braunsberg bis Bottrop und von Flensburg bis Freiburg,
welch berühmter deutscher Künstler, von dem die meisten bisher nicht einmal
den Namen gehört hatten, mit Josef von Manowarda dahingeschieden war. Am
Rande gesagt: Die auf Stelzen gehende NS-Kulturpolitik war für uns
Journalisten eine Quelle ständigen Vergnügens. Wenn einer im Grunde völlig
amusisch war, war es der Kulturminister Joseph Goebbels. In der ersten Zeit meines
Berliner Daseins, als wir noch in der Luisenstraße residierten, pflegten wir
unsere Mittagsmahlzeiten im nahegelegenen „Schwarzen Ferkel"
einzunehmen. Das war an sich ein berühmtes Lokal, das in seinen besseren
Zeiten auch ohne solche Gäste wie wir ausgekommen wäre. Immerhin mußten wir
in einem Vorraum warten, bis der Disponent (er führte einen anderen Titel,
den ich vergessen habe) uns einließ, wenn ein Tisch freigeworden war, nicht
ohne daß er unseren Aufzug mit einem strengen Blick musterte. Früher hatten
dort in einem kleinen Stübchen Männer wie Carl Ludwig Schleich, Otto Erich
von Hartleben, Richard Dehmel, Knut Hamsun und August Strindberg ihren
Stammtisch. Das „Schwarze Ferkel" wurde auch gern von Abgeordneten des
nahegelegenen Reichstags aufgesucht, so vom Prälaten Leicht von der
Bayrischen Volkspartei, dessen man sich noch besonders gern erinnerte. Aber
auch zu unserer Zeit wurde in dem Lokal noch eine Persönlichkeit wie der
geniale Autokonstrukteur Ferdinand Porsche gesehen. Als einmal ein Gast sich
einige Zeit über einen Tisch beugte, wies ihn der Disponent sanft zurecht:
„Mein Herr, das Bild leidet!" Dann aber wurde uns das Restaurant doch
zu teuer, zumal seine Kost zwar vorzüglich zubereitet, aber angesichts der
Zeitverhältnisse nicht gerade üppig zu nennen war. Nach einem schweren
Luftangriff bin ich einmal durch die Neue Wilhelmstraße gegangen, wo das
„Schwarze Ferkel" lag. Da sah ich den Wirt verstört vor den rauchenden
Trümmern seines Hauses stehen. Vermieden wir im Büro
jedes politische Gespräch, so hielt ich im Familienkreise mit meiner Meinung
nicht hinter dem Berge. Mein guter Schwager, der stolz die Uniform eines
Stabsapothekers trug, pflegte zu sagen: Du siehst nicht nur schwarz - du rußt!
Als ich meine Verwandten im Ermland besuchte, sagte ich: Der Goebbels lügt
wie gedruckt, aber in einem hat er recht, nämlich wenn er ausmalt, was die
Frauen von den Sowjetsoldaten zu erwarten haben. So forderte ich die
Verwandten auf, wenigstens die drei jüngeren Schwestern rechtzeitig ins Reich
zu schicken. Da fiel mich der frisch Angetraute einer der Schwestern an: „Du
glaubst wohl auch (86) nicht mehr an den
Endsieg?" Verdammter Kerl, dachte ich, jetzt fehlt nur noch, daß du mich
anzeigst. Die drei Schwestern blieben im Lande. Sie sind von den Russen
verschleppt worden. Zwei sind in Rußland umgekommen, nur eine ist von dort
nach Jahren zurückgekehrt, natürlich nicht in die alte Heimat, sondern zu
uns nach Fulda. Im Herbst des Jahres 1944
beauftragte Hitler den General v. Unruh, vom Volksmund alsbald analog dem
„Kohlenklau", der für Sparsamkeit im Heizen sorgen sollte,
„Heldenklau" genannt, die Büros und Dienststellen nach
kriegsverwendungsfähigen (kv) Leuten durchzukämmen. Mit etwas verlegener
Miene eröffnete mir Dr. Blaschke, daß ich aus unserem Büro dazu ausersehen
sei, dem „Heldenklau" zum Fraße ausgeliefert zu werden. Er sagte es
seiner feinstreifigen Art gemäß nicht ganz so grob. Ich war aber ob der Eröffnung
gar nicht einmal so betrübt, denn ich war mir klar darüber, daß nach dem
Ende der tausend Jahre, über das ich mir längst keine Illusionen mehr
machte, der Absprung in die neue Zeit von der Wehrmacht einfacher sein werde
als der vom Berliner Büro der Ostzeitungen. Daß ich dann nach der
Kapitulation von den Amerikanern den Russen ausgeliefert werden würde, weil
wir die Demarkationslinie Linz-Prag nicht rechtzeitig überschritten hatten,
war freilich von mir nicht eingeplant. Ich wurde zur Sanitätsabteilung
3 in Guben einberufen. Der Kompaniechef war zwar ein Stabsarzt, sonst aber
wurden wir alten Unteroffiziere und Feldwebel wie Rekruten behandelt, um uns
frontdienstfähig zu machen. Ich bin Ende Januar noch einmal in Berlin
gewesen, um Übungsmunition abzuholen, mit deren Hilfe endgültig der Endsieg
gesichert werden sollte. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß gerade an dem
Tage meine Familie aus Breslau in Berlin angelangt war und ich sie umgehend in
ein befreundetes Pfarrhaus in der thüringischen Rhön weiterexpedieren
konnte. Ich habe dann noch einen kurzen Besuch auf unserem Büro gemacht, und
bei der Gelegenheit habe ich meine Kollegen zum letzten Male gesehen. Von
ihrem traurigen Ende habe ich bereits berichtet. aus:
Hans
Preuschoff: Journalist im Dritten Reich Abschied
vom Journalismus - Bibliographie
Hans Preuschoff - Personenregister Diese Site wurde von der Kreisgemeinschaft Braunsberg www.braunsberg-ostpreussen.de
ins Internet gestellt! |