Hans Preuschoff: Journalist im Dritten Reich

Endstation: Berliner Büro der Ostzeitungen 1942‑1944

  

Mein Start in Berlin im November 1942 war denkbar schlecht. Dazu trug nicht nur meine natürlich auch dort bekannte schwarze Vergangenheit bei, ich tat selbst das Meinige dazu. In Litzmannstadt gehörte zu den dortigen Vertretern des Gauorgans Ostdeutscher Beobachter in Posen ein Schriftleiter, mit dem ich ganz gut auskam. Als Baltendeutscher wurde er alsbald nach ihrer Gründung der Deutschen Zeitung für Ostland in Riga zugeteilt. Noch von Litzmannstadt aus fragte ich ihn an, wie es mit den Verhältnissen in Riga bestellt sei. Am Schluß des Briefes stellte ich die burschikos gemeinte Frage: Das Wichtigste zuletzt, wie steht es dort mit der Fresserei? Wer mich kennt, den wundert sie nicht. War schon mein Brief an Sch. höchst überflüssig, so war diese Frage geradezu Selbstmord, denn sie brachte eine förmliche Lawine ins Rollen. Man hatte, wie ich erst später erfuhr, in Riga einen Schriftleiter in die Wüste, d. h. zur Wehrmacht geschickt, weil er sich beim „Organisieren" weit mehr als üblich übernommen hatte. Sch. fühlte sich verpflichtet, meinen Brief dem Hauptschriftleiter Dr. Michel zu zeigen, und da dieser der Meinung war, daß nach meiner dummen Frage wieder ein „Raubritter" wie der erwähnte Kollege im Anmarsch sei, sah er, Dr. Michel, sich veranlaßt, den für die Ostzeitungen zuständigen Dezernenten Emil Frotscher von Rienhardts Verwaltungsamt zu informieren. Frotscher unterrichtete den Hauptschriftleiter des Berliner Büros der Ostzeitungen Dr. Heinz Blaschke, und dieser ließ mich alsbald nach meinem Eintritt in das Büro wissen, was ihm Frotscher mitgeteilt hatte. Als ich nach einigen Tagen ins sogenannte Verwaltungsamt zu Frotscher bestellt wurde, riet mir Blaschke dringend, nicht von dem gegen mich erhobenen Verdacht anzufangen, aber ich konnte ihm dies nicht versprechen. Ich bin von Natur aus und vielleicht auch durch die Erziehung zum Respekt vor den Oberen schüchtern, wenn nicht gar feige, aber hier ging es tatsächlich um meine Ehre, und so habe ich bei Frotscher nach einigen einleitenden Sätzen von mir aus die Sache zur Sprache gebracht. Ich sagte ihm u. a., wir hätten uns in Litzmannstadt in keine Judenwohnung gesetzt. Während es das „Normale" gewesen sei, daß die Reichsdeutschen mit nichts kamen, dann aber mit vollbeladenen Koffern, möglicherweise mit vollgepackten Möbelwagen wieder abzogen, hätten wir mit den gleichen leeren Händen, mit welchen wir nach Litzmannstadt gekommen seien, es auch verlassen. Ich redete mich in Rage. Frotscher bekam einen roten Kopf. Jedenfalls führten wir ein bewegtes Gespräch, und Blaschke war wenig erbaut, als ich ihm davon erzählte. Hat ihm mein Auftritt bei Frotscher im Grunde imponiert? Ich glaube (61) es kaum. Dazu war er selbst zu beflissen höheren Stellen gegenüber.

Bei aller angeborenen Trägheit war mir eins gegeben: daß ich mich bei „Schwerpunkten" am Riemen riß. Und als einen solchen Schwerpunkt sah ich meine Tätigkeit im Berliner Büro der Ostzeitungen an. Und es hatte sich gelohnt. Als ich mich auf den Weg nach Riga machen mußte, sagte mir Blaschke, wenn es mir in Riga nicht gefalle, könne ich nach Berlin zurückkehren, er könne mich gut gebrauchen. Das war das Beste, was ich hören konnte. Denn in Berlin war man anders als in dem exponierten Riga im Windschatten des "Promi", meinetwegen auch im stillen Zentrum des Taifuns.

Im D-Zug nach Riga saß ich die letzten Stunden im Abteil allein mit einem großen Parteimann zusammen. Daß es ein solcher war, ersah ich aus seiner mit viel Gold bestückten braunen Uniform. Als er mir noch seinen Namen nannte ‑ ich weiß eigentlich nicht warum ‑, fiel bei mir der Groschen. Es war ein hoher Funktionär der Politischen Organisation, dem ich u. a. schon im Völkischen Beobachter begegnet war. Er nannte mir auch den Grund seiner Reise nach Riga. Die Parteigenossen, auch die alten, führten in den besetzten Gebieten, dem Zwang im Reich entronnen, ein vergnügtes Leben und kümmerten sich einen Dreck um die Partei. Dem wolle er ein Ende machen. Er fühle sich verpflichtet, die PO in den besetzten Gebieten auf Vordermann zu bringen und die lieben Parteigenossen an die Kandare zu nehmen. Im Laufe des Gespräches kamen wir in der Dunkelheit des hereinbrechenden Winterabends auf die Rüstungswerke zu sprechen, die die deutschen Truppen bei ihrem Vormarsch in Südrußland angetroffen hätten - zur größten Überraschung der deutschen Seite, wie mein Reisegefährte zugab. Da wagte ich, wohl auch im Schutze der Dunkelheit, ihm eine schon recht heikle Frage zu stellen. Ich ging davon aus, daß die Partei im Reich die ganze Bevölkerung mit einem Netz von Zellenleitern, Blockwarten usw. überzogen habe, die eine sehr wirksame Kontrolle ausübten. Wenn man, sagte ich, aus diesen Leuten einige Dutzend besonders geeignete als Agenten nach Rußland eingeschleust hätte und von diesen wenigstens einige zurückgekommen wären, hätte man doch erfahren, was in Rußland vor sich ging. Da gab mir mein Gegenüber die entwaffnende Antwort: „Denen hätten wir doch nicht geglaubt!" Solch ein Höchstmaß der Verblendung ließ mich einfach verstummen. Wie Hagemann berichtet, hatte auch Hitler bei der Eröffnung des Winterhilfswerks am 4. Oktober 1941 erklärt: „Wir hatten keine Ahnung davon, wie gigantisch die Vorbereitungen dieses Gegners (d. i. der Sowjetunion, d. Verf.) gegen Deutschland und Europa waren und wie ungeheuer die Gefahr war." (HAGEMANN, S. 252.) Allerdings wird man nicht übersehen dürfen, daß Hitler mit diesen Worten aus bestimmten Gründen übertrieben haben kann.

(62) In Riga wurde ich vom Hauptschriftleiter Dr. Michel freundlich empfangen, aber doch mit einer kleinen Rüge. Man kannte den Termin meiner Ankunft und hatte erwartet, daß ich noch am selben Abend, obschon er schon weit fortgeschritten war, aus meinem Hotel auf die Schriftleitung kam. Anders als in Litzmannstadt spielte sich das ganze Redaktionsleben in Riga viel intensiver in den späten Stunden ab. Ich stellte von Anbeginn an dort meine Taktik darauf ein, mich sobald als möglich loszueisen aus den schon genannten Gründen, zumal da ich merkte, daß in der Schriftleitung mehrere SS-Männer saßen. Um meine Fähigkeiten zu beweisen, schrieb ich aber alsbald einen, wie ich meinte, unverbindlichen Leitartikel, der zu meiner Überraschung noch vom Rundfunk übertragen wurde. Als ich in Riga war, seit Ende Dezember 1942, kam es zur Katastrophe von Stalingrad. Wenige Tage zuvor hatte ich, mit meinen Geschichtskenntnissen protzend, einen Artikel mit der bombastischen Überschrift „Sie trotzten dem Schicksal" geschrieben, in dessen Mittelpunkt natürlich Friedrich d. Gr. stand. Wer die anderen Trotzköpfe gewesen sind, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Die Tagesparole des "Promi" vom 3. Februar 1943 begann mit den Worten: „Der Heldenkampf in Stalingrad hat sein Ende gefunden. In mehrtägiger Trauer wird das deutsche Volk seiner tapferen Söhne gedenken, die bis zum letzten Atemzuge und bis zur letzten Patrone ihre Pflicht getan und damit die Hauptkraft des bolschewistischen Ansturms gebrochen haben." Was angesichts der Kriegslage eine glatte Lüge war. Geradezu unerträglich das Pathos des nächsten Satzes: „Der Kampf wird zum größten Heldenlied der deutschen Geschichte werden." (Zitiert ebd. S. 262.) Als demnach die 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus kapituliert hatte, ging es in der Redaktionskonferenz darum, wer den Leitartikel dazu verfassen sollte. Vom Mitleid mit der Armee hätte ich schon gern geschrieben, aber nicht dieses war vor allem gefragt, sondern im Sinne der Tagesparole das Verständnis für den Entschluß des Führers, die Armee zu opfern. Und das konnte ich keineswegs aufbringen. Ich glaube, den Leitartikel hat dann Dr. Michel selbst geschrieben. Ich schützte immer wieder gesundheitliche Gründe vor, die mir den Aufenthalt in Riga unmöglich machten. Man mochte sie mir zunächst nicht recht abnehmen, da man mich offensichtlich gern behalten wollte. So riet man mir, mich ein paar Tage an Rigas Strand zu erholen. Auch Frotscher, der zufällig in der Zeit nach Riga kam, redete mir zu. Als aber alles vergebens war, ließ man mich endlich mehr oder weniger mißmutig nach Berlin zurückkehren. Da ich nicht in Riga bleiben wollte, habe ich mich dort erst nicht viel umgesehen, zumal es bitter kalt war. An den Wehrmachtsgottesdiensten an den Sonntagen nahmen auch viele Zivilisten teil. Unter (63) ihnen begegnete ich meinem alten Braunsberger Schulkameraden vom Hosianum und Freund Dr. Ludwig Hinz. Man hatte ihm die lettischen Genossenschaften anvertraut, bestimmt nicht zu deren Schaden. Im Opernhaus erlebte ich eine glanzvolle Ballettaufführung des „Bolero" von Maurice Ravel. Es dürfte vielleicht die letzte gewesen sein, denn die deutsche Besatzungsmacht empfand, wie man mir sagte, die Musik von Ravel als „entartet".

Hier seien einige Worte über Emil Frotscher gesagt. Er war Rienhardts „rechte Hand", wie dieser vor allem an der journalistischen Leistung eines Schriftleiters interessiert. (Vgl. GILLESSEN, S. 478, auch S. 473 f. Wie aus den Anmerkungen hervorgeht, hat Frotscher Gillessen bei der Abfassung seines Buches als Informant gedient. Nach einer Meldung der WELT AM SONNTAG vom 31. August 1986 ist Emil Frotscher im Alter von 83 Jahren in Ahrensburg in Schleswig-Holstein gestorben.) Er kam von Scherls „Nachtausgabe" und war ein ausgezeichneter Journalist. Wenn das Erscheinen einer neuen Ostzeitung bevorstand, stellte er die Schriftleitung zusammen und zog selbst mit dieser an Ort und Stelle, um die Zeitung einige Monate lang einzurichten. Die Kollegen erzählten Grausliches von seinen Anforderungen, er habe sie förmlich die Wände hochgejagt, so habe eine Lokalspitze ein halbes dutzendmal umgeschrieben werden müssen usw. usw. Als ich dem Berliner Büro angehörte, weilte er eine Zeitlang in Agram, um dort die deutsche Zeitung einzurichten. Da mir, wie ich meinte, ein Artikel besonders gelungen war - er behandelte, die Leser dieses Berichtes mögen ohne Sorge sein, kein parteigebundenes, sondern ein sozusagen neutrales Thema -, schickte ich ihm ihn zu. Er kam nach einigen Tagen zurück. Das Thema sei von der Zeitung schon mehrfach behandelt worden, so müsse er mir den Beitrag wiedergeben, doch er fügte hinzu: So gut er ist. Eben dieser Zusatz, den der so anspruchsvolle Frotscher machte, war mir, ich gestehe es offen, mindestens so lieb, wie wenn der Artikel veröffentlicht worden wäre. Als ich dann das Berliner Büro verließ, um zur Wehrmacht zu gehen, und Frotscher meinen Abschiedsbesuch machte, war er weit freundlicher als bei meinem Antritt. Es sei eigentlich doch recht gutgegangen, meinte er, und nach dem Krieg werde man ja dann sehen . . . Er selbst ist nach dem Krieg rasch wieder auf die Füße gefallen. Der von den Amerikanern eingesetzte Lizenzträger des Frankfurter Boulevardblattes Abendpost holte den von der Nachtausgabe her in dem Metier erfahrenen Frotscher heran. Wie sagt doch der weise Grillparzer: „Wer etwas kann, dem sieht man etwa nach, das Ungeschick an sich ist schon ein Ungemach." Frotscher konnte was, und ungeschickt war er schon gar nicht. Er ist dann bei Springer gelandet, wo er in der Welt am Sonntag das Ressort Serien innehatte. Als er eine Serie über Kiesinger brachte, konnte ich ihm einiges von dessen Berliner Studentenzeit mitteilen.

Das Material, das wir in Berlin für die Ostzeitungen bereiteten, bezogen wir nicht nur vom Deutschen Nachrichtenbüro, sondern wir (64) erhielten auch das Material, das den Auslandskorrespondenten übergeben wurde. Soviel sah man doch ein, daß diese sich nicht einfach mit den wohlpräparierten Meldungen des DNB abspeisen ließen. Die in den besetzten Gebieten im Osten wie im Westen (Paris, Brüssel) erscheinenden Zeitungen hatten auch eine etwas freiere Hand, aber auch ihre Meldungen und Artikel mußten sich grundsätzlich im Rahmen der Richtlinien des "Promi" bewegen, etwa beim Gebrauch der Reden Churchills, die wir in unserem Büro jeweils schon am nächsten Morgen im vollen Wortlaut auf dem Tisch liegen hatten. Und, wie man mir glauben wird, begierig verschlangen.

Aufschlußreich ist, was hierzu Max Amann dem amerikanischen Vernehmungsoffizier Hale gesagt hat: "Amman behauptete 1945, er habe Wert darauf gelegt, daß den Besatzungszeitungen in Berichterstattung und Redaktionsprogramm mehr Freiheit eingeräumt wurde als der Inlandspresse. Sein Stab habe für sie die besten Redakteure ausgewählt, sagte er, und einige seien in ernste Schwierigkeiten mit Dietrich (Reichspressechef und Staatssekretär im ,Promi`, d. Verf.) und Goebbels geraten, weil sie den Weisungen des Propagandaministeriums nicht immer Folge leisteten . . . Dietrich habe gedroht, die Besatzungszeitungen dürften im Reich nicht erscheinen, wenn die Redaktionen seinen Weisungen nicht entsprächen. Daher seien einige Zeitungen verboten worden, doch habe er, Amann, als der eigentlich Zuständige den Redakteuren bei ihren Schwierigkeiten mit Goebbels und Dietrich stets die Stange gehalten. ,Da diese Zeitungen im Ausland verlegt und gelesen wurden, mußte mehr drinstehen als nur NS-Propaganda´, sagte er. Wer damals während des Krieges die Zeitungen regelmäßig las, mußte feststellen, daß sie sich in bezug auf Phrasendrescherei und Klischees des NS-Journalismus nicht sehr von den Reichszeitungen unterschieden. Doch Amanns Behauptung, sie seien informativ gewesen, ist nicht völlig unberechtigt." Soweit Hale. (HALE, S. 281.)

Außer den Ostzeitungen gab es noch jede Menge von Zeitungen in den besetzten Gebieten von Oslo und Paris bis Temesvar und Athen. Ich kann mich allerdings an keinen Fall erinnern, daß zu meiner Zeit unser Büro und unsere Ostzeitungen die von Amann erwähnten Schwierigkeiten mit Dietrich und Goebbels hatten. Ich fischte mir aus dem reicheren Material z. B. alles heraus, was darin über die Auseinandersetzungen zwischen der polnischen Exilregierung in London und der von den Sowjets ausgehaltenen polnischen Gegenregierung, die sich dann in Lublin etablierte, gesagt wurde. Ein unverfängliches Thema, das ich ausgiebig traktiert habe und mit dem ich später bei einem Vortrag in meiner Wehrmachteinheit Furore gemacht habe, zumal da mich noch Kollege Skuin mit dem neuesten Material versorgt hatte.

(65) Was die Besetzung des Berliner Büros betrifft, so nannte ich schon den Hauptschriftleiter Dr. Blaschke. Er war klein von Gestalt, was er durch einen langen, gelben Ulster und eine gewaltige Büchertasche zu kompensieren suchte. Ansonsten war er ein umgänglicher Mann, der gewiß nicht hinterhältig war, auch wenn er sehr enge Kontakte mit den Leuten vom "Promi" pflog, die ihm dann zum Verhängnis geworden sind. Er ist mit den Promimännern im U- oder S-Bahnhof Potsdamer Platz von den Russen gefaßt worden und wohl in einem Lager (Buchenwald?) elend umgekommen. Wäre ihm solches nicht widerfahren, hätte er sicherlich wie manche seiner Freunde unter den Berliner Journalisten nach dem Kriege dank seiner Wendigkeit den Anschluß gefunden. Jedenfalls erfuhren wir von Blaschke, der häufig mit Leuten vom„ Promi" im ehemaligen Herrenklub speiste, manches, was uns sonst unbekannt geblieben wäre. So erzählte er uns, daß das Reichssiedlungshauptamt der SS alle Vorbereitungen für die Eingliederung des „Lebensraumes im Osten", um dessentwillen Hitler den Krieg mit Rußland vom Zaun gebrochen hatte, getroffen habe. In den Dörfern des alten Reichsgebietes sollte das Land zusammengelegt und einigen wenigen politisch zuverlässigen Bauern zugeteilt werden. Die übrigen sollten mit Kind und Kegel und Sack und Pack verladen werden, um den bewußten Lebensraum mit deutschen Menschen zu füllen. Diese sollten natürlich im Geiste des Nationalsozialismus erzogen und umerzogen werden, vor allem sollte die Jugend von ihm erfaßt werden. Im Mittelpunkt des neuen Dorfes sollte deswegen nicht mehr, wie bei der Ostsiedlung im Mittelalter, die Kirche stehen, sondern das Gemeinschaftshaus. Für die Stadtbewohner waren ähnliche Maßnahmen vorgesehen. Nicht von Blaschke, sondern von jemand anderem stammte die boshafte Bemerkung, daß ohnehin von drei Beamten mindestens einer zuviel sei. Wenn man solche Pläne zu Ende denkt, hätte das bedeutet, daß im Falle eines deutschen Sieges viele, wenn nicht die meisten deutschen Soldaten ihre Heimat nur für kurze Zeit wiedergesehen hätten, wenn sie nicht sogleich nach dem „Lebensraum" verfrachtet worden wären. Blaschke kam auch auf den „Fall Karl Brammer" zu sprechen (ich hoffe, daß ich den Namen richtig behalten habe). Dieser nahm als Herausgeber einer Wehrkorrespondenz an der täglichen Pressekonferenz im "Promi" teil, wo er der Verbreiter, wenn nicht Urheber der politischen Witze war, die von dort ausgingen und von denen noch die Rede sein wird. Man wußte im "Promi" nicht so recht, was man von ihm halten sollte, für einen harmlosen alten Schwätzer oder für einen ausgepichten Bösewicht. M. W. entschied man sich für das erstere, womit man Brammer eigentlich unrecht tat, denn ich glaube nach dem Kriege gelesen zu haben, daß er enge Beziehungen zur Widerstandsbewegung hatte.

Von Blaschke erfuhren wir auch Näheres über die Schließung der Frankfurter Zeitung im Sommer 1943. Neuerdings berichtet darüber (66) natürlich authentisch Gillessen in seinem mehrfach genannten Buch. (Vgl. GILLESSEN, S. 468-500.) Hitler haßte die Zeitung als „Judenblatt" auch nach ihrer „Arisierung", nach der ihr allerdings Redakteure wie Benno Reifenberg, Dolf Sternberger, Wilhelm Hausenstein, die mit ihr Schwierigkeiten hatten, noch bis 1943 erhalten blieben. Eines Tages Ende April/Anfang Mai erschien in dem Blatt ein Artikel, in dem, wenn man ihn so deuten zu müssen glaubte, Dietrich Eckart als Alkoholiker und Rauschgiftsüchtiger bezeichnet wurde. Eckart war aber der Lieblingsdichter Hitlers. Die Frankfurter Zeitung stoppte, als irgend jemand auf die Gefahr hinwies, die ihr durch den Artikel drohte, den Druck, aber eine ganze Anzahl von Exemplaren war bereits hinausgegangen, und eines von ihnen wurde Hitler zugespielt. Er bekam einen Tobsuchtsanfall und forderte die Einstellung der Zeitung, die dann auch am 31. August 1943 erfolgte. Was uns an dem Bericht von Blaschke besonders erstaunte: daß der Reichsleiter Amann den Redakteuren der Zeitung verbot, sich anderswo zu bewerben, ehe er nicht über ihre weitere Verwendung verfügt habe. Hale (Vgl. HALE, S. 288 ff.) berichtet von einem dramatischen Gespräch, das darüber Amann mit dem stellvertretenden Hauptschriftleiter der FZ, Erich Welter, führte. Man habe eigentlich die Redakteure der Frankfurter Zeitung an die Wand stellen wollen, sagte Amann zu Welter, doch habe er, Amann, sich überlegt, daß man sie dem Staate nutzbar machen solle, „denn zweifellos verstehen sie etwas von ihrem Handwerk. Man muß nur verhindern, daß sie zusammenbleiben. Mein Plan ist, sie aufzusplittern und ein paar ausgesucht tüchtige Fachleute in die Redaktion des VB zu übernehmen. Dort können sie kein Unheil anrichten . . . Ich stelle mir vor, daß eine Art Kreuzung stattfindet und daß die weltanschauliche Zuverlässigkeit meiner Schriftleiter mit der fachlich‑journalistischen Tüchtigkeit der FZ-Redakteure vereinigt wird." Womit Amann den Parteijournalisten ein großes Armutszeugnis ausstellt und einen Lobpreis auf die Journalisten der alten bürgerlichen Schule anstimmt. Tatsächlich ist eine Anzahl von Redakteuren der Frankfurter Zeitung von dem Befehl Amanns betroffen worden. Ich nenne den Namen von Dr. Heinrich Scharp, der zur Berliner Börsen-Zeitung kommandiert wurde. Er war Chefredakteur der Rhein‑Mainischen Volkszeitung in Frankfurt, die dem linken Zentrumsflügel zugehörig war und besonders gern von Leuten aus der katholischen Jugendbewegung gelesen wurde. Nachdem sie bald nach der Machtergreifung verboten war, wurde Dr. Scharp von der Frankfurter Zeitung übernommen, zuletzt als Leiter ihrer Berliner Redaktion. Die Sowjetrussen nahmen ihn gefangen. Als der frühere Reichskanzler Wirth, der bis an sein Lebensende dem Rapallo‑Geist verpflichtet war, sich wieder mit den Sowjets einließ, erwirkte er Scharps Freilassung, allerdings erst 1953. Sieben (67) schwere Jahre hatte der einstmals allgemein hoch geschätzte katholische Journalist in Gefangenschaft verbracht, u. a. im KZ Buchenwald.

Als politischen Redakteur traf ich im Berliner Büro der Ostzeitungen Rudolf Skuin an, einen Baltendeutschen aus Lettland, der von der Königsberger Allgemeinen Zeitung gekommen war. Bis auf einige Trübungen, an denen ich nicht ganz unschuldig war, bin ich mit ihm gut ausgekommen. Allerdings war die Liebenswürdigkeit nicht gerade seine stärkste Seite. Um so mehr bewies sie seine Frau, die er mit drei Kindern von Königsberg nachkommen ließ. Sie bezogen ein Haus in Blankenfelde, einem Städtchen vor den Toren Berlins, wo ich einige Male ihre großzügige Gastfreundschaft genossen habe. Leider liegt der Ort außerhalb des Berliner Stadtgebietes, so daß er nach dem Kriege nicht zum nahegelegenen Westsektor, sondern zur sowjetischen Besatzungszone gehörte. Skuin war nicht geflüchtet, als er das erste Mal von den Russen vernommen worden war. Vertraute er auf seine russischen Sprachkenntnisse? Wenn dem so war, dürften sie ihm eher zum Verhängnis geworden sein. Ein zweites Mal von den Sowjets vorgeladen, wurde er von ihnen nicht mehr freigegeben. Wie seine Frau vom Roten Kreuz erfahren hat, ist er in einem sowjetischen Lager gestorben.

Zu den ständigen Mitgliedern des Büros gehörte ein junger Mann, der von der HJ kam und sich einer besonderen Protektion erfreut haben muß. Er hat niemals eine Zeile geschrieben und auch kein Manuskript redigiert. Seine Aufgabe bestand eigentlich nur darin, daß er mittags die Pressekonferenz im Reichspropagandaministerium wahrnahm und uns die dort ausgegebenen Tagesparolen und Richtlinien wissen ließ. Allerdings mußte er uns auch die auf der Pressekonferenz kursierenden neuesten politischen Witze mitbringen. Ein besonders hübscher ist mir in Erinnerung geblieben aus der Zeit, da Italien ausstieg: Räder rollen für den Sieg (eine beliebte Parole!), Achsenbruch verkürzt den Krieg! Der Witz war schon einen Kopf wert, wenn er an die falsche Adresse kam. Aber die Journalisten einte, welcher Couleur sie auch waren, um die Zeit und ihren Beruf zu ertragen, der besagte Zynismus.

Ich mußte ob meiner schwarzen Vergangenheit mit meinen Äußerungen besonders vorsichtig sein. Als mir doch einmal eine leise Andeutung zugunsten Brünings entfuhr, hieß es sofort: Siehste, da haben wir ihn! Wenn mich Skuin einen leicht christianisierten Pruzzen zu nennen beliebte, nahm ich dies mit heiterer Gelassenheit hin.

Gern wurde ich im Außendienst eingesetzt, ob aus besonderen Gründen, sei dahingestellt. So schickte man mich in die berüchtigte Kundgebung, auf der am 18. Februar 1943 Joseph Goebbels den totalen Krieg verkündete. Der Sportpalast war natürlich überfüllt. Ich sah von meinem Presseplatz alles braun in braun. Doch (68) behauptet Walter Hagemann, der in seinem Buch der Goebbels-Rede ein eigenes Kapitel widmet (Vgl. HAGEMANN, S. 464-473), daß die meisten Hörer Funktionäre und ausgesuchte Parteianhänger in Zivil gewesen seien, die das deutsche Volk darstellen sollten. Sie mögen vor allem die Plätze im riesigen Parterre eingenommen haben, die ich von den Presseplätzen nicht einsehen konnte. Auf der Ehrentribüne glaubte ich Robert Ley, Baldur v. Schirach und auch den großen Schauspieler Heinrich George zu erkennen. Diesen, der einmal der Hinkemann in Ernst Tollers kommunistischem Stück gleichen Namens gewesen war, hatte Goebbels damit geködert, daß er ihn zum Intendanten des Schillertheaters machte. Ursula von Kardorff bemerkt in ihren Aufzeichnungen aus der Zeit, als sie Redakteurin der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin war, zu der Kundgebung im Sportpalast: „Einer unserer Schriftleiter, der zur Berichterstattung da war, erzählte uns, wie die Menge getobt hat. Er ist ein ruhiger, bedächtiger Mann und Antinazi. Und doch ertappte er sich dabei, wie er mit aufsprang und um ein Haar mitgeschrieen hätte, bis er sich beschämt wieder auf seinen Sitz zurückfallen ließ. Er sagte, wenn Goebbels weiterhin gefragt hätte: ,Wollt ihr alle in den Tod gehen?` so hätten sie genauso ,Ja` gebrüllt.“ (U. v. KARDORFF, Berliner Aufzeichnungen aus den Jahren 1942-1945 (dtv Nr.  1692). München 1981, S. 34.) Der Kollege von der DAZ muß an einem anderen Pressetisch gesessen haben als ich. An meinem großen runden Tisch ist keiner von den ca. anderthalb Dutzend Journalisten aufgesprungen, und erst recht hat keiner mitgebrüllt. Ich habe niemals vorher noch nachher erlebt, daß Journalisten eine Rede so eifrig mitgeschrieben haben wie wir damals die von Goebbels. So waren wir einfach in Ausübung unserer Berufspflicht daran gehindert, aufzuspringen und mitzuschreien! Die unseren Tisch umdrängenden Goldfasane zeigten deutlich ihr Mißvergnügen an unserem Verhalten, aber wir konnten ja nicht anders. Ich will nicht leugnen, daß die teuflische Redekunst des Joseph Goebbels nicht auf mich einigen Eindruck gemacht hat. Auch Hagemann bemerkt, (HAGEMANN, S. 472.) daß die Rede rhetorisch eine der besten gewesen sei, die Goebbels seit 1933 gehalten habe. Unter dem ersten Eindruck werde ich auch den Bericht verfaßt haben, der noch am selben Abend an die Ostzeitungen ging. Ich gäbe was drum, wenn ich ihn noch einmal lesen könnte, aber die Zeitungen in den von den Deutschen besetzten Gebieten sind, wie Hale bemerkt, sofern vorhanden, in alle Himmelsrichtungen verstreut, so daß sie bisher auch noch keinen Bearbeiter finden konnten. (Vgl. HALE, S. 281) „Nüchtern" geworden, durchschaute ich sehr bald die ganze Macht der Goebbels-Rede. Im Grunde genommen hatte er im Sportpalast sich selbst inszeniert. Hitlers Reden waren weit weniger systematisch als die (69) von Goebbels aufgebaut, dazu sprach er im Gegensatz zu Goebbels ein grausames Deutsch, aber anders als dieser verfügte er über ein negatives Charisma, womit er viele Leute, Frauen vor allem, in seinen Bann zog. Hagemann hat schon Recht, wenn er zu Goebbels' Rede im Sportpalast noch bemerkt, daß ihre propagandistische Wirkung tatsächlich sehr ungleichwertig gewesen sei. Selbst für Gesinnungsverwandte sei das hysterische Kreischen und Schreien der Massen befremdend und abstoßend gewesen, um wieviel mehr für innerlich Abseitsstehende, gerade auch für solche, die an den Rundfunkgeräten nicht unmittelbar im Sportpalast Goebbels' Rhetorik ausgesetzt waren. (Bezeichnend für die damalige Situation und für den Druck, dem gerade auch Prominente ausgesetzt waren, ist eine Stelle aus den Erinnerungen des Schauspielers Bernhard Minetti, der 1930-1945 zu dem großartigen Ensemble des Preußischen Staatstheaters in Berlin gehörte. Er schreibt: „Eines Tages wurde ich in einer wichtigen Angelegenheit in die Leipziger Straße gebeten. Vor der Tür traf ich Herbert von Karajan (Leiter der Berliner Staatskapelle, nachmals Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, d. Verf.); wir gingen zusammen hinaus, und wir bekamen die Einladung zu der großen Veranstaltung im Sportpalast, in der Goebbels die bis heute nachhallende Frage stellte: ,Wollt ihr den totalen Krieg?' Vorher hatte ich nur zwei-, dreimal beim verordneten ,Gemeinschaftsempfang' im Theater die sogenannten ,Führerreden' gehört, auch manche zu Hause am Radio. Diese Veranstaltung war etwas Neues. Es war die erste nationalsozialistische Versammlung, die ich besuchte. Man war gebeten, was soviel hieß wie: hinbefohlen. Ich stand zusammen mit Eugen Klöpfer, hinter mir stand Theodor Loos (zwei bedeutende Berliner Schauspieler, Klöpfer war zudem von Goebbels zum Intendanten der Berliner Volksbühne ernannt worden, d. Verf.), die ganze Prominenz der Berliner Gesellschaft wie der Künstlerschaft war versammelt. Es gibt ein Foto von dieser Veranstaltung. Es sagt nichts anderes, als daß wir da waren; ich habe nicht mitgeschrien. Mir verschlug es die Sprache. Ich habe die Lippen zusammengepreßt." B. MINETTI, Erinnerungen eines Schauspielers. Hrsg. v. G. RÜHLE. Stuttgart 1985, S. 143.)

Zu Goebbels noch eine Begebenheit, von der mir in Braunsberg Verlagsdirektor Orth erzählte, der ja, ehe er zu uns kam, Berliner Korrespondent der Kölnischen Volkszeitung war. Als diese zu Beginn der NS‑Zeit in finanzielle Schwierigkeiten geriet, stieß der mit dem Sortieren der Akten beauftragte Max Horndasch auf das Gesuch eines gewissen Dr. Joseph Goebbels um eine Volontärstelle in der Redaktion der KV. Dabei soll sich der Brust von Horndasch ein scherzhafter Seufzer entrungen haben: Hätten wir den genommen, wären wir nicht Pleite gegangen! Grob gesagt, hat Goebbels, der ehemalige UVer und Stipendiat des Albemus‑Magnus‑Vereins, sein unbestreitbares rednerisches und organisatorisches Talent an den Meistbietenden verkauft. Im übrigen ist es vor allem Horndasch zu verdanken gewesen, daß die KV noch bis 1941 erscheinen konnte, wenn sie auch nicht mehr im eigenen Hause, sondern bei Fredebeul und Koenen in Essen gedruckt wurde und nur noch einen sehr dürftigen Anblick bot. Das Schwesterblatt, die Berliner Germania, hauchte bereits 1938 ihr Leben aus.

Als unser Büro noch in der Luisenstraße lag, erlebten wir regelmäßig am späten Nachmittag, wie Goebbels, vorn und hinten von SS (70) beschützt, mit großem Getöse in Richtung seines Gutes außerhalb des Berliner Nordens brauste. Er war dort, „seine Berliner" ihrem Schicksal überlassend, vor Luftangriffen sicher. Aber er mußte ja seine kostbare Person für die ungeheuer wichtigen Aufgaben, die sie für das deutsche Volk zu erfüllen hatte, erhalten. Jedenfalls blieb Goebbels, so weit er auch sein Mundwerk aufriß und so sehr er sich reckte und streckte, ein Mann im zweiten Glied, wofür bezeichnend war, daß an der Kundgebung im Sportpalast keiner von der ersten Garnitur der Partei, weder Hitler, der selbst gegen Ende des Krieges kaum noch als Redner hervorgetreten ist, noch Göring und Himmler und Bormann teilnahmen, obschon es sich um eine höchst wichtige Sache handelte, zumindest nach Goebbels' Meinung. So nützlich das Reichspropagandaministerium für das System war, wirklich angesehen war es nicht, und so ist es zu verstehen, daß Goebbels mit aller Macht nach dem Außenministerium strebte, das den von brennendem Ehrgeiz Erfüllten viel weiter nach vorn gebracht hätte. Erster Mann neben Hitler wurde Goebbels erst im Tode, als die übrigen Parteigrößen den Führerbunker in Berlin verlassen oder erst gar nicht aufgesucht hatten. Allerdings war Goebbels hier mit seinen Propagandakünsten am Ende. Die Art, wie sich Hitler und er mit seiner Familie vom Leben absetzten, war propagandistisch gesehen eine ausgesprochene Fehlleistung. Keine Spur von „Einzug in Wallhall" oder "Götterdämmerung". Und so total, wie ihn Goebbels angekündigt hatte, ist der weitere Krieg nun auch wieder nicht gewesen. So wurden die Theater erst im September 1944 geschlossen, die Schauspieler, die sich Goebbels' Gunst erfreuten, durften auch danach filmen, und der „Heldenklau", von dem gleich die Rede sein wird, wurde sofort zurückgepfiffen, als er die Parteidienststellen nach frontdienstfähigen Männern sieben wollte. Was Goebbels allerdings, wenigstens für einige NS‑Größen wie Hitler, Göring, Himmler und sich selbst wahrgemacht hat, ist seine Äußerung vom Februar 1943: „Nur als Leichen werden wir die Ämter wieder verlassen.“ (Zitiert nach GILLESSEN, S. 105.)

Am 20. Juli 1944 verließen nach Dienstschluß unsere Damen wie üblich das Büro, kehrten aber alsbald zurück: Militär habe sie nicht durchgelassen. Wir befanden uns demnach innerhalb des von den Verschwörern vorgesehenen Sperrgebietes. Wenig später kam Dr. Blaschke ins Büro, wohl aus dem "Promi" Zufällig empfing ich ihn an der Tür. Er war kreidebleich. „Militärputsch?" entfloh es mir. Er sah mich groß <in und gab mir ausweichende Antwort. Kam ihm ein Verdacht gegen mich, der ich ohnehin mit einem gewissen Makel behaftet war" Kaum möglich, denn was konnte die Absperrung durch Militär schon anderes bedeuten als daß von dieser Seite etwas im Gange war! Wie dilettantisch das ganze Unternehmen angelegt war, geht schon daraus hervor, daß die Verschwörer (71) nicht einmal das Telegraphenamt besetzt hatten. Ich wollte in der folgenden Nacht zu meinen Eltern nach Ostpreußen fahren. Ungehindert konnte ich ihnen telefonisch durchsagen, daß besonderer Umstände wegen wohl aus meinem Besuch nichts werde. Nach einiger Zeit aber wurde die Sperre aufgehoben, die Damen konnten sich auf den Weg nach Hause machen, und ich machte mich am Abend auf den Weg nach Braunsberg. Die ganzen Vorgänge, um die es hier ging, sind längst bekannt geworden, so daß ich hier nicht näher darauf einzugehen brauche.

Als nach dem mißglückten Attentat vom 20. Juli 1944 die Prozesse vor dem Volksgerichtshof in Gang kamen, erhielt unser Büro eine Karte für einen Verhandlungstag. Was nicht bedeutete, daß wir selbst über die Verhandlung berichten durften, wir waren auf den vom "Promi" zensierten Einheitsbericht angewiesen. Wir waren nach meinen Erinnerungen zum zweiten Prozeß in der Reihe zugelassen. Da wir nur eine Karte hatten, wechselten wir uns alle zwei Stunden ab. Ich war als erster dran. Das Gefühl der Beklemmung, mit dem ich das Gerichtsgebäude an der Potsdamer Straße betrat, brauche ich nicht zu beschreiben. Man wies mich an, einen Platz in den Pressebänken einzunehmen. Sie waren nur sehr schwach besetzt, außer dem offiziellen Berichterstatter waren noch einige Vertreter anderer Berliner Schriftleitungen anwesend. Im Zuschauerraum waren vorwiegend Goldfasane zu sehen. An einen Offizier in Luftwaffenuniform, der Helmut Schmidt geheißen und als ständiger Beobachter aus dem Reichsluftfahrtsministerium an den Prozessen teilgenommen haben soll, kann ich mich nicht erinnern. Durch den üblichen freien Raum getrennt, saßen den Presseplätzen gegenüber die Angeklagten in mehreren aufsteigenden Reihen. Vor ihnen hatten die Pflichtverteidiger ihre Plätze eingenommen, wenn ich mich wieder recht erinnere, wie die übrigen Gerichtspersonen in roten Roben. Sie sind aber kaum in Erscheinung getreten, sie waren wohl nur bestellt, um der Form zu genügen, und haben eher noch auf ihre Mandanten eingedroschen. Den ersten Platz unter den Angeklagten nahm der Chef des Nachrichtenwesens des OKH (Oberkommando des Heeres) General Thiele ein (nicht zu verwechseln mit dem Chef des Nachrichtenwesens des OKW Fellgiebel, der bereits abgeurteilt war). Ich saß ihm gegenüber. Wenn die Rede auf gebrochene Augen kommt, muß ich sofort an die des Generals Thiele auf der Anklagebank des Volksgerichtshofs denken.

Wie der Präsident Roland Freisler mit den Beisitzern den Saal betrat, erhoben sich alle wie gewohnt von den Sitzen und grüßten pflichtgemäß den Führer. Das Gericht nahm vor dem von den Bildern bekannten riesigen Hakenkreuz und der übergroßen Hitlerbüste Platz. Mir fiel auf, daß einer der Beisitzer Generalsuniform trug. Es war, wie ich dann erfuhr, der General Reinhardt, der einzige, der aus dem Mannschaftsstande zu diesem Rang befördert (72) war und der sich darum offensichtlich Hitler zu besonderem Danke verpflichtet fühlte.

Ehe Freisler Thiele zur Person vernahm, fühlte sich dieser mit monotoner Stimme zu einem Schuldbekenntnis verpflichtet; er habe den Führer, der nur das Beste für das deutsche Volk wolle, verraten, in diesem Sinne folgten noch einige Sätze. Offensichtlich war der General, wie auch seine ganze Erscheinung verriet, in der Untersuchungshaft präpariert worden. Dann befragte Freisler, der das erwartete Schuldbekenntnis ungerührt zur Kenntnis nahm, Thiele nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg, an dem er weitgehend an der Front gewesen war.„ Und im Zweiten Weltkrieg waren Sie wieder an der Front?" warf Freisler dann dazwischen. „Nein", sagte der General etwas zögernd. Natürlich wußte Freisler aus den Akten, daß diese Antwort kommen mußte, er wollte durch seine Frage nur Thiele bloßstellen. Anschließend an die Angaben zu seiner Person wurde der General von Freisler befragt, wie er eigentlich auf die „falsche Bahn" gekommen sei. Er habe, antwortete er, auf Grund seines Amtes Schweizer Zeitungen lesen müssen, und dadurch sei er an der Strategie wie überhaupt an der Politik des Führers irre geworden. Da sprang Freisler wie von der Tarantel gestochen auf und schrie in den Saal: „Ich habe auch Schweizer Zeitungen gelesen - aber dann habe ich gesagt: Weg mit dem Gift!" In dieser makabren Szene erwies sich Freisler genau als der Schmierenkomödiant, als er so oft geschildert wird.

Aus den übrigen Vernehmungen ragte die des Obersten Jäger heraus, weil dieser trotz der Untersuchungshaft seine Courage bewahrt hatte. Ihn fragte Freisler wohlweislich nicht nach seinem Verhalten im Kriege. Doch nahm Jäger eine Möglichkeit in seiner Vernehmung wahr - Freisler konnte ihm dabei schlecht das Wort entziehen - von seinen Kriegstaten zu berichten. Er sei mehrfach, z. T. schwer verwundet worden und habe auch eine Reihe von Auszeichnungen erhalten, darunter, wenn ich mich recht erinnere, das Ritterkreuz. Am 20. Juli sei er aus dienstlichen Gründen in Berlin gewesen, hier sei er zufällig am OKW in der Bendlerstraße vorbeigegangen, und als er dort eine gewisse Unruhe bemerkte, sei er hineingegangen, um zu sehen, was da los sei, und dabei sei er verhaftet worden. Das waren natürlich alles Schutzbehauptungen. In Wirklichkeit gehörte Jäger zu den aktiven Widerstandskämpfern. Das geht auch aus den erwähnten Aufzeichnungen der Frau von Kardorff hervor, in denen wir Jäger mehrfach begegnen. Aber es war schon imponierend, wie er um seinen Kopf rang, den er natürlich doch nicht retten konnte. Jedenfalls hat er keinen anderen mit ins Unglück gerissen. Eher könnte dies schon bei dem Freiherrn von Leonrod der Fall gewesen sein, der als letzter in der ersten Reihe der Angeklagten saß, mit einem Bärtchen im braunen Gesicht, zusammengekrümmt, die Todesangst schaute ihm aus den Augen. Ich habe der Vernehmung des Barons nicht mehr zur Gänze beigewohnt, (73) sondern mein Kollege Skuin, der uns anschließend darüber eingehend berichtet hat.

Die Vernehmung des Freiherren von Leonrod gewann dadurch besondere Bedeutung, daß zu ihr als Zeuge - übrigens m. W. der einzige Zeuge, der in den Prozessen nach dem 20. Juli vernommen worden ist - aus der „Schutzhaft" des Kuratus von Heiligblut in München Hermann Josef Wehrle angehört worden ist. Diesen hatte von Leonrod eines Tages in seiner Wohnung aufgesucht. Nach Skuin, der gewiß nicht besonderer Sympathien mit dem Katholizismus verdächtig war, wurde vor Gericht ausdrücklich festgestellt, daß das Gespräch außerhalb des Beichtgeheimnisses stattgefunden habe. Von Leonrod (der, wie ich später gelesen habe, von Stauffenberg selbst über das geplante Attentat unterrichtet worden war) soll an den Geistlichen etwa folgende Frage gestellt haben: Wenn ich das Oberhaupt eines Staates für einen Verbrecher halte und ich erfahre, daß gegen diesen etwas im Gange ist, ist es eine Sünde, wenn ich davon den zuständigen Stellen keine Kenntnis gebe? Nach von Leonrod soll Wehrle gesagt haben, es sei keine Sünde, der Geistliche aber behauptete - immer noch nach dem Bericht von Skuin - das Gegenteil. Er habe aus seinem Schrank das Lexikon für Theologie und Kirche genommen und ihm daraus vorgelesen, daß zwar ein Jesuit den Tyrannenmord befürwortet, die Kirche selbst aber ihn verurteilt habe, im übrigen rate er, Wehrle, der natürlich ahnte, worauf von Leonrod hinauswollte, ihm dringend, die Finger davon zu lassen. Das alles stimme, sagte der Baron, doch er blieb bei seiner Behauptung, die Wehrle belastete. Soweit der Bericht meines Kollegen Skuin. Der Fall Wehrle ist bis in die letzte Zeit immer wieder in der Öffentlichkeit diskutiert worden. So sind im Fernsehen auch die Aufnahmen gezeigt worden, die von dem Prozeß gegen ihn gemacht wurden. Hier interessiert vor allem die Frage, ob man von dem Gespräch zwischen von Leonrod und Wehrle durch Beobachtungen seitens der Gestapo erfahren hat oder ob der Baron in seiner Todesangst von sich aus den Untersuchungsrichter davon unterrichtet hat, gleichsam um damit zu einem Strohhalm zu greifen. Sollte das letztere der Fall sein, wäre es pharisäerhaft, ihn deswegen zu verurteilen.

Hier sei wenigstens noch auf einen neueren Beitrag über Wehrle hingewiesen. (Th. SCHMIDKONZ SJ, Hermann Josef Wehrle ‑ ein vergessener Zeuge. In: MÜNCHENER KATHOLISCHE KIRCHENZEITUNG vom 16.9.1984.) Danach soll von Leonrod bei seiner Vernehmung vor dem Volksgerichtshof gesagt haben, daß er von seinem Beichtvater, also Wehrle, den Bescheid erhalten habe, daß nach der offiziellen Lehrmeinung der Kirche der Tyrannenmord abzulehnen sei. „Wenn ich mich trotzdem beteiligt habe, dann habe ich nach der Entscheidung meines Gewissens gehandelt." Leider gibt der Autor nicht die Quelle des Zitates an. Jedenfalls sei durch die Bemerkung von Leonrods Freisler auf Wehrle aufmerksam geworden. Aus der (74)

„Schutzhaft" ist dieser in die Untersuchungshaft überführt und ihm am 14. 9. 1944 der Prozeß gemacht worden. Er wurde nicht, wie man nach meiner Wiedergabe der Aussagen Skuins eigentlich erwarten durfte, auf Grund der angeblichen Feststellungen von Leonrods wegen Mittäterschaft zum Tode verurteilt, sondern nach Schmidkonz wegen Unterlassung der Anzeige des Planes der Ermordung Hitlers. Da dieses Vergehen Freisler für ein Todesurteil genügte, bedurfte es nicht der von Skuin vermerkten Einlassungen von Leonrods, wobei auch ein Irrtum meines Kollegen natürlich nicht ganz auszuschließen ist, ebenso wie von meiner Seite ein Erinnerungsschwund. Keinesfalls aber ist daran zu rütteln, da Wehrle als Zeuge bei der Vernehmung von Leonrods aus der „Schutzhaft" vorgeführt worden ist und daß das Gespräch zwischen von Leonrod und Wehrle außerhalb des Beichtgeheimnisses geführt worden ist. Ich habe mir die Aussage von Skuin genau gemerkt, weil sie mich als Katholiken natürlich ganz besonders interessierte.

Von den schweren Luftangriffen in jenen Jahren wurden auch wir mit unserem Büro getroffen, und so mußten wir mehrfach das Quartier wechseln. Eine Zeitlang waren wir in einem Nebengebäude des 1941 errichteten Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete untergebracht, woraus sich zwangsläufig einige Kontakte mit Beamten des Hauses ergaben. Dabei machten wir bald die interessante Feststellung, daß als Erzfeind des Ministeriums der Reichskommissar für die Ukraine und Gauleiter von Ostpreußen Erich Koch galt. Anders als dieser trat das Ostministerium offensichtlich für eine humanere Behandlung der unterworfenen Völker ein. Dabei wurde immer wieder der Name eines hohen Ministerialbeamten genannt, der besonders in dieser Richtung tätig war: Otto Bräutigam. Wie ich sogleich bemerken möchte: Bräutigam, der m. W. vom Reichsaußenministerium an das Ostministerium ausgeliehen war, ist nach dem Kriege im Auswärtigen Dienst weiterbeschäftigt worden, zuletzt als Generalkonsul in Hongkong, wie mir sein Neffe, zu dem Zeitpunkt dieser Aufzeichnungen als Staatssekretär, Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, in einem Brief vom 23. November 1982 bestätigt hat. Otto Bräutigam hat über seine Erfahrungen im Dienste des Ostministeriums ein aufschlußreiches Buch (So hat es sich zugetragen. Ein Leben als Soldat und Diplomat. Würzburg 1968.) geschrieben, dem man nur einen besseren Lektor gewünscht hätte. Zufällig stellte ich in einem Jahrbuch des KV fest, daß Otto Bräutigam Mitglied dieses katholischen Studentenverbandes gewesen ist, dessen Prinzipien er also auch in schwerster Zeit treu geblieben ist.

Was den Minister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg betrifft, so ist er natürlich identisch mit dem Verfasser des berüchtigten Machwerkes „Der Mythus des 20. Jahrhunderts". Doch der (75) steht hier nicht zur Debatte. Der Minister Rosenberg ist vom Nürnberger Tribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, weil man ihn für die deutschen Greueltaten in den besetzten Ostgebieten mitverantwortlich machte. Wie ich vernommen habe (die Quelle kann ich allerdings leider nicht mehr genau angeben), soll man bei den Aufräumungsarbeiten im Hauptgebäude des Ostministeriums, der früheren und jetzigen russischen Botschaft, auf einen Panzerschrank gestoßen sein. Als man ihn öffnete und den Inhalt sicherte, sei man auf Material gestoßen, nach dem, wie ein Nürnberger Ankläger geäußert haben soll, Rosenberg nicht zum Tode verurteilt worden wäre, wäre es schon bei dem Prozeß bekannt gewesen. Allerdings ist Rosenberg viel zu schwach gewesen, um sich gegen die Reichskommissare Koch und Lohse und die in den besetzten Gebieten wütende SS durchzusetzen.

Für die Gründe, die Rosenberg veranlaßten, eine mildere Behandlung wenigstens einiger Ostvölker zu befürworten, aber auch für seine maßlos überhebliche Grundhaltung ist die Darstellung in den bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen des uns bereits bekannten Pressemannes Emil Frotscher aufschlussreich, (Zitiert m. freundl. Genehmigung v. Frau G. Müller geb. Frotscher (Wilhelmshaven).) der Anfang 1942 die deutschsprachige Revaler Zeitung eingerichtet hatte. Er schreibt:

Eines Tages hatte einer der Redakteure der Revaler Zeitung, ich glaube, es war der Baltendeutsche Boris Ina, in einer Revaler Schule eine Schülerzeitung entdeckt. Name des jugendlichen Künstlers: Alfred Rosenberg, der damals noch nichts davon ahnte, daß er eines Tages Reichsminister, Chefideologe und Verfasser des von uns nur Mikosch des 20. Jahrhunderts genannten Werkes „Mythus des 20. Jahrhunderts" sein werde. Und weiter geschah zur gleichen Zeit folgendes: Der Generalkommissar für Estland ließ die Redaktion wissen, man werde demnächst die orthodoxe Kathedrale auf dem Schloßberg abreißen, Wahrzeichen des versinkenden Russentums. Wir sollten im Blatt, so wünschte Generalkommissar Lietzmann, (Lietzmann war der Sohn des Generals, nach dem die Stadt Lodz umbenannt wurde.  Als SA-­Obergruppenführer in Ostpreußen hatte ihn der Gauleiter Erich Koch, der in ihm einen Rivalen sah, verdrängt. Dem Massaker des sog. Röhmputsches von 1934 entging er durch seinen Namen.) auf die Baufälligkeit des Gebäudes hinweisen. So wollte man mangels Zivilcourage den sinnlosen Zerstörungsakt motivieren. Die Redaktion kochte vor Empörung und meuterte regelrecht. Dr. Baumhauer und die Baltendeutschen probten den Aufstand. Langer Hermann, Schloß, Dom, Olaikirche, Totentanz und vieles andere gehörten genauso zu Reval wie die orthodoxen russischen Kirchen. Sie zusammen bildeten das unvergleichliche Städtebild Reval. Es zu zerstören, war Barbarei. Wir schmiedeten einen erpresserischen Plan. Ich sollte Rosenberg in Berlin das Jugendwerk seiner Zeichenkunst schenken und die dadurch zweifellos entstehende versöhnliche Atmosphäre nutzen, um ihm die (76) Erhaltung der Kathedrale abzutrotzen. Am liebsten hätte mich die Redaktion sofort nach Berlin geschickt, um keine Zeit für das Rettungswerk zu verlieren.

Ich ging vorher noch einmal zu Generalkommissar Lietzmann, um mich über die Hintergründe zu orientieren. Das könnte für mein Gespräch mit Rosenberg nur dienlich sein. Lietzmann, bestimmt kein dickköpfiger Zerstörungswüterich, berief sich auf den Befehl Berlin: Rosenberg wollte seine Geburtsstadt Reval „eindeutschen". Und dabei müßten eben wohl oder übel gewisse Wahrzeichen der Russifizierung fallen. Natürlich sei das bedauerlich, aber er ‑ Lietzmann ‑ sei selbst der Meinung, daß diese Reinigung dazugehöre, wenn man Estland dem Westen wiedergewinnen wolle. So seien mit dem Esten Mae bereits erste Ansätze gemacht, eine estnische Selbstverwaltung in die Wege zu leiten. Interessant und neu für mich war, daß Lietzmann auch unumwunden von gewissen Gegensätzen zwischen Rosenberg und Hitler sprach. Während der gesamte Osten ‑ von Polen angefangen für Hitler nur „Lebensraum" für die Deutschen sei, habe Rosenberg den Plan, mit den baltischen Ländern, Weißrußland und wahrscheinlich auch einer von Rußland losgelösten Ukraine eine Deutschland verbundene selbständige Zone zu schaffen.

Diese gelte es zu fördern und vorzubereiten. Leider könne sich Rosenberg, der ja im Grunde genommen ein Träumer sei, gegenüber den rigorosen Ideen Hitlers nicht durchsetzen. So wolle er als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete mit gewissen „Zerstörungsmaßnahmen" Hitler beweisen, wie sehr er das russische Element aus den Randgebieten entferne. Vielleicht könnte er damit Hitler geneigter für seine weitergehenden Pläne machen. Es blieb in diesem Gespräch offen, ob Lietzmann auf seiten Hitlers oder Rosenbergs stand, es schien mir, als ob er eher dem „Führer" zuneigte, vor allem da er wußte, daß sein nächster Vorgesetzter, der Reichskommissar Lohse in Riga, ein getreuer Vasall Hitlers war, der dem „Romantiker" Rosenberg mit einer gewissen Reserve gegenüberstand. Jedenfalls hatte Lietzmann aber keine Einwendungen, als ich ihm erzählte, ich würde nicht aufgeben, sondern versuchen, Rosenberg umzustimmen.

Kaum in Berlin angekommen, ging ich ins sogenannte Ostministerium, die Residenz Rosenbergs. Zu ihm zu gelangen, war für mich nicht schwer. Ein Anruf von Rienhardt genügte, und durch Rosenbergs Pressechef Crantz, den ich gut kannte und auch schätzte, ließ mir Rosenberg sagen, er freue sich auf meinen Bericht über seine Heimatstadt Reval.

Rosenberg machte auf mich tatsächlich den Eindruck eines Träumers, der sich - wie so viele andere prominente Nationalsozialisten in eine Rolle hineinzwang, der er nicht gewachsen war. Er war weder ein Ideologe, dafür fehlten ihm die geistigen Voraussetzungen, noch ein Minister, dafür mangelte es ihm an Energie und Organisationstalent. Er interessierte sich für jede Straßenecke in Reval, und ich hatte alle Mühe, bei meinen geringen Kenntnissen der Stadt alle seine Fragen (77) zu beantworten. Er fragte mich auch nach meinem Urteil über Lietzmann und Lohse, was ich als nicht sehr taktvoll empfand und demgemäß ausweichend beantwortete. Dann war der große Moment gekommen. Ich überreichte ihm feierlich - ich genoß den Augenblick - das Geschenk der Redaktion, die in mühevoller Arbeit ganz Reval durchkämmt habe, um dem Herrn Reichsminister ein Geschenk aus seiner Jugendzeit zu überreichen. Rosenberg wurde wieder zum Kind, er starrte das Bildchen lange Zeit wortlos an (ich glaube, es war eine Straßenszene mit markanten Revaler Gebäuden). Ganz traumverloren. Es schien, als sei ich gar nicht mehr vorhanden, als sei er allein mit seiner Vergangenheit. Irgendwie mußte das Bild bei ihm Empfindungen ausgelöst haben, über die er sich bisher selbst nicht klar gewesen war. Dann sprang er impulsiv auf, was ich dem etwas lethargischen Manne gar nicht zugetraut hatte, und drückte mir beide Hände.„Danken Sie der Redaktion, und Dank vor allem Ihnen", sagte er. Und seine Stimme klang belegt.

Das war der richtige Augenblick. Der Boden für meine Aufgabe war präpariert, jetzt kam es nur darauf an, das Feld geschickt zu beackern. Ich begann vorsichtig , wohl ein halbdutzendmal ließ ich die Floskel „Samarkand in Lübeck" einfließen, ich bettelte um Mitleid für die Kathedrale. Rosenberg hörte mich ruhig bis zum Ende an, starr den Blick auf mich gerichtet.

Und dann geschah, was ich nicht erwartet hatte. Wieder sprang er auf, aber diesmal mit Anzeichen der Wut, die ich bei ihm nie erwartet hatte. Verschwunden war die Stimmung der Jugenderinnerung, verschwunden Romantik und Träumerei. Unbeherrscht schrie er mich an: „Sie, Sie Kulturbolschewist. " Und noch einmal wiederholte er, etwas leiser und mit noch mehr Verachtung in der Stimme: „Sie, Sie Kulturbolschewist! "

Welche Seite seines Wesens hatte ich getroffen? War sein Haß gegen Rußland so riesengroß? Denn mit dem Bolschewismus hatte die arme Kathedrale in Reval beileibe nichts zu tun.

Jäh war mein Gespräch beendet. Nicht einmal mit einem Händedruck verabschiedete er mich, den Kulturbolschewisten. Die Jugendzeichnung lag unbeachtet auf dem Schreibtisch. Ich warf noch einen letzten Blick auf das Bildchen. Ob es jetzt wohl in den Papierkorb wandern würde?

So weit die Aufzeichnungen Frotschers. Die Kathedrale wurde aus welchen Gründen auch immer tatsächlich nicht abgerissen, sie überdauerte den Krieg.

Hitler schien den alten Gauleitern vom Schlage eines Koch geradezu hörig zu sein. Ihre Korruption mußte schon zum Himmel stinken, ehe er sich von ihnen trennte, z. B. im Falle des Gauleiters von Ostbrandenburg Kube. Doch setzte er diesen nach den militärischen Anfangserfolgen zum Generalkommissar für Weißrußland in Minsk ein. Da passierte Kube das Mißgeschick, daß ein einheimisches Dienstmädchen ihm eine Tellermine unter die Matratze (78) legte, worauf der Generalkommissar mit dem Bette hochging. Seiner Frau, die neben ihm schlief, geschah merkwürdigerweise gar nichts. Natürlich gab es zu seinen Ehren in der Reichskanzlei einen Staatsakt, zu dem ich als „Außendienstler" von meinem Büro kommandiert wurde. Auf diese Weise drang ich in die als Wunderbau gepriesene neue Reichskanzlei ein. Wenn Sie mich nach meinen Eindrücken von ihr fragen, bin ich ratlos. Alles sehr aufwendig und pomphaft, aber ein Stil war nicht zu erkennen. Doch vielleicht wurde hier ein neuer Stil kreiert, der vorbildlich für den künftigen NS‑Stil sein sollte! Dabei fällt mir aber eine Stelle aus den Erinnerungen des Schöpfers der Neuen Reichskanzlei Albert Speer ein. Als er während des Krieges den Escorial bei Madrid aufsuchte, sei ihm der Irrweg seiner und der nationalsozialistischen Baupolitik aufgegangen. Der Escorial sei einer geistlichen Zielsetzung entwachsen, eine ähnliche aber fehlte den gigantischen, jedoch seelenlosen Bauvorhaben des Nationalsozialismus. Die Trauerfeier für Kube war von einer unüberbietbaren Kälte. Der Minister Rosenberg hielt eine Rede kühl bis ans Herz hinan. Dann geleitete er die Witwe aus dem Saal, während die Staatskapelle unter Johannes Schüler den Trauermarsch aus der Götterdämmerung herunterfiedelte. Und ich schrieb dann meinen tiefergreifenden Bericht mit dem Standardvokabular, das uns für solche Zwecke zur Verfügung stand.

Wir haben Rosenberg noch einmal in persona bei einem Kameradschaftsabend des Ostministeriums erlebt, zu dem man uns als Mitbewohner des Hauses eingeladen hatte. Begleitet von den Filmschauspielerinnen Jenny Jugo und Marika Rökk, die man eigens zu seiner Unterhaltung natürlich gegen klingende Münze engagiert hatte, zog der Herr Minister mit dem unnahbaren Gesicht, wie es manchen Baltendeutschen eigen war, durch die Räume. Sein Kollege Goebbels hätte in der Situation vergnüglicher dreingeschaut. Bei dem Kameradschaftsabend ging es sehr sittsam zu, wenigstens solange wir da waren. Aber Rosenberg war wohl auch ein Moralist. Tolle Dinge erzählte man sich von einem Kameradschaftsabend des Reichserziehungsministeriums, der um die gleiche Zeit begangen wurde. Wie der Herr, so's Gscherr. Der Minister Rust, einst Studienrat in Hannover, war ein allgemein anerkannter Hartsäufer, und die Seinen taten's ihm gleich. Als die Ministerialen am Morgen nach dem Kameradschaftsabend in ihrer Katerstimmung erwachten, fiel ihnen ein, daß der Chef in vorgerückter Stunde jemanden zum Professor ernannt habe. Aber keiner konnte sich zunächst erinnern, wer der Glückliche gewesen war. Da ging endlich einem ein Licht auf. Es war der Leiter der Tanzkapelle Barnabas von Geczy. Was nun? Man beschloß, den Führer für den Fall zu gewinnen, was auch tatsächlich gelang, und so lasen die teils erstaunten, teils gerührten Leser wenige Tage später, daß der Führer auch die gute Unterhaltungsmusik zu würdigen wisse (deutsche konnte (79) man schlecht hinzufügen, da der Leiter der Kapelle ein Ungar war) und darum einen ihrer bedeutendsten Vertreter, eben Barnabas von Geczy, zum Professor ernannt habe. Übrigens hätte Rust in seinem Suff gar nicht mal einen Falschen erwischt: Geczy wird noch heute in den Lexika als Pfleger einer traditionellen Unterhaltungsmusik gerühmt.

Als wir eines Morgens unseren Dienst im Gebäude des Ostministeriums antraten, stellten wir alsbald fest, daß im Hause eine aufgeräumte Stimmung herrschte. Wir erfuhren sehr rasch den Grund. Erich Koch, der an neronischen Paschaallüren wohl nur noch von Göring übertroffen wurde, hatte sich von holländischen Zimmerleuten, die zu der uns schon bekannten „deutschen Aufbauarbeit" in die besetzten Ostgebiete deportiert worden waren, eine hölzerne Jagdvilla errichten lassen. Jedes Zimmer hatte seine eigenen Embleme, so gab es u. a. ein Fasanenzimmer und ein Entenzimmer. Aber gerade dieses soll zunächst Kochs Zorn erregt haben. Was, das sollen Enten sein, soll Koch getobt haben, Krähen sind das. Das Zimmer mußte neu hergerichtet werden. Aber als dann die ganze Villa fix und fertig dastand, kamen die Partisanen und zündeten sie an, so daß von all der Pracht und Herrlichkeit buchstäblich nur ein Haufen Asche übrig blieb. Eben dieser Streich, den die Partisanen dem Erzfeind des Hauses gespielt hatten, war es, der die Gemüter im Ostministerium so sehr erheiterte.

Ich hatte eine Nacht Luftschutzwache, als das Haus von Phosphorbomben getroffen wurde. Da die Wasserleitung ausgefallen war, zog ich, behauptet mit einem mächtigen Helm gegen den kleckernden Phosphor, mit einem Eimer zum Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das die Bomben verschont hatten. Als ich mit dem gefüllten Eimer zurückkehrte, sah ich im Torbogen des Nachbarhauses einen stattlichen jüngeren Mann im Trenchcoat stehen, der mir mit süffisantem Lächeln zusah. Schon wollte ich ihm die Worte „Schöne Sch . . ." zurufen, als ich ihn im letzten Augenblick erkannte, so daß mir die Worte soeben noch im Halse stecken blieben. Es war der Rüstungsminister Albert Speer. Wie hätte er wohl reagiert, wenn die Worte wirklich dem Gehege meiner Zähne entflohen wären? Die Antwort auf die Frage mag der Leser meines Berichtes selbst geben.

Hier sei noch ein schauerliches Erlebnis an einem Novembertag 1943 eingeschaltet. Wir, Blaschke, Skuin und ich, machten uns nach Dienstschluß auf den Weg, um im „Kaiserhof" zu Abend zu speisen. Es war so diesig, daß man bei der Verdunkelung auf jeden Tritt achten mußte. Bei dem Wetter waren wir verwundert, daß auf einmal Fliegeralarm gegeben wurde. Obwohl wir es eigentlich für unnötig hielten, da wir jeden Augenblick mit Entwarnung rechneten, suchten wir den Luftschutzkeller des "Promi" auf, auf dessen Höhe wir gerade angelangt waren. Der sehr geräumige Keller war nach den damaligen Vorstellungen absolut bombensicher. Hier (80) hätte sich auch der Herr Minister selbst ohne Gefahr für Leib und Leben aufhalten können, aber der war natürlich bereits getürmt, und so blieb es ihm erspart, im Luftschutzkeller in der Volksgemeinschaft machen zu müssen, die er so gern im Munde führte. Statt der erwarteten Entwarnung erlebten wir, daß der Staatssekretär Gutterer aufgeregt im Keller hin und her lief, gefolgt von einigen Funktionären, die ständig „Herr Staatssekretär, Herr Staatssekretär!" riefen. Daraus schlossen wir, daß oben Furchtbares im Gange war. Und so war es auch. Als endlich die Entwarnung kam und wir nach draußen gelangt waren, mußten wir entsetzt feststellen, daß zumindest das große Viertel um den Bahnhof Friedrichstraße ein einziges Flammenmeer war. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sich bereits um den Angriff vom 22./23. November 1943 handelte, bei dem der ganze alte Westen vernichtet wurde mitsamt dem Nuntiaturgebäude in der Rauchstraße. (Vgl. H. PREUSCHOFF, P. Eduard Gehrmann SVD (1888-1960) (ZGAE, Beiheft 4).  Osnabrück 1984, S. 107.) Jedenfalls war es der erste Angriff, bei dem sich die britischen Flugzeuge mit Radargeräten dem Ziel näherten, so daß die Luftangriffe fortan auch bei schlechtem Wetter erwartet werden mußten. Je mehr wir uns dem Zentrum näherten, um so stärker erfaßte uns der Feuersturm. „Heulend kommt der Sturm geflogen, der die Flamme brausend sucht." Solches hatten wir auf der Schule gelernt, ohne uns Gedanken darüber zu machen, nun aber erlebten wir es. Ich weiß nicht mehr, ob wir drei uns noch nach unserem Büro durchgeschlagen haben, das möglicherweise auch ausgebombt war, und wo wir uns trennten. Da die Verkehrsmittel durch den Luftangriff ausgefallen waren, bin ich stundenlang zu Fuß zu meinem Quartier in Neukölln an der Ringbahn gegangen, vom Herrmannplatz die endlos lange Herrmannstraße. Diese Viertel waren vom Angriff verschont geblieben. Aber als ich endlich meine Stube betreten und Licht gemacht hatte, bemerkte ich, daß mein Mantel mit einer dicken Aschenschicht bedeckt war.

Der 1. Mai 1944 wurde wie üblich mit einem Staatsakt begangen. Wieder wurde ich zu ihm abgeordnet, mit besonderer Wut im Bauche. Mein Bedarf an solchem Unfug war längst gedeckt. Am Potsdamer Platz bestieg ich den Pressebus. Selten hat ein Bus eine solche schweigsame Fracht gefahren wie dieser. Was wir einander sagen wollten, durften wir nicht, und was wir durften, wollten wir nicht. Das Ziel war eine große Werkshalle weit draußen im Osten der Stadt. Sie war mit dem üblichen Aufwand drapiert. Auf den Brücken standen in ihren frischgewaschenen blauen Kluften Arbeiter des Werkes herum. Sie machten einen leicht genierten Eindruck. Auf einem Podest saßen die sechs Männer, die an diesem Tage zu Pionieren der Arbeit gekürt werden sollten. Ganz links im Stresemann der Industriekönig von der Saar Hermann Röchling, ein gedrungener Mann mit dicken Brillengläsern. Daneben mit mokantern (81) Gesicht im wohlgeschnittenen Cutaway Albert Vögler vom Bochumer Verein. Als dritter ein Direktor des Klöckner‑Konzerns. Die Klöckners selbst waren der Auszeichnung nicht würdig. Sie waren nicht nur Katholiken, einer von ihnen, Florian Klöckner, war bis 1933 sogar Zentrumsabgeordneter gewesen. Um des Proporzes willen schlossen sich den drei Industriekapitänen drei Männer der schaffenden Faust an, die irgendwelche Stachanow‑Arbeiten verrichtet oder kriegswichtige Erfindungen gemacht hatten.

Nach dem üblichen Fahneneinmarsch betrat der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley das Rednerpult. Man hatte uns Presseleuten schon vorher den Text seiner Rede in die Hand gedrückt. Doch es dauerte gar nicht lange, da begann Ley von ihm abzuweichen. Wir Journalisten haben dann unseren Bericht wohlweislich nach dem Text geschrieben, den man uns gegeben hatte, nicht nach der Rede, die Ley wirklich gehalten hat. Das Pressereferat von Ley hatte, wohl durch Erfahrungen gewitzigt, mit seinen Eskapaden gerechnet. Man sagte, Ley stehe ständig „unter Dampf". War es auch diesmal der Fall oder redete er sich in seinem rheinischen Frohsinn besoffen, das sei dahingestellt. Anders als im Text vorgesehen verfiel er in eine wüste Schimpfkanonade gegen die Juden. Wenn wir im Osten, schrie er, weiter nichts erreicht haben, als daß wir jede Menge von dem Geziefer ausgerottet haben, hat sich das Ganze schon gelohnt. Nachdem er endlich von den Juden abgelassen hatte, kehrte Ley nicht etwa zu dem vorgesehenen Text zurück. Einmal ins Schwadronieren geraten, blieb er dabei, und was er dann von sich gab, konnte man fast als eine Büttenrede bezeichnen. Hatte man nicht noch die schamlosen Ausfälle gegen die Juden in allzu frischer Erinnerung, konnte man fast in eine animierte Stimmung geraten. Mit geradezu denkwürdigen Worten beschloß Ley seine „Festansprache": „Wir werden uns die Krim wiederholen, schon damit du, deutscher (er sagte auf rheinisch: daitscher) Arbeiter dort deine Ferien verbringen kannst!"

Was nun folgte, war im Programm nicht vorgesehen. Weder wurden die Pioniere der Arbeit verkündet (das geschah erst am folgenden Tage in den Gazetten), noch marschierten die Fahnen bejubelt hinaus. Nein, unmittelbar nach der Rede Leys sprach ein aufgeregter Goldfasan ins Mikrophon: „Wir bitten die Halle schleunigst zu räumen, es ist in wenigen Augenblicken mit Fliegeralarm zu rechnen!" Natürlich dachte jeder, die Amerikaner würden die Stätte des Festaktes besonders aufs Korn nehmen, und so drängte alles den glücklicherweise breiten Torausgängen zu. In mehreren Reihen nebeneinander brausten die Wagen ohne Rücksicht auf den Gegenverkehr den Luftschutzbunkern in der inneren Stadt zu. Mittenmang, um es auf ostpreußisch zu sagen, schaukelte unser Pressebus. Ich erreichte tatsächlich noch das unterste Stockwerk des U-Bahnhofs Alexanderplatz, wo man sich einigermaßen sicher (82) fühlen konnte. Als endlich die Entwarnung kam, bot sich außer den Feuerbränden ringsum hoch oben am höchsten glasklaren Himmel ein ebenso wunderbares wie makabres Schauspiel. Winzig klein, aber doch deutlich erkennbar flogen viele hundert amerikanische Flugzeuge, die sich, nachdem sie ihre Last über die Stadt abgeworfen hatten, im Osten zu einem Formationsflug gesammelt hatten, nun über die City heimwärts. Wie hatte der großmäulige Giftzwerg aus Rheydt einmal gesagt: Wenn heute ein Flugzeug über unseren Köpfen fliegt, dann wissen wir, es ist ein deutsches Flugzeug! Die Parade der US-Flugzeuge lieferte jetzt den Kommentar dazu.

Ansonsten verrichtete ich weiter meine Alltagsarbeit. Da ich auch trotz des mehrfachen Standortwechsels unseres Büros immer noch ihm am nächsten wohnte (übrigens allein, meine Familie ließ ich wegen der Luftangriffe auf Berlin im Breslauer Elternhaus meiner Frau), erschien ich morgens auch als erster zum Dienst. Ich redigierte sogleich das für unsere Zeitungen geeignete Material, das von den Damen des Büros telefonisch weitergeben wurde. Dann aber machte ich mich über den Rest des Materials her, das auch für unsere Zeitungen nicht zu verwenden war. Ich erwähnte schon die Churchill-Reden. Wir sprachen da von „Thiele‑Nachrichten", eingedenk der Äußerung des Generals vor Freisler, daß er durch die Lektüre von Schweizer, also ausländischen Zeitungen irre geworden sei. Wurden wir es auch, wenn wir täglich Äußerungen der Feind‑ und neutralen Seite lasen? Ich kann nur von mir sprechen, mit den Kollegen, die die „Thiele-Nachrichten" - zugegeben eine äußerst zynische Formulierung - ebenso eifrig wie ich lasen, habe ich niemals darüber geredet. Ihnen mochten die gleichen Gedanken gekommen sein wie mir, aber sie wollten sie vielleicht nicht für wahr haben und haben sie verdrängt.

Eines Tages versammelten sich auf unserem Büro einige Schriftleiter aus verschiedenen Himmelsrichtungen, die wohl Frotscher herbeigerufen hatte. Sie brachten nämlich einen gestanzten Zeitungskopf Deutsche Zeitung in Tiflis mit, was erkennen ließ, daß sie sich nach dem Fall von Tiflis mit ihm in Richtung Transkaukasien in Bewegung setzen würden, um auch dort eine deutsche Zeitung zu gründen. Nach einigen Tagen waren die Herren verschwunden mitsamt dem Zeitungskopf. Er ist nicht benötigt worden. Der deutsche Zug nach Indien ist schon vor der Station Tiflis auf der Strecke geblieben.

Seit meiner Berliner Studentenzeit 1926/27 bin ich ein begeisterter Verehrer (heute sagt man Fan) des Berliner Theaters gewesen. Auch später habe ich jede Gelegenheit genutzt, eine Aufführung auf einer der großen Bühnen der Reichshauptstadt wahrzunehmen. Nun aber, als ich dem Büro der Ostzeitungen beigetreten war und das Berliner Theater hätte ausgiebig genießen können, war meine Leidenschaft dafür abgekühlt. Gegen das grausige Theater, (83) das die amerikanischen und englischen Bomber gerade in den Jahren uns in Berlin draußen boten, mußte das Theater innerhalb der Mauern, soweit sie überhaupt noch standen, notwendig verblassen. Trotzdem hätte ich gern für die Ostzeitungen über die Berliner Premieren geschrieben, aber dafür war bereits vor meinem Eintritt mit Dr. Lüdtke ein Berichterstatter verpflichtet worden. Dennoch sind mir einige Aufführungen aus der Zeit doch in lebhafter Erinnerung geblieben.

Noch vor meinem offiziellen Eintritt im Büro, wohl bei meinem Besuch bei Dujardin, sah ich 1942 im Staatstheater eine grandiose Darbietung von Grillparzers „Ein Bruderzwist in Habsburg". Ich bin eigentlich nur hineingegangen, weil der größte Schauspieler jener Zeit, Werner Krauss, die Hauptrolle des Kaisers Rudolf II. spielte, ansonsten erwartete ich einen historischen Prachtschinken. Ich erlebte aber ein historisch‑politisches Drama, das man unbedenklich Schillers „Wallenstein" an die Seite stellen kann. Vor allem die Monologe des Kaisers, von Krauss wunderbar gesprochen, mußten als höchst zeitgemäß empfunden werden. Das Verdienst, Grillparzers größtes Drama neu entdeckt zu haben, kam dem Bochumer Intendanten Hans Schalla zu, das Wiener Burgtheater und das Berliner Staatstheater haben es nachgespielt. Es ist bezeichnend für die heutige geistige Situation im allgemeinen und des deutschen Theaters im besonderen, daß das Werk heute auf keiner deutschen Bühne anzutreffen ist, obschon es an Aktualität nichts eingebüßt hat.

Im Schiller-Theater sah ich in Berlin damals mit Horst Caspar und Will Quadflieg eine hochexpressive Aufführung von Schillers „Die Braut von Messina". Ihr Regisseur hieß Walter Felsenstein, den Heinrich George aus der Schweizer Emigration an sein Theater als Oberregisseur zurückgeholt hatte. Während sein Chef nach dem Kriege in einem russischen Lager elend zugrundegegangen ist, kratzte Felsenstein, um es vulgär zu sagen, sehr rasch die Kurve: Er wurde Direktor der Ostberliner Komischen Oper, wo er sein vielgepriesenes realistisches Musiktheater begründete.

Ich sah noch die beiden letzten Neuinszenierungen des Staatstheaters kurz vor dem 1944 von Goebbels erlassenen allgemeinen Theaterverbot und der Zerstörung des herrlichen Schinkelbaus am Gendarmenmarkt. Während mich die „Othello"-Inszenierung von Karlheinz Stroux nicht vom Stuhle riß, war die Aufführung von Sudermanns „Johannisfeuer" eine Überraschung. Mit diesem Stück pocht der ansonsten als Dramatiker längst abgeschriebene Ostpreuße Sudermann, um es mit den Worten des bekannten Kritikers Karlheinz Ruppel zu sagen, an die Pforten der Dichtung, wozu gewiß beiträgt, daß er hier wie in den berühmten „Litauischen Geschichten" und dem Roman „Frau Sorge" auf dem Boden seiner preußisch-litauischen Heimat bleibt. Allerdings hatte an dem Erfolg des Stückes die phantastische Inszenierung Jürgen Fehlings (84)  entscheidenden Anteil, der mit dem im ermländischen Bischdorf geborenen Paul Wegener, Marianne Hoppe, der soeben auf der Berliner Bühne flügge gewordenen Joana Maria Gorvin und der als versoffenes Weib Weßkalnene überwältigenden Maria Koppenhöfer über erstrangige Schauspieler für seine Einstudierung verfügte.

Da das Deutsche Opernhaus in Charlottenburg ausgebombt war, kroch sein Ensemble im merkwürdigerweise verschont gebliebenen Admiralspalast nahe dem Bahnhof Friedrichstraße unter. Hier genoß ich noch unter der Leitung des neuen Intendanten Hans Schmidt‑Isserstedt mit Karl Schmitt-Walter als Almaviva eine schöne Aufführung von „Figaros Hochzeit", die einen wenigstens für ein paar Stunden die Misere der Zeit vergessen ließ. Unser musikalischer Mitarbeiter Fritz Brust nahm mich in die Staatsoper zum Festkonzert zum 80. Geburtstag von Richard Strauss am 11. Juni 1944 mit. Nach zwei Liedern von Erna Berger dirigierte Herbert von Karajan als Hauptstück „Ein Heldenleben". War Richard Strauss' Leben ein solches? Was mir ganz am Rande des Konzertes auffiel: Auf dem Wege zu den Eingangstüren begegneten sich zwei bekannte Schauspieler von Gründgens' Staatstheater. Sie grüßten einander nicht etwa mit dem deutschen Gruß, sondern mit artigen Verbeugungen - „wie einst im Mai".

An einem anderen Sonntagmorgen dirigierte Karajan mit der Staatskapelle ein Konzert in dem Berliner Großkino Phoebus-Palast. Es sollte, wie es in dem Anschreiben zu den uns zugesandten Karten hieß, die Stimmung der Bevölkerung heben. Eine von Karajan glänzend dirigierte Haydn‑Sinfonie versetzte mich tatsächlich in Hochstimmung. Doch verflog diese sehr rasch, als ich in die wie zum Hohn von einer herrlichen Sommersonne beschienenen Trümmerlandschaft hinaustrat.

Die Kultur spielte im Dritten Reich eine große Rolle - wie man sie damals auffaßte, auch als Mittel zum Zweck, wie wir soeben sahen, zur Stimmungsmache. Jedenfalls war man sehr darauf bedacht, daß sie gebührend gewürdigt wurde. Am 1. Mai wurde in der Berliner Philharmonie regelmäßig die Neunte Sinfonie von Beethoven gegeben. Als einmal festgestellt wurde, daß die dafür vorgesehenen Presseplätze reihenweise unbesetzt geblieben waren, ging auf die Berliner Journalisten ein furchtbares Donnerwetter von Goebbels persönlich hernieder. Wozu zu bemerken ist, daß, schnoddrig gesagt, den Journalisten die Neunte längst zum Halse heraushing, eben weil sie alljährlich am 1. Mai gegeben und mißbraucht wurde. Ein andermal gab Goebbels an die Presse einen gewaltigen Zornesausbruch Hitlers weiter. Was war Furchtbares geschehen? Der Opernsänger Josef von Manowarda war gestorben, und die Zeitungen berichteten darüber in kurzen Notizen. Diese waren es, die Hitler erbosten, als er sie in der Wolfsschanze oder wo er gerade sich aufhielt, zu Gesicht bekam. Manowarda war sein Lieblingssänger. (85) Von jedem Boxer würden, wenn er starb, lange Spalten gebracht, tobte der Führer, ein großer deutscher Sänger müsse sich mit einem lumpigen Hinweis begnügen. Mit der Pressebeschimpfung Hitlers lieferte das "Promi" gleich jede Menge Material über Manowarda mit, und so erfuhren dann auch über ihn in langen Spalten die Leser von Braunsberg bis Bottrop und von Flensburg bis Freiburg, welch berühmter deutscher Künstler, von dem die meisten bisher nicht einmal den Namen gehört hatten, mit Josef von Manowarda dahingeschieden war. Am Rande gesagt: Die auf Stelzen gehende NS-Kulturpolitik war für uns Journalisten eine Quelle ständigen Vergnügens. Wenn einer im Grunde völlig amusisch war, war es der Kulturminister Joseph Goebbels.

In der ersten Zeit meines Berliner Daseins, als wir noch in der Luisenstraße residierten, pflegten wir unsere Mittagsmahlzeiten im nahegelegenen „Schwarzen Ferkel" einzunehmen. Das war an sich ein berühmtes Lokal, das in seinen besseren Zeiten auch ohne solche Gäste wie wir ausgekommen wäre. Immerhin mußten wir in einem Vorraum warten, bis der Disponent (er führte einen anderen Titel, den ich vergessen habe) uns einließ, wenn ein Tisch freigeworden war, nicht ohne daß er unseren Aufzug mit einem strengen Blick musterte. Früher hatten dort in einem kleinen Stübchen Männer wie Carl Ludwig Schleich, Otto Erich von Hartleben, Richard Dehmel, Knut Hamsun und August Strindberg ihren Stammtisch. Das „Schwarze Ferkel" wurde auch gern von Abgeordneten des nahegelegenen Reichstags aufgesucht, so vom Prälaten Leicht von der Bayrischen Volkspartei, dessen man sich noch besonders gern erinnerte. Aber auch zu unserer Zeit wurde in dem Lokal noch eine Persönlichkeit wie der geniale Autokonstrukteur Ferdinand Porsche gesehen. Als einmal ein Gast sich einige Zeit über einen Tisch beugte, wies ihn der Disponent sanft zurecht: „Mein Herr, das Bild leidet!" Dann aber wurde uns das Restaurant doch zu teuer, zumal seine Kost zwar vorzüglich zubereitet, aber angesichts der Zeitverhältnisse nicht gerade üppig zu nennen war. Nach einem schweren Luftangriff bin ich einmal durch die Neue Wilhelmstraße gegangen, wo das „Schwarze Ferkel" lag. Da sah ich den Wirt verstört vor den rauchenden Trümmern seines Hauses stehen.

Vermieden wir im Büro jedes politische Gespräch, so hielt ich im Familienkreise mit meiner Meinung nicht hinter dem Berge. Mein guter Schwager, der stolz die Uniform eines Stabsapothekers trug, pflegte zu sagen: Du siehst nicht nur schwarz - du rußt! Als ich meine Verwandten im Ermland besuchte, sagte ich: Der Goebbels lügt wie gedruckt, aber in einem hat er recht, nämlich wenn er ausmalt, was die Frauen von den Sowjetsoldaten zu erwarten haben. So forderte ich die Verwandten auf, wenigstens die drei jüngeren Schwestern rechtzeitig ins Reich zu schicken. Da fiel mich der frisch Angetraute einer der Schwestern an: „Du glaubst wohl auch (86) nicht mehr an den Endsieg?" Verdammter Kerl, dachte ich, jetzt fehlt nur noch, daß du mich anzeigst. Die drei Schwestern blieben im Lande. Sie sind von den Russen verschleppt worden. Zwei sind in Rußland umgekommen, nur eine ist von dort nach Jahren zurückgekehrt, natürlich nicht in die alte Heimat, sondern zu uns nach Fulda.

Im Herbst des Jahres 1944 beauftragte Hitler den General v. Unruh, vom Volksmund alsbald analog dem „Kohlenklau", der für Sparsamkeit im Heizen sorgen sollte, „Heldenklau" genannt, die Büros und Dienststellen nach kriegsverwendungsfähigen (kv) Leuten durchzukämmen. Mit etwas verlegener Miene eröffnete mir Dr. Blaschke, daß ich aus unserem Büro dazu ausersehen sei, dem „Heldenklau" zum Fraße ausgeliefert zu werden. Er sagte es seiner feinstreifigen Art gemäß nicht ganz so grob. Ich war aber ob der Eröffnung gar nicht einmal so betrübt, denn ich war mir klar darüber, daß nach dem Ende der tausend Jahre, über das ich mir längst keine Illusionen mehr machte, der Absprung in die neue Zeit von der Wehrmacht einfacher sein werde als der vom Berliner Büro der Ostzeitungen. Daß ich dann nach der Kapitulation von den Amerikanern den Russen ausgeliefert werden würde, weil wir die Demarkationslinie Linz-Prag nicht rechtzeitig überschritten hatten, war freilich von mir nicht eingeplant.

Ich wurde zur Sanitätsabteilung 3 in Guben einberufen. Der Kompaniechef war zwar ein Stabsarzt, sonst aber wurden wir alten Unteroffiziere und Feldwebel wie Rekruten behandelt, um uns frontdienstfähig zu machen. Ich bin Ende Januar noch einmal in Berlin gewesen, um Übungsmunition abzuholen, mit deren Hilfe endgültig der Endsieg gesichert werden sollte. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß gerade an dem Tage meine Familie aus Breslau in Berlin angelangt war und ich sie umgehend in ein befreundetes Pfarrhaus in der thüringischen Rhön weiterexpedieren konnte. Ich habe dann noch einen kurzen Besuch auf unserem Büro gemacht, und bei der Gelegenheit habe ich meine Kollegen zum letzten Male gesehen. Von ihrem traurigen Ende habe ich bereits berichtet.

aus: Hans Preuschoff: Journalist im Dritten Reich

Abschied vom Journalismus -  Bibliographie Hans Preuschoff - Personenregister

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